Weltflüchtig

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Autor: Rudolf Elcho
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Titel: Weltflüchtig
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1–9, S. 1–10, 37–46, 69–78, 101–110, 133–140, 166–175, 197–204, 244–252, 281–287,
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman in den Nummern 1–9
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Weltflüchtig.

Roman von Rudolf Elcho.


1.

An einem warmen Aprilabend vereinigten sich noch einmal die Freunde des Konsuls Wesdonk zu einem Feste in dessen Villa. Mathilde, die älteste Tochter des geachteten Handelsherrn, hatte sich wenige Tage zuvor mit Herrn von Voßleben vermählt, einem jungen Diplomaten, der im Begriffe stand, nach Mexiko abzureisen. Das heutige Fest sollte den Abschluß einer Reihe von Veranstaltungen bilden, deren Mittelpunkt die Neuvermählten gewesen waren. Die gesellschaftliche Wintercampagne hatte die oberen Zehntausend Berlins übersättigt und erschöpft zurückgelassen, und in den Gesichtern der wohlbeleibten Bankiers, welche sich die hellerleuchtete, mit Palmen und Statuen besetzte Treppe der Villa hinaufbewegten, konnte man jenen weltschmerzlichen Zug finden, den ein seelenkundiger Arzt als „Sehnsucht nach Karlsbad“ gedeutet hätte. Die Gäste aus parlamentarischen Kreisen hatten eine sehr bewegte Tagung hinter sich; sie schritten mit der Miene von Männern, die nichts mehr überraschen und nichts mehr erschüttern kann, dem Festsaale zu.

Nur eine Schar junger Künstler zeigte die ungebrochene Genußfreudigkeit und Spannkraft der Jugend; sie waren im Verein mit mehreren jungen Damen von der Gattin des Konsuls dazu ausersehen, dem Abschiedsfest den rechten Inhalt zu geben. Als Festspiel waren „Scenen aus Sevilla“ geplant, und die [2] Gäste durften erwarten, daß ein Stückchen echten Volkslebens an ihnen vorüberrauschen werde, denn Frau Rosita, die zweite Gemahlin des Konsuls, war eine spanische Kreolin und zählte zu ihren Freunden eine Anzahl junger Spanier und Italiener, welche Deutschland besucht hatten, um ihre Kunststudien zu vollenden. Diese Südländer zeigten sich stets bereit, ihr Können in den Dienst ihrer gütigen Beschützerin zu stellen. Frau Rosita aber folgte dem Geselligkeitstrieb wie der Schmetterlingsjäger dem Falter. In der Veranstaltung glänzender Feste, im geselligen Verkehr mit einem weiten Bekanntenkreis, im Besuch von Künstler-Ateliers, Konzerten und Theatern bestand ihre Lebensaufgabe. Und sie nahm diese Aufgabe sehr ernst. Wenn es irgend eine Aufführung in ihrer Villa galt, bewältigte sie die Arbeit von mindestens drei Personen. Sie opferte ihre Tage, um Kostüme zu beschaffen und anzupassen, ihre Abende, um Proben abzuhalten, und ihre Nächte, um Einladungen zu schreiben.

Während der Verlobung und Vermählung ihrer Stieftochter Mathilde hatte sie mit ihren Leistungen sich selbst übertroffen. Die Villa Wesdonk glich in dieser Zeit einem Taubenschlag; ein Fest folgte dem andern, und Frau Rosita, welche während des Tages alle Repräsentationspflichten in liebenswürdigster Form erfüllte, hatte noch die Zeit gefunden, immer neue Veranstaltungen zu planen und ihnen stets ein eigenartiges Gepräge zu geben.

