Ungleiche Seelen

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Autor: Rosalie Braun-Artaria
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Titel: Ungleiche Seelen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 25–30, S. 405–408, 421–426, 452–456, 468–471, 484–488, 495–498
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[405]

Ungleiche Seelen.

Novelle von R. Artoria.
1.

„Signori – una barca! Hôtel Europa! Hôtel Bellevue! Hôtel Aurora!“ so rief es hundertstimmig in tollem Durcheinander vor dem breiten Quai des Bahnhofes von Venedig, dort, wo der Strom der Reisenden sich über die große Treppe von der Einsteighalle nach dem Canal hinunter ergießt.

Mancher, der seit seiner Schulzeit die Lagunenstadt als auf Pfählen stehend zu denken gewohnt war, bekam doch bei dieser Gelegenheit die erste Vorstellung von ihrer gänzlichen Droschkenlosigkeit und stand verblüfft dem dicht vor ihm beginnenden schwarzen Gondelgewirr gegenüber, eine Beute der zugreifenden Facchini, die ihn und seine Habe auf’s Schnellste dem großen Canal zur Weiterbeförderung überantworteten.

Bereits Localkundige wußten sich solchen ungebetenen Liebesdiensten energisch mit ein paar kurzen Worten zu entziehen. Virtuose hierin schien ein älterer Herr mit grauem Filzhut zu sein, der gänzlich unbelästigt an einem Gascandelaber stand und mit scharfen Augen über das Menschengewimmel hinsah, ohne bis jetzt den Gondolier, den er wünschte, gefunden zu haben.

Das seitwärts von ihm stehende junge Paar überließ ihm diese Sorge offenbar gern; die Blicke der schönen Dame im eleganten Reisekleid streiften neugierig über das belebte Bild hin.

„Nun, das ist ein hübscher Anfang des malerischen Venedig, Herr Björnson!“ sagte sie scherzend zu ihrem Begleiter, einem hochgewachsenen blonden Mann. „Auf brettervernagelte Palastfenster war ich gefaßt – aber nicht auf diesen ebenso langweiligen, wie unsauberen Bach und die ganz modernen, nüchternen gelben Hausmauern da drüben. Erröthen Sie nicht, mir sagen zu wollen, dies sei der große Canal?“

Der junge Mann lachte gleichfalls, was seinen ernsthaften Zügen einen sehr liebenswürdigen Ausdruck gab.

„Er ist es wirklich, Fräulein Leontine, wenn auch nur in seinen bescheidensten Anfängen. Warten Sie nur! Wenn wir dort um die Ecke biegen und bald der erste Palast auftaucht, wenn wir dann unter dem Rialtobogen in die stolzeste Straße der Welt einfahren, dann sollen Sie mir Abbitte thun.“

Jetzt fing der alte Herr an mit einem weiter draußen haltenden Gondolier telegraphische Zeichen zu wechseln.

„Da haben wir ihn ja, meinen ehrlichen Alten von der Giudecca, der mir vor zwei Jahren mit soviel Grazie die Honneurs der Stadt machte. He, Antonio! Siehst Du, Leontine, er hat mich auf der Stelle erkannt.“

Rufend und winkend zwängte der sonnverbrannte Graubart seine Barke durch die übrigen durch, aber die Augen der jungen Dame wandten sich ihm nicht zu, sondern blickten, wie unangenehm überrascht, nach einer anderen Gondel, welche mit schnellen Ruderschlägen von seitwärts heran glitt und soeben anlegte.

Eine lange mit tadelloser Sorgfalt gekleidete Figur erhob sich darin und grüßte, nicht ohne leichte Verlegenheit, nach dem Quai herauf.

„Ei, Herr Nordstetter!“ rief der alte Herr erstaunt.

„Wie Sie sehen, Herr Baron! Darf ich vielleicht bitten, sich meiner Gondel zum Hineinfahren zu bedienen? Das gnädige Fräulein wird besser darin sitzen, als in dieser alten da.“

„Aber sagen Sie mir –“ der Baron faßte den Rockknopf des Herausgestiegenen – „wie in Himmelsnamen – ja so!“ unterbrach er sich vorstellend, „Herr Maler Björnson – Herr Banquier Nordstetter!“ Die Genannten tauschten einen sehr gemessenen Gruß. „Also, wie kommen Sie hierher?“ fuhr der alte Herr fort. „Ich dachte, Sie wollten geradeswegs nach Rom, als wir uns neulich in Riva trennten?“

„Das war auch meine Absicht,“ erwiderte Herr Nordstetter mit etwas unsicherer Stimme, „aber schon unterwegs in Verona hörte ich von allen Seiten soviel von der bevorstehenden Kaiser-König-Zusammenkunft hier, daß ich beschloß, sie mitzunehmen und acht Tage später nach Rom zu gehen. Es war vielleicht gut, daß ich Ihnen vorausreiste; denn die Stadt ist bereits so überfüllt, daß man kein comfortables Quartier mehr findet. Ich habe große Mühe gehabt zwei Zimmer im Grand Hôtel an der Riva für Sie freizuhalten. Darf ich Sie hingeleiten?“

Er verbeugte sich vor der jungen Dame und sah sie erwartungsvoll an.

„Darüber muß Papa entscheiden,“ erwiderte Fräulein Leontine sehr kühl und mit jener nachlässigen Kopfbewegung, welche das ausschließliche Geheimniß junger, verwöhnter Damen ist, „er hat uns soeben noch einen Vortrag über die wünschenswerthen Lagen von Venedig gehalten –“

„Aber er konnte nicht hoffen, in der wünschenswerthesten noch unterzukommen,“ rief Baron Willek vergnügt, „haben Sie besten Dank, lieber Freund, für Ihre Fürsorge!“

Während er die Facchini mit den Koffern der Gondel zu dirigirte und Herr Nordstetter in beflissener Hülfeleistung den eleganten Reisekorb und die Juchtentasche vom Candelaber, wo sie bisher geruht hatten, ebendahin beförderte, wandte sich die junge Dame mit einem vielsagenden Blick nach ihrem Begleiter um. Er [406] war keine gewöhnliche Figur, das Gesicht gehörte zu denen, welche durch Schnitt und Ausdruck sich aus der großen Menge hervorheben und deshalb von Jedem leicht in der Erinnerung behalten werden. Seine Züge waren offen und freundlich, aber unter der breitgewölbten Stirn funkelten ein paar stahlblaue Augen von ungewöhnlicher Energie, und die frühe Falte zwischen beiden Brauen konnte sich gewaltig vertiefen, wenn der Anlaß dazu vorlag. Im Augenblick war sie kaum zu bemerken; der junge Mann sah mit etwas ironischem Lächeln Herrn Nordstetter's diensteifrige Bemühungen und wandte sich dann zu seiner Nachbarin.

„Wer ist denn diese vom Himmel gefallene Vorsehung, die Sie so plötzlich hier in Beschlag nimmt? Eine Bekanntschaft von früher, gnädiges Fräulein?“

„Nur von einer Woche in Riva,“ flüsterte sie, „ein F…er Banquier, der dort viel mit uns zusammen war. Er ist sehr reich und langweilt sich -“

„Und möchte, wie es scheint, diesem Uebel abhelfen,“ sagte Erich Björnson sarkastisch. An Weiterem verhinderte ihn das Neuherantreten des Genannten, der ihm mit vieler Höflichkeit den vierten Platz in der Gondel anbot.

„Ich danke sehr,“ erwiderte hastig der junge Mann, „mein Quartier liegt in der entgegengesetzten Richtung. Ich werde mit dem Alten dort fahren,“ setzte er hinzu, indem er dem Fräulein die Hand zum Einsteigen bot und dann noch einen Moment mit gezogenem Hute neben dem schwarzen Fahrzeug stand, während Leontine sich in die Kissen zurücklehnte und den leichten Gazeschleier ihres Reisehütchens wieder fest um das Gesicht steckte.

„Adieu, Herr Björnson, hoffentlich auf baldiges Wiedersehen – hier oder dort!“ rief sie lachend, „das heißt in unserem Hotel oder auf Ihrem Atelier, wo wir Sie überfallen werden. wenn Sie nicht Wort halten.“

„Darüber seien Sie außer Sorgen, gnädiges Fräulein!“ rief er mit glänzenden Augen. „Das Worthalten ist mir in meinem Leben noch nicht so angenehm erschienen, als in diesem Falle. Ich darf Sie nicht länger aufhalten – auf Wiedersehen!“

Er trat grüßend einen Schritt zurück; das Ruder zog an, und in der nächsten Minute glitt die Gondel, wie mit eigener Bewegung begabt und nur von dem Ruf des Gondoliers gelenkt, hurtig und geschickt zwischen den vielen übrigen Fahrzeugen auf den dunklen Wassern nach dem Rialto zu

Erich Björnson stand noch eine Weile mit dem Gefühl eines Menschen, dem plötzlich die Flüchtigkeit auch der reizendsten Reisebekanntschaft klar wird, und sah dem weißen flatternden Schleier nach. Da zog sie hin, und ein Anderer saß jetzt an seiner Stelle ihr gegenüber; er konnte das leise aristokratische Parfüm ihrer Nähe einathmen und die elegante Einfachheit des weichen grauen Reisekleides mit dem männerartig übergeklappten Paletot und der kleinen dunkelrothen Cravattenschleife bewundern, gerade wie er es seither gethan hatte. Aber pah! Woher sollte der nüchterne Geschäftsmensch die Augen nehmen, um zu sehen, wie köstlich dies Alles mit dem blassen Ton ihres Gesichtes harmonirte und mit den tiefgesteckten blauschwarzen Flechten unter dem kleinen dunklen Reisehut! Woher sollte ihm die künstlerische Empfindung kommen für die Feinheit dieser Profillinie, deren leisen Hebungen und Senkungen nachzugehen allem schon Beschäftigung für lange Stunden gab, selbst wenn die Augen nicht das gewesen wären, was sie in Wirklichkeit waren, ein Paar blauer, schwarzumsäumter, räthselhafter Sterne, die so melancholisch kalt und traurig bleiben konnten, um sich dann plötzlich im Gespräch und Scherz glänzend zu erhellen, als lägen Schätze von Begeisterung und Zärtlichkeit auf dem Grunde der Seele verborgen, bis man die undurchdringliche Scheidewand wieder merkte, die das Hineinsehen verwehrte. All das stand noch so lebendig vor ihm, und nun – dort zog sie hin; dort flatterte der weiße Schleier noch einmal auf und verschwand dann um die Ecke eines kleinen Canals.

Plötzlich zu sich kommend, warf der junge Maler einen Blick rundum und sah den alten Antonio eben im Begriff, da er nicht gehört wurde, sich mit allem Respect fühlbar bemerklich zu machen.

„Ja, Alter, ich komme!“ rief Erich dem graubärtigen, treuherzigen Spitzbubengesicht freundlich zu, warf sein Köfferchen in das Fahrzeug und schwang sich selbst hinterdrein. „Wahrhaftig, ich hatte noch keine Zeit, Euch guten Abend zu sagen. Ist aber schön von Euch, daß Ihr noch lebt; hoffe, die ganze Casa Bertucci folgt Eurem Beispiel. Was macht Donna Erminia?“

Der Alte schüttelte langsam den Kopf. „Es geht ihr nicht gut, Herr; sie ist geduldig, wie eine Heilige, aber der Husten, der böse Husten! Haben Sie schon ein Lämpchen ausglimmen sehen, immer schwächer und schwächer, daß man immer denkt nun verlischt es?“

„Und das Kind, die Ninette?“

„Das Kind?!“ Antonio machte ein krauses Gesicht. „Nun die ist hübsch groß geworden in den sechs Jahren, seit Sie nicht hier waren. – Stali-i-i-i,“ tönte sein langgezogener Ruf zu einem voranfahrenden Steinschiff hinüber, und im nächsten Augenblicke hatte sie ebenfalls ein kleiner Seitencanal zwischen seine düsteren Häuserwände aufgenommen. – –

Die Drei in der andern Gondel waren sich ein paar Augenblicke schweigend gegenüber gesessen. Leontine’s Augen hatten die Richtung über die Köpfe der beiden Herren hinaus genommen und umfaßten – ob mit Vergnügen oder Gleichgültigkeit, konnte man nicht wissen – das eigentümliche und in allen Wendungen sich gleich bleibende Bild des venetianischen Seitencanals: düstere, fensterarme Facaden, dann und wann eine hochgeschwungene Bogenbrücke dazwischen; die eine Häuserreihe tief im Schatten, der obere Theil der anderen grell von der Sonne beschienen, Wäschestücke an den Fenstern, droben ein dreieckiges Stückchen Himmelblau hereinleuchtend – aber welche Tinten in Architektur, Wasser und Luft!

Herr Nordstetter, welcher durch seinen angesetzten Zwicker vom Vordersitze aus recht wohl Erich’s minutenlanges Nachstarren bemerkt hatte, brach endlich das Schweigen.

„Wer ist denn dieser junge Mann?“ fragte er. „Ein Künstler vermuthlich?“

„Ein sehr bedeutender sogar!“ parirte Fräulein Leontine mit einiger Lebhaftigkeit die etwas geringschätzige Frage.

In spe, mein Kind,“ fügte ihr Papa vorsichtig hinzu. „Bis jetzt sind seine künftigen Bilder nur große Entwürfe und Skizzen, allerdings von ganz außergewöhnlichem Talent, aber ob er ein Publicum für seinen eigentümlichen Stil findet, das fragt sich.“

„Du vergißt das Bild auf der Wiener Anstellung, welches ihm mit einem Male einen Namen gemacht hat.“

„Es giebt zweierlei ‚Namen‘ in Deutschland, einen blos ehrenvollen und einen lucrativen. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, daß er den Weg zum letzteren auch finden möge; bis jetzt sieht es mir nicht darnach aus.“

Herrn Nordstetter’s etwas nachdenkende Miene hatte sich bei den letzten Worten des Barons bedeutend aufgeklärt; er sagte mit dem Tone ungeheuchelten Wohlwollens.

„Er scheint ein sehr angenehmer junger Mann zu sein.“

„Das ist er in der That,“ meinte der Baron, „eine liebenswürdige Menschennatur, die Einem das Herz von Grund auf erwärmt, so voll und stark und ungebrochen, wie diese Nordländer eben sind, im Gegensatz zu unserer von Pessimismus angefressenen Jugend, die schon mit neunzehn Jahren über das Elend der Welt seufzt. Ich sagte es ihm gestern in Verona im Amphitheater; er stand da, wie der breitschulterige blauäugige Totilas, der in modernem Anzug gekommen ist, sich die alten Stätten wieder einmal anzusehen.“

Herr Nordstetter hatte seine guten Gründe, auf solche historische Excurse, wie sie der Baron liebte, nie einzugehen; es war ihm überdies sehr gleichgültig, was der blauäugige Totilas jemals in Verona zu schaffen hatte, wenn ihm nur sein Ebenbild in Venedig nicht in die Quere kam.

„Und zu welchem Zweck ist Herr Björnson hier?“

„Zunächst, wie wir Alle, diese merkwürdige Zusammenkunft Franz Joseph’s und Victor Emanuel’s mit anzusehen, dann, wenn es wieder still geworden ist, um Studien zu machen für ein großes ‚Begräbniß Tizians‘, welches er in B. vollenden will. Ich habe die Photographie der Skizze gesehen – ausgezeichnet!“

Herrn Nordstetter’s Stirn wurde immer heiterer.

Der junge Mann war also gänzlich ungefährlich, und es bestand kein Grund zu Befürchtungen, wie sie sich ihm vorhin beim unerwarteten Anblick des so heiter plaudernden Paares aufgedrängt hatten. Er hatte sich in der vorhergehenden Woche in Riva der Erkenntniß nicht verschließen können, daß seine Person ohne den goldenen Hintergrund seines F…er Hauses und der fürstlichen Villa am Rheine gar nicht den überwältigenden Effect machte, welchen er seit seinem zweijährigen Wittwerstand in der heimathlichen Gesellschaft zu bemerken gewohnt war, ja, er hatte von der [407] jungen Dame hier und da eine nonchalante Behandlung erfahren müssen, die ihm eben so neu, wie merkwürdig vorkam. Gerade diese kühle Indifferenz gegen Nordstetter und Compagnie war aber die Angel gewesen, an welcher sein für weibliche Zuvorkommenheit so unempfindliches Herz hängen blieb, und die aristokratische Schönheit des Mädchens im Verein mit ihrem Geist und ihrer Grazie verstrickten ihn tiefer und tiefer, sodaß er sehr bald ganz ungewohnte leidenschaftliche Wünsche im Grund seines Herzens fühlte und in Riva ganze Stunden damit zubrachte, rauchend auf der Seeterrasse zu sitzen und es sich auszumalen, wie ganz anders eine solche Frau aus altadeligem Hause die Honneurs seiner prachtvollen Salons werde zu machen wissen, als seine gute selige Katharina, welche, der Anpassung an die großen Verhältnisse unfähig, mit ihrer rundlichen, so verzweifelt bürgerlichen Figur stets als lebendiges Pasquill auf die ganze Herrlichkeit in all dem Sammt und Gold herumgewandelt war.

So, gerade so wie Leontine sollte seine künftige Frau sein, und er hatte jetzt beim Hineinfahren in die Lagunenstadt, während er das reizvolle blasse Gesicht ihm gegenüber immer wieder voll Entzücken betrachtete, dasselbe Gefühl, wie es vor ihm die mächtigen Kaufherren Venedigs empfunden haben mochten, wenn sie im Begriff waren, eine kostbare levantinische Ladung hinter den schwerverklammerten Thüren zu bergen, welche der stolzesten Architektur ihrer Paläste als bedeutungsvolle Basis dienen.

Leontine streifte flüchtig unter ihrem Schleier heraus dann und wann das erregte Geschäftsgesicht ihres Gegenüber; auch ihr war die Bedeutung der kommenden Tage völlig klar, und ihr Herz schlug in peinlicher Empfindung, wenn sie überlegte, was wohl schlimmer sein möge, das Ja oder das Nein?

„Zuletzt eine reiche Heirath,“ hatte bis dahin das Programm ihres schönheits- und luxusbedürftigen Lebens im Stillen gelautet, es mußte diesen Schluß nehmen oder eines schönen Tages zu plötzlichen Beschränkungen herabsinken. Der Papa lebte seit einer Reihe von Jahren in der festen Hoffnung auf eine glänzende Partie seiner Tochter bedeutend über seine Verhältnisse, und nun, in ihrem sechsundzwanzigsten Jahre fing ihm manchmal an, für das so sicher vorausgesetzte Ziel bange zu werden. Leontine besaß einen sehr entwickelten Geschmack, und unter ihren zahlreichen Verehrern wollte sich nie Einer finden, der geistreich, liebenswürdig – und sehr reich gewesen wäre.

Redete der Papa einmal Einem das Wort, der neben der letzteren Eigenschaft einige minder erfreuliche besaß, so war stets die lachende Antwort. „Ach, Papa, dazu ist es noch in zehn Jahren Zeit; gönne mir noch ein wenig, mich zu amüsiren! Es ist ja doch das Einzige, was man vom Leben hat.“

Seit mehr als einem Jahre aber bot sich gar keine Gelegenheit mehr zu solchen Antworten, Leontine war, wenn sich die „Gesellschaft“ im Herbste wieder zusammenfand, schön und gefeiert. wie immer, aber die Atmosphäre um sie veränderte sich unmerklich; sie fing an, zu den stehenden Figuren zu gehören, und ihr „originelles Wesen“ wurde mehr betont, als dem Papa lieb war zu hören. Sie hatte mit raschem Entschlusse angefangen, ihr bisher nur dilettantisch bewiesenes Maltalent der Kunst zuzuwenden „für den äußersten Fäll“, wie sie im Stillen sagte, aber sie allein wußte auch, wie hart dem verwöhnten Sinne die strenge, immer gleiche Arbeit ankam und wie ohne eigentliche Ueberzeugung sie dabei blieb. Der Frühjahrsausflug nach Riva hatte ihr eine neue „Möglichkeit“ eröffnet, und es kam ihr manchmal vor, als stehe sie jetzt dicht vor ihrem Schicksale, und eine Bangigkeit überfiel sie bei dem Gedanken. Da reiste Nordstetter von Riva ab, und nun hier in der Lagunenstadt wieder dieselbe Situation, nur statt der früheren gleichgültigen, weltverachtenden Stimmung ganz neue merkwürdige Regungen im Herzen und Erinnerungen an drei so köstliche Reisetage! Es bedurfte schon der festen Willenskraft, die hinter dieser feingewölbten weißen Stirn wohnte, um alles Dies streng in sich niederzuhalten. Ihre Blicke fielen wieder auf das gelbliche Gesicht mit den frühen Falten und ausdruckslosen Augen, das in seinem Entzücken unerträglich geistlos aussah. Daß ihm in diesem Augenblicke die dunkle Prachtfacade eines hohen Palastes als schlimmer Hintergrund diente, dafür konnte es nichts – aber sie schauerte vor dem Gedanken: „Und dieser soll Dein Mann werden“, so heftig zusammen, daß sie rasch den Shawl um die Schultern zog und mit beklemmter Stimme sagte: „Es wird kühl hier.“

„Die Seufzerbrücke,“ tönte es in diesem Momente sonor vom Vorderende her; die Gondel glitt in die enge Durchfahrt zwischen Dogenpalast und Staatsgefängniß hinein, und ihr Führer wies nach oben, wo der schmale bedeckte Todesweg sich von einem Bau zum andern herüberschwingt.

