Volksrichter und Berufsrichter

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Autor: Adolf Wach
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Titel: Volksrichter und Berufsrichter
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Fünftes Hauptstück: Die Rechtsprechung, Abschnitt 24, S. 327−330
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[327]
24. Abschnitt.


Volksrichter und Berufsrichter.
Von
Exzellenz Wirklichem Geh. Rat D. Dr. Adolf Wach,
Mitglied der Ersten Kammer, o. Professor d. R. an der Universität Leipzig.

I. Man spricht vom Laienrichter oder Volksrichter als dem juristisch nicht geschulten und approbierten Mann aus dem Volke, dem Ehrenbeamten, im Gegensatz zum zünftigen, dem Juristenstand angehörigen Richter, dem Richter, dessen Beruf die Rechtspflege ist, dem richterlichen Staatsbeamten. So wurzelt bei uns der Gegensatz in der eigenartigen Entwickelung des Richterstandes als einer durch juristisch berufsmässig geschulte Personen gebildeten Gruppe der Beamtenhierarchie, der zur Ausübung der Gerichtsbarkeit berufenen Justizbeamten. Das geht zurück auf das gelehrte Richtertum, welches selbst wieder seinen Grund hat in der Eigenart der Rechtsentwickelung, der Natur unseres Rechts als Juristenrecht im Gegensatz zum Volksrecht.

Wer die Rechtspflege in Händen hat, der hat das Staatswohl zu wahren. Daher war allzeit die Frage, wer sie üben soll, von grosser politischer Tragweite. Der moderne Rechtsstaat will sie der Willkür der souveränen Macht entheben, gleichviel ob sie monarchisch [328] oder republikanisch organisiert ist. Er sucht das Walten der Gerechtigkeit zunächst in der Unabhängigkeit der Rechtspflege. Sie soll in Händen liegen, die unabhängig sind von den Weisungen des Monarchen und seinen Verwaltungsstellen. Daher der Ausschluss der Kabinetsjustiz, der Rechtsprechung durch Verwaltungsorgane, daher strenge Scheidung von Justiz und Verwaltung, Bindung jener lediglich durch das Gesetz und endlich die Garantien richterlicher Unabhängigkeit. Alles das gilt in erster Linie der Rechtspflege durch Beamtenrichter, während dem Ehrenbeamten die Präsumtion der Unabhängigkeit zukommt: freilich dann eine arge Täuschung, wenn der Volksrichter der öffentlichen Meinung, der Parteiung oder Interesseneinwirkung unterliegt. – Solche Einflüsse können in politisch erregten Zeiten, in denen Klassen, Stände um die Herrschaft ringen, wirtschaftliche und soziale Gegensätze das öffentliche Leben bestimmen, das Volksrichtertum verderben und zur politischen Geisel machen. Die Eigenschaft des Richters als Ehrenbeamten gewährleistet die Unabhängigkeit der Rechtsprechung noch nicht, so wenig wie eine staatsrechtliche Organisation der Justiz. Es bedarf hierzu vor allem der geeigneten Personen, solcher, die innerlich unabhängig sind.

Für den Beamtenrichter setzt hier Zucht und Erziehung ein. Der Lebensnerv des Standes muss die innere Freiheit von äusseren Einflüssen und subjektiven Interessen sein. Der deutsche Richterstand darf sich mit Recht solcher Integrität rühmen. Der oft gehörte Vorwurf der Klassenjustiz ist ein unwahres Schlagwort politischer Agitation.

Für den Volksrichter kommt die standesgemässe Selbstzucht nicht in Frage. Hier hilft nur Selektion, wie man die bei der Bildung der Schöffen- und Geschworenengerichte zu üben sucht. Darauf ist später einzugehen.

Die Unabhängigkeit im einzelnen Fall, die Unparteilichkeit und Unbefangenheit sucht man durch gesetzliche Vorschriften über Ausschliessung und Ablehnung des Richters zu wahren. Immerhin: Unabhängigkeit verbirgt noch nicht Gerechtigkeit. Dazu gehört mehr. Sie fordert die Fähigkeit zur Rechtsprechung und das bedeutet Verschiedenes für den naiven einfachen Zustand des Volksrechts und den eines hochentwickelten Juristenrechts. Daher bestreiten heute viele dem Volksrichter in Deutschland den Beruf zum Richten. Erledigt kann diese Frage nur werden von der heutigen Organisation der richterlichen Behörden aus.