Unermüdlich im Dienste des Vergnügens, begrüßte sie auch heute ihre Gäste mit so hellaufflackernder Freude, als habe sie jahrelang vergebens nach dem Anblick dieser weltmüden Börsengrößen, dieser leichtlebigen Künstler und steifnackigen Kommerzienräthinnen geschmachtet, die in der Thür des Salons erschienen. Sie hatte ein dunkles mit rothen Blumen geschmücktes Gewand angelegt, welches die Ueberfülle ihrer Formen geschickt verhüllte. Während ihre Bewegungen sonst, wenn sie sich nicht beobachtet wußte, müde und träge erschienen, zeigten sie jetzt eine Anmuth und Geschmeidigkeit, die man bei ihrer Körperfülle nicht erwartet hätte. Ihre dunklen, mandelförmigen Augen, die gewöhnlich schläfrig unter den Wimpern hervorlugten, umfaßten jetzt scharf die durcheinander wirbelnde Menschenfluth, und mit leichtem Schritt eilte sie zu den Gästen, vereinte gleichartige Paare zu Gruppen, vermittelte Bekanntschaften von Fremden, ordnete daneben das Nöthige zum Festspiel an und war gleich darauf wieder bei der Thür, um verspätete Ankömmlinge mit bezaubernder Liebenswürdigkeit willkommen zu heißen. Frau Rosita übertraf alle ihre Bekannten in der Kunst, im Kreise der Gäste eine heitere Stimmung hervorzurufen. Die strahlenden Kronleuchter, das bunte Gewühl und Wogen der Menge, das Knistern und Rauschen der Roben, das Schillern und Blitzen der Brillanten – das entflammte ihr Blut und verlieh ihrer Schmetterlingsnatur Flügel. Aber ihre Seele glich der leichtbewegten, sonnüberblitzten See: dicht neben der Glanzseite ihres Wesens lagen Schatten. Eben noch hatten ihre Augen einem jungen Künstler entgegengeleuchtet, eben hatte ihre Hand sanft den Druck der seinigen erwidert und ein Lächeln die vollen Lippen geöffnet, da traf ihr Blick auf eine müßig in der Vorhallte stehende Dienerin. Mit einer hastigen Bewegung huschte sie durch die Thür, die Hand, die so sanft streicheln konnte, umspannte hart den Arm des Mädchens, und unter zornspühenden Blicken herrschte sie die Ueberraschte an: „Haben Sie nicht Besseres zu thun, als Ihre Dummheit zur Schau zu stellen? Reichen Sie Thee herum – vorwärts!“ – In der nächsten Sekunde schon traf ein schmachtender Blick den raphaelischen Kopf eines Florentiners, der als Maler die Scenerie zum Festspiel geliefert hatte, und mit weicher seelenvoller Stimme begrüßte sie ihn.

Im Salon vollzog sich eine auffällige Bewegung. Das junge Paar, dem zu Ehren dies Fest veranstaltet wurde, ging langsam durch die Menge, um seine Plätze vor der Bühne einzunehmen. Der Schwiegersohn des Konsuls war ein heiterblickender Blondkopf, dessen stramme Haltung und üppiger Schnurrbart eher auf den Soldaten als auf den Diplomaten hätte schließen lassen. Mit verbindlichem Lächeln nahm er die Begrüßungen der Freunde entgegen. Mathilde, seine junge Frau, war schlank und hochgewachsen, sie trug den Kopf stolz und bewegte sich in etwas steifer und kühler Haltung durch die Schar der sie umdrängenden Gäste. Sie war sich ihrer bevorzugten Stellung in der Gesellschaft bewußt und nahm die dargebrachten Huldigungen mit herablassender Freundlichkeit entgegen. Einen starken Gegensatz zu dieser dunkelhaarigen ernstblickenden Tochter des Konsuls bot in Erscheinung und Wesen Bettina, die jüngere der beiden Schwestern. Sie war etwas kleiner wie Mathilde, hatte rothblondes Haar und träumerische blaue Augen, die mit dem Ausdruck kindlichen Erstaunens in die Welt schauten. Ihr zartgebildetes Gesicht wies einige Sommersprossen auf, und neben der klassischen Schönheit ihrer Schwester verblaßte die ihrige. Obgleich sie schon zwanzig Jahre zählte, lag etwas Schüchternes, Weltfremdes in ihrem Wesen, während sie in bescheidener Haltung hinter der Schwester herschritt.

An ihrer Seite befand sich Graf Trachberg, ein Vetter ihres Schwagers; er trug die Uniform eines Garde-Kavallerie-Regiments, allein seine schlanke Gestalt, seine geschmeidigen Bewegungen, sein süßliches Lächeln ließen ihn eher für den Dienst der Höfe als den des Kriegsgottes geeignet erscheinen. Er war sichtlich bemüht, Bettinas Aufmerksamkeit zu fesseln, diese aber schaute mit verträumten Augen in das Gewühl, und ein Seufzer der Erleichterung kam von ihren Lippen, als sie den ihr für die Schaustellung angewiesenen Platz erreichte. Frau Rosita umarmte und küßte ihre Stieftöchter mit echt mütterlicher Zärtlichkeit, bat dann die plaudernden Gäste, ihr Plätze einzunehmen, und gab das Zeichen zum Beginn des Festspiels.