Leontine wandte einen seltsamen Blick aufwärts. Es war in diesem Augenblicke, wie überhaupt in manchen Fällen, gut, daß die menschliche Brust kein Fenster hat, Herr Nordstetter würde sonst mit großem Befremden in derjenigen seiner gehofften Zukünftigem eine tiefe Sehnsucht bemerkt haben, ebenso mit dem Leben fertig zu sein, wie die Vielen, welchen vor Zeiten die kleine Brücke hier als Eingang in die Ewigkeit diente.

Ein paar Ruderschläge noch, und die Gondel flog hinaus in das sonnige, lärmende Treiben der Riva dei Schiavoni; dort wiegten sich Dampfer und vielmastige Indienfahrer auf dem Meere, und eine Unzahl schwarzer Gondeln schoß dazwischen auf und ab Von den flachen Inseln glänzten Thürme und Kuppeln herüber – Alles war Luft, Bewegung und Heiterkeit.

„Das ist Venedig,“ sagte Baron Willek wohlgemuth, als die Gondel hielt und er seiner Tochter die Hand bot, „ich weiß wenig Anblicke, die mir das Herz so von Grund aus erfreuen – hoffentlich werden wir eine schöne Zeit hier verleben.“




2.

Nicht weit vom Rialto entfernt, liegt am Canal Grande ein kleiner Palast. Die vordere elegante Zimmerreihe hat eine prächtige breite Terrasse nach dem Canale, rückwärts aber, nur erreichbar durch die tausend kleinen Gäßchen, welche Venedig wie ein Netz von Adern durchziehen, liegt der eigentlich interessante Theil der Casa Bertucci – das ist die bescheidene Wohnung der Vermietherin, Donna Erminia Steiner, der Wittwe eines österreichischen Hauptmanns, welche das vordere Haus in Pacht genommen hatte. Die dem Canal zugekehrte Vorderfronte senkt ihre sculpturbedeckte Facade düster und einförmig in die Wellen.

Auf der sonnigen Rückseite dagegen hatte sich ein buntes, mannigfaltiges Leben angesiedelt. Allerlei Anbaue, gelb getüncht, umgaben in harmloser Unregelmäßigkeit einen kleinen Garten voll so prächtigem Duft und Schatten, daß die entschiedene Liebhaberei deutscher Künstler für die Ateliers dieses Rückgebäudes sehr begreiflich erschien. Ton und Herkommen des Hauses brachten es mit sich, daß die hier auf längere oder kürzere Zeit Vereinigten als Colonie zusammenhielten, und das beharrende Element in allem Wechsel war der alte Bildhauer Bartels, der vor zwanzig Jahren „auf vier Monate“ das kleinste Stübchen im Hause gemiethet hatte und nach und nach, stets von seiner demnächstigen Abreise sprechend, in den Besitz des größten Ateliers und des einzigen Zimmers gelangt war, welches Donna Erminia im Vorderhause für sich reservirt hatte. Sein künstlerischer Wirkungskreis konnte sich, da er etwas Vermögen besaß, auf gelegentliche Portraitbüsten beschränken, die er mit großer Feinheit ausführte.

Die Production war überhaupt viel weniger seine starke Seite, als eine unbarmherzige Kritik, welche er mit großer Freigiebigkeit über die Mängel dieser Welt im Allgemeinen und die Kunstresultate der Casa Bertucci im Besonderen ausgoß. Die padrona di casa allein, die ängstliche kranke Frau, erfreute sich einer Ausnahmestellung; von ihr sprach er stets nur mit größtem Respect, ja manche seiner jungen Widersacher behauptete, so weit sein Herz überhaupt menschlichen Empfindungen zugänglich sei, habe es einst für sie geschlagen; der vor Jahren von ihr empfangene Korb habe seine Hochachtung vor ihrer Klugheit nur vermehrt und „ganz ohne“ sei die Sache auch heute nicht. Andere freilich machten geltend, daß der dicke Bartels in der Welt keinen Ort mehr finden würde, der so viel Annehmlichkeiten der Existenz mit so brillante Gelegenheiten zu kritischen Bemängelungen vereinigte, wie Venedig, und daß hieraus allein seine Vorliebe für diese Stadt sich erkläre: genug, er war und blieb da.

„Es ist doch Alles noch gerade so, wie vor sechs Jahren,“ sagte Erich lächelnd vor sich hin, als er am Mittage des folgenden Tages, von seinem ersten Ausgange zurückkehrend, in den Garten eintrat, der sich unter den Fenstern der Casa Bertucci ausdehnte. Die schwärzliche Lattenbank unter der Hänge-Esche war nicht jünger geworden, so wenig, wie dem flötenspielenden Faun auf dem Postamente daneben eine neue Nase für seine abgeschlagene gewachsen war. Aber wie eine liebe Heimath grüßte den jungen [408] Künstler der altbekannte Raum, und die Zeiten, wo er hier in stetem Ringen und Vorwärtsstreben, unter Entbehrungen aller Art, alle Kräfte der Seele nach einem Ziele gespannt, mit eiserner Beharrlichkeit gearbeitet hatte, wurden in ihm wieder lebhaft.

Er war etwas geworden seitdem; er hatte seinen eigenen Stil und mit ihm die Mittel gewonnen, seinem innersten Wesen Geltung zu verschaffen, wenn er auch bereits einzusehen begann, daß dem Einzelnen nur Einzelnes möglich ist. Aber die geheimnißvolle Kraft, welcher die wahren Kunstwerke halb ohne Zuthun des Künstlers entspringen, war mächtig in ihm; eine unbegrenzte Fülle von Schöpfungen stand vor seinem inneren Auge; er brauchte nur ein langes Leben, um sie an’s Tageslicht zu fördern.

Diese freudige Fülle des Daseins sprach deutlich aus seinen Gesichtszügen und dem kühnen durchdringenden Blick; sie gab ihm den Nimbus des Interessanten und gewann ihm rasch die Herzen. So war es ihm gelungen, in diesen Tagen der Fremdenüberfüllung ein Unterkommen in der Casa Bertucci zu finden. Es war gewesen, als sei ein Sohn zurückgekehrt; über Frau Erminia’s abgezehrtes Gesicht war ein freudiges Lächeln bei seinem Anblicke geflogen; der dicke Bartels hieß ihn mit einem Strom von Kraftausdrücken willkommen, und Ninette, „das Kind“, schwieg zwar, aber die großen, freudig glänzenden Augen des schönen Mädchens begrüßten warm genug den alten Freund, der seinerseits Mühe hatte, die Erinnerung an das knabenhaft kecke vierzehnjährige Ding von damals mit dieser holdselig erblühten Jungfrau in’s Reine zu bringen.

Seitdem hatten Ninette’s braune Augen den fröhlichen Glanz behalten; sie sang, wo sie stand und ging, und die blasse Mutter sah von ihrem Lehnstuhle unter dem Rosenlorbeer, wo sie die Tagesstunden über den milden Sonnenschein in ihre kranke Brust einsog, schmerzlich lächelnd auf ihren Liebling, den sie, wie sie sich wohl sagte, so bald schon allein auf der Erde lassen mußte.

Vor sechs Jahren, dachte sie bei sich, ja, da war es anders gewesen; da hatte Erich am liebsten seine freien Nachmittage mit ihr und dem Kinde drüben am Lido Muscheln suchend zugebracht – wie ein Sohn war er ihr gewesen; sie hatte oft daran gedacht, seit die Nina so schön und lieb heranwuchs – und jetzt? Jetzt fühlte sie, daß er ein Anderer geworden war, und sicher nicht umsonst sah er so nachdenkend aus und schritt nun da drüben schon eine halbe Stunde im Laubgange auf und ab, ohne sie und Nina auch nur ein einziges Mal anzureden.

[421] Ja, Erich war ein Anderer geworden; er befand sich seit seinem Morgenbesuche im „Grand Hôtel“ in einer so außerordentlichen Stimmung, daß er die übrige Welt vollständig vergessen hatte. Er fühlte sich wie von einer elementaren Gewalt ergriffen, und es stand nicht mehr in seiner Macht, ob er so empfinden wollte, wie er empfand. Zum ersten Mal ging ihm außer der Kunst noch eine andere berauschende Zukunftshoffnung auf, und er brauchte Zeit, sich in seinem völlig veränderten Selbst wieder zurechtzufinden.

Heute Morgen, beim ersten Wiedersehen nach kurzer Trennung, war es ihm klar geworden, was es denn eigentlich war, das ihm alle die Tage her ein so freudig erhöhtes Lebensgefühl gegeben hatte. Der erste Wiederanblick der schlanken, wohlbekannten Gestalt, wie sie, ohne seinen Eintritt in den kleinen Salon zu gewahren, regungslos, den Kopf auf die verschlungenen Hände gestützt, an der Balconbrüstung lehnte und auf die menschenwimmelnde Riva hinunterblickte, hatte sein Blut in namenlosem Entzücken zum Herzen gedrängt; er wußte in jenem Moment mit plötzlicher innerer Erleuchtung, daß in dem Blicke dieser Augen für ihn alle Seligkeit der Welt zu finden sei, und es schien ihm fortan undenkbar, fern von Leontine sein Leben hinzubringen.

… Der erste Frühling der Liebe, die entzückende Zeit, wo auf einmal ohne bestimmten Grund das Leben so schön wird und das Herz sich voll wunschloser Seligkeit an einem Blick, einem Lächeln berauscht, lag mit den drei sonnenhellen Tagen am Gardasee und in Verona bereits hinter ihm. Die eine in wachen Träumen hingebrachte Nacht hatte jene verzehrende Sehnsucht in ihm entzündet, die wohl noch eine Zeit lang durch stündliches Beisammensein zu beschwichtigen ist – und dann Alles an Alles setzt.

Hindernisse schüren solche Flammen nur höher; Erich empfand ein Gefühl, wie die sturmfesten Schiffer seiner Heimath, wenn der erste Windstoß über das Meer her fährt, als er die großen Schwierigkeiten ermaß, mit welchen er zu kämpfen haben würde, aber die Gewalt seiner Empfindungen wog alle furchtsamen Bedenken auf, und zudem trug er ja seit heute Morgen die Ahnung im Herzen, ihr nicht gleichgültig zu sein.

Er sah Alles wieder vor sich: ihre freudige Ueberraschung, als sie, ihn gewahrend, vom Balcon in’s Zimmer hinein eilte und ihm beide Hände kameradschaftlich entgegenstreckte. Er wußte gar nicht, daß die ungenirte Sicherheit des Wesens, mit der sie dann, rasch gefaßt, ihm auf einen Fauteuil deutete und sich selbst in den andern sinken ließ, ihm früher nicht an Frauen gefallen hatte; es fiel ihm gar nicht ein, darüber nachzudenken: gehörte es doch Alles zu dem einen, entzückenden Ganzen, und gerade all dieses Neue beherrschte ihn mit unwiderstehlicher Macht.

Während er ihr so gegenüber saß und, ohne recht zu wissen, was er eigentlich sagte, von dem festlichen Treiben in der Stadt erzählte, hingen seine Augen wie gebannt an den graziösen Linien ihrer Gestalt; mit geheimer Wonne genoß er den plötzlich um so viel Grade vertraulicher gewordenen Ton, dessen selbstverständliches Eintreten beim ersten Alleinsein alle Liebenden überrascht. Von der Riva herauf tönten Schifferrufe, und die Laute des lebhaften Menschentreibens drangen durch die offene Balconthür herein.

„Es wimmelt schon gehörig in Venedig,“ sagte Erich, „wenn man auch nicht gerade, wie Freund Bartels meint, überall mit den Köpfen und Gondeln an einander rennt. Der Canal sieht imposant aus in seinem Flaggenschmuck; die alte Größe ragt doch wieder einmal siegreich über die moderne Kleinheit empor. Soeben ist Victor Emanuel herein gefahren; ich sah die einfache Gondel, die ihn und seinen Adjutanten führte.“

„Ja, Papa und Herr Nordstetter sind auch an den Canal gegangen, um ihn zu sehen.“

Herr Nordstetter! Erich hatte bisher mit keinem Gedanken mehr dieses Herrn gedacht; nun berührte ihn plötzlich der Name desselben mit ausnehmend widerwärtigem Klänge.

„Und Sie selbst wollten nicht mit?“ fragte er rasch und sah sie forschend an.

Keine Spur von Verlegenheit in dem klaren Blicke der kühlen blauen Augen! Sie legte den Kopf in die Sessellehne zurück und sagte ruhig: „Nein! Ich liebe das Menschengedränge nicht und fühle mich nicht gern als ein Stück ‚Masse‘. Ich kann bis morgen warten, bis zur Ankunft unseres Kaisers; da kommt wenigstens ein persönliches Interesse hinzu. Gerade vorhin überlegte ich da draußen, ob ich mir eine Gondel nehmen und ganz auf eigene Faust ein Stück in’s einsame Weite hinausfahren sollte.“

„Seltsam,“ sagte Erich betroffen. „Ist das nun der ganze Eindruck, den diese wunderbare Stadt auf Sie macht? Ich fühlte mich heute mit großem Vergnügen als einen Theil der lustigen Menge, gondelte stundenlang drunten herum und genoß dabei den Anblick dieser märchenhaften Renaissancepracht mit dem ausgezeichneten Appetite eines Menschen, der sechs Jahre Hungercur in Deutschland durchgemacht hat. Es waren reizende Stunden.“

„Sie haben überhaupt das Talent, sich glücklich zu fühlen, das ist mir schon öfter aufgefallen,“ sagte Leontine nachdenklich, indem sie ihn wie eine naturhistorische Merkwürdigkeit betrachtete.

[422] „Gehört dazu ein besonderes Talent?“ fragte Erich lachend. „Das scheint nur die natürlichste aller menschlichen Eigenschaften.“

„Und mir die schwierigste. Da haben Sie gleich wieder einen von unseren großen ‚Unterschieden‘. Ich sagte Ihnen ja neulich, wir thäten am besten, uns gar nicht näher kennen zu lernen – wir sprechen zu verschiedene Sprachen!“

„Gar nicht näher – oder sehr nahe,“ sagte der junge Mann, indem er sich dicht neben sie setzte und ihre Hand ergriff, mit dem raschen Impuls unmittelbarer Naturen, der auf kälter Angelegte oft so großen Zauber ausübt und ihre gewohnten Waffen unwirksam macht. Deshalb zog auch Leontine die Hand nicht weg, wie sie es, jedem Anderen gegenüber, wohl gethan haben würde; sie besann sich auf keine ihrer raschen Erwiderungen, als er jetzt, unter dem vollen warmen Blick seiner treuen blauen Augen sagte:

„Wollen Sie mir das Freundesrecht gestatten, offen reden zu dürfen? Was drückt und mißstimmt Sie? Darf ich es nicht wissen?“

Sie sah einen Augenblick vor sich nieder.

„Lassen Sie das ruhen!“ sagte sie dann, „es ist kein guter Unterhaltungsgegenstand. Wir sind ja hier, um uns zu amüsiren; erzählen Sie mir weiter, was es heute noch Alles in Venedig zu sehen geben wird!“

„Nein, nein,“ erwiderte Erich, „so entkommen Sie mir nicht. Ich bin so indiscret, einmal wissen zu wollen, von welch sonderbarer Gleichgültigkeit Sie sind, die mich die ganze Zeit her wie ein ungelöstes Räthsel peinigt. Sie haben den wunderbarsten Blick für Alles, was schön ist; man lebt in Ihrer Nähe Stunden, wie nie zuvor in der Welt – bis plötzlich wieder die lebensmüden Anwandlungen über Sie kommen – woher, weiß kein Mensch.“

„Außer mir!“ sagte sie kurz. „Sie stellen sich übrigens die Sache viel zu tragisch vor, lieber Freund; ich habe keine besondere Ursache, mich unglücklich zu suhlen.“

„Nun, also, warum fühlen Sie sich denn nicht glücklich?“

„Vielleicht, weil ich auch dazu keine besondere Ursache habe; vielleicht, weil mir in Wirklichkeit das Talent dazu abgeht. Ich lebe schon so lange in der Welt; das Leben macht so müde – ich habe so Vieles mit angesehen – aber nie Glück,“ fuhr sie hastiger fort, „nie einen Zustand, wie ihn die Poeten schildern und wie er allein der Mühe werth wäre, gelebt zu werden; ich glaube auch jetzt gar nicht mehr daran. Es mag sein, daß ich eigentlich von einer anderen Art bin, als die Anderen um mich her – ich glaube es selbst, aber das hilft mir jetzt Nichts mehr; es ist nur um so schlimmer. Man kann sich nicht mehr ändern – ich bin nach und nach mit voller Absicht so realistisch oder, wenn Sie wollen, so gleichgültig geworden, daß ich mich über Nichts mehr betrübe; allerdings habe ich auch verlernt, mich sehr an Etwas zu freuen, und wenn ich heute Jemanden dafür schwärmen höre, seinen Idealen nachzuleben, so weiß ich nicht, soll ich ihn beneiden oder belachen. Strengen Sie sich mit keiner Bußpredigt an!“ wehrte sie seine beginnende Rede ab, „die Ideale der Kunst gebe ich Ihnen völlig zu; dort suche ich sie auch noch, aber sonst nirgends mehr.“

Wie eine fremde Sprache tönte das in Erich's Ohren; er hörte, ohne im Geringsten zu begreifen, was seiner warmen Jugendlichkeit nur vorkam, wie die seltsamsten Grillen von der Welt. Aber gerade das Fremde, Unverständliche in ihrem Wesen zog ihn an, wie ein Zauberräthsel, und zudem hatte sie nie so entzückend ausgesehen, als indem sie dies Alles wie gleichgültig vor sich hinsprach, während doch ihre sonst so beherrschten Gesichtszüge die Erregung nicht verbergen konnten und einen ganz ungewohnten Ausdruck hatten. Erich sah eine gefesselte Psyche; sein Herz wallte hoch auf.

„Könnte ich Sie nur einmal fünf Minuten lang durch meine Augen in diese schlimme Welt sehen lassen,“ sagte er, „Sie sollten bald wissen, wie schön sie ist. Ich begreife es nicht, wie man das Leben, dieses alle Tage neue, göttliche, freie, nur einmal zu lebende Dasein, nicht stets von Neuem wunderbar findet. Wer will, ist ja auch heute noch der erste Mensch; er braucht sich nur so zu empfinden. Glauben Sie mir, das war es, was die Existenz dieser Alten hier groß und schön gemacht hat. Das Leben wird damals nicht besser gewesen sein, als heute, ich glaube sogar viel schlechter, aber die Leute waren frei. darum waren sie groß. Nichts auf Erden ist unerreichbar für den Arm, der kühn genug ist, danach zu greifen, und das Ideal verkörpert sich überall – in Kunst und Liebe und in den Gestalten großer Menschen, deren Sie doch wahrhaftig auch gekannt haben.“

„Nein,“ sagte sie trocken, „das habe ich eben nicht. Keinen Einzigen, der es vertragen hätte, daß man seine innersten Triebfedern, die Motive seiner Handlungen kannte. Aber die sah ich stets ganz deutlich; denn ich habe unbarmherzig scharfe Augen und sehe auf den Grund der schönsten Redensarten. Ich bin auch selbst durchaus nicht gut, wie Sie vielleicht denken; es sieht nur so aus, weil ich nicht lüge. Aber den Glauben an menschliche Vollkommenheit brauchte ich mir nie abzugewöhnen – ich habe ihn nie gehabt.“

„Sie verleumden sich,“ rief Erich unmuthig.

