Vorzeitliche und moderne sociale Probleme
Vorzeitliche und moderne soziale Probleme.
Versteht man unter der „socialen Frage“ die schroffe Ungleichheit der Vermögens- und damit der Lebensverhältnisse, welche durch Vererbung, Verschuldung, Verdienst und Zufall im Kampfe um das Dasein die Einen zum Ueberfluß erhöhen, die Andern bis an und bis in das Verderben stoßen so muß man leider für alle Völker und Zeiten die „sociale Frage“ für unlösbar erklären; denn diese durch Natur- und Geistesanlage gegebene, durch unberechenbare Einflüsse gesteigerte Ungleichheit und ihre traurigen Folgen sind, wie alle Geschichte lehrt, nicht aus der Welt zu schaffen: keine politische Verfassung, keine gesellschaftliche, wirthschaftliche Einrichtung kann sie beseitigen. In der naiven Zeit der Vorcultur ist die Sclaverei der erste rohe Versuch, jenes Problem zu lösen: erträglicher in Zuständen, in welchen Herr und Knecht ungefähr auf gleicher Unbildungsstufe stehen, immer unerträglicher werdend, je schroffer der Unterschied der Cultur wird, wenn in raffinirter Sclaverei der Sclave gebildeter ist als der Herr. Das Römerthum ist zuerst wirthschaftlich untergegangen, dann erst politisch-militärisch. Das Mittelalter ist ebenfalls zuerst wirtschaftlich untergegangen an seinem getheilten unfreien Grundbesitz der Bauern und seiner gebundenen Gewerbezünftigkeit. Vielleicht geht auch die moderne Cultur zuerst wirthschaftlich unter an ihrem Proletariat und Allem, was damit zusammenhängt; denn unlösbar ist die „sociale Frage“, und jeder Versuch, sie zu lösen, reißt, wie es scheint, mit der Wirthschaft auch Gesellschaft und Staat in das Verderben.
Wie dem auch sei – eine krankhafte Erscheinung ist, unter anderen Symptomen tiefer Schäden, die Auswanderung, die massenhafte, welche auch heute noch jährlich viele Zehntausende aus Deutschland nach anderen Erdtheilen führt. Sie ist rätselhaft, denn in den politischen und socialen Zuständen unseres Reiches können, mag man die Abneigung gegen den Waffendienst, den Steuerdruck, das Darniederliegen der Geschäfte und die Wirkungen der Lehren der Socialdemokratie noch so hoch anschlagen, ausreichende Gründe für diese Flucht nicht gefunden werden, wie sie etwa in dem Zeitraum von 1815 bis 1848, 1850 bis 1870 allerdings vorlagen. Auch von Uebervölkerung des deutschen Reiches kann keine Rede sein: eine relative Uebervölkerung findet sich nur in großen Städten, und zwar eine sehr schädliche in Ursache und Wirkung; denn die Ursache ist nur zu oft der Drang der ländlichen Arbeiter beider Geschlechter aus der „Langeweile“ des Ackerbaues nach den „Genüssen“ der Großstadt, und die Wirkung ist die Belastung der Großstädte mit dem Unterhalt einer häufig genug arbeitsunwilligen nicht selten aber auch arbeitsunfähigen Menge.
Gerade die ländliche Bevölkerung ist es nun bekanntlich, welche, neben der Ueberwanderung in die Großstadt, ein sehr erhebliches Contingent zu der Auswanderung aus Europa stellt, sodaß Uebervölkerung des flachen Landes im deutschen Reiche durchaus nicht zu verspüren, vielmehr hier Mangel an Arbeitskräften zu beklagen ist. Die Summe von Kraft, welche seit anderthalb Jahrhunderten durch Auswanderung dem deutschen Volke unwiederbringlich verloren ging und von Jahr zu Jahr noch verloren geht, ist ganz enorm. Es wäre eine dringendere Aufgabe der deutschen Politik, als gar manche, welche seit 1871 in Angriff genommen wurde, durch Colonisation im großen Stil dafür zu sorgen, daß in Zukunft wenigstens diese Tausende von deutschen Arbeitern uns erhalten, nicht, wie bisher, verloren gegeben, in Concurrenten, ja oft Feinde der deutschen Heimath verwandelt werden.
Diese Gedanken über moderne Auswanderung entbehren durchaus nicht des Zusammenhangs mit den Studien welche mein Beruf und meine Vorliebe mir seit Jahrzehnten am nächsten legen: mit der Erforschung deutscher Urzeit und der – sogenannten – „Völkerwanderung“. Und wie mich jene Bewegungen der Vorzeit zum Vergleich mit – scheinbar – ähnlichen Erscheinungen der Gegenwart oft veranlaßt haben, so hat sich vielleicht schon mancher Leser dieser der Jetztzeit zugewendeten Blätter die Frage gestellt, ob jene „Völkerwanderung“ mit unserer modernen Auswanderung in Vergleich gebracht werden könne?