An den Salon der Villa stieß unmittelbar der Wintergarten, der zum Bühnenraum umgeschaffen war. Als sich der breite Vorhang hob, zeigte sich in wunderbarer Mondbeleuchtung der San Fernandoplatz von Sevilla. Studenten und Toreros in malerischen Trachten begegneten einer Schar phantastisch gekleideter Zigeunerinnen und forderten die dunklen Schönen mit lautem Zuruf zum Tanze auf. Als die Zigeunerinnen zögerten, griffen die Burschen zu ihren Guitarren und einer der Toreros stimmte eine Tanzweise an. Der Chor sang in dumpfen Kehllauten mit, bis die schönste der „Gitanas“ der Herausforderung eines Torero folgte und den Fandango zu tanzen begann. Während diese beiden nun den Oberkörper wiegten, sich bald in träumerischer, bald in leidenschaftlicher Bewegung entgegenkamen, dann wieder jauchzend die Arme emporwarfen und sich im Kreise drehten, schwirrten die Saiten der Instrumente, stampften die Füße der Zuschauer den Takt, und von Zeit zu Zeit spornte ein feuriges Wort die Tanzenden zu immer rascheren Bewegungen an, bis nach einer Weile die Musik sanfter, das Tempo langsamer wurde und das Jauchzen und Stampfen nachließ. Ein neckisches Verfolgen und Entschlüpfen, ein anmuthiges Wiegen der Hüften und Neigen des Kopfes begann, bis die Bewegungen immer träumerischer, fast geisterhaft wurden, und beide Tänzer im Dunkel des Hintergrundes entschwebten.

Als sich der Vorhang gesenkt hatte, brachen die Zuschauer, selbst mitgerissen von den Rhythmen der Musik und des Tanzes, in lauten Beifall aus. Man rief jubelnd die Namen des Tänzerpaares, welches von einem jungen spanischen Cellisten und Lisa Horst, einer Freundin der Wesdonks, dargestellt worden war. Diese war Berlinerin, allein mit ihrem schwarzen Haar, ihren dunklen Augen und ihrem heißblütigen Wesen machte sie den Eindruck einer Südländerin. Ihr Partner hatte ihr den Tanz einstudiert, und bei der Ausführung ließ sie sich von der Musik entflammen und berauschen. Als sie jetzt nochmals dankend auf der Bühne erschien, glühten ihre Wangen, ihre Augen strahlten vor Jubel über den glücklichen Erfolg. Wie das Sinnbild überquellender Jugendlust und Lebensfreude erschien sie an der Seite des anmuthigen, zierlichen Spaniers. Als sie dem in der ersten Reihe sitzenden Vater, dem Sanitätsrath Horst, zunickte, röthete sich das blasse Gesicht des ernsten, vielbeschäftigten Arztes vor heimlichem Stolze.

Der Tanz hatte auch Bettina Wesdonk aufgerüttelt; sie klatschte lebhaft Beifall und rief den Nachbarn zu: „Lisa tanzt hinreißend –“

Eine Hand legte sich auf die Schulter des erregten Mädchens, und als sie zur Seite blickte, flüsterte ihr die Stiefmama zu: „Beeile Dich, mein Herz, die Pause währt nur zehn Minuten.“

Im zweiten Theile des Festspiels sollte Bettina mitwirken. Als sie den Salon verließ, um sich im Schlafzimmer eilig in einen Pagen zu verwandeln, mußte sie den halbdunklen Hausflur überschreiten. Ein Feuerschein erschreckte sie. Von den zahlreichen Gewinden aus Tannenzweigen, die sich um die Flügelthüre des Festsaals schlangen, hatte eines Feuer gefangen, und die Flammen loderten zur Decke auf. Bettina sprang beherzt hinzu, allein bevor sie die brennenden Gehänge erfassen konnte, hatte bereits ein [3] Mann in einer Mönchskutte den Thürschmuck herabgerissen und suchte jetzt die Flammen auszutreten. Bettina wollte ihn in diesem Bestreben unterstützen, er aber schob sie zurück und rief: „Achtung! Ihr Kleid kann Feuer fangen!“ Die Rauhheit des Tones verstimmte das Mädchen, während ihr zugleich das sichere Wesen des Fremden Achtung einflößte. Als eben ein Diener Wein und Selterwasser aus der Küche vorbeitrug, riß der Fremde zwei Flaschen vom Präsentierteller, schlug sie gegen einander, daß sie zerbrachen und der Inhalt wie ein Platzregen auf die verlöschenden Flammen niederfiel.

Franz Rott, der Mann in der Mönchskutte, war Geiger und hatte sich durch seine spanischen Freunde überreden lassen, in dem Festspiel mitzuwirken. Bettina begegnete ihm zum ersten Male, und als die prasselnde Falmme in sein bärtiges Gesicht hineingeleuchtet, hatte das Mädchen zwei blitzende blaue Augen und ein kühnes Profil gesehen, aber nur auf einen Augenblick. Das Feuer war im Nu gelöscht, und nun schritt sie ohne ein Wort des Dankes ihrem Schlafzimmer zu, um sich für ihre Rolle umzukleiden.