„Nein, nein,“ sagte sie mit großoffenem Augenaufschlag; „ich gestehe nur ein, was die Anderen sorgfältig verheimlichen, aber ich bin nicht besser, als sie. Das ist's ja eben, daß wir Alle von kleinen Dingen abhängig sind. Sie sollten einmal in unserer Gesellschaft in W… leben; die Misere macht sich in Allem fühlbar. Jeder weiß so genau, was der Andere im Stillen denkt und auch thut – und wenn man das so Jahre lang mit ansieht und sich mitten drunter fühlt – nun, das Uebrige können Sie sich ja wohl selbst sagen.“

„Mehr noch, als Sie denken,“ erwiderte Erich ein wenig verdrießlich. „Wer das Alles so klar erkennt, der hat die Pflicht, aus solcher Umgebung den Sprung in eine andere, gesündere zu thun, die es, Gott sei Dank, noch giebt.“

Sie sah ihm mit einem ganz leisen, ironischen Lächeln unverwandt in die Augen.

„Sie sind anders, lieber Freund, aber es wäre vermessen, auf viele Solche zu rechnen. Auch unsere Künstler sind nicht so, wie Sie – glauben Sie mir!“ setzte sie rasch hinzu „Ich kenne die Herren gut, das Malen allein veredelt die Menschen nicht. Sie sind der Erste von Ihrer Art, den ich sehe, Ihnen glaube ich auch, daß Ihre Gesinnungen rein sind, und daß Sie stets darnach handeln. Wie es Ihnen bekommen wird, das ist eine große Frage. Sie würden sich wohl nicht bedenken, im Nothfalle Alles dafür einzusetzen?“

„Natürlich nicht!“

„Nun, sehen Sie, das thut Niemand von uns „Sprechen Sie immer wieder von ‚uns‘ sagte Erich mit beginnendem Aerger, „als ob Sie mit der ganzen Welt einer Menschenrasse angehörten und ich der anderen.“

„Es mag sein, daß es in Norwegen noch Mehrere von Ihrer Sorte giebt,“ entgegnete sie lächelnd; „wir in unseren gemäßigten Regionen sind immer für’s Vertragen und Vergleichen, um uns die Bedingungen von Comfort und Genuß zu erhalten, die nun einmal als Grundlagen der Existenz gelten. Wir sind Alle zu verwöhnt. Das Ideal ist bei uns eine unbekannte Größe. Und wenn man also doch stets gewisse Rücksichten vor Augen hat und sich wohl hütet, darüber hinaus zu gehen“ – ihr Ton wurde wieder bitter – „dann ist es auch unnöthig, erhabene Redensarten im Munde zu führen. Ich kenne genug Solche, die es thun, aber es ist nicht meine Sache. – Brechen wir ab davon!“ sie erhob sich und schob den Sessel, der sich in ihre Schleppe verwickelt hatte, bei Seite, „wir kommen wirklich zu tief in den Text, und ich bringe mich ganz unnöthiger Weise um das Bischen Sympathie, das Sie allenfalls noch für mich haben.“

„Einen Augenblick noch und noch eine Frage!“ sagte Erich, dem während ihrer letzten Worte eine Ahnung aufgegangen war. „Würden Sie im Stande sein, Jemanden ohne Neigung, um seiner Stellung willen zu heirathen?“

Leontine zögerte einen Augenblick, dann warf sie mit einem trotzigen Blicke den Kopf in die Höhe.

„Ja! Unter Umständen. Würden Sie mich verachten, wenn ich's thäte?“

„Ja!“ rief er stark und machte ein paar rasche Schritte durch's Zimmer. „Unter allen Umständen!“

Die Worte waren sich gefolgt wie Blitz und Donnerschlag. Dann wurde es ganz still. Plötzlich blieb Erich stehen und sagte mit ganz verwandeltem Tone:

“Wenn Sie es könnten! Aber Sie können es nicht; so lügt die Natur nicht, wie es diese stolzen Züge müßten – Ich biete Ihnen die Wette,“ rief er erregt, als sie sprechen wollte; „ich weiß jetzt Alles, als ob Sie mir es erzählt hätten, ich habe ja wohl auch schon gesehen, wie elend man sein bestes Leben um Geld wegwirft. Aber Sie sollen es nicht, Sie nicht – ich könnte es nicht ertragen – und Sie werden es nicht thun; Sie [423] müßten furchtbar unglücklich werden … Ich will nicht von mir sprechen,“ fuhr er, näher tretend, mit leidenschaftlichem Tone fort, „ich darf es heute noch nicht, und Sie müssen auch ganz frei sein, um diese Erbärmlichkeiten von sich zu stoßen. Sehen Sie hinaus!“ er deutete auf das strahlende Leben draußen „drei Tage nur in dieser Luft voll Freiheit und Schönheit – und Sie sollen den Gedanken unmöglich finden, Ihre Seele der F…er Börse zu verkaufen.“

Leontine, die nicht leicht über Etwas erstaunte, fand doch diese Sprache ihres neuen Freundes höchst wunderbar und noch wunderbarer, daß sie selbst keine Regung des Zornes darüber empfand.

„Verzeihung, daß ich so spreche!“ setzte er rasch hinzu, indem er ihre Hand faßte und an seine Lippen zog, „ich konnte nicht anders. Seien Sie mir nicht böse darum!“

Sie war ihm nicht böse – im Gegenteile sie empfand es als eine Art von Erleichterung, ihm, was auch später kommen mochte, die Wahrheit über sich gesagt zu haben. Sie war nicht immer so scrupulös gewesen, wo sie sich überschätzt fühlte … aber dieser war auch anders, als die Anderen … und daß er trotzdem im Banne ihres Lächelns blieb, wußte sie gut genug.

Deshalb erhob sie mit der kinderhaften Unbefangenheit, welche bei ihrer großen Schönheit gefährlicher wirkte, als alles kokette Schmachten, die Augen und sagte in reizend freimütigem Tone:

„Sie sind gut und mein Freund, deshalb dürfen Sie mir sagen, was Sie wollen. Bessern werden Sie mich schwerlich; ich fürchte, ich bin unheilbar. Aber,“ fuhr sie rasch fort, als er Einsprache thun wollte, „ich will Ihnen versprechen, hier in Venedig sehr artig zu sein und mich von Herzen glücklich zu fühlen. Es sieht auch wahrhaftig jetzt schon Alles ganz anders aus, als heute Morgen, wo ich da draußen saß. – Wollen wir uns heute auf dem Marcus-Platze zum Beginne der Wanderung treffen? Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich noch gar nichts gesehen habe, es war mir – nun einerlei, aber meine erste Fahrt hier möchte ich mit Ihnen thun.“

Dann hatte sich Erich – natürlich mit einem „Ja!“ verabschiedet; dann war er gegangen – – der süße Klang von Leontinens Worten tönte noch immer in ihm nach; er lebte auch jetzt in seinem Herzen, jetzt, während er im „Grand Hotel“ ruhlos, rastlos auf und ab schritt; ja dieser Klang übertönte Alles, was sich sonst von Mißklängen darin regen wollte, und hielt auf seinen Lippen das glückliche Lächeln fest, das Frau Erminia von ihrem Lehnstuhle aus beobachtete. Ninette saß neben ihr auf einem Schemel; die Sonnenlichter spielten durch das Epheudach über ihr gesenktes Köpfchen und die kleinen, fleißig arbeitenden Hände hin; dann und wann unterbrach sie sich, um die Hand der Kranken zu fassen, ihr mit den warmen, liebevollen Augen in’s Gesicht zu sehen und in leisen Schmeicheltönen nach ihrem Befinden zu fragen. Zwischendurch blitzte auch wohl einmal ein halb unwilliger Blick zu dem hartnäckigen Spaziergänger hinüber, der offenbar heute Nachmittag gar keine Augen für seine ehemalige kleine Freundin hatte; früher, wenn er so brütend stillschwieg, war sie freilich stets ohne Umstände zu ihm gelaufen, nur seine Hand zu fassen, und hatte solange mit ihrem unermüdlichen Zünglein fortgeplaudert, bis er Notiz von ihr genommen und sich nun seinerseits in tausend übermütigen Possen ergangen hatte. Aber jetzt war sie ein großes Mädchen, und er - er dachte offenbar mit keinem Gedanken mehr an sie; er sprach ja nur noch so im Vorbeigehen mit ihr. Früher hatte er sie oft genug mit dem Scherz geneckt: sie sei nicht nur eine halbe, sondern eine ganze Deutsche, wodurch er das Kind stets zu so hellen Zornesausbrüchen gereizt hatte, daß sie mit funkelnden Augen ihr Italienerthum verteidigt hatte. Heute wäre diese Neckerei besser am Platze gewesen als damals; denn das leise Herzweh, das sich nur vermehrte, je länger Erich’s ahnungslose Unbefangenheit dauerte, sah sehr germanisch aus den dunkeln, träumerischen Augen Ninette’s hervor.

Es war so still in dem Gärtchen, daß man aus dem Atelierfenster deutlich Bartels’ schallende Stimme hörte; er war eben im besten Zuge, einem jungen Polen „heimzuleuchten“, welcher nicht, wie die Anderen, vor seinen unmenschlichen Grobheiten Reißaus nahm, sondern dieselben jeder Zeit unerschütterlich gelassen anhörte und mit einer unbegreiflichen, wenn auch etwas apathischen Zärtlichkeit vergalt. Im Augenblicke lag der blasse Jüngling mit halbgeschlossenen Augen auf dem alten Sopha und bemühte sich, den herumschießenden dicken Bildhauer von seinen Angriffen gegen einen dünnbeinigen Perseus abzulenken, der auf der Drehscheibe wie am Pranger stand.

„Das afficirt mich Alles nicht,“ sagte er schmachtend, „ich habe heute schon viel schlimmere Dinge erlebt. Wenn Sie wüßten, was ich für eine große Dummheit gemacht habe!“

Bartels blieb stehen. „Bilden Sie sich nichts ein, mein Bester!“ sagte er, aus seinem groben Tone fallend, beinahe zärtlich; „zu einer großen Dummheit muß man gescheidter sein, als Sie, das bringt nicht Jeder fertig.“

„Na, hören Sie nur einmal –“

„Hab’s gehört,“ schrie nun der Alte, „war am Fenster oben, wie Sie unten bei der Kleinen abgefahren sind, mit Ihren einfältigen Redensarten – geschieht Ihnen gerade recht. – ‚Eine große Dummheit‘ – was der Mensch sich nicht Alles einbildet! Beethoven hat Dummheiten gemacht, und Michel Angelo hat sie gemacht, und – andere Leute ebenfalls,“ führ er mit einem selbstzufriedenen Bartstreichen fort, „aber Sie und Ihresgleichen, Ihr bringt es höchstens zu einer rechten Eselei; zu einer großen Dummheit habt Ihr nicht das Zeug.“

„Bartels!“ rief in diesem Augenblicke Erich, der den Zusammenhang rasch begriff, vom Fenster her, um den Frauen die weitere Erzählung zu ersparen „Bartels, komm doch einmal heraus! Man hört ja sein eigenes Wort nicht vor Deinem Gebrülle.“

Und als das rothe Gesicht unter der weißen Mütze auf der Schwelle erschien und mit dem Ausdrucke des tiefsten Seelenfriedens den blauen Frühlingshimmel und die Blütenflocken der Bäume ansah, faßte der junge Mann rasch nach dem Knopfe des staubigen Atelierkittels und sagte, indem er den Alten mit sich in den Lorbeergang zog:

„Höre, Bartels, wie wäre es nur zu machen, morgen im Vorderhause auf der Terrasse einen Platz für den Einzug der Majestäten zu bekommen?“

„Geht nicht, mein Sohn, geht nicht!“ erwiderte Bartels eifrig, „der ganze Piano ist an den Fürsten J. vermietet. Du kennst ja diese Aristokraten – steifes Volk! Man kann da nicht so ohne Weiteres einfallen.“

„Es läge mir viel daran,“ fuhr Erich zögernd fort, „es sind Fremde da –“

„Meine Stube im zweiten Stocke steht Dir zur Verfügung,“ sprach Bartels großmütig. „Etwas eng zwar wird’s werden; es kommen schon ein Stücker zehn, ungerechnet die Padrona und Ninette.“

„Nein, nein,“ wehrte Erich ab, „das ist unmöglich; es ist eine Dame dabei. Wie mache ich das nur?! – Sie wohnen in der Riva, ziemlich weit von der Piazetta; also können sie den Einzug von ihren Fenstern nicht sehen – aber Himmel!“ rief er mit einer plötzlichen Bewegung, „da ist sie ja selbst.“

Er sah im höchsten Erstaunen unter der offenen Gartenthür den wohlbekannten kleinen schwarzen Hut erscheinen und darunter zwei lachende Augen, die sich an seiner sprachlosen Verwirrung weideten. Baron Willek und Herr Nordstetter traten hinter ihr ein; der Erstere fragte mit einem zweifelhaften Blicke auf das winkelige Mauerwerk.

„Sind wir hier wirklich in der Casa Bertucci? Der alte Antonio behauptet, dies sei der Eingang.“

„Er ist es wirklich, Herr Baron,“ erwiderte Erich, indem er sich tief gegen Leontine verbeugte. „Und wohnt hier Fürst J.?“ „Im Vorderhause; hier sind Ateliers und Wohnungen für bescheidener situirte Sterbliche. Darf ich Sie hingeleiten?“

„Bildhauer Bartels, wenn ich nicht irre?“ fragte der Baron, nochmals stehen bleibend.

„Zu dienen, Herr Baron! Ich hatte vor einigen Jahren das Vergnügen, Sie in meiner Werkstatt zu sehen.“

„Wohin Sie mir und meiner Tochter einmal wieder zu kommen erlauben, nicht wahr?“

Herr Bartels verbeugte sich stattlich vor Leontine, welche nach einem flüchtigen Gruß sich rasch zu Erich wandte und im Weiterschreiten flüsterte:

„Hab’ ich’s recht gemacht? Auf dem Marcus-Platz konnte ich Sie nicht halten; da fiel mir dieser Ausweg ein. Aber nun begleiten Sie uns in einer Viertelstunde und bringen den Rest des Tages mit uns zu, nicht wahr?“

Erich’s Herz ging in raschen Schlägen. Was bis jetzt nur [424] Wunsch und Sehnsucht gewesen war, fing an, feste Gestalt zu gewinnen; der Zweifel, ob sie ihn wirklich lieben könne, war der einzige in seiner unverdorbenen Seele gewesen; war dies aber möglich, dann mußte ja alles Andere von selbst kommen. Der Ausdruck dieser glücklichen Zuversicht leuchtete rein aus seinen Augen, als er ihre Frage mit Freuden bejahte, dann schritten die Beiden, scheinbar gleichgültige Reden tauschend, die kurze Strecke nach dem Hause zu – ein so für einander geschaffenes Paar, daß es kein Wunder war, wenn auch Herr Nordstetter auf diese naheliegende Idee verfiel und eine sehr unangenehme Empfindung darüber in sich aufsteigen fühlte.

Der „junge Mensch“ kam ihm heute bedeutend eingebildeter vor, als er ihn von gestern in der Erinnerung hatte. Als er an der Thür nun gar von Leontinens Lippen ein heiteres „Adieu denn, halten Sie sich in einer Viertelstunde bereit!“ vernehmen mußte, und Erich's enthusiastischen Abschiedsblick auffing, da kostete es ihn alle Mühe, mit gewohnter Höflichkeit den Hut zu lüften, und erst drinnen im Salon der Fürstin, wo er sich mit aller möglichen Auszeichnung behandelt fühlte, kamen die aufgeregten Wellen seines Inneren wieder zur Ruhe.

Aber noch zwei anderen Augen war der Anblick der Beiden ein stechender Dorn gewesen. Die arme Nina hatte sich, als die Gesellschaft an ihnen vorüberschritt, fester gegen die Mutter geschmiegt und mit allen Qualen der plötzlich erwachten Eifersucht die vornehme Dame und Erich’s strahlende Mienen betrachtet.

„O, wie schön sie ist!“ flüsterten ihre Lippen leise der Mutter zu, die zärtlich bekümmert mit der Hand über die glänzend braunen Flechten ihres Lieblings strich. Keine von Beiden sprach lange Zeit mehr ein Wort. Bartels aber, der gleichfalls seine Augen bei sich hatte und recht ausgezeichnete Ohren dazu, nahm den zurückkehrenden Erich unter den Arm und sagte ihm, als sie am Ende des Gärtchens angekommen waren.

„Höre, mein Junge, was ich gerade dem Mondkalb da drinnen gesagt habe, das gilt nicht für Dich! Wenn ich mir Deinen verklärten Habitus betrachte und diese herzlose Aristokratenschönheit und den Baron von Habenichts dazu, dann kann ich mir nicht verhehlen, daß Du auf dem besten Wege scheinst, eine große Dummheit zu machen, und das sollte mir um Deinetwillen leid thun.“

„Ich danke Dir für Deine Warnung,“ erwiderte Erich mit verstelltem Ernst, „sie ist aber, wie Du mir glauben kannst, gänzlich überflüssig.“

„Jawohl, o ja! Das kann ich mir denken, es wäre auch das erste Mal, daß Einer darauf hörte. Die Sirenen sind ja sehr angenehme Frauenzimmer, und tiefer als bis auf den Knochen kann man sich nicht verbrennen, und es ist übrigens –“

Er sah sich um und bemerkte, daß Erich sich aus dem Staube gemacht hatte, was ihn veranlaßte, seine Predigt ohne weitere Ceremonie zu beschließen. –

Herrn Nordstetter’s Aerger in dem Gärtchen der Casa Bertucci sollte für jenen Nachmittag nicht sein einziger bleiben. Wohl strahlte die Sonne vom blauen Frühlingshimmel auf die bereits im buntesten Flaggenschmuck prangende Stadt hernieder und schnitt die Prachtornamente der alten Palastfacaden scharf wie mit dem Messer aus tiefen Schatten heraus, wohl war es ein entzückendes Gefühl, in der Gondel auf dem großen Canal dahingleitend, jeden einzelnen dieser Wunderpaläste langsam heranziehen zu sehen und beim Klang ihrer stolzen Namen der großen Vergangenheit zu gedenken, zugleich aber auch den Athemzug seiner eigenen modernsten Gegenwart in dieser wonnevollen Luft als süßen Genuß zu empfinden; aber zu alledem gehört größere Harmlosigkeit, als sie einem Manne beschieden sein kann, der seinen vierten Gondelplatz extra deshalb eingenommen zu haben schien, um sich von seinem glücklichen Rivalen einen unfreiwilligen Cursus in der Eroberungskunst ertheilen zu lassen, und dazu noch in Anbetracht der Umstände bescheidentlich schweigen muß. Denn das seit dem Dogenpalast, wo sie gerade herkamen, zwischen Erich und Leontine geführte lebhafte Gespräch über die Kunst der Renaissance hatte für Herrn Nordstetter der Klippen und Untiefen zu viele, als daß er sich hätte hineinwagen mögen, außerdem waren die Worte gänzlich unverfänglich, aber der Ton! – der Ton, welcher das unbedeutendste Wort zum Liebesgeständniß macht, war in den Reden, und Herr Nordstetter bemerkte sehr wohl den großen Gegensatz zu Leontinens gleichgültigem Accent ihm gegenüber.

Trotz allen Aergers, den ihm dies verursachte, schien sie ihm gerade in dieser bezaubernden Heiterkeit begehrenswerther als je, und der Vorsatz, die Sache rasch und energisch zur Entscheidung zu treiben, wurde mächtig in ihm. Von einer ernsthaften Rivalität dieses Menschen konnte ja doch keine Rede sein, aber es war jedenfalls Zeit, zu enden.

Der morgende Tag mußte ihn um ein großes Stück weiter bringen; noch vor einer Woche hätte der reiche Mann nicht gedacht, daß ihm mit der Einladung dieses unbedeutenden russischen Fürsten ein solcher Gefallen geschehen könne. Dorthin fand der Maler keinen Zutritt, wogegen er selbst Gelegenheit haben würde, sich bei den Einzugsfeierlichkeiten an Leontinens Seite als Berechtigter zu zeigen und den Rest des Tages auf bestmögliche Weise für seine Absicht zu nützen. Abends Feuerwerk auf dem Meere, eine Gondel zu Zweien im richtigen Augenblick genommen, es konnte nicht fehlen; und übermorgen mochte dann der junge Herr sehen, wie er seinen Glückwunsch anbrachte.