II. Man kann den Volksrichter allein oder in Gemeinschaft mit dem Beamtenrichter verwenden und im letzteren Fall die Urteilsfunktion entweder ausschliesslich dem Volksrichter oder beiden zu gesamter Hand geben oder sie zwischen ihnen teilen. Sieht man von historischen und ausserdeutschen Bildungen ab, so bieten sich folgende Typen. Die Zivilgerichtsverfassung, soweit sie gemäss den Reichsjustizgesetzen als „ordentliche“ zu bezeichnen ist, hat Laienrichter lediglich in den nur fakultativen Kammern für Handelssachen als die beiden Beisitzer des Beamtenrichters mit ungeteilter Urteilsfunktion (GVG. §§ 100 f. 116). Dem sind durch Sondergesetze die nach gleichem Typus verfassten Gewerbegerichte (R.Ges. V. 29. Juli 1890, 1. Februar 1902) und Kaufmannsgerichte (R.Ges. v. 6. Juli 1904) hinzugetreten. Die vom Reichsgesetz zugelassene landesgesetzliche Eigenbildung der Gemeindegerichte bleibt hier beiseite. In der Strafgerichtsverfassung erscheint der Volksrichter als Schöffe und als Geschworener; im Schöffengericht in gleicher Urteilsaufgabe mit dem Richter, im Geschworenengericht mit geteilter Urteilsfunktion. Hier beantwortet nach französisch-deutschem System die Jury die Schuldfrage gemäss der Fragestellung des Richters, während diesem die Straffrage verbleibt. In höherer Instanz hatten bis vor kurzem Volksrichter keinen Platz; der ist zuerst den Handelsrichtern zuteil geworden durch die Novelle z. ZPO. und GVG. vom 1. Juni 1909, welche die Kammern für Handelssachen zu Berufungs- und Beschwerdegerichten in amtsgerichtlichen Handelssachen gemacht hat. Für Schöffengerichte wird gleiches erstrebt durch Uebertragung der Berufung an sie. Eine eigentümliche Stellung nehmen die Militärstrafgerichte ein. Sie lassen sich in den hier erörterten Gegensatz nicht eingliedern.

[329] III. So zeigt unser Rechtszustand ein unklares, zerfahrenes Bild. Wir wollen suchen es zu verstehen. Die auffallende Tatsache, dass die Laien in Zivilsachen nur ausnahmsweise, hingegen in Strafsachen erstinstanzlich – von Strafkammern und Reichsgericht abgesehen – regelmässig mitwirken, kann nur aus der Natur der Sache erklärt werden, während die Verschiedenartigkeit der erstinstanzlichen Strafgerichte damit nichts zu tun hat. Die Strafkammer, das reine Beamtengericht, beschäftigt sich mit durchaus gleichartigen Dingen, wie Schöffen- und Schwurgericht. Nur äusserliche und politische Gründe motivieren die Differenz: Misstrauen gegen den Volksrichter, Unklarheit über den Wert des Schöffen- und Schwurgerichts. Daher als Rückstoss das Misstrauen aller derer gegen die Strafkammer, die in der Laienbeteiligung einen Vorzug des Strafgerichts sehen. Das Volk verwirft das rein bureaukratische Strafgericht; zünftige Juristen reden ihm das Wort: mit Unrecht, wie sogleich zu zeigen sein wird.

Unser Zivilrecht ist ein hochgespanntes Juristenrecht, dessen Beherrschung durch die stets wachsende und nichts weniger als volkstümlich geartete Gesetzgebung immer mehr erschwert wird und nur noch berufsmässigem Studium möglich ist. Der Laie ist ihm gegenüber hilf- und ratlos. Was soll er im Zivilgericht? Ihn etwa für rein wirtschaftliche Fragen, z. B. in Schädensprozessen zu verwenden, ist ein längst aufgegebener, unpraktischer Gedanke. Da tritt der Sachverständige ein. Wenn dennoch in Handelssachen der Laie als Vollrichter eine beliebte, erspriessliche Tätigkeit entwickelt, so ist das auf die Art der Selektion und Aufgabe zurückzuführen.

Die Kammer für Handelssachen ist nicht Standesgericht, nicht nur für Prozesse von Kaufleuten untereinander oder gegen Kaufleute berufen, sondern ein fachmännisches Gericht, Zuständig für Rechtsverhältnisse, wie sie im Handelsverkehr gang und gäbe sind. Der Handelsrichter ist Fachmann, ins Handelsregister eingetragener oder eingetragen gewesener Kaufmann oder Vorstand einer Aktiengesellschaft, Gesellschaft m. b. H, sonstigen juristischen Person, an Seeplätzen wohl auch Schiffahrtskundiger, ernannt von der Landesjustizverwaltung auf gutachtlichen Vorschlag der Handelskammer für drei Jahre mit Möglichkeit der Wiederernennung. Von ihr wird oft Gebrauch gemacht und so haben wir trefflich geschulte Handelsrichter, die lange Zeit hindurch willig das Ehrenamt führen. Der Grundgedanke des Instituts ist also die Nutzbarmachung der eigenartigen fachmännischen Kenntnis für die Rechtsprechung. Daher ist es, nebenbei bemerkt, eine Verirrung, der Kammer für Handelssachen die Prozessbeschwerden und damit spezifisch formal-prozessuale oder Vollstreckungsfragen zuzuweisen.