Das Festspiel schloß mit einer Schaustellung ab, die den Tanz der Chorknaben in der Kathedrale von Sevilla an Ostern und am Himmelfahrtsfeste zum Gegenstand hatte. Im Wintergarten war, so gut es ging, der Chor der Kirche nachgeahmt worden, aus dessen Stühlen man einige Mönchsgestalten hervorragen sah. Im Hintergrunde öffnete sich eine breite Thür, und heraus traten unter Führung eines Mönchs acht schöne als Pagen gekleidete Mädchen, in trachten aus der Zeit Philipps II. Das Haar ließen sie offen und gelockt auf die Schultern niederfallen. Als diese schmucken Pagen sich zu einem Menuett aufgestellt hatten, ergriff der Mönch eine bereit liegende Geige und stimmte eine einfache, feierliche Melodie an. Sechs Streichinstrumente fielen ein, und Klänge, so rein und süß, als ob sie dem Himmel entschwebten, zogen durch den Saal und verbreiteten eine andachtsvolle Stimmung. Und nach einer Weile verband sich mit diesem Konzert der Geigen der Gesang der Mädchen. Mit wohlklingenden Stimmen sangen sie ein altspanisches Kirchenlied und führten dazu jenen seltsam feierlichen Tanz auf, welcher in Sevilla am Osterfest und Himmelfahrtstage die nach Tausenden zählende Gemeinde der Andächtigen entzückt. Bettina und Lisa standen sich als erstes Paar gegenüber und wirkten durch den Gegensatz anziehend. Lisa mit ihren schwer niederwallenden Haaren, die sich in der Bewegung dunkel glänzend hoben und senkten, mit ihren funkelnden Augen und den scharfgezeichneten Brauen sah aus wie ein echtes Kind des heißen Andalusiens. Bettina aber glich mit ihrem röthlichen Haar einer jener schlanken kraftvollen Baskinnen. Es war gut, daß die feurigere Freundin ihr gegenüberstand, denn diese lockte sie bald aus ihrer schüchternen Haltung heraus. Nun schien es Bettina, als werde sie von der Musik auf Schwingen getragen, ihre Haltung wurde freier und edler, ihr Gang beflügelte sich und allmählich war jede ihrer Bewegungen von Zauber umflossen. Die Scene wurde durch Wachskerzen beleuchtet. Neben Bettina erhob sich ein Kandelaber, dessen Kerzen goldene Lichter auf ihr Gesicht warfen. Neben dem Kandelaber stand Franz Rott, der als erster Geiger die Führung des Streichorchesters hatte. Mit glänzenden Augen folgte er ihrer Gestalt und meinte, nie im Leben ein lieblicheres Frauenbild gesehen zu haben. Sie sang das Kirchenlied mit heiligem Eifer, und der rührende Ausdruck kindlicher Unschuld lag dabei in ihren Zügen, ein inniger verklärender Schein flog über ihr Antlitz. –

Der Tanz ging zu Ende und die Musik verstummte. Die begeisterten Zuschauer riefen die Pagen, die Musiker und Frau Rosita, die erfindungsreiche Veranstalterin dieses Festspiels, hervor. So oft sich der Vorhang öffnete, traten Bettina und Lisa, eng aneinander geschmiegt wie ein Schwesternpaar, vor die Rampe; das Gefühl, daß sie gemeinsam einen Sieg errungen hatten, verband sie.

Endlich verstummte der Lärm im Saale, und Bettina wandte sich der Coulisse zu. Hier stieß sie mit dem Geiger Rott zusammen. Dieser sah sie verwirrt an, wie ein Mensch, den man aus einem schönen Traume aufgeschreckt hat, und sagte in gepreßtem rauhklingenden Tone etwas, das wie „wundervoll“ klang, dann wurde er roth und trat mit einer linkischen Bewegung zur Seite.

Gleich darauf kam ihr in großer Erregung Graf Trachberg entgegen. „Fräulein Bettina!“ rief er fast athemlos, und seine Stimme war lauter als gewöhnlich, „Sie sehen mich hingerissen, berauscht! Ihnen geböhrt der Kranz am heutigen Aband!“

Er küßte wiederholt ihre Hand, und seine grauen kalten Augen zeigten einen Schimmer von Zärtlichkeit. Das Mädchen freute sich über diese unerwartete herzliche Anerkennung, und zum ersten Male kam es ihr zum Bewußtsein, daß der Graf nicht nur ein schöner, sondern auch ein interessanter Mann sei.