So weit war er in seinen Ueberlegungen gekommen, als man eben den Eingang der Akademie überschritt und in die Säle der alten Kunst eintrat; Nordstetter’s Gesicht sah so erheitert aus, daß Erich auf den Gedanken kam, es möge sich am Ende unter der nüchternen Außenseite des Banquiers einer der unbegreiflichen Enthusiasten für die Malerei aus der Zeit vor Rafael verbergen, welche Einem zuweilen unter der weltlichsten Hülle plötzlich aufstoßen. Er richtete eine darauf bezügliche Frage an ihn, welche jener, rasch gefaßt und in Erinnerung der anständigen Langeweile, die er in allen Hauptmuseen des Continents erduldet hatte, mit einem gedehnten „O ja – gewiß!“ beantwortete. Aber Leontine rief lachend dazwischen:

„Nein, nein, machen wir, daß wir aus der Region des Goldgrundes hinaus und zur Assunta kommen! Den Goldgrund kann man hier entbehren, hier in Venedig, wo Alles von Leben und Schönheit strahlt und die wunderbaren Tizian’s von allen Wänden niederschauen.“

„Da haben Sie den wunderbarsten von Allen,“ sagte Erich, ein paar Stufen in den Saal der Assunta heruntertretend.

Lange Minuten verstummte jedes Gespräch vor der überwältigenden Herrlichkeit dieses Eindrucks. Der Baron saß auf einem der bereitgestellten Stühle und genoß mit halbgeschlossenen Augen, voll kennerhafter Gourmandise. Nordstetter, auf einem andern, studirte anscheinend gewissenhaft das rothe Buch und warf von Zeit zu Zeit einen Blick zu der Rampe, die das Bild vom Saale trennt, hinüber, wo Erich und Leontine wortlos neben einander standen. Die Augen hatten Beide auf das leuchtende Farbenwunder vor ihnen geheftet, und sie glaubten auch, sich allein damit zu beschäftigen Aber die neue Wonne des Glückes, welche sie den ganzen Tag über durchdrang und alles Gesehene und Genossene mit einem ganz eigenen Zauber umfloß, sie entsprang nicht aus Tizian’s berauschender Farbenglorie, sondern aus der süßen Gewißheit des noch unausgesprochenen Einverständnisses, welches jeden Blick von einem Auge in’s andere zu einer stummen Liebesbotschaft macht und vielleicht die schönste Tageszeit der Liebe ist.

Leontine hatte die schmale Hand im hellen Handschuh leicht auf die Rampe gestützte Erich konnte der Versuchung nicht widerstehen und berührte ein paar Secunden lang mit seinen Fingern leise und unbemerkt die ihrigen. Sie fühlte es wie einen elektrischen Funken – aber es erfolgte keine Zurückweisung. Im Gegentheil, wie magnetisch gezogen kehrten sich die beiden schönen Augenpaare einander zu, und ein langer stummer Blick voll leidenschaftlicher Bitte und kaum verhüllter Gewährung wurde getauscht, ohne daß die Anderen es bemerken konnten.

So verfloß Beiden der Rest des Tages in dem Genuß der Herrlichkeit dieser einzigen Stadt. Strahlte das ganz ungewohnte selige Wärmegefühl aus Erich's blauen Augen oder wuchs es langsam aus den Denkmälern dieser reichen und freien Lebensschönheit empor – Leontine hätte es nicht zu sagen gewußt, aber sie gab sich ihm rückhaltslos, wie sie es selbst nicht für möglich gehalten hätte, und mit absichtlichem Vergessen alles Anderen hin. Wie die Gondel, welche sie und ihre Liebe trug, über den Wassern, so schwebten die Empfindungen der Beiden hoch über dem alltäglichen Leben. Künstlerisches Entzücken, Wonne des gegenseitigen Anblicks und ein Gefühl, als müßten nun immer noch goldenere Tage folgen bis in's Unabsehbare – alles das zusammen schuf den überwältigenden Rausch, der das Leben plötzlich zu ungeahntem Werthe [426] emporhebt und alle seine Unzulänglichkeiten mit zauberhaftem Glanze deckt.

So fuhr man einzig schöne Stunden bald zwischen den stolzen Palastreihen dahin, bald durch die schmalen Canäle an den hofartigen Plätzchen vorüber, wo sich das eigentliche venetianische Volksleben malerisch um einen der alten Brunnen versammelt. Und wo es gerade sein mochte, in dem phantastischen Dämmerlicht der goldenen Marcus-Kirche oder in den heiter-prächtigen Rathssälen – überall glaubte man in diesem Augenblicke das Schönste zu sehen.

Und dann kam der Abend, und sie saßen zum Schlusse in der lauen Frühlingsnacht auf dem Marcus-Platze, Eis schlürfend im Schein zahlloser Gaslichter, während droben die leuchtende Pracht des Sternenhimmels sich entfaltete und die goldglänzenden Bogen des Domes, die blasse Spitze des Glockenturms in dämmernder Helle schwammen. Erich hob die Augen zu ihnen auf; sein Herz war weit geöffnet für die volle Seligkeit der Welt. Leontinens Blicke hingen mit einer ihr völlig neuen leidenschaftlichen Sehnsucht an seinem jugendschönen, ernsten Gesicht – so wie heute war ihr noch niemals zu Muthe gewesen.

Herr Nordstetter war nicht dabei; er hatte sich am Hôtel aussetzen lassen, um noch „wichtige Briefe“ zu schreiben.

„Seliges Leben!“ sagte Erich, als er sich tief in der Nacht auf sein Lager streckte und das silberne Mondlicht durch die Lorbeerzweige vor dem Fenster hereinfloß. „Ein Tag wie der heutige könnte Jahre der Qual vergessen machen – und dies ist erst der Anfang.“


[452]
3.

Am folgenden Morgen saß Baron Willek mit seiner Tochter beim Frühstück auf dem Balcon. Der frische Ostwind trug den Meerduft herüber und spielte in den flatternden Zacken des blaugestreiften Sonnendachs – es war ein wundervoller Morgen.

Drunten auf der Riva wogten schon Massen festlich gekleideter Menschen durch einander, mit dem unbeschreiblichen Anstand, der die Italiener bei solchen Gelegenheiten auszeichnet; man hörte nur Lachen und fröhliche Begrüßungen und vernahm beides auf dem Balcon oben um so besser, als dort schon seit geraumer Zeit völlige Stille herrschte. Der Baron hatte sich in ein englisches Journal vertieft, während Leontine, im eleganten himmelblauen Cachemireschlafrock nachlässig im Schaukelstuhl ruhend, mechanisch mit einem Theelöffelchen spielte und durch die Lücken der Balconbrüstung das Treiben auf der Straße beobachtete oder wenigstens zu beobachten schien. Sie war noch nicht frisirt; ihre reichgelockten Haare mit dem bläulichen Glanze beschatteten die blasse Stirn, und die langen Wimpern hatten sich tief nach den Wangen zu gesenkt.

Ob die Bilder, welche vor ihrem innern Auge vorbeizogen, beglückender Natur waren? Die leise zusammengezogenen Brauen und der wie nach innen gewandte Blick verriethen Nichts davon.

Jetzt legte der Papa das Blatt weg; dann wandte er sich plötzlich in seiner gewohnten leisen und deutlichen Sprechweise an seine Tochter:

„Und nun, liebes Kind, würdest Du mich verbinden durch eine Andeutung, wie denn das Alles noch werden soll. Ich muß gestehen, Du fängst an, mir unbegreiflich zu werden.“

Die junge Dame veränderte ihre Stellung nicht und schlug die Augen nicht auf, als sie gleichgültig fragte:

„Weshalb denn, Papa?“

„Weshalb?!“ Baron Willek konnte doch nicht umhin, in einen angeregteren Ton zu verfallen. „Weil Du Dich gestern Nachmittag in einer Weise benommen hast, die ich mir mit Deinen gesunden fünf Sinnen nicht mehr zusammen reimen kann.“

„Erlaube, Papa –“ sagte sie, sich rasch emporrichtend.

„Erlaube Du mir, mein Kind,“ unterbrach er sie, mit sehr bestimmter Bewegung ihren erhobenen Arm niederdrückend, „und laß mich völlig ausreden. … Ich will nicht gegen Deinen Willen zu einer Verbindung drängen, die so sehr meinen Wünschen entspricht, wie kaum je eine andere; Du weißt es, ich habe in Riva keinerlei Zwang auf Dich geübt, obgleich es mir höchst fatal war, daß die Sache damals so aus einander ging. Es ist die beste Partie, welche Du je machen konntest, und keine ähnliche wird sich Dir wieder bieten. Du selbst – gestehe es nur! – warst damals bei seiner plötzlichen Abreise einigermaßen deprimirt.“

Leontine betrachtete die Spitzen ihrer Morgenschuhe und antwortete nicht.

„Nun geschieht das Unerhörte,“ fuhr ihr Vater fort, „die versäumte Gelegenheit bietet sich Dir nochmals gerade so dar, und Du – statt rasch entschlossen zuzugreifen – amusirst Dich damit, vor den Augen dieses geldstolzen Mannes eine so unsinnige und zwecklose Liebelei anzuspinnen, daß mir der Verstand still stehen möchte und ich meine Tochter nicht wieder erkenne. Noch ein solches Beisammensein wie gestern, und Nordstetter zieht sich [454] definitiv zurück, das sage ich Dir; ich gab mir gestern Mühe genug, ihn auf andere Gedanken zu bringen.“

„Mag er!“ sagte achselzuckend Leontine. „Er ist mir total gleichgültig; man kann doch nicht heirathen ohne – –“

„Darüber warst Du vor acht Tagen anderer Ansicht und wirst es wieder sein, wenn die Tollheit verflogen ist, die Dir jetzt den Kopf einnimmt. Nur ist dann die Gelegenheit auch vorüber und zwar auf immer. Komme zu Dir, Leontine – ich bitte Dich. Was soll es denn werden mit diesem jungen Künstler ohne Namen und Verdienst?“

„Und wenn ich nun dächte, ihn zu heirathen – Vater?“

„Heirathen?! … ah!“ kam dieser nach einer momentanen Sprachlosigkeit wieder zu Worte, „Du! … diesen jungen Menschen, der höchstens eben so alt ist, wie Du! … Aber mit wem rede ich denn – mit Leontine von Willek , der bisher keine Partie groß und glänzend genug war, oder mit einem sentimentalen Bürgermädchen – nein, sogar die wissen heutzutage etwas Gescheidteres zu thun, als arme Künstler zu heiraten.“

Der Baron war. nahe daran, zornig zu werden, doch ging dies gegen seine Grundsätze, er faßte sich also wieder, schritt ein paar Mal aus und ab und fuhr dann in ruhigerem Tolle fort:

„Kind, Kind, Dir ist Venedig zu Kopfe gestiegen; ich kenne das, man fühlt plötzlich den Abstand zu seinem nackten modernen Leben und sehnt sich nach einer poetischen Existenz. Ich gebe Dir auch zu, daß ein Dasein voll Glanz und Sorglosigkeit mit einem Gatten wie dieser Erich Björnson beneidenswert sein könnte, aber leider fügen sich die Dinge uns dieser Erde nicht so – und ein Leben in Sorge und Mangel ist abscheulich, an wessen Seite man es auch führt.“

„Es müßte ja nicht Mangel sein,“ beharrte Leontine. „Björnson wird in kurzer Zeit seinen Weg machen; ich habe viele Künstlerfrauen gesehen, die ein reizendes Leben führten.“

„In Renaissancezimmern für zehntausend Gulden mit Marmorkaminen – Frau P. und Frau von W., nichtwahr? Die eine reich von Hause aus, die andere Frau eines Glückspilzes, der seinen Pinsel dem Geschmack der Gründer anzubequemen versteht. Wird das Erich Björnson, kann er es, was meinst Du?“

Leontine schwieg. Die beiden Köpfe dachten ein paar Augenblicke dieselben Gedanken. Dann sagte sie plötzlich:

„Woher kommt es den, daß ich seit gestern, wo mir diese Idee zum ersten Mal ernstlich kam, wie in ein neues Leben hineinsehe? Wenn wir nun bisher nur im Irrthum gelebt hätten, Papa? Es kommt mir auf einmal vor, als wüßten wir gar nicht, wo der Kern des Lebens eigentlich liegt, und gäben uns jahraus jahrein die größte Mühe – um taube Schalen.“

Baron Willek wies sarkastisch lächelnd auf das luxuriöse Frühstücksgeräth:

„Sie sind doch ganz hübsch versilbert, diese Schalen, und für die jenseitigen Kerne muß man besondere Zähne haben. Dein Herr Björnson hat sie, wie jeder Parvenü, Du aber hast sie nicht und würdest das bei ruhigem Blute auch sehr wohl einsehen.“

„Das käme auf die Probe an,“ erwiderte sie hartnäckig.

„Nein,“ sagte ihr Vater scharf und bestimmt, „die Probe wird nicht gemacht – das sage ich Dir. Ich sehe nun ein Leben lang dem Spiele zu; am Ende lernt man die Regeln. Factische Verhältnisse und vorübergehende Empfindungen mit einander vermengen, das heißt die Partie ruiniren, wie es alle unbedeutenden Köpfe täglich thun. Hinterher jammern sie dann über das Schicksal. – Jeder Mensch sieht ein Ziel vor Augen, nach dem er streben muß. Für Dich heißt das Losungswort Reichtum. Vergiß es keinen Augenblick! Nur unter dieser Bedingung kannst Du für alle Zeit bleiben, wie Du heute bist.“

„Ich kann auch als Künstlerin meinen Weg machen.“

Baron Willek zuckte ungeduldig die Achseln.

„Wir sind unter uns, ich denke, wir lassen die Redensarten bei Seite. Bist Du eine Künstlernatur? Kannst Du mir im Ernste von diesem faute de mieux sprechen? Ich möchte Dich wohl sehen, in zehn Jahren, hinter der Staffelei. Ja, ja, es klingt Alles sehr prosaisch, was ich sage, aber Du selbst weißt am besten, wie sehr. ich recht habe. Du bist zu klug, um nicht einzusehen, daß ich die Wahrheit rede.“

Sie antwortete nicht; sie dachte an Erich’s Worte von gestern, an seine überzeugte Sicherheit von dem idealen Inhalte des Lebens. Auch er wollte die Wahrheit haben; wer hatte sie denn nun wirklich?

In ihre zweifelnden Gedanken hinein tönte wieder die gedämpfte, gleichmütige Stimme.

„Ich lege Dir einfach die Verhältnisse vor, urtheile selbst! Meine Finanzen haben durch die Börsenkrisis einen solchen Stoß erhalten, daß ich vom nächsten Herbste an energisch reduciren muß. Reich waren wir nie, wie Du weißt; ich habe Deiner Ausbildung manches Opfer gebracht, aber fernerhin kann ich es nicht mehr; es handelt sich jetzt um die Existenz. Von einer Wintersaison in unseren gewohnten Kreisen in Wien kann keine Rede mehr sein; wir müssen eine Mittelstadt wählen und dort sehr zurückgezogen leben, um auszukommen. Male Dir das Alles aus! Die widerwärtige Beschränkung, welche nur untergeordnete Menschen als dauernden Zustand ertragen – streiche Alles, was Du Luxus nennen mußt, aus Deinem Leben, nimm dazu, daß ja auch die mögliche künftige Verbindung mit diesem jungen Manne vielleicht nichts mehr als eine Seifenblase ist – ich halte sie sogar entschieden dafür. Die Jahre, die er sicher noch braucht, um sich empor zu arbeiten, sind Deine letzten Jugendjahre ... muß ich es Dir noch ausmalen, was dann Deine Situation ist, wenn Ihr Euch nach Jahren wieder seht, Du älter geworden und er von tausend neuen Eindrücken bewegt ...?“

„Das kannst Du Dir erspare,“ fuhr Leontine empört auf, „ich würde mich nie aus Gnade heiraten lassen.“

Sie wandte dem Vater den Rücken zu und sah mit zusammengepreßten Lippen über die Balconbrüstung hinaus.

„Ich nehme das auch nicht an,“ erwiderte Jener sehr gelassen, „aber Du wirst mir zugeben, daß Dein Leben dann vollständig ruiniert wäre. Und um was? Um das Vergnügen – einmal in Venedig fünf Tage lang sehr verliebt gewesen zu sein.“

Seines Effectes sicher, ließ sich Baron Willek am Tisch nieder und begann ziemlich umständlich sich ein Glas Sodawasser Zurecht zu machen.

Leontine stand unbeweglich abgekehrt. Die Arme hatte sie über der Brust verschränkt, und ihre Augen starrten hinüber auf die lachende Morgenherrlichkeit da draußen in der Welt. Dort glänzte Maria della Salute rötlich in den Strahlen der Morgensonne aus feinblauem Duft heraus; die Gondeln glitten so sanft über den Wasserspiegel – was ging das Alles sie noch an? Gestern, ja gestern, da hatte sie mit ihm hier gestanden, und die ganze Schönheit der Welt schien sein persönliches Eigenthum zu sein; eine Spur seines Wesens war an Allem haften geblieben. Heute stand sie wieder als Fremde davor; der kurze Enthusiasmus eines Tages welkte unter der kalten Hand, die sich darauf legte; einer jener plötzlichen Stimmungswechsel, die entscheidender in das Menschenleben eingreifen, als äußere Ereignisse, schloß die Pforte zu, durch welche ihre Seele sich halt der Freiheit zuwenden wollen. Es war ihr nüchtern, kalt und schlimm zu Muthe.

Der Baron stand auf und sagte, als erriete er ihre Gedanken, indem er ihr sanft die Hand aus den Arm legte:

„Ich bin kein bornirter Komödienvater, liebe Leontine, welcher poltert: Die Liebe ist nichts als eine Illusion. Im Gegentheil, ich sage Dir: Liebe ist etwas, ist sehr viel sogar, für kurze Zeit die zauberhafteste Verklärung des gewöhnlichen Lebens, und wenn man sie haben kann ohne Skandal und ohne seine Verhältnisse zu brouilliren, soll man beide Hände darnach ausstrecke. Das ist Euch Frauen freilich nur sehr selten möglich – wir haben es darin besser. Für die Einen wie die Andern aber gilt als unumstößliche Gewißheit: sie geht vorbei, und die guten oder elenden Verhältnisse bleiben zurück. Man befindet sich auf die Dauer nur in dem wohl, was der eigenen Persönlichkeit entspricht. Die Deinige verlangt, mehr als hundert andere, ein Leben im großen Stil, und wo wirst Du zum zweite Male das finden, was Dir hier geboten wird?“

„An der Seite eines solchen Mannes!“ warf das Fräulein mit bitterer Geringschätzung ein.

„Erlaube mir, mein Kind;“ entgegnete der Baron sehr lebhaft, „Du befindest Dich hier in einem großen Irrthum. Der Mann ist durchaus salonfähig, aus keiner schlechten Familie, ein sehr tüchtiger. Charakter. und in seinem Fache eine Autorität. Du kannst sicher sein, um diese Partie beneidet zu werden; vor sehr großen Verhältnissen haben alle Menschen Hochachtung, und wenn die Herren Idealisten sie verachten, so ist es nur, weil sie als arme Teufel gar keine Ahnung von dem Machtgefühl haben, das der Besitz verleiht. Geld ist nicht Glück, aber das beste Surrogat [455] dafür und das Mittel, sich jeden schönsten Lebensgenuß, Kunst, Reisen und Gesellschaft hervorragender Menschen zu verschaffen, also doch alles Hauptsächliche in der Welt. Warum werden denn die Heeren Poeten und Künstler doch gerade immer voll der aristokratischen Luxus-Atmosphäre der grande dame bezaubert und berauscht? Man küßt voll Entzücken schmale weiße duftende Hände – um ihnen dann aus Liebe für ihr künftiges Leben die Arbeit einer Haushälterin zuzumuthen.“

Baron Willek warf nach diesem Wagniß einen raschen Blick auf seine Tochter; sie sah stumm, mit zusammengepreßten Lippen vor sich nieder. Ein paar Mal war es, als wollte sie reden; dann wandte sie sich wieder ab. Er schöpfte aus diesen Symptomen große Hoffnung und sagte also nur noch:

„Bedenke Alles, Leontine! Es giebt kein Schicksal; man bereitet sich alles Ungemach selbst. Leichtere Fehler lassen sich einige Male wieder ausmerzen – der Hauptfehler ist definitiv und nicht zu repariren; ob Du diesen machen willst oder nicht, darüber mußt Du Dich noch heute entscheiden.“

Er goß sich den Rest der Flasche in’s Glas; dann brannte er eine Cigarre an und sah mit einem Seitenblick, wie die blaue Schleppe langsam über die Schwelle des Salons hineingezogen wurde. Drinnen warf sich Leontine mit abgewandtem Gesichte in denselben Lehnstuhl, in welchem sie gestern Erich Björnson gegenüber gesessen. Es war. ihr, als sei inzwischen ein Jahrhundert vergangen.