Anders die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte, die ihrer Organisation wie ihrer Aufgabe nach wesentlich sozial-politisch gedachte Klassengerichte sind. Das tritt scharf hervor in der Wahl der Beisitzer durch die beiden beteiligten Interessentengruppen (Arbeitgeber und Arbeiter; Kaufleute und Handlungsgehilfen) und in der Beschränkung der Kompetenz vorzüglich auf Arbeits-, Dienst- und Lehrverhältnisse. Daher auch die Verwertbarkeit der Gewerbegerichte als Einigungsämter. Der von den widerstreitenden Interessen unabhängige Vorsitzende erscheint als ausgleichender Faktor und der – freilich gegenständlich stark eingeengte – Rechtsmittelzug an die Zivilkammer des Landgerichts als eine Garantie gerechter Rechtsprechung.

So enthalten diese Institutionen der Zivilgerichtsverfassung ein deutliches Bekenntnis, dass in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten der Laie sich zum Richteramt der Regel nach nicht eignet. Daran ist festzuhalten.

IV. Wesentlich anders liegt es in Strafsachen. Ein nicht verbildetes Strafrecht sollte dem entwickelten Laienverstand, der Intelligenz, die man den gesunden Menschenverstand nennt, ohne weiteres zugänglich sein. Die Grundbegriffe des Strafrechts können ihm nur durch eine Scholastik, die das Natürliche und Einfache verkünstelt und verschraubt, unverständlich werden. Das Wesen der strafbaren Handlung, die Begriffe und die Formen der Schuld, der Teilnahme, des Versuchs u. dergl. sind nichts spezifisch Juristisches oder [330] Kriminalistisches. Man macht sie dazu, indem man sie dem Leben entfremdet. Jedes Strafurteil sollte dem klar Denkenden, gesund Empfindenden, der teil hat an unserm Kulturleben, fassbar sein, wie wir wünschen müssen, dass der Schuldige es innerlich anzunehmen vermag. Leider gehört das Gegenteil vermöge unserer fehlerhaften Gesetzgebung und der vielfach in Scholastik ausgearteten Strafrechtswissenschaft zu den alltäglichen Erlebnissen. Das aber ist gewiss kein Grund, um den Laien von der Beurteilung der ihm zum mindesten in seiner menschlichen Seite durchaus fassbaren Strafsache auszuschliessen. Im Gegenteil, er wird in seiner natürlichen, einfachen Auffassung der Dinge gegenüber dem sogen. juristischen Verstand zum gesunden Korrektiv. So kann man ihn zum mindesten überall da, wo nicht die spezifische Rechtsfrage gestellt wird, wo es sich um Tat, Schuld und deren Abmessung handelt, als Strafrichter sehr wohl verwerten. Ja, man soll und muss es tun.

Die Volkstümlichkeit des Rechtes ist eines der höchsten rechtspolitischen Ziele. Sie kann nicht sein ohne Vertrauen des Volks in die Rechtsprechung. Daher ist es ein unabweisbares Postulat im konstitutionellen Staate, der dem Volk die Mündigkeit zuerkennt, es an der Rechtsprechung überall da zu beteiligen, wo es ohne Schaden, ja mit Vorteil für die Justiz geschehen kann.

V. Wie kann das geschehen? Zunächst durch eine Selektion der Laienrichter, die den oben angedeuteten Gefahren begegnet und möglichst geeignete Kräfte für den Richterdienst heranzieht. In Deutschland verfährt man dabei nicht wie in Frankreich nach einem System des Zensus und der Kapazitäten, sondern sucht auf demokratischer Basis Gewähr durch die Auswahl eines Vertrauensmänner-Ausschusses. Aber man begibt sich wichtigen Materials, wenn man, wie bisher, Volksschullehrer vom Schöffen- und Geschworenendienst ausschliesst. Und wie soll das Gericht gebildet werden? In der Art der Schöffen- oder der Geschworenengerichte? In der Jury verkümmert das Richteramt des Laien, wird ihm die Strafzumessung und jeder Einfluss auf die Gestaltung des Urteilsstoffs entzogen, wird die einheitliche Richteraufgabe widernatürlich und unlogisch zerrissen, entsteht die unerschöpfliche Fehlerquelle der Rechtsbelehrung, der Fragestellung und des Mangels geistiger Kommunikation der geschiedenen Urteilsfaktoren: der Geschworenen und der Richter. Der angebliche Gewinn der völligen Freiheit der Jury ist Illusion oder doch zu teuer erkauft. Im einheitlichen Schöffenkollegium sind alle diese Fehler vermieden, kommt der Laienrichter vollwertig zur Geltung, sichert man ihm überdies die Mehrheit, so dass es nur von ihm abhängt, wie viel seine Stimme gilt. Zur Selbstzucht des Richters gehört, von dem Schöffenelement Nutzen zu ziehen und es nicht zu unterdrücken. – Überdies eignet sich nur das Schöffengericht zum Berufungsgericht, während das Geschworenengericht mit seinem Orakelspruch sogar jede Berufung unmöglich macht und die Revision wesentlich verengert.

So gehört neben der Verwendung des Einzelrichters und des Reichsgerichtes die Zukunft dem Schöffengericht in allen erstinstanzlichen Strafsachen, – und in der Berufungsinstanz.