Trachberg mochte etwa sechsunddreißig Jahre zählen, hinter ihm lag eine bewegte Jugend, die ihn ein nach Hunderttausenden zählendes Vermögen gekostet hatte. Als Rittmeister in einem Garderegiment fühlte es sich jetzt durch allerlei Schuldverbindlichkeiten bedrückt und war zu dem Entschluß gekommen, seine Freiheit lieber einer Frau als seinen Gläubigern zu opfern. Sobald diese weise Einsicht in seiner Seele durchgedrungen war, hatte er sich unter den Erbinnen des Landes umgeschaut, und durch die Verlobung seines Vetters Voßleben waren seine Blicke auf Bettina Wesdonk gelenkt worden. Er war nicht der Mann grauer Vorurtheile, und eine Million aus der Hand des Konsuls Wesdonk erschien ihm genau so vollwerthig und annehmbar als eine aus der Hand adliger Schwiegerväter. Wesdonk galt für einen Millionär, obgleich niemand einen klaren Einblick in seine Verhältnisse hatte; zum mindesten lebte er wie ein solcher. An diesem Abend aber hatte Graf Trachberg so glänzende Eindrücke in dem Hause des Konsuls empfangen, daß er beschloß, sich heute noch zu erklären. Und wie er nun dem erglühenden Mädchen gegenüberstand, empfand sein leichtbewegliches Herz sogar etwas wie Liebe, seine harte schnarrende Stimme wurde weicher, einschmeichelnder, und es kamen Liebesversicherungen von seinen Lippen, aus denen das junge Mädchen den innigen Ton echten tiefen Gefühls herauszuhören meinte. Und dieser Ton fand in ihrer Seele einen leisen Widerhall. Als nun der Graf, durch ihre halb fragenden, halb bewundernden Blicke kühn gemacht, seinen Arm um ihre Schulter legte und sie in jener verhaltenen bebenden Sprache, welche unerfahrenen Mädchen stets als die der Liebe gilt, fragte: „Darf ich Dich als die Meine betrachten, süßes, angebetetes Herz?“, da ließ sie es geschehen, daß er sie an sich zog und einen Kuß auf ihre Stirn preßte.

In diesem Augenblick näherte sich Frau Rosita den beiden. Sie schien erst erschreckt und verstimmt zu sein, im nächsten Augenblick aber breitete sie die Arme weit aus und rief: „Welche Ueberraschung! Bettina, mein Herzenskind, lieber Graf – – eine größere Freude, ein stolzeres Glück hätte diesem Hause kaum zu theil werden können! Wo ist Mathilde, wo unser lieber Voßleben? Ach, was werden sie zu diesem Ereigniß sagen; schöner konnte ihr Aufenthalt in Deutschland nicht abschließen, als mit dieser Verlobung!“

Sie eilte fort, um das junge Paar herbeizurufen, allein kaum hatte sie den Saal wieder betreten, so legte sich mit festem Griff eine Hand auf ihren Arm und eine zitternde Stimme fl+sterte ihr zu: „Folge mir auf mein Zimmer, ich habe dringend mit Dir zu sprechen, Rosita!“

Die Kreolin wandte sich mit dem Ruf „Ah, Du thust mir weh!“ dem Sprecher zu. Sie wollte entgegnen, daß sie jetzt keine Zeit habe – als sie jedoch in das bleiche Gesicht des Mannes sah, der in der Linken eine Depesche hielt, verstummte der Einwand auf ihren Lippen und sie erwiderte leise: „Ich komme, geh’ nur voran!“

Der Mann wandte sich hastig durch die Menge, und Frau Rosita, die wieder ihr verbindliches Lächeln gefunden hatte, folgte ihm nach einer Weile in schmiegsamer Bewegung.




2.

Konsul Wesdonk hatte sein Arbeitszimmer im ersten Stock erreicht. Nach Luft ringend, blieb er an der Thür stehen; der kurze Aufstieg über die Treppe hatte ihn außer Athem gebracht. Daran war mehr die furchtbare Erregung, die sich seiner bemächtigt hatte, als die Anstrengung schuld. Ihm war zu Muthe, als müsse er ersticken, und mit zitternden Knieen schritt er nach einer Weile zu dem vor dem Schreibtisch stehenden Sessel und ließ sich ächzend in denselben niederfallen. [6] Das Arbeitszimmer des Konsuls war das einfachste und schmuckloseste Gemach in der ganzen Villa. Das Bild einer stattlichen Frau mit unschönen, aber milden Zügen und gütig blickenden Augen, ferner eine Gruppe seltener Waffen und Muschelgeräthe und endlich ein geschnitzter Schrank mit reichem Bücherinhalt – darin bestand nebst dem Schreibtisch und einigen Stühlen die ganze Ausstattung des kleinen Raumes.