Einige Minuten wartete ihr Vater noch, dann sagte er hereinkommend:

„Die Zeit drängt, mein liebes Kind; ich kann Dir keine halbe Stunde Träumerei mehr gestatten; sie wäre auch unter diesen Umständen nur vom Uebel. Ich bin sicher, Du wirst mit dem überlegenen Verstande, den ich stets an Dir respectirt habe, heute wieder gut machen, was Du gestern verdorben hast.“

„Das heißt?“ fragte sie in müdem Tone.

„Das heißt,“ erwiderte er und zog die Uhr, froh, aus dem ungewohnten Pathos wieder zur Alltagsstimmung zurückzukehren, „daß wir um dreiviertel auf Zehn mit Nordstetter beim Fürsten J. erwartet werden, um den Einzug zu sehen. Mache eine schöne Toilette und sei pünktlich bereit!“

Er berührte mit den Lippen ihren duftenden Scheitel; dann fiel die Zimmerthür. hinter ihm in’s Schloß.

Wie von einer Feder emporgeschnellt, fuhr Leontine auf; sie hatte eine ganz deutliche Vorstellung davon, was jetzt eine edlere Natur an ihrer Stelle thun würde, ungefähr so, als läse sie es in einem Buche; sie schätzte sich auch aufrichtig gering in diesem Augenblicke gegen die Menschen, welche mit dem Stolze der Armuth voll „inneren Unmöglichkeiten“ reden dürfen. Aber sie rief den Vater nicht zurück. – Nur als sie vor dem Spiegel saß und ihre langen Flechten in das graziöse, tiefgesteckte Oval ordnete, das vom ersten Augenblicke an Erich’s Entzücken gewesen war, da dachte sie plötzlich wieder an ihn, an den schönen warmherzigen Mann mit den leuchtenden Augen, und es überkam sie eine stürmische Sehnsucht – –

Sie bog sich im Sessel zurück, und ihre halbgeschlossenen Augen starrten träumerisch das schöne blasse Spiegelbild an – da weckte sie ein Klopfen an der Thür – – es war der Papa, der mahnte, daß sie doch ja zur rechten Zeit bereit sein möge.

Sie war bereit, und als sie unten auf der Terrasse im eleganten schwarzseidenen Schleppkleide erschien, stand Nordstetter im tadellosen Gesellschaftsanzuge bereit, ihr in die Gondel zu helfen; er grüßte freundlich; sie nahm seine Hand an – da fühlte Nordstetter plötzlich eine ganz bedeutende Zuversicht und sagte zu sich selbst: „Heute Abend muß es in’s Reine kommen!“

Die sonnenhelle Pracht, in welche sie hineinfuhren, war wohl dazu angethan, eine heitere Stimmung hervorzurufen. Vom Meere her donnerten die Kanonen; von den großen Ostindienfahrern wehten unzählige bunte Flaggen, und ein Gewimmel von kleineren Dampfern und Gondeln schoß darum her. Vor den ernsten alten Palastfacaden flatterten Teppiche und Fahnen.

Einige Minuten später standen Leontine und ihre beiden Begleiter plaudernd in einem aristokratischen Kreis auf der vorderen Terrasse der Casa Bertucci; es waren viele und zum Theil schöne Damen da, aber Leontine bewegte sich wie eine Fürstin unter ihnen; das sagte sich der Banquier, der sie am Arm die Stufen vom Wasser herauf geleitet hatte und stets in ihrer Nähe blieb, mit der angenehmsten Steigerung seines Selbstgesprächs. Auch noch ein Anderer sagte es sich, welcher auf dem hochgelegenen Fenster seines Freundes Bartels herunter sah. Er hatte ein so wahnsinniges Verlangen nach ihrer Nähe, nach dem Laut ihrer Stimme; jede Minute, die er ohne sie verleben mußte, schien ihm völlig verloren – und nun stand sie da unter all den fremden Leuten, sprach mit dem langweiligen Geschäftsmenschen, dem Erich gerne für sein unverschämt glückliches Gesicht einen Ziegel an den Kopf geworfen hätte – und zu ihm wandte sie keinen Blick herauf, zu ihm, der nach dem Gruß ihrer Augen verschmachtete.

Jetzt hörte man den Kanonenschuß vom Bahnhof her noch ein paar Minuten und es wurde lebendig unter dem hohen öden Rialtobogen. Ein halb Dutzend Boote schossen in rasendem Tempo hervor; ihnen nach drängte sich eine Fluth von andern. Es flog und schimmerte, wie ein dichter Schwarm goldener, bunter, silberner Schmetterlinge.

„Die Prachtbarken der Republik!“ rief einer der Herren, und in der That, man sah sie nun in pfeilschnellem Laufe herankommen, phantastisch decorirte goldene Schiffe, jede von zwölf in bunte Seide und Sammet gekleideten Ruderern vorwärts gejagt. Am Bug wehten riesige Federbüschel in goldenen Emblemen; vom hinteren Baldachin schleiften die langen bunten Seidenwimpel im Wasser nach – es war ein Anblick von imposanter Pracht und Herrlichkeit. Mitten in dieser strahlenden Geleitschaft bewegten sich die einfachen Gondeln, welche die Monarchen und ihre Gondoliere trugen. Die Luft erzitterte voll tausendstimmigen Evvivarufen; Franz Joseph, blaß und ernsthaft, dankte nach allen Seiten. Leontine hatte ihr Tuch gezogen und winkte lebhaft über die Brüstung hinaus – noch ein Moment und der ganze bunte Schwarm war vorübergeflogen.

In die Gruppen auf der Terrasse kam wieder Leben und Bewegung; ein Diener mit Erfrischungen erschien; Fürst J. und seine Gemahlin machten mit großer Liebenswürdigkeit die Wirthe, und bald war das Gespräch allgemein im Gange.

Leontine stand noch vorn an der Balustrade, und jetzt trat Nordstetter von ihrem Vater zu ihr hinüber.

„Gnädiges Fräulein,“ sagte er, sich verbeugend, „der Heer Baron hat mir erlaubt, Sie zu fragen, ob ich heute so glücklich sein werde, Sie Beide zu Mittag als meine Gäste im Restaurant F… am Marcus-Platze zu begrüßen?“

Leontine sah einen scharfen Blick ihres Vaters auf sich gerichtet – sie neigte zustimmend das Haupt, und als er sich nach längerer Weile gemeinsam mit ihr und dem Vater von ihren Wirthen verabschiedete, indem er dieselben gleichfalls bat, die Sechsuhrstunde nicht zu vergessen, machte sie keine Anstalt, sich Nordstetter’s Begleitung zu entziehen.

Erich war oben regungslos am Fenster stehen geblieben; jetzt sah Leontine aufwärts und erwiderte seinen Gruß mit kurzem Kopfneigen. Ninette, welche ebenfalls gezögert hatte, das Zimmer zu verlassen sah, wie blaß er wurde, wie seine Augen sprühten und bog sich gleichfalls zum Fenster hinaus. Da stieg gerade unten die schöne fremde Dame in die Gondel; der magere Heer mit den gelben Handschuhen half ihr hinein, legte eine weiche Plüschdecke über ihre Kniee und nahm dann mit dem Grauhaarigen gegenüber Platz. So vornehm lehnte sie sich in die Kissen zurück, so graziös neigte sie lächelnd und grüßend noch einmal den hellen Sonnenschirm gegen die Terrasse – „come una principessa!“ Das junge Mädchen sprach es halblaut vor sich hin.

Sie hatte nicht mehr herauf gesehen Erich wandte sich um; seine Blicke fielen so kalt auf das liebenswürdige Gesicht mit den großen dunklen Augen ihm gegenüber, als wenn es ein Stück Tapete gewesen wäre; es wurden Worte zwischen ihnen gewechselt, deren Sinn nicht in seinem Gedächtniß haftete; nur das schoß ihm flüchtig durch die Erinnerung, als er fünf Minuten später in seinem Atelier stand und die große aufgespannte Farbenskizze anstarrte, daß Ninette gesagt hatte, es stehe heute nicht gut mit der Mutter.

Aber nur einen Augenblick dachte er daran; dann stürmten wieder die leidenschaftlichen Empfindungen über alles Andere hin. Was ihn gestern in unendlicher Seligkeit an Leontinens Seite bewegt hatte, es war kühl gewesen gegen die Gluthen, welche er heute im Herzen fühlte. Eine übermächtige Vorstellung der Königreiche, welche dieses Weib mit ihrer Liebe zu vergeben haben mußte, die Unmöglichkeit, daß sie einem Andern als ihm angehören dürfe, setzte sein Hirn in Flammen und trieb ihn rastlos hin und [456] wieder. Was alles gegen ihn stand, wußte er, aber auch, daß er Gewalt über sie besaß, und daß er siegen wollte und siegen mußte. Aber wie heute in ihre Nähe kommen?! Es war gestern keine bestimmte Verabredung getroffen worden; erst jetzt fiel ihm ein, daß der Baron eine darauf bezügliche Frage von ihm ausweichend beantwortet hatte.

Hinfahren in’s Hotel?! Nein, unter solchen Umständen nicht! Aber sehen und sprechen mußte er sie um jeden Preis. Ein Zusammensein mit ihr allein … seine Gedanken arbeiteten heftig; er plante Möglichkeiten und verwarf sie wieder; plötzlich blieb er willen im Zimmer stehen und sagte laut: „Antonio!“

„Johann Casimir,“ corrigirte eine wohlbekannte Stimme hinter der großen Staffelei hervor, „der malerische Name Antonio hat mit meiner geringen Person nichts zu schaffen.“

„Bartels!“ rief Erich unmuthig, „was zum Teufel treibst Du da?“

Der dicke Bildhauer legte die ergriffene Kohle wieder vor die große Leinwand hin.

„Ich war im Begriff, mich Dir schriftlich bemerkbar zu machen, mein Theurer, weil das Anreden nichts hilft. Bist Du wieder soweit bei Besinnung, ja? Schön, dann wollen wir überlegen, wo wir heut zu Mittag essen werden – dies dürfte in diesem Augenblick in Venedig ein ebenso schwieriges wie zeitraubendes Unternehmen sein.“

„Ich hatte ohnedies vor, zu gehen,“ sagte Erich zerstreut; dann blieb er wieder in völliger Gedankenlosigkeit vor der Staffelei stehen und drehte die Kohle zwischen den Fingern.

Kopfschüttelnd sah ihn der Alte an; kopfschüttelnd suchte er dann durch das ganze Atelier Erich’s Hut, bis er den achtlos in einen Winkel geworfenen endlich ausfindig machte, und brummte vor sich hin, während er ihm einige freundschaftliche Hiebe mit dem Taschentuch versetzte:

„Da sollen doch gleich drei Millionen siedende Donnerwetter drein schlagen – der Junge ist ja rein wie ausgewechselt. Das ist nicht mehr in der Natur; so stellt man sich aus bloßer Verliebtheit nicht an – der hat Heirathsgedanken und weiß nicht, wo aus und ein. Natürlich! Es braucht Einem auf dieser Welt nur einmal vierzehn Tage erträglich zu gehen, so sieht man sich geschwind um, wie man sein Schicksal am besten verpfuschen kann – damit man doch ja nichts vor seinen Nebenmenschen voraus hat. Und allemal in solche blasse Meerweiber mit kalten Nixenaugen muß sich der richtige Künstler verlieben – das ist schon so herkömmlich von Alters. Nun, ich wünsche ihm einen gesegneten Korb und bald, recht bald, damit er gründlich von den vornehmen Passionen geheilt wird. Könnte ich nur etwas dazu beitragen, ich thäte es mit dem größten Vergnügen.“

Mit diesen liebevollen Empfindungen überreichte er dem „verwünschten Jungen“ seinen Hut, und Beide verließen das Atelier als nahe Freunde, von denen Keiner im Geringsten weiß, was der Andere denkt.

[468]
4.

Es war Abend geworden, und der Marcus-Platz, dieser „schönste Ballsaal der Welt“, dessen Decke das Sternen-Firmament bildet, strahlte in feenhafter Beleuchtung. Ueberall waren vielarmige Gascandelaber aufgestellt, und in der Mitte goß eine rasch aus der Erde gezauberte Fontaine elektrisch-leuchtende Wasserfluthen in ein weites Becken; ringsumher wogten im taghellen Lichtglanze Massen von Menschen auf und ab, und alle Köpfe waren den Fenstern des königlichen Palastes zugewandt; denn dort mußten sich die Monarchen zeigen, wenn die Tafel zu Ende war.

[469] Jetzt hob der eiserne Riese auf dem Uhrthurm langsam den Hammer zum Schlage aus, und in demselben Augenblicke widerhallte der Platz von betäubenden Evvivarufen; an erleuchteten Fenstern standen die Majestäten, und Franz Joseph grüßte wieder und wieder dankend, während das versammelte Publicum ihm zujubelte. Wie abgeschnitten verstummte aber der Applaus, als die ausgestellte Musikbande die österreichische Nationalhymne intonirte, und auch nach den letzten Accorden bewegte sich keine Hand; die schlicht-rührenden Töne Vater Haydn’s klangen den Venetianern offenbar immer noch wie Dissonanzen; es war zu kurze Zeit her, da§ sie dabei ingrimmig die Fäuste geballt hatten.

Aber wie ein Sturm brach es los, als unmittelbar darauf [470] die höchst trivialen Fanfaren des italienischen „Königsmarsches“ ertönten: der Platz erzitterte von Neuem unter dem Rufen und Händeklatschen, und wieder verneigten sich die Herrscher oben am Fenster. Es war ein bewegtes, buntes Menschengewoge auf dem Marcus-Platze.

Schöne Frauen in Balltoilette sahen von den teppichbehangenen Brüstungen herunter; es war als seien die alten Glanzzeiten der Stadt mit ihrer ganzen Poesie wiedergekehrt.

Mitten in dem Gedränge lehnte ein junger Mann regungslos an einem der Bogenfenster, die Augen unverwandt nach dem Stockweck emporgerichtet, in welchem sich das elegante französische Restaurant befindet. Die hohen Fenster des Speisesaals waren geöffnet, und eine Gruppe von Herren und Damen zeichnete sich scharf von dem hellerleuchteten Hintergrunde ab. Erich – denn er war der stumme Beobachter – sah deutlich, wie sich die lange Figur seines Rivalen wiederholt verbindlich zu derjenigen Dame neigte, welche er unter Tausenden am Schlage seines Herzens erkannt hätte – und er biß sich grimmig auf die Lippen.

Man bereitete sich offenbar zum Aufbruch; die Gruppe löste sich auf, und dienstbeflissene Kellner brachten die Umhüllungen der Damen. Erich sah eben noch, wie Nordstetter den wohlbekannten weichen grauen Mantel um Leontinens Schultern legte und sie das schwarze Spitzentuch über den Kopf warf; dann zog er sich hinter den Treppenvorsprung zurück und wartete.

Es hätte des großen dunklen Hutes gar nicht bedurft, den er in die Augen gedrückt hatte, um sich unkenntlich zu machen; denn er sah blaß und verändert genug aus in seiner Aufregung.

Jetzt traten sie heraus in die laue Abendluft, Zwei um Zwei, die Fürstin am Arme des Barons, der Fürst voraus, dann der Prinz mit einigen jungen Damen, zuletzt Nordstetter mit Leontine. Erich ließ sie passiren; dann wand er sich in der gleichen Richtung, aber auf kürzerem Wege rasch durch das Gedränge und war ihnen bald ein gutes Stück voraus.

Sein Herz schlug gewaltig – was er vorhatte, war ein kühnes Rechnen mit dem Augenblick; es konnte ebenso leicht glücken, wie mißlingen. Daß es still und ohne Aufsehen abgehen müsse, war die Bedingung Antonio’s, mit welchem er heute Mittag zwei Stunden in der kleinen Kneipe zur „Margarita“ gesessen hatte, um ihn durch alle Mittel der Bitte und Bestechung für seinen Plan zu gewinnen

Da stand er nun am Quai; er blickte auf das unabsehbare Barkengewimmel hinab, welches in dem Netze von zitternden Lichtstrahlen über den schwarzen Wellen wogte. Antonio mußte darunter sein, und in der That wollte es der Zufall, daß Erich’s scharfe Augen den Alten bald aus dem flackernden Halbdunkel herausgefunden hatten. Leicht und gewandt schwang er sich über zwei, drei zunächstliegende Schiffe und glitt wie ein Schatten in die gedeckte Gondel neben Antonius offener Barke.

„Alles in Ordnung?“ flüsterte er zu diesem hinüber.

„Still!“ war die Antwort. „Haltet Euch drinnen so ruhig wie die Maus in ihrem Loche! Gasparino weiß, was er zu thun hat. Und sorgt mir nur, daß die Signora nicht schreit, wenn sie Euch ansichtig wird!“

Erich schlüpfte in den kleinen dunklen Raum und ließ die Vorhänge nieder. Sarg von außen, verschwiegene Liebesstätte von innen – auf Erden giebt es kein besseres Asyl für ein glückliches Paar, als die venetianische Gondel.

Erich spähte aufmerksam durch die Fenster – noch war von der Gesellschaft drüben am Ufer nichts sichtbar. Eine Wolkenwand bedeckte den Mond; Dogenpalast und Marcus-Säule ragten dunkel und gewaltig über den Lichtglanz der Piazetta empor; in den Schiffen rings schwankten tausend Laternen auf und ab, wie ihre Spiegelbilder drunten in den nächtlichen Wellen. Weiter hinaus leuchteten die Umrisse der großen Oceanfahrer in Feuerschnüren von zahllosen an einander gereihten Flämmchen, und in einiger Entfernung lag dunkel und unbeweglich das Feuerwartschiff.

Lachen und Rufen der Tausende, die schon in den vollgepackten Backen saßen, und Derer, die noch vom Quai herunter strömten, helles Aufschreien der Weiber und Scherzreden der Männer mischten sich mit den Klängen der Musik vom Marcus-Platze her – es war eine echte „venetianische Nacht“.

Jetzt sah man den Baron vom Ufer aus winken; die Schiffe machten sich mühsam Bahn, die offene Barke voraus, welche rasch von dem ersten Theile der Gesellschaft, der Fürstin und ihren Zunächststehenden gefüllt wurde.

„Es reicht nicht,“ rief Nordstetter, der nebst dem Baron und Leontine übrig war, mit gut gespielter Verlegenheit, „was thun?“

Der Fürst wollte wieder aussteigen; zugleich wies Antonio auf seinen neben ihm haltenden Genossen, der eifrig die Mütze herabriß.

„Bleiben Sie!“ rief Baron Willek, „da ist noch Einer. – Hierher, mein Junge!“

Der schmale Schiffsschnabel schob sich in den kleinen Raum zwischen die anderen herein, und Leontine überschritt leicht an der ausgestreckten Hand des Gondoliers die schwankende Spitze.

„Weiche doch zurück, Du Dummkopf!“ rief in diesem Momente Antonio, „ich kann ja nicht hinaus kommen, wenn Du mir nicht Platz machst.“

Bereitwillig gehorchte der Junge und trieb, wie für einen Augenblick, die Gondel aus dem Gedränge rückwärts. Währenddem sagte Nordstetter leise und rasch zu dem Baron:

„Wollen Sie mir die große Gunst erweisen, Fräulein Leontine die nächste halbe Stunde unter meinen Schutz zu stellen? Ich möchte ihr Vieles sagen; es war heute ein so schöner Tag –“

Baron Willek ließ sich nicht dazu herab, den Erstaunten zu spielen.

„Wenn es Leontine recht ist,“ sagte er gleichmütig, „ich finde überall meinen Platz.“

„Ich danke Ihnen,“ erwiderte mit einem raschen Händedrucke der Banquier, „wo werden wir uns wieder treffen nach dem Feuerwerke?“

„Im Hotel, denke ich; wir werden dann wohl des Spectakels für heute genug haben.“

„Auf Wiedersehen denn!“

Und Nordstetter drehte sich rasch nach der andern Seite. Aber wie vom Blitze getroffen blieb er stehen – die Gondel war fort. Aus seinen Ruf war der Baron mit zwei Schritten wieder zur Stelle, und beide strengten während der nächsten Minuten Auge und Lunge ganz erfolglos an; es war unmöglich, in dem grellen Durcheinander von Licht und Schatten etwas Anderes als die nächsten Schiffe und ihre Insassen zu unterscheiden.