Einen weiteren Anlaß zur Erörterung dieser Frage gab das diesen Zeilen beigegeben Bild von Meister Johannes Gehrts, der
[196]wie kaum je ein anderer Maler vor und neben ihm in die Wahrheit germanischen Alterthums eingedrungen ist.
Ich habe andern Orts ausgeführt, daß jene sogenannte Völkerwanderung richtiger als Völkerausbreitung bezeichnet würde, und mit unserer modernen Auswanderung hat sie fast gar nichts gemein; sie unterscheidet sich vor Allem darin, daß nicht Einzelne oder einzelne Familien, sondern wirklich ganze Völker, staatlich organisirt, sich in Bewegung setzten, während der Wanderung das ganze Staatsleben (mit Gericht, etc.) fortführend, wie es in den verlassenen Heimathsitzen bestand – und zweitens darin, daß fast immer Uebervölkerung, Bedürfniß nach ausgedehnteren, dann auch ergiebigeren und mehr gesicherten Wohnsitzen die treibende Ursache, der Ausbreitung und Sitzveränderung war. Auf die Gründe, welche diese Uebervölkerung, dieses Bedürfniß nach geräumigerem [198] Ackerbau, ja die ganze damalige Volkswirtschaft noch in sehr einfachen Anfängen begriffene zwar nahmen die Germanen manche Vorteile der benachbarten römischen Cultur an, aber das geschah langsam, stückhaft, in unzulänglicher Weise, und Alle zogen es vor, statt mühevolleren Ackerbau als bisher zu treiben, durch Kampf und gewaltsame Ausbreitung neue, breitere, bessere und mehr geschützte Wohnsitze zu gewinnen.
Es waren nicht Schaaren bewaffneter Abenteurer, nicht nur Fürsten mit ihrer Gefolgschaften, nicht blos Heere von Kriegern, sondern wirklich ganze Völker, welche mit Weib und Kind, mit den noch nicht und den nicht mehr waffenfähigen Freien, Freigelassenen, mit Knechten und Mägden, mit deren Heerden – dem wichtigsten Theil des Nationalvermögens – und mit der übrigen Fahrhabe einher gezogen kamen.
Das hat der Künstler, der überhaupt, wie gesagt, eine auf gründlichstem Stadium ruhende Kenntniß germanischer Vorzeit überall bewährt, klar zur Anschauung gebracht.
Wir sehen den Zug der Wagen, welche bei der Rast zu einer Art Lager, „Wagenburg“, in einander geschoben werden; auf diesen Wagen leben während der Wanderung die Weiber mit Handarbeit, zumal Spinnen, beschäftigt, dann die Kinder, die marschunfähigen Greise, Kranke, Wunde; die Wagen waren mit Thierhäuten oder Leinwand, nicht ohne Schmuck bunter Zeichnungen, überspannt und glichen daher beweglichen Zelten; Rinder zogen sie. Die Giebelstangen der Wagen waren bei deren Kreuzung mit Büscheln geschmückt oder liefen in Gestalt von Pferdehäuptern aus und trugen Laub oder auch die Häupter geopferter Rosse.
Die Schafheerden folgen dem langsamen, schwerfälligen Zug, von gewaltigen Hunden umbellt. Die Knechte tragen Waffen, Geräth, Jagdbeute. Halbwüchsige Jünglinge und Mädchen reiten auf den Zugthieren, wenig bekleidet, wie denn die keusche unbefangene Sitte des Naturvolks auch an der geringen Verhüllung der Frau keinen Anstoß nahm. Die junge wehrfreudige Mannschaft tummelt ihre Rosse neben den Zug der Wagen, die Speere im Spiel in die Luft werfend und wieder fangend. Der König aber oder Graf stattlich geschmückt mit dem Adlerhelm, dem Schild, der Brünne, den Armringen, mit dem Kurzschwert und der Streitaxt im Gürtel, reitet voran, sinnend Ziel und Zukunft seines Volkes erwägend. Diese Wanderer, die entlang den hohen Bergen ziehen, mögen die Markomannen sein, die späteren Baiern, einrückend in das Land zwischen Donau und Alpen: denn als Sueben kennzeichnet sie die Haartracht. Auch Langobarden könnten es sein, die über die Alpen nach Italien ziehen.