Wesdonk stierte eine Weile fassungslos vor sich hin, dann murmelte er: „Hier hab’ ich wenigstens Ruhe vor dem Getöse da unten – dem Himmel sei Dank! Hier kann ich endlich meine Gedanken sammeln!“

Er glättete die zerknitterte Depesche, welche er noch immer in der Hand hielt, auf dem Knie und brachte die Zeilen in den Lichtkreis der auf dem Schreibtisch stehenden Lampe. Halblaut las er noch einmal den Inhalt: „Infolge des unglücklichen Verlaufs der letzten Reichstagsverhandlung hat das Handelsministerium auf den Ankauf unserer Besitzungen in der Südsee verzichtet, und wir bedürfen jetzt der Unterstützung unserer Freunde. Können wir 300 000 Mark auf Sie ziehen?

Ludolf Fabbri und Söhne.“ 

Der Konsul ließ das Blatt auf den Schreibtisch sinken und sagte mit trübem Lächeln: „Dreimalhunderttausend Mark! Vor sechs Jahren wäre mir diese Summe als eine Bagatelle erschienen, heute kann ihre Beschaffung meinen Untergang herbeiführen. – Wo zum Henker bleibt denn Rosita?“

Ungestüm sprang der Konsul auf und lief in dem kleinen Zimmer auf und nieder. Sein Gesicht war heiß und geröthet, sein graues Auge blickte zornig; tiefe Falten zeigten sich zwischen den starken Brauen. Plötzlich fielen seine Blicke auf das Frauenbildniß über dem Schreibtisch. Er hielt vor demselben an. Während der Betrachtung des Bildes glättete sich das Gesicht des erregten Mannes, seine Augen wurden groß und feucht, und in Tönen, die von Wehmuth und Trauer umflort waren, sprach er: „O stündest Du in diesem Augenblick an ihrer Stelle, theure Tote, um wieviel leichter wäre dann die Entscheidung!“

Das Knarren der Thür scheuchte ihn von dem Bilde weg. Er trat in die Mitte des Raumes und stand Frau Rosita gegenüber, von deren Antlitz das sonnige Lächeln verschwunden war.

„Verzeihung!“ sagte sie in zerstreutem ungeduldigen Tone, „aber ich hatte noch Anordnungen zu treffen. Ich habe alle Hände voll zu thun. Könnte diese Unterredung nicht auf morgen verschoben werden? Die Gesellschaft – – Du begreifst – die ganze Last liegt auf mir.“

Frau Rosita handhabte das Deutsche vollkommen fließend, aber mit einer fremdartigen Betonung, die ihrer Sprache etwas Drolliges verlieh. Jetzt, da eine Wolke des Unmuths über den dunklen Augen lag, da ihre von lockigem Haar umgebene niedrige Stirne Falten zog und das Roth auf den Wangen verblaßte, ließ sich leicht erkennen, daß die Zeit der Jugend bereits hinter ihr lag; doch ließ sich schwer bestimmen, ob sie dem Anfang der Dreißig oder der Vierzig näher stehe. Der Konsul war ein hoher Fünfziger, von ansehnlicher Leibesfülle, mit starkgelichtetem Haupthaar und grauem Vollbart. Ernst blickte er auf seine zweite Gattin nieder. Nach einem tiefen Athemzug antwortete er auf deren Frage mit einem rauhen: „Nein, keinen Aufschub, ich bedarf Deiner Entschließung in einer ernsten Lebensfrage, Rosita! Mögen die da drunten sich zehn Minuten ohne Dich behelfen!“

„Dieser Ton – was ist geschehen?“

„Rosita,“ fuhr der Konsul weicher fort, „die Fabbris sind ins Wanken gekommen. Du weißt, daß sie auf die Unterstützung der Regierung gerechnet haben, allein ihre Pläne sind durchkreuzt worden. Versagt nun auch die Hilfe ihrer Freunde, so gehen ihre Plantagen, ihre Schiffe, kurz all ihre Besitzthümer verloren, und ein altes Handelshaus bricht zusammen, dem ich viel, fast alles zu verdanken habe. Es ist meine Pflicht – hörst Du? – meine heilige Pflicht, jedes Opfer zu bringen, welches diese Firma von mir verlangt. Vorhin ist eine Depesche eingelaufen mit der Anfrage, ob die Fabbris auf 300 000 Mark von mir rechnen können. – Rosita, während der letzten Jahre bin ich vom Mißgeschick verfolgt worden, mehrere wohlgeplante Unternehmungen schlugen fehl und meine ansehnlichen Mittel sind derart zusammengeschmolzen, daß ich einen Wechsel auf 300 000 Mark heute nicht einzulöseu vermag. Noch ist mein Kredit unerschüttert, allein da man in der Handelswelt weiß, wie eng mein Geschick mit dem der Fabbris verknüpft ist, so würde es Besorgniß erregen, wenn ich, um für den Wechsel Deckung zu schaffen, Darlehen bei den Banken suchen wollte.“

„Gut – aber was kann ich dabei thun?“ unterbrach ihn Frau Rosita und warf einen unruhigen Blick nach der Thür.