„Rufen Sie doch des Schiffers Namen!“

„Ich weiß ihn ja nicht.“

„Und Fräulein Leontine – sie muß ihm doch befehlen, wieder hierher zu kommen.“

„Sie spricht ja kein Italienisch – Gott weiß, was der Mensch aus ihren Zeichen versteht! Das Gedränge ist ja so furchtbar, daß er vielleicht hier nicht wieder anlanden kann.“

Dem Baron war gar nicht wohl bei der Sache; der Gedanke, daß Leontine die Absicht ebenfalls durchschaut und den günstigen Umstand benutzt habe, das Feuerwerk allein zu genießen, ging ihm mit großer Wahrscheinlichkeit auf. Aehnlich genug sah es ihr ja. Er bemühte sich indessen ruhig zu erscheinen und eine andere Barke aufzutreiben indem er seinen Schwiegersohn in spe zu überzeugen suchte, wie bald sie durch ein rasches Hin- und Herkreuzen dem ungeschickten Schiffer wieder begegnen müßten.

Jetzt fuhr auch die erste Rakete mit langem Kometenschweif in den dunklen Nachthimmel, und ihr nach rauschte eine Feuergarbe, als bräche Vesuv oder Aetna los, für einen Augenblick das ganze Firmament bedeckend. Es schien sich in ein endloses Meer von Glanz aufgelöst zu haben – dichte Feuerschwärme, voll farbigen Leuchtkugeln tausendfach durchwirbelt, breiteten sich über die Himmelsfläche aus und fielen dann als Millionen feuriger Pfeile wieder zur Erde nieder, sodaß es dem aufwärts gerichteten Blicke wirklich schien als senke sich der Himmel mit allen seinen Sternen langsam herab.

Kaum war der letzte Leuchtkörper in den schwarzen Fluthen versunken, so schleuderte der unermüdliche Krater unter Zischen und Knattern neue Feuerströme empor, die auf weitem Umkreise die Lagunen taghell erleuchtetem und ein Ah! der Bewunderung um’s andere erklang ringsum von unzähligen Lippen. Dazu glühten Dogenpalast und Marcus-Thurm in bald rothem, bald grünem bengalischem Lichte, und die dunklen Schiffe zogen schwarze Furchen in die wiederspiegelnden Feuerfluthen – es war wie ein Blick in die Wunder der Tausend und Einen Nacht.

Und während dieser rauschenden Herrlichkeiten wiegte sich weit draußen eine einsame Gondel auf den stilleren Wassern … Der aufblitzende Feuerschein spiegelte sich in den dunklen Augen des Gondoliers, der unverwandt das Angesicht darnach gerichtet [471] hatte, während er mit leisen Ruderschlägen das Boot auf derselben Stelle hielt.

Drinnen aber, von dem niederen Dache vor jedem Auge geborgen, kniete ein seliger Mann zu den Füßen der Geliebten; ihre Hände an seine glühenden Lippen gepreßt, gab er mit leidenschaftlichen Worten seiner Liebe Ausdruck.

„O, rede nicht so traut, Erich!“ sagte sie. „Ich habe Dich lieb, viel lieber als ich sagen kann, aber es ist umsonst, wir können uns nicht angehören

Erich führ erschrocken auf: „Hast Du ihm Dein Wort gegeben?“

„Nein!“

Mit stürmischer Zärtlichkeit umfaßte er sie und legte ihr Haupt an seine Brust:

„Dann wirst Du mein, und sollte ich mein Leben daran setzen. Wir gehören einander, und keine Macht der Welt soll uns trennen. Fühlst Du es jetzt, was ich gestern meinte, als wir so weise über das Glücke philosophirten? Weißt Du jetzt, ob es ein Glück auf Erden giebt, und wirst Du mir nun Deine schlimmen, kalten Reden abbitten?“

„Ich würde sie jetzt nicht wiederholen – und doch, wer weiß, ob ich nicht Recht hatte!“

In der siegreichen Stärke seiner Empfindung schloß Erich die Arme fest um die Geliebte, und Leontine fühlte seinen heißen Kuß auf ihren Lippen.

Zum ersten Male in ihrem Leben sah sie sich von einer übermächtigen Empfindung erfaßt und unwiderstehlich beherrscht; sie wußte, diese Stunde müsse enden, aber um so süßer erschien sie ihr.

„Wenigstens einmal im Leben Glück gekostet!“ – sie dachte es ohne jeden inneren Vorwurf und mit einer Art von Genugthuung.

Erich hob ihr tiefgeneigtes Gesicht in die Höhe und fragte, voll überströmender Zärtlichkeit:

„Willst Du die Meine werden, Leontine?“

„Unmöglich,“ sagte sie, sich emporrichtend, leise aber bestimmt.

„Wir sind Beide arm.“

„Arm und was thut es!“ entgegnete er in glückseligem Uebermuthe. „Laß mich nur mein großes Bild erst vollendet haben! Bald genug soll das geschehen sein.“

„Laß die Träume, laß die Pläne!“ bat sie, indem sie sich erhob. „Der Schiffer soll wenden. Ich muß zurück zu meinem Vater.“

„Nein, Leontine! Wir sind ja erst wenige Minuten beisammen.“

„Länger als Du denkst; sieh, wie das Feuerwerk am Erlöschen ist – ich muß in’s Hotel zurück.“

„Es ist so Vieles noch, was ich Dich fragen, Dir sagen wollte, Leontine. Du mußt mir auf morgen ein Wiedersehen versprechen wenn ich mich jetzt von Dir trennen soll.“

„Komm’ morgen früh, ehe wir ausfahren!“

„Das kann ich jetzt nicht. Dich sehen vor den Augen Anderer – o, sie sind so kalt, und ich würde ihn erschlagen, diesen Nordstetter, wenn er sich noch einmal unterstände, Dir den Arm zu bieten.“

„Dann müssen wir wohl auf ein Wiedersehen verzichten,“ meinte sie mit dem ersten Anklang an ihre gewohnte Sprechweise, indem sie den Mantel um die Schultern zog und die Agraffe befestigte. Die Gondel näherte sich rasch dem Ufer; schon sah man die nach allen Richtungen aus einander ziehenden anderen Fahrzeuge in nächster Nähe.

„Kein Verzicht!“ rief Erich leidenschaftlich. „Höre mich, Leontine: dies waren nur Minuten, und Du hast Recht, wir müssen Dich jetzt so rasch und sicher wie möglich nach Hause bringen. Ich verschwinde in das nächste Schiff, das uns begegnet, und Du landest allein am Hotel. Aber ich muß Dich wiedersehen, ich muß,“ wiederholte er tieferregt, „es sind ja nur noch drei Tage bis zu unserem Abschied.“

„Zwei sogar nur noch“

„Du darfst mir nicht so entschwinden. Mein ganzes Leben, meine Zukunft, Alles liegt fortan in Deiner Hand; ich will und darf Dich heute noch nicht mit einem äußeren Bande an mich binden; innerlich sind wir ja verbunden. Aber ich muß noch einmal in Deine Augen sehen, muß die Gewißheit haben, daß Du mein sein willst, wenn ich die Trennung ertragen und auf die Zukunft hoffen soll.“

„Erich!“ flüsterte sie unschlüssig. Das Herz zog sie; der Verstand warnte sie. „Ich habe morgen den ganzen Tag keine Stunde für dich. Und Du mußt jetzt fort,“ drängte sie, „wir sind schon nahe beim Ufer eile!“

Erich rief eine leere Barke an. Dann wandte er sich.

„Liebst Du mich?“ fragte er, und es lag ein Ton der Verzweiflung in dem Klange seiner Stimme.

Sie nickte stumm.

„Dann habe den Muth, mir zu vertrauen!“ Er faßte ihre Hand und preßte sie in der seinigen. Schon streifte der Rand der fremden Gondel die ihrige.

„Ich schicke Antonio morgen Abend, wenn Alles still ist,“ fuhr er heftig flüsternd fort; „er bringt Dich sicher zu mir; wir sind in dem kleinen Garten – Du kennst ihn – völlig ungestört, oder, wenn Du das nicht willst, fahren wir, wie heute, eine Stunde auf’s Meer hinaus –“

„Nein, nein!“ wehrte sie heftig ab.

„Um elf Uhr!“ fuhr er dicht an ihrem Ohre fort: „Antonio wartet in dem dunklen Canälchen seitwärts von Eurem Hotel; merke Dir’s, vergiß es nicht – von der Terrasse führen ein paar Stufen herunter … wir haben keine andere Wahl. Niemand ahnt Dein Fortsein. Muß ich Dir noch schwören, daß Dein Friede mir theurer ist als mein eigenes Leben? Kommst Du?“

„Sei es denn!“ erwiderte sie, von seiner siegenden Hast gedrängt. „Aber –“

Er hob den Vorhang und war verschwunden.

Die Barke, die er bestiegen, steuerte nach dem Eingang des Canals hinüber, während die ihrige den schweigsamen Cours nach der Riva fortsetzte. – –

Eine Viertelstunde später saß Leontine mit ihrem Vater und Nordstetter am Kamin des kleinen Salons vor dem Theetisch. Sie hatte die Herren über die Gründe ihres Verschwindens so wohl unterrichtet gefunden, daß sie nur ihre Voraussetzungen bestätigen durfte. Noch klangen Erich’s leidenschaftliche Worte in ihrem Ohre nach – und nun mußte sie – es war ihr, als wäre sie in einer ihr fremden Welt – die wohlgesetzten Lobeserhebungen des Banquiers über das prächtige nächtliche Schauspiel ruhig anhören. Die untadelhafte correcte Klarheit des großen Gaslüsters überströmte Alles, die vergnügte Miene des Barons, die frühen Falten über Nordstetter’s stets etwas in die Höhe gezogenen Brauen und die zur Auswahl bestellte großen Photographie vom Marcus-Dom und Dogenpalast in den Händen des eifrig redenden Banquiers. Im Halbschatten aber blieb das feine, böse Lächeln welches dann und wann wie ein Blitz die Züge des schönen Mädchens überflog, wenn sie, das Haupt hinter den ihr gereichten Photographie bergend, die ahnungslosen Beiden da vor ihr betrachtete.

Es zogen viel hastige dunkle Gedanken hinter der klaren Mädchenstirn vorüber; eine Trennung fand dort statt zwischen Vergangenheit und Zukunft; der heutige Abend war ein scharfer Wendepunkt in Leontinens Leben. Aber sie fühlte keine Reue.

„Wozu in dieser großen Komödie mehr thun als seine Rolle gut spielen?“ fragte sie sich selbst. „Jeder macht es ja so … Erich? Nein! Er nicht, aber er irrt auch; er ist ein Kind, ein süßes, großes Kind.“

Sie schloß für einen Moment die Augen; noch fühlte sie seinen Kuß auf den Lippen, und es durchrann sie heiß beim Gedanken eines Wiedersehens.

Spät erst verabschiedete sich der Banquier mit einem vielsagenden Handkuß; er wurde beinahe poetisch, als er des schönen eben vergangenen Tages gedachte. Der Baron geleitete ihn hinaus, und als er in das Zimmer zurückkehrte, fand er es leer – das Fräulein war schlafen gegangen.

[484]
5.

„Es ist doch wunderbar,“ sagte Erich, als er spät am andern Abend nach einem unruhig durchschweiften Tag an Bartels’ Seite eilig die Treppen zum Zimmer der kranken Matrone emporstieg, „wochenlang rückt das Leben nicht von der Stelle und dann macht es sich plötzlich an einem einzigen Tage mit den widersprechendsten Empfindungen so nachdrücklich fühlbar, daß man –“

Er hielt inne und biß sich die Lippen.

Der Alte warf ihm einen unfreundlichen Blick zu.

„Wirst wohl soviel Zeit von Deinem Minnedienst erübrigen können, daß Du die Frau da oben sterben sehen kannst,“ sagte er mürrisch. „Das Geschäft läßt sich nicht aufschieben. Und eine Nachtwache darf sie Dir wohl werth sein.“

Eine Nachtwache! Erich ballte krampfhaft die Hand; sein Herz hämmerte mit heftigen Schlägen; es war ihm verzweifelt zu Muthe. Von seinen Nächten, deren er gern manche um der Kranken und Ninettens willen durchwacht hätte, sollte er gerade diese einzige, ersehnte, unersetzbare hingeben, an der seine ganze Seele hing. Es war ihm, als müsse alles zu Ende sein, wenn ihn diese Stunde nicht an Leontinens Seite fand.

Aber die heißen Wellen seines Empfindens dämpften sich merklich, als die Beiden über die Schwelle des Krankenzimmers und in den Bannkreis des großen Räthsels traten, vor dem alles Irdische stille steht. Es war kühl und fast schon dunkel in dem großen Schlafgemach; allerhand seltsamer Hausrath stand darin gedrängt neben einander, alte schadhafte Prunkmöbel aus dem Vorderhaus mit verblaßtem Damast und geschwärzten Vergoldungen, dazwischen einfache Strohsessel und in der Ecke das große altersdunkle Himmelbett. Auf dem Lehnstuhl davor keuchten die halberstickten Athemzüge der armen gequälten Brust, die dort krumpfhaft nach Luft rang; Nina knieete im Schein der kleinen Lampe vor der Kranken und hielt sie verzweiflungsvoll in stützenden Armen aufrecht. Als müsse sie für die Mutter Luft schöpfen, so heftig und angstvoll hob und senkte sich ihr junger Busen, und ihre Augen standen voll Thränen, als sie jetzt den Kopf nach den Eintretenden wandte. Ein Blick voll leidenschaftlicher Beredsamkeit und stummflehender Bitte traf, Erich bis in’s Herz hinein; er eilte erschüttert näher, die abgezehrten Hände der Kranken mit den seinigen fassend.

Bei seinem Anblick ging ein Leuchten durch ihre Augen; sie versuchte, mit einem Verziehen der bläulichen Lippen, das Lächeln bedeuten sollte, zu verstehen zu geben, es sei nicht so arg, und litt es gerne, als Erich’s kräftige Arme sie empor und in eine bessere Lage hoben.

Nina, mit dem Hellsehen des Herzens, das ihrer liebevollen Natur in hohem Grade eigen war, und der sanften Grazie, welche Dienstleistungen in Liebkosungen verwandelt, ordnete rasch und geschickt die Kissen, und schmeichelte der Mutter ein paar Löffel [486] kühlender Flüssigkeit ein; dann knieete sie wieder minutenlang vor ihr und beobachtete, während alle im Zimmer schwiegen, in athemloser Spannung, wie allgemach die Heftigkeit des Kampfes abnahm und die Brust sich leiser hob und senkte. „Es wird besser!“

Sie wandte den Kopf nach Erich und sah ihn mit einem freudig-staunenden Blick an, worin groß geschrieben stand, daß seine Gegenwart das Wunder gewirkt habe. Der Tod war für das Kind nur ein Wort; sie kannte seine Zeichen nicht und fühlte nicht seine unverrückbare Gegenwart. Die Hoffnung kam augenblicklich, um ihre Angstthränen zu trocknen – es war ja schon schlimmer mit der Mutter gewesen und immer wieder besser geworden.

Erich neigte sich über die Frau.

„Es geht vorüber, Donna Erminia,“ sagte er herzlich, „noch eine Viertelstunde, und Sie fühlen sich wohl!“

„Es geht vorüber,“ erwiderte sie man mit einem traurigen Lächeln, „vorüber – und auf immer. … Aber ich möchte Ihnen noch Etwas sagen, … Signor Enrico … noch einen Moment … dann kann ich wieder.“

Er drückte ihr die Hand: „Schonen Sie sich!“

Ninette stand leise auf und trat zu Bartels an das letzte Fenster; sie öffnete es weit und schlug die Jalousien zurück, daß die laue Abendluft eindrang; dann lehnte sie sich, der Mutter den Rücken drehend, gegen den Flügel und berichtete leise von der großen Todesangst der letzten Stunden.

„O, Signor Giovanni, wie sie auf einmal blau im Gesicht wurde und so angstvoll rief: Luft! Luft! und dann der Husten – und Blut auf den Lippen, viel, viel mehr als sonst! Armes Herz, wie es schlug, so, wie ein Hammer! Und ich allein mit ihr, und ich wollte nicht um Hülfe schreie, damit sie nicht noch mehr erschrecken sollte. Endlich – der Madonna sei Dank! – hörte die alte Barbara das Stöhnen und mein Schluchzen, und der liebe Gott gab ihr den Gedanken ein, daß sie gleich nach Ihnen und Signor Enrico lief. Als ich Sie mit einander kommen sah, ach –“ das Uebrige brauchte sie nicht auszusprechen; es lag deutlich genug in dem hellaufglänzenden Blick der Augen, mit dem sie die Hand froh aufathmend auf den Busen legte.

„Unsinn!“ sagte Bartels mit der sauertöpfischen Miene, welche bei ihm Theilnahme und Rührung ausdrückte. „Es ist ja schon wieder vorbei.“ Dann ging er zur Kranken hin, betrachtete ernsthaft ihre entstellten Züge und sagte, wieder zu Ninette gewandt:

„Da ich übrigens einmal hier bin, sehe ich nicht ein, warum ich nicht die Nacht vollends dableiben sollte. Du kannst Dich denn dort auf dem stelzbeinigen Sopha ein bischen ausstrecken und schlafen, Kleine!“

Das pflichtgemäße Dankbarkeitslächeln, welches alle Onkels von jungen Nichten einzuheimsen gewohnt sind, schwebte einen Moment um Ninette’s frische Lippen; dann wandte sie den Kopf ein wenig, und von den dunklen, gebogenen Wimpern halb verhüllt, flog ein warmer Sehnsuchtsblick zu Erich hinüber, der dort schweigend neben der Mutter saß.

Er hielt ihren Puls zwischen seinen Fingern und sah ernsthaft und wachsam aus; er bemühte sich auch, in diesem Augenblick nur praktischer Mensch zu sein; allein während seine Blicke mechanisch dem breiten blassen Streifen Mondlicht folgten, der trotz der kleinen Nachtlampe sein Recht behauptete und auf seinem Wege vom Fenster bis in die hinteren Tiefen des Zimmers bald einen alten Sesselknauf golden aus der Dämmerung schimmern ließ, bald die Umrisse und Verschnörkelungen der bocksfüßigen, spiegellosen Trumeaux mit schwache Lichtern säumte, während er die sämmtlichen helldunklen Studien allein zu beobachten glaubte, und sich vorerst aller andern Gedanken entschlagen wollte, um ruhig zu scheinen, bebte doch unausgesetzt in seinem Herzen die fibernde Erwartung, wo ihn heute der Glockenschlag Elf finden und welche der beiden Gewalten, Liebe oder Tod, die Stunde regieren werde.

Es kostete ihn riesenhafte Ueberwindung, seine Aufregung niederzuhalten und nur der Gedanke, daß eine unabweisbare Pflicht ihn vorerst hier festhielt, gab seiner tüchtigen Natur die nöthige Ruhe und Ergebung in die Situation

„Kommen Sie näher!“

Frau Erminia richtete sich halb in die Höhe und flüsterte leise in Erich’s Ohr:

„Ich muß Ihnen noch sagen … was mir schwer auf dem Herzen liegt.“ Sie holte tief Athem und sah ihn mit flehendem Blick an. „Nina! Was soll aus ihr werden? ... Ich hatte gehofft … es solle mit mir noch ein paar Jahre dauern … nun ist es am Ende … ach!“

Sie schüttelte den Kopf mit dem Ausdruck hoffnungsloser Verzweiflung.

„Regen Sie sich nicht auf!“ ermahnte Erich nochmals. „Und wenn es Sie beruhigen kann, so gelobe ich hier. Was mir möglich ist, werde ich für Nina thun; ich will nicht von hier weggehen bis ich sie in sicherer und guter Umgebung weiß; ich werde für ihr Wohl sorgen, so gut ich es vermag.“

Der Effect dieser Worte entsprach seiner Erwartung nicht.

„Ich werde sie unter Fremden lassen,“ seufzte die Mutter niedergeschlagen, „o das arme Kind, das an die Mutter so gewöhnt war … das nicht einen Tag lang sein kann, ohne Jemanden lieb zu haben! Ach, Signor Enrico …!“

Erich ahnte mehr; als er dachte, was die letzte Lebensangst jetzt der armen Frau auf die Lippen legen wollte, und er erhob sich rasch.

„Verlassen Sie sich auf mein Wort!“ sagte er, ihr herzlich die Hand drückend, „und jetzt ruhen Sie! Ich setze mich auch dort an’s Fenster; wenn es möglich ist, suchen Sie zu schlafen!“

Der Anfall war wirklich vorübergegangen. Eine Stunde noch saßen die Drei flüsternd am offenen Fenster, während die Kranke schlummernd lag. Ninette hatte das liebliche Haupt mit den schweren verschlungenen Flechten und den krausen braunen Stirnlöckchen auf den Arm gestützt; ihre Zähne schimmerten im Mondlicht hell durch die halbgeöffneten Lippen; die großen braunen Augen hingen unverwandt an Erich’s Angesicht; sie horchte selbstvergessen auf seine leisen, freundlichen Reden. Heute Abend war er wieder ganz der Alte, so lieb und vertraulich, wie vor Jahren, und im Gefühl ihres Glücks vergaß sie Sorge und Angst. Sie wußte freilich nicht, welches Hoffnungslicht mit der schimmernden Mondnacht zugleich in seiner Seele hell wurde und wie er den tiefen Schlaf der armen Kranken segnete.

Lange schon hatte er den ungeduldig nach der Westentasche zuckenden Fingern Gewalt angethan; nun endlich konnte die Uhr einmal gezogen werden. Zehn vorüber! Er stand leise auf.

„Ich gehe jetzt,“ sagte er, „da ich Ihnen nichts mehr helfen kann, Nina. In zwei Stunden komme ich wieder, um nachzusehen. Gute Nacht bis dahin!“

Er schüttelte ihr cameradschaftlich und mit dem warmen Blicke die Hand, der ihm so natürlich und einem unerfahrenen Herzen so gefährlich war.

„Ich bleibe hier,“ knurrte Bartels.

„Desto besser!“ dachte Erich erleichtert.

Nina stand einen Moment mit gesenkten Wimpern, während eine leise Röthe über ihr bräunliches Gesichtchen zog. Es war so viel rhythmische Schönheit in dieser sanften Beugung des Kopfes und dem Linienfluß der ganzen feingebauten Gestalt, daß Erich einen Moment überrascht auf sie hinsah. Doch da schlugen sich auch schon wieder die großen braunen Kinderaugen zutraulich auf und sie sagte weich und lächelnd:

„Tausendmal Dank, Signor Enrico – gute Nacht!“

„Glückseliges Omen!“ sagte er zu sich selbst.

Er trat in die laue Nacht hinaus, und ihr Balsamduft legte sich ihm berauschend um Kopf und Sinne. Er hob schweigend die Arme nach dem leuchtenden Firmament empor, und ein Strom von plötzlichem Entzücken überfluthete sein Herz, das er so lange in strenger Zucht gehalten. Er war wie im Traume: die nahe, sichere Gewißheit des Glückes nach so viel bebenden Angstgedanken und diese heftige Erregung erfüllten ihn mit einer so neuen Seligkeit, daß er nicht begriff, wie er früher ohne diese Empfindungen hatte glücklich sein können.

Er mußte sich gewaltsam fassen, um das Nächste zu überlegen. Dort war das Pförtchen, in dessen Nähe er sich zu halten hatte, bis Antonio das Zeichen gab; von dort führte der dunkle Lorbeergang nach seinem Atelier. Würde Sie ihm wohl dahin folgen, wo sie eine Stunde in ungestörter Sicherheit beisammen sein konnten, oder kam sie nur, ihn mit der Gondel zu holen? Wie er jetzt die Thür des hohen, stillen Raumes aufschloß und sein Blick über den mondhellen Estrich nach der tiefen Nische flog, wo im Dämmerlicht unter Brocatdraperien ein höchst anmuthiger Phantasiewinkel mit antiken Stühlen und einem großen, schwerfüßigen [487] Tisch aufgeschlagen war, da schien ihm schon Etwas von Leontinens Gegenwart durch den Raum zu schweben, jenes zauberhafte Parfum ihrer Nähe, an das er nur zu denken brauchte, um augenblicklich völlig im Bann seiner Liebe zu sein.

Leise und vorsichtig räumte er die große Staffelei bei Seite, der Mond schien so hell – Licht brauchte er nicht. Nur einen Strauß weißer Frühlingsblumen stellte er noch vom Fenstersims herüber auf den Tisch und einen Teller voll duftender Orangen; dann trat er hinaus und schloß die Thür hinter sich ab.

Nun hatte er höchstens noch eine Viertelstunde zu warten. Er setzte sich auf die tief im Schatten stehende Bank nahe der Thür und suchte sein ungeduldig klopfendes Herz mit allerhand tatsächlichen Vorstellungen zu beschwichtigen. Er malte es sich aus, wie dunkel das kleine Canälchen jetzt sein mußte, wo Antonio wartete, und wie stille schon das ganze Hotel, bis sich endlich das Seitenpförtchen öffnete und eine leichte Gestalt wie ein Schatten in das Schiff herniederglitt. Dann sah er dieses dunkle Schiff von fernher über die mondglitzernden Wellen kommen; er rechnete die Minuten aus und zählte sie an seinen Pulsschlägen, bis das Schiff da sein konnte; dann eilte er zum Pförtchen.

Alles still – der breite, schwarze Schatten der gegenüberstehenden Mauer deckte den Canal; nur von der Biegung her glänzte grell eine weiße Hauswand, scharf überschnitten von der schwarzen hochgewölbten Bogenbrücke.

Geduld! Sie konnte noch nicht abkommen. Wieder warf er sich aus seine Bank, den Kopf in die Hand gestützt, und sah zu der feierlichen Sternenwelt empor.

Ihr stiller Glanz und der weiche Dufthauch, zusammt seinen eignen überströmenden Empfindungen versenkten ihn bald in allerhand mystische Träumereien. Die ganze Ewigkeit stand ihm leuchtend zu Häupten, und sein eigenes Herz voll Liebe und Sehnsucht war Eins mit dem Weltall und allem Leben der Natur. Er gedachte der unzähligen Menschenaugen, die mit und vor ihm hoffend und wünschend zu den Sternen emporsahen, und in halben, träumerischen Vorstellungen, die in seiner Seele auftauchten und hinzogen, wie droben vor dem Mond die hellen Wolkenflocken, ging ihm der Sinn der alten Fabel vom Weltbildner Eros auf. Hier unter den dunklen Lorbeerzweigen, den heidnischen Mondesglanz vor Augen, der seine silbernen Zaubernetze über Gebüsche und Blüthenbäume warf, wie vor Jahrtausenden, war der rechte Ort dazu, und Erich bekannte sich von ganzem Herzen zu dem Cultus des schönen Gottes. Dies war des Gottes Stunde – –

Da – horch! Ein Ruder von ferne!

Er eilte nach der Thür und sah eben noch eine Barke um die Ecke verschwinden. Elf Uhr war es längst; nun mußte sie kommen. Rastlos und leise schritt er in dem Gange hin und her und rechnete sich es selber vor, daß sie nicht ausbleiben könne; sie hätte ihm ja sonst Nachricht senden müssen; sie wußte ja, daß er wartete – und mit welchem Herzen! Nein, es war unmöglich, daß sie nicht kam.

Mehr als eine Stunde war verstrichen; in Erich dämmerte eine böse Ahnung auf; der Mitternachtsschlag dröhnte dumpf von San Marco herüber, und alle kleinen Glocken wiederholten ihn im Chor; das Mondlicht begann aus dem Gärtchen zu weichen; die Schatten wurden tief und schwarz.

Plötzlich – was war das? Ein Rauschen, näher und näher – es hielt – er stürzte zur Thür.

„Antonio, Du allein? Wo ist die Signora?!“

„Das hat sie mir gegeben, nachdem ich beinahe zwei Stunden gewartet,“ sagte der Alte mürrisch und zog einen Brief aus der Brusttasche, „dann kehrte das Fräulein schnell wieder um und eilte in’s Haus hinein. Befehlen Sie sonst noch etwas, Signor?“

„Nein. Es ist gut; komme morgen früh wieder!“ sagte Erich tonlos und wandte sich ab. Die schlimme Gewißheit, ob auch noch so sicher vermuthet schlug ihn doch gewaltig nieder.

„Vielleicht ist es nur ein Aufschub auf morgen.“ Er raffte sich auf und eilte in’s Atelier, um Licht anzuzünden und den Brief zu lesen. Das Couvert war klein und zierlich; der wohlbekannte Duft entströmte ihm.

„Erich, Erich!“ rief in diesem Augenblicke Bartels vom Vorderhause her. Es klang dringend. Aber Erich hörte nicht; sein Blick haftete auf den wenigen, flüchtig geschriebenen Zeilen:

„Ich kann nicht mehr zu Dir kommen. Seit einer Stunde bin ich N.’s Braut. Es mußte sein und wäre unter allen Umständen so gekommen; nur heute hoffte ich noch frei zu sein. Du siehst, ich bin ehrlich – wirft Du mich nun hassen?

Lebe wohl und glaube, daß ich Dich allein auf dieser Welt geliebt habe.                     L.“

Wie vom Donner gerührt stand Erich ein paar Augenblicke da; es brauchte eine gewaltige Anstrengung, bis er sich von der Wahrheit dessen überzeugen konnte, was seine Augen lasen. Dann überkam ihn eine heiße Wuth; er schleuderte der Brief zur Erde und trat heftig mit dem Fuß daraus. Zorn und Scham über seine Einfalt stürmten in ihm und unsägliche Verachtung einer solchen Scheinseele – aber das war’s nicht allein, ein unerträglicher stummer Schmerz bohrte mit um so schärferen Qualen innerlich, je stärker und wilder er sich dagegen zur Wehre setzte.

„Daß es möglich ist – daß dies möglich ist, nach einer Stunde wie die von gestern … !“

Weiter drangen seine Gedanken nicht, und sie würden vielleicht noch lange von diesem Unbegreiflichen zurückgeprallt sein, hätten nicht rufende Stimmen sie gewaltsam verscheucht. Er unterschied die Klagelaute der alten Barbara, und ihnen voran trat Bartels eilfertig und aufgeregt über die Schwelle.

„Komm herauf“ rief er athemlos; „die Frau liegt im Sterben; sie verlangt nach Dir, eile! Was starrst Du mich so an? Komm, sage ich!“ Und im nächsten Augenblick war er wieder in der Dunkelheit verschwunden.

Erich raffte sich gewaltsam zusammen

„Menschenloos!“ sagte er. „Es leiden Viele zugleich auf Erden!“

Er trat in das Gärtchen hinaus – theilnahmlos starrten die schwarzen Aeste in die Nachtluft, und vor dem Monde hing eine große finstere Wolke.

Dann stand er ober in dem düsteren Sterbezimmer, und jede persönliche Empfindung in ihm schwieg vor dem Jammer dieses letzten Abschieds. Das müde, eingesunkene Todtengesicht lag dicht an der weichen, warmen, von heißen Thränen überströmten Wange des Mädchens, das mit tausend stehenden Liebesworten die Mutter zu halten und den Tod abzuwehren suchte. Aber er hatte seine Beute sicher gepackt; ein letztes tiefes Aufathmen, noch ein flehentlich bittender Blick auf Erich, mit dem ihre Seele auf die Lippen trat – dann streckte sie sich lang aus, und es wurde ganz still im Zimmer, so schauerlich still, daß es eine Wohlthat gewesen wäre, die seufzenden Atemzüge wieder zu hören.

Mit einem herzzerreißenden Schrei fuhr Nina in die Höhe. Erich fing die Taumelnde in seinem Arme auf.

„Armes Kind,“ sagte er voll tiefen Mitgefühls, „wir sind Beide einsam. Ich will Dein Bruder sein und Dich nicht verlassen.“

Drei Tage später war das äußerliche Leben wieder in seine Geleise zurückgekehrt. Durch die geöffneten Fenster des Sterbezimmers strömte Sonnenschein und Frühlingsluft; die alte Barbara räumte und scheuerte und hatte dabei ein stetes Augenmerk auf „das Kind“ gerichtet, das blaß und still im schwarzen Kleide herumging. Nina sah traurig aus und müde vom vielen Weinen, aber in ihrem ganzen Wesen war schon wieder die besonnene Umsicht, zu welcher die Italienerin rascher zurückkehrt, als die Deutsche. Sie schien gewachsen und älter geworden, wie sie so ernsthaft und Alles bedenkend mit der Alten im Hause schaltete; schöner war sie auch geworden; man sah jetzt, wo das Kinderlächeln verflogen war, so recht den edlen Schnitt dieser sammetdunklen Augen unter der festen Stirn und den süßen Reiz ihrer feingeschweiften Lippen.

„Sie ist wirklich ein Engel!“ pflegte Bartels einige Male des Tages im Tone einer persönlichen Beleidigung zu Erich zu sagen, ohne doch dadurch den gehofften Zank provociren zu können; die wortkarge Geistesabwesenheit des „jungen Menschen“ blieb sich unabänderlich gleich, und wo er den Tag über steckte, konnte man auch nicht erfahren; so hatte es denn Johann Casimir Bartels endlich für zweckmäßig erachtet, mitten am Vormittage einen kleinen Recognoscirungsgang nach der Riva und deren Umgebung hin anzutreten. Von diesem kehrte er soeben mit einem äußerst pfiffigen und überlegenen Gesichte zurück. Da sah er mit großer Ueberraschung beim Eintritte in sein Atelier Erich stehen, der ihm den Rücken zuwandte und eben im besten Zuge war, ein künftiges Büstenpostament mit wuchtigen Schlägen aus dem Rohen herauszuhauen, daß die Splitter ringsum stoben.

Der Alte blieb stehen und nickte vergnügt mit dem Kopfe: „Er macht sich, er macht sich – sieh, sieh! Und nicht einmal [488] verhauen hat er den Block; er stellt sich ja ordentlich wie ein Mensch an.“ Dann trat er auf Erich zu, gab überflüssige Rathschläge und that unnütze Fragen, immer mit einem gewissen Augenzwinkern bis Jener ihn aus etwas unceremonielle Weise ersuchte, zum Teufel zu gehen. Statt diesen Rath zu befolgen, blieb Bartels gerade vor ihm stehen, sah ihm eine Weile starr in die Augen und fuhr endlich los:

„Weißt Du’s denn schon?“

„Was?“

„Daß sie sich verlobt hat?“

„Wer?“

„Nun, Deine Wassernixe, die schöne Melusine oder Helena oder unter welchem Namen diese Species sonst in der Naturgeschichte vorkommt.“

Erich legte den Schlägel hin und wandte ihm ein völlig gleichmütiges Gesicht zu.

„Ja, ich weiß es schon seit einigen Tagen.“

„Und daß sie gestern abgereist sind?“

„In der That?“

„Und – das ist Dir so ganz einerlei?!“

„Vollkommen. So, da ist Dein Block. Wenn ich weiter haue, verderbe ich ihn Dir am Ende.“

Erich verließ eilig das Atelier. Bartels sah ihm erstaunt nach. „Das ist doch die Möglichkeit – so sehen nun die redlichen Leute aus. Man soll doch keinem Menschen mehr trauen. Nun, die Hauptsache bleibt, daß es ihm ‚einerlei‘ ist. Aber ich gäbe Viel darum, wenn ich wüßte, was da vorgegangen ist.“

[495]
6.

Es ist drei Jahre später, im Herbst 1878. Auf der großen Terrasse des Hotels *** zu Brunnen am Vierwaldstätter See bewegt sich der lebhafte, bunte Zusammenfluß von Eleganz und Müßiggang, welcher hier alljährlich sein ebenso heiteres, wie trügerisches Bild vom allgemeinen Wohlbefinden der Menschheit entfaltet. Es ist Frühstücksstunde und laute Conversation an den vielen kleinen, zierlich gedeckten Tischen; da sitzen im eleganten Morgencostüm junge Mütter, deren Leben noch keine andere Sorge kennt, als die um die möglichst graziöse Toilette für die künftigen kleinen Gesellschaftsmenschen, welche dort am Landungssteg ihren Fischfang mit einer eigentümlichen Mischung von natürlicher Unart und selbstbewußtem Weltton betreiben. Auf den Gesichtern der meisten Männer kann man jenen frühalten, nervösen Zug nicht verkennen, welchen das heutige eilige Tempo des Hastens nach Reichthum und Genuß dem modernen Menschen nicht gerade zu seiner Verschönerung auszudrücken pflegt; im Uebrigen fühlen sich Alle offenbar sehr erleichtert, für einige Wochen die juristischen, commerciellen und sonstigen Leitungsdrähte von der Hirnbatterie abgeschraubt zu haben und sich hier einmal gründlich ausspannen zu können. Bei dem appetitlichen Schweizerfrühstück sitzend, lesen sie ihre großen Zeitungen und betrachten hinter ihnen heraus die von Duft und Glanz eines wunderbaren Septembermorgens verklärten stillen Berge, die blauschattigen Wandhänge über dem leuchtend grünen Seespiegel mit dem fremden Blick des Stadteingesessenen, der den Zusammenhang mit der Natur verloren hat und nur aus dem Umweg der Operndecoration zu ihren hervorragendsten Knalleffecten zurückzukehren vermag.

Es ist viel Redens und Berathschlagens auf der Terrasse; alle Möglichkeiten, in kurzer und kürzester Frist die gesammten Schönheiten des Rigigebietes „abzumachen“, werden aus den rothen Büchern construirt und Hotelrechnungen verglichen; dazwischen richten sich, da auch am Vierwaldstätter See „der Mensch dem Menschen das Interessanteste bleibt“, viele neugierige Blicke nach einem Tische, nahe der Terrassenbrüstung, wo eine Dame von ungewöhnlicher Schönheit und derjenigen Eleganz der Gewänder, welche durch Reichthum allein nicht zu bewerkstelligen ist, auch die Blicke solcher Mitschwestern auf sich zieht, die nicht gewohnt sind, auf der heimischen Promenade einer distinguirten Toilette die Ehre besonderer Betrachtung zu gönnen.

Wer ist sie? Gestern hieß es, eine russische Fürstin; heute weiß man, daß sie die Gattin einer der ersten Finanzgrößen der reichen Stadt F… ist und daß diese Größe in Gestalt des mageren ältlichen Herrn mit dem Zwicker auf der Nase dort unter dem Schattendache ihr gegenüber am Tische sitzt.

Bei gewöhnlichen Sterblichen müßte man, dem Ausdrucke der Gesichter nach, auf ein ungewöhnliches Maß von Langeweile schließen, hier aber ist es leicht, zu denken, daß nur eine gewisse, durch die nahe Nachbarschaft der anderen Tische gebotene Zurückhaltung die Ursache der kurzen und seltenen Reden ist, welche das ungleiche Paar in den Pausen zwischen Frühstück und Lectüre von Briefen und Zeitungen mit einander wechselt.

Herr Nordstetter scheint, geschäftlich und menschlich genommen, der Gleiche wie ehemals, nur daß er sich das unbequeme Färben der Haare jetzt erspart und in Folge dessen bedeutend grau aussieht. Im Uebrigen trägt sein Gesicht denselben Ausdruck positiver Nüchternheit und ruhigen Selbstgefühls, den es hatte, ehe die Liebe für kurze Zeit einige Pinselzüge hineinmalte: es ist klar, daß man an der Seite dieses Mannes keinerlei Gelegenheit zu tragischer Empfindungen hat.

Tragisch sieht sie auch nicht aus, die immer noch außerordentlich schöne Frau mit den blauen, schwarzumsäumten Augen und den blassen, vornehm geschnittenen Zügen, aber müde, sehr müde, und wenn man näher zusieht, gewahrt man auch ein paar Fältchen unter diesen Augen und eine senkrechte zwischen den feingezogenen Brauen.

Sie sitzt regungslos zurückgelehnt und ihre Blicke streifen ohne Antheil über die Terrasse voll Menschen hin, über den See und die morgenduftigen Wälder und Felsschroffen des jenseitigen Ufers – sie ist offenbar in Gedanken weit weg von alledem und auch weit von dem Zeitungsblatt, das ihre Hand noch immer mechanisch festhält. Nun legt sie das Blatt nieder, nimmt ein elfenbeingefaßtes Opernglas vom Tisch und richtet es auf das Dampfschiff, welches soeben am Eingange der Bucht erscheint und mit eiligen Schaufelrädern der nahen Landungsstelle zustrebt. Plötzlich zuckt sie heftig zusammen, wirft einen raschen Blick auf ihren Gatten, dessen Seele tief in die Schwierigkeiten der bosnischen Occupation versenkt ist, und führt das Glas wieder zu den Augen.

Ihr Gesicht erscheint noch um ein gutes Theil blässer geworden, als sie jetzt das Glas wieder hinlegt. Einen Augenblick noch – dann erhebt sie sich und sagt, indem sie leise mit dem Finger auf Nordstetter’s Zeitung tippt:

„Ich gehe jetzt hinauf, mich anzukleiden.“

Au revoir,“ murmelt er, völlig von den österreichischen Calamitäten erfüllt, und sieht auch ferner nicht auf, bis das Rauschen des anlandenden Schiffes und die Signalglocke in nächster Nähe ertönen.