„Nun denn! Ich bedarf in dieser Bedrängniß Deiner Hilfe, vertraue mir 300000 Mark von Deinem Vermögen an!“

„Das ist stark – das wäre der Anfang vom Ende! Niemals!“

„Du sprichst stets in rücksichtslosester Weise zu mir, wenn Du ein schlechtes Gewissen hast,“ unterbrach sie der Konsul mit gereizter Miene.

„Und Du,“ entgegnete seine Frau mit einer hochmüthigen Bewegung des Kopfes, „Du wirst stets unhöflich, wenn Du von anderen eine Gefälligkeit oder ein Opfer verlangst. Der Bittende kommt in der Regel rascher zum Ziel als der Scheltende.“

„Verzeih’ mein Ungestüm, aber Du wirst Dich erinnern, daß ich zum ersten Male ein Opfer von Dir fordere. Ich bitte Dich, auf meine Erregung Rücksicht zu nehmen und – auf meine peinliche Empfindung. Also sprich: willst Du mir helfen?“

Rosita hatte das Gefühl eines Menschen, dem plötzlich eine Schlinge um den Hals geworfen wird. Sie liebte das Geld und war entschlossen, es festzuhalten, gleichwohl besaß sie nicht den Muth, glattweg nein zu sagen. Ihr Kopf suchte einen Ausweg, während sie vor den forschenden Blicken des Gatten die Augen niederschlug. Endlich zuckte ein rettender Gedanke durch ihr Hirn, mit einem leisen Lächeln um den Mund wiederholte sie die Frage ihres Mannes: „Dir helfen? Ei, mein Lieber, mit tausend Freuden! Aber es handelt sich ja nicht um Dich, sondern um die Fabbris, und wir müssen uns die Frage stellen: ist es verständig oder närrisch gehandelt, wenn wir all unser Vermögen in einen Abgrund werfen? Du hast heiligere Verpflichtungen gegen Deine Frau und Deine Kinder als gegen jene Firma, der Du während Deiner besten Lebensjahre treu und hingebend gedient hast und die Dich nach Verdienst belohnte. Wo liegt Deine Verpflichtung, Dich für die Fabbris zu ruinieren? Ihr habt beide Euren Vertrag erfüllt – – das ist alles!“

„Du irrst, Rosita! Wohl ist es wahr, daß ich dieser Firma in meiner Jugend treu gedient und daß ich ihr Vertrauen gerechtfertigt habe; allein die Art, wie man mich belohnte, ging weit über die Erfüllung des Vertrags hinaus. Du weißt, daß die Fabbris mir die Mittel gewährten, um in Montevideo ein Geschäft zu gründen, Du weißt, daß sie mir, als ich nach Berlin übersiederlte und hier in ganz neue Unternehmungen eintrat, durch ihren guten Rath und durch Gewährung eines fast unbeschränkten Kredits allen erdenklichen Vorschub leisteten. Damals versprach ich mündlich und schriftlich, diese Wohlthaten nach Kräften vergelten zu wollen – –“

„Verzeih! Dein Wohlthäter war der alte Fabbri, der seit sechs Jahren im Grabe ruht. Den Söhnen bist Du keinen Dank schuldig, ihre Hilfe hast Du niemals in Anspruch genommen.“

„Da ich ein ehrlicher Mann sein will, habe ich eine andere Auffassung von der Sachlage als Du. Meine Versprechungen galten dem Hause, und selbst wenn ich mein Wort nicht verpfändet hätte – ich würde mich doch für verpflichtet halten, Hilfe zu bringen. Es sind ideale Interessen, die mich binden. Die Plantagen, deren Existenz jetzt auf dem Spiele steht, habe ich ins Leben gerufen, ich habe sie mit den Waffen in der Hand gegen die Ueberfälle der Wilden vertheidigt; ich habe die Ausfuhr der gewonnenen Erzeugnisse geleitet, das Netz der Handelsverbindungen für die Fabbris erweitert. So fühlte ich mich von Anfang an als ein Glied des mächtigen Hauses, und als ich mit seiner Hilfe selbständig wurde, blieb ich ihm ein treuer Bundesgenosse und verdanke dem ein großes Vermögen. Darf ich dies alles vergessen? Ich müßte mich selbst verachten, wenn ich ihre Bitte unerfüllt ließe. Ich stehe und falle mit den Fabbris.“