[496] Dann begiebt er sich gemächlich ein paar Schritte vorwärts und mustert ohne besondere Neugier den bunten Strom der Reisenden, welche von der Brücke her in den Garten eindringen. Plötzlich aber nehmen seine Züge einen überraschten und erstaunten Ausdruck an, als unter den vielen fremden Gesichtern ein wohlbekanntes auftaucht: scharf geschnittene Züge, ein blonder Vollbart und zwei rastlose blaue Augen, die sich eben mit einer raschen Frage an ein anderes dunkles Augenpaar wenden, welches aus dem allerliebsten, braunhaarigen Gesichtchen einer schlanken, jungen Frau freundlich emporsieht. Herr Nordstetter rückt hastig den Zwicker zurecht, um genau zu sehen, ob das kleine, in Stickereien halb verhüllte Wesen auf den Armen einer kräftigen Frauensperson zu dem Paare gehöre oder nicht.

Ja, ohne allen Zweifel. Die junge Mutter wendet sich, gleich nachdem der enge Durchgang passirt ist, als hätte sie es Jahre lang nicht gesehen, liebkosend nach dem Kindchen um, während ihr Gatte in die notwendigen Verhandlungen mit dem Oberkellner eintritt.

Herr Nordstetter geht wieder nach seinen Zeitungen zurück, nicht ohne vorher noch einen bezeichnenden Blick nach dem Fenster seiner Gattin emporzuwerfen. Die Tüllgardinen sind zugezogen.

„Schade,“ sagt er malitiös lächelnd zu sich selbst, „das sollte sie gesehen haben. Sie hätte doch wohl Augen gemacht.“

Größere zwar wohl schwerlich, als Herr Nordstetter selbst, wenn es ihm möglich gewesen wäre, einen Blick hinter diese geschlossenen Gardinen zu werfen. Da steht seine Frau und starrt unbeweglich durch den klaren Stoff auf die Gruppe im Garten hinunter. Rings um sie liegt der raffinirteste Luxus in Gestalt von gestickten und gefältelten, parfürmirten und banddurchzogenen Morgenkleidern, kostbaren Juchten-Etuis und silbernen Toilettegeräthschaften mit allen erdenklichen Essenzen von den Händen ihrer Zofe ausgebreitet, aber die Eigentümerin all dieser weichen duftenden Ueppigkeit hat keinen Blick dafür; die Hand hat sie auf’s Herz gepreßt, das nach langem Scheintode zu plötzlicher Qual erwacht, und ihre Lippen flüstern scheu und tonlos:

„Erich – er ist es. Er ist glücklich. Und ich und ich!?“

Sie sinkt auf den Stuhl zusammen und bedeckt ihr Angesicht mit beiden Händen. – –

Noch einige Stunden, und die unvermeidliche Erkennungsscene bei Tisch war überstanden. Wohl war Erich einen Moment zusammengezuckt, als er unter der offenen Thür des Speisesaales plötzlich den nie vergessenen Umriß einer schlanken, schwebenden Gestalt gewahrte, die mit keiner anderen zu verwechseln war. Doch faßte er sich rasch und sah ruhigen Blickes, wie sie mit der ihr eigenen aristokratischen Unbefangenheit, die ein Ignoriren aller Uebrigen schien, näher kam, so gleichgültig gegen die vielen neugierigen Augen, welche die Details ihrer kostbaren, blaßgelben Toilette musterten, wie gegen die in einer langen Schleppe hinter ihr rauschenden Wellen von Spitze und matter Seide. Sie hatte den Arm in den ihres Gemahls gelegt und wandte ihm, ruhig sprechend, das Gesicht zu, sodaß die Anwesenden nur den Anblick ihrer tadellosen Profillinie hatten.

Dann kam der unausbleibliche Moment. Die Ueberraschung nahm sich glaubhaft aus, und Gruß und Vorstellung wurden mit ausgezeichneter Höflichkeit gewechselt.

Dabei fiel ein kurzer Blick Erich’s auf Leontine, und sie hatte ihre ganze Selbstbeherrschung nöthig, um die schneidende Kälte dieser stahlblauen und stahlscharfen Augen mit Ueberlegenheit von sich abgleiten zu lassen.

Nun wußte sie es sicher: er war ihr für immer verloren, und die lebendige Ueberzeugung dieser Thatsache verursachte ihr ungeahnte Qualen. Der alte Zauber wirkte mächtig, wie nur je zuvor; wieder stand der kühne, jugendschöne Mann vor ihr, für ihr Empfinden die Verkörperung von Allem, was herrlich und begehrungswürdig ist, als der Siegreiche, der sich die Welt dienstbar macht und in Freiheit und Glück seine eigenen Wege schreitet; sie sah den Abstand von solchem Reichthume zu ihrer eigenen vergoldeten, armseligen Existenz, und ein Gefühl bitterer Reue preßte ihr das Herz zusammen.

Zu spät! Ihre Macht über ihn war erloschen, und an seinem Arme hing eine Fremde mit weichen Kinderzügen und unschuldigen Rehaugen – seine Frau!

Kühl und zurückhaltend fielen die üblichen Redensarten von ihren Lippen, und auch Ninette’s Gegengruß – denn keine Andere war es, die an Erich’s Seite schritt – kam aus schwerem Herzen; sie hatte die Zauberin wohl erkannt, die dermaleinstens ihren lieben Mann in so festen Banden gehalten, und sie zitterte im tiefsten Herzen vor der nächsten Stunde. Erich sah den Wolkenschatten über ihre reinen Züge gleiten und drückte ihren Arm noch einen Augenblick gegen seine Brust.

Dann setzte man sich zu Tisch, und wäre nicht der ahnungslose Nordstetter gewesen, der mit behaglicher Satisfaction den gegenwärtigen Stand der Dinge betrachtete und sich sehr liebenswürdig gegen die Frau seines einstigen Nebenbuhlers benahm, so würden es wohl die anderen Betheiligten zu schwer gefunden haben, die große gesellschaftliche Lüge ruhiger Unterhaltung bei erregtem Innern auch nur eine Stunde lang durchzuführen. Aber so konnte Erich nicht umhin, die teilnehmend-neugierigen Fragen des Banquiers zu beantworten und, wenn auch in kürzester Fassung, von seinem Lebensgange in den verfloßenen Jahren zu erzählen: er war berühmt geworden und glücklich. Glücklich? Leontine wagte noch daran zu zweifeln, und dieser Zweifel war ihr plötzlich etwas wie ein Lebensbedürfnis. Eine Frau kann niemals glauben, daß eine Andere so geliebt sei, als sie einstmals selbst. Leontine hielt den Zweifel daran mit allen Kräften fest. Sie wußte ja so gut, was es auf sich hat mit Schein und Sein und wie es innen aussehen kann, wenn außen gelächelt wird.

„Bleiben Sie einige Zeit hier?“ fragte Nordstetter jetzt von Neuem.

„Nein,“ erwiderte Erich, „wir sind blos Passanten; ich will meiner Frau die Schweiz zeigen, welche sie noch nicht kennt; dann halten wir uns noch etwas in Rom auf und gehen für den Winter nach Aegypten. Ich muß für ein großes Bild dort Studien machen und freue mich unbeschreiblich auf diesen completen Scenenwechsel. Was man in Europa südlichen Charakter nennt, ist doch höchst eintönig und civilisirt gegen die unglaubliche Buntheit jenes Lebens.“

„Und das Baby geht auch mit?“

„Versteht sich! Das ist ja die eigentliche Hauptperson der Familie,“ versetzte Erich heiter, „und für Damen und Kinder ist dort vorzüglich gesorgt.

„Nun, das ist ja sehr interessant,“ sagte Nordstetter mit einer gewissen Hochachtung. Er fühlte dunkel, daß es hienieden noch eine andere Art von großem Lebensgenuß geben möge, als Geld machen und Geld verzehren, und daß diese Art möglicher Weise sehr amüsant sei. Er würde, wenn es allein auf ihn angekommen wäre, sich gern diesem jungen Paare auf ein paar Tage angeschlossen haben, aber ein Blick auf die feindlichen Brauen seiner Gattin belehrte ihn, daß es Zeit zum Aufbruche sei.

Schon standen einzelne Gruppen von Herren rauchend auf der Terrasse draußen; die Kellner eilten mit Geschirr und Kaffeetassen im Saale hin und wieder, und einzelne Sonnenstrahlen fielen durch die Ritzen der gesenkten Jalousien und spielten mit hellen Streifen über das damastene Tafeltuch und die angebrochenen Fruchtpyramiden des Desserts; es schien äußerst behaglich in diesem braungetäfelten, halb familienhaften, halb hotelmäßigen Raume oder draußen unter dem linnenen Zeltdach, wo ein Stück wundervoller Welt vor den Blicken ausgebreitet lag und die herzerquickende Septemberluft voll Sonnenschein und Resededuft über die blühenden Beete strömte. Aber die vier Menschen am oberen Tafelende hatten es eilig, von einander zu scheiden, und die Abschiedsverbeugungen waren sehr ceremoniell.

„So, Liebchen,“ sagte Erich, noch ehe das Paar außer Hörweite war, „nun gehören wir uns wieder selbst; jetzt wollen wir einen Kahn nehmen und hinüber nach jener schattigen Bucht fahren; dort sehe ich schon die ganze Zeit einen Wiesenweg in den Wald hineinführen, den ich mir außerordentlich reizend vorstelle. Dort müssen wir heute noch wandern.“

Auf der Saalschwelle drehte Leontine den Kopf. Sie sah eben, wie Erich den Arm um sein junges Weib legte und sie fröhlich mit sich aus die Terrasse hinauszog.

„Was hast Du?“ fragte Nordstetter und wandte sich ebenfalls.

„Nichts,“ erwiderte sie, „ich dachte, mein Fächer liege dort, aber ich erinnere mich eben, ihn gar nicht mitgenommen zu haben.“

* * * 

Das menschliche Leben besteht in Ausgleichungen, und wer nicht so glücklich ist, durch tägliche kleine Abschlagszahlungen die [497] Wage im Gleichgewicht zu halten, für den kommen in bestimmten Punkten schlimme Abrechnungstermine. Keine chemische Reaction tritt genauer und pünktlicher ein, als die Erkenntniß gewandelter Irrwege, und sie pflegt um so überwältigender zu sein, je länger man sich geflissentlich die Augen davor verschlossen hatte.

Eine solche Abrechnungsstunde mit sehr bitteren Erkenntnissen hatte hier an diesem eleganten, lachenden Vergnügungsorte auf die schöne Frau gewartet, welche spät am Abend, in einen dunklen Mantel eingehüllt, einsam unter den großen Ziersträuchern seitwärts von der Terrasse saß. Es war sehr finster in dieser Ecke des Gartens; sie rührte sich nicht und sah auch nicht hinüber zu dem erleuchteten Pavillon, wo ihr Gatte mit ein paar Andern phlegmatisch und gründlich seinen Robber Whist machte – sie blickte gedankenvoll vor sich hin, und es war ihr heute Abend noch viel banger zu Muthe, als Mittags bei Tisch.Was vor ihr war, verschwand; ihre Gedanken gingen rückwärts in die Vergangenheit, und sie sah ihre früheren Wege ganz deutlich vor sich liegen, und ganz deutlich sagte sie sich zum ersten Male, daß es falsche Wege waren, die sie gewandelt.

O, jene Tage in Venedig, als sie noch frei war und ihr Schicksal in der eigenen Hand hielt – mit wie viel Jahren ihres Lebens hätte sie jene Zeiten zurückkaufen mögen!

Was war darauf gefolgt? Eine kurze Satisfaction bei der Rückkehr nach W… als die Braut des reichen Mannes – und dann?!

… Es waren schlimme Erinnerungen; die Stirn, welche diese Erinnerungen dachte, furchte sich tief, und der Athem ging gepreßt durch die blassen Lippen Leontinens. Erniedrigung, die schlimmste von allen … vergebliches Uebertäuben mit Glanz und Reichthum … tägliche und stündliche Heuchelei und dabei ein Gefühl im Innern, ein Gefühl der Oede und Leere, so riesengroß, daß jeder Lebensgenuß angesichts dieses Gefühls schon von ferne verdorrte und es sich ringsum wie eine Wüste ausdehnte, weit, trostlos unermeßlich!

… Wo waren die „Genüsse des Reichthums“ geblieben? Wo Freiheit, Kunst, Gesellschaft bedeutender Menschen?

Sie dürstete nach dem freien, glänzenden Leben, welches ihr das ungeheure Opfer ihrer Person hatte verschaffen sollen, und sah nun mit Entsetzen, daß es ihr nur Möbel, Kleider und eine Equipage verschafft hatte.

In dieser finsteren Abendstunde ging ihr plötzlich die Ahnung auf, daß es doch so etwas geben möge, wie moralische Naturgesetze, gegen welche man nicht ungestraft frevelt; sie mußte mit ihrer ganzen ferneren Existenz die Erkenntniß bezahlen, daß das Leben kein Rechenexempel ist und die Ehe ohne Liebe Abscheu und Gräuel.

Sie legte den Kopf in die stützende Hand und stöhnte tief und verzweiflungsvoll …


Wie lange sie so gesessen, wußte sie nicht, als nahende Stimmen an ihr Ohr schlugen. Ein Frauenkleid rauschte zu dem Männertritt. Leontine brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, wer hier noch im Garten lustwandelte und jetzt in die kleine Laube zu ihrer Linken, von welcher sie nur der Jasminstrauch trennte, eintrat. Krampfhaft umklammerte ihre Hand die Stuhllehne; aufstehen konnte sie nicht, ohne gesehen zu werden. Sie wollte es auch nicht; es lohte in ihrer Seele auf mit dämonischem Verlangen, jetzt, gleich jetzt zu wissen, ob sie allein elend sei. Mit eigenen Ohren wollte sie hören, wie die Beiden mit einander sprachen, wenn sie unbeobachtet waren; sie kannte den Ton seiner Liebe, und es wäre ihr Labsal gewesen, wie dem Verschmachtenden am Kreuze ein Tropfen Wasser, jetzt gleichgültige Worte, zu seinem Weibe gesprochen, aus Erich’s Münde zu hören.

Es blieb einige Augenblicke ganz still.

Leontine bog vorsichtig einen Zweig zurück und sah durch die schmale Blätterlücke im dämmernden Zwielicht den Kopf der jungen Frau, der an des Mannes Schulter lehnte, während seine Hand liebkosend über ihre braunen wolligen Haare strich.

„Bist Du nun beruhigt, Liebchen?“ hörte sie ihn fragen.

„Ja, Du Schlimmer!“ sagte Ninette zärtlich und streifte mit den Lippen flüchtig seine Hand. „Ach, wenn Du wüßtest, was ich heute dort drinnen im Saal gelitten habe! Kein Mann weiß es, wie eine Frau sich um ihn grämen kann.“

„Besonders, wenn sie sich umsonst grämt,“ versetzte er heiter. „Es geschieht Dir eigentlich ganz Recht, warum glaubst Du nicht, daß Du mir das Liebste auf der Welt bist?“

„O Erich,“ sagte sie und schloß den geliebten Mann in ihre Arme, „ich könnte nicht mehr leben ohne Dich, und Niemand, Niemand auf Erden könnte Dich so lieben wie ich. Wo Du bist, ist mir wohl, und glücklicher bin ich nicht in unserem neuen schönen Hause in B., als in der verfallenen kleinen Loggia am Canal, wo wir mein selbstgekochtes Essen verzehrten, wenn Du aufhörtest am Titian zu malen, und uns zum Nachtisch küßten. Weißt Du noch?“

„Laß sehen!“ sagte er mit verlangender Zärtlichkeit und neigte seine Lippen zu den ihren. „Ist der Kuß wohl noch eben so süß wie damals?“ –

Die blasse Lauscherin hinter dem Fliederstrauch fühlte in diesem Augenblick einen Dolchstoß im Herzen. Nun wußte sie, was sie wissen wollte! Das war Glück. Dasselbe Glück, welches sie einstmals so sehnsüchtig geträumt und dann in ihren Armen gehalten und aus feiger Kleinheit verleugnet und weggeworfen hatte.

Sie bedeckte die trockenen heißen Augen mit der Hand.

„Erich,“ hörte sie die junge Frau nochmals mit ihrer weichen Betonung sagen, „wie ist es doch nur möglich, daß Dein Herz sich so gewendet? Damals, im Anfang, kanntest Du mich doch auch schon und achtetest gar nicht auf mich – warst Du denn ganz verzaubert?“


[498] „Ich war es, liebes Herz,“ antwortete er. „Schönheit und Geist sind große Zaubermittel, und so lange sie mir wahr schien, hätte ich tausend Leben für sie hingegeben. Als ich aber die ungeheure Lüge in ihrem Wesen inne ward, als ich sehen mußte, daß die Liebe, die mir Religion und Heiligthum war, ihr nur für Zeitvertreib galt, da war es mit einem Male ganz kalt in mir geworden, und heute – sonderbar – habe ich in ihrem Gesichte all die deutlichen Züge gesehen, für die ich damals blind war.“

„Nein, nein,“ unterbrach ihn Ninette, „sage nichts Schlimmes mehr über sie! Mir schien sie gar nicht glücklich zu sein. O, wenn sie wüßte, die Arme, was das Leben an Deiner Seite ist, Erich!“

„Denke nicht, daß sie Dir es beneiden würde!“ sagte er aufstehend, indem er ihr die krausen Härchen aus der Stirn strich. „Solche Seelen sind anders als die unsrigen; sie wissen nichts von unseren unsichtbaren Gütern und fühlen auch ihre eigene trostlose Armuth nicht. Ich dachte damals das Gegentheil, aber das war ein großer Irrthum. Nein, nein, mein süßes Weib, das Herz, das durch Liebe glücklich oder unglücklich wird, das hast Du und seit dieses Herz mein geworden, seitdem ist mein Leben voll Sonnenschein.“ Er umfaßte und küßte sie. „Aber nun komm’! Es wird kühl hier im Garten und Du darfst Dich nicht erkälten. Wir wollen auf dem Zimmer zu Abend speisen – ich wünsche keine Begegnung mehr wie heute Mittag. Und morgen früh um sieben Uhr reisen wir ab; bis morgen Abend um diese Zeit sind wir am Lago Maggiore.“

Sie schritten, sich umschlungen haltend, so dicht, daß die ausgestreckte Hand sie hätte berühren können, an der dunklen Gestalt hinter dem Gebüsch vorüber.

Aber die Hand wurde nicht ausgestreckt, und die Gestalt saß noch lange regungslos, bis die Lichter im Pavillon gelöscht wurden. Einen Augenblick war sie an die Terrassenbrüstung vorgetreten und hatte in das bleifarbige Wasser gestarrt. Aber schaudernd wandte sie sich wieder ab; diesen Weg zur Freiheit konnte sie nicht gehen.

*      *      *

Und dann?!

Die Dramen des wirklichen Lebens verlaufen anders, als die der Bühne. Es geht schweigsamer dabei zu, als bei jenen; in ihnen wird mehr gelitten, als gehandelt. Aber die verborgenen Wunden bluten nicht weniger heiß, als die offenkundigen Dolchstiche, und die Vergeltung bleibt auch nicht aus; nur kommt sie meistens schon lange vor dem letzten Act. …

Am nächsten Morgen ging die Sonne gerade so glänzend und hell über den Bergen empor, wie den Tag vorher. Ihre Strahlen fielen durch die Gardinen eines Schlafzimmers, wo zwei müde, überwachte Augen widerwillig den neuen Tag anbrechen sahen, und dieselben Strahlen umflutheten mit Licht und Heiterkeit ein junges, seliges Menschenpaar, das, am Vorderrand des Dampfers stehend, Hand in Hand, voll schweigender Andacht die Wunder dieser Morgenstunde betrachtete. Schäumende Furchen pflügte der Kiel in die smaragdenen Wasser; über den steil abfallenden schwarzgrünen Waldflanken der Berge stand noch blauer Duft, und kräftig rosenroth glänzten die Felshäupter im Morgenlicht.

Jetzt bog das Schiff südwärts, das wild-einsame Becken von Fluelen that sich auf, und in majestätischer Größe standen die Hochalpen da.

Erich streckte mit glänzenden Augen die Hand darnach aus: „Das ist unser Weg, mein Herz; dort führt die Straße über den Gotthard nach Italien, zu Kunst, Schönheit und Liebe.“