„So wirst Du fallen, denn wie mir vor einer Stunde der Kommerzienrath Leo versicherte, ist die Lage der Firma eine verzeifelte geworden.“

„Wenn niemand sie rettet – ja!“

„Du allein aber bist zu schwach, um die Wankenden zu stützen. Sei kein Thor! Du wirst sehen, daß sich die übrigen [7] Freunde der Firma weise auf ihre Geldsäcke zurückziehen. Hast Du Lust, allein in den Sturz des Hauses mit hineingerissen zu werden?“

„Ich befürchte das nicht, ich hege vielmehr die Ueberzeugung, daß eine rasche Hilfeleistung von meiner Seite genügen wird, um die drohende Gefahr abzuwenden. Rosita, habe Vertrauen zu meiner Einsicht und gieb mir die Summe!“

Trotzdem der Konsul in flehendem Tone sprach, schwieg die Frau, und nach einer Weile entgegnete sie mit einem scheuen Seitenblick: „Deine Einsicht hat sich in den letzten Jahren schlecht bewährt, – ich mache Dir keinen Vorwurf daraus, auch der Erfahrenste kann irren. Ein furchtbarer Mißgriff jedoch wäre es, wenn Du jetzt für die Fabbris in die Bresche springen wolltest. Das Glück hat Dich verlassen, glaube mir, und in solcher Zeit darf man nicht ohne Noth Va banque spielen.“

Das Gesicht ihres Mannes röthete sich, und die zornige Erregung raubte ihm fast die Fähigkeit, zu sprechen. „Du scheinst es nicht zu ahnen, wie sauer es mir wurde, Dich um den Dienst zu bitten,“ sagte er endlich. „Nun, da Du mir guten Rath statt Hilfe bietest, mag denn auch meine Rücksicht schwinden. Es gab eine Zeit, Rosita, wo Du mehr Vertrauen in meine Einsicht und Erfahrung setztest. Das war vor zehn Jahren, als Du mir das Erbe Deiner Tante im Betrage von 50 000 Mark übergabst. Ich habe diese Summe unterdessen um das Neunfache vermehrt, und selbst wenn ich die verlangten 300 000 Mark verlieren sollte, bliebe Dir noch das Doppelte Deines ursprünglichen Vermögens.“

„Dieser Rest aber käme der Verarmung gleich – bei unsern Lebensgewohnheiten.“

„Ja, bei unsern Lebensgewohnheiten!“ wiederholte der Konsul und lachte bitter auf. „Diese Lebensgewohnheiten wünsche ich in die Hölle. Welch glückliches Familienleben führte ich einst in bescheidener Stellung, da ich weit, weit davon entfernt war, jene hunderttausend Mark zu besitzen, die Dir heute wie ein Nichts erscheinen! Da sproßten mir aus dem innigen Verkehr mit Weib und Kind tausend Freuden, da war mein Haus ein sonniger Ort, über dem der goldige Schein des Glückes lag. Damals machten mich kleine Erfolge stolzer und befriedigter als später der Gewinn von Hunderttausenden, denn wir lebten bescheiden, und ich durfte den kleinen Gewinn als dauernde Errungenschaft betrachten. Heute kann ich mich der großen Summen nicht mehr freuen, sie zerschmelzen wie Schneeflocken in Deinen Händen. Weißt Du, was unser Haushalt im Laufe des letzten Jahrzehnts verschlungen hat? Achtmalhunderttausend Mark! Ahnst Du, wieviel Arbeit, Aufregung und Kampf dazu gehört, um diese Summe aufzubringen? Mich hat das rastlose Bemühen, Deinen Ansprüchen gerecht zu werden und darüber hinaus ein Vermögen zu begründen, meine Gesundheit gekostet. Aber je mehr ich verdiente, desto größer wurden Deine Ansprüche, Deine Bedürfnisse. Und welcher Lohn ist mir zu teil geworden? Du hast mein stilles Haus zu einer Karawanserei gemacht, in der Schmarotzer und vornehme Taugenichtse verkehren. Leute machen sich an meinem Tische breit, die ich nicht kenne und nicht kennenlernen will. Du bist nur von der Sucht erfüllt, zu glänzen, von dem Verlangen, eine Rolle in einer Welt zu spielen, die niemals die meinige sein wird. Für immer ging der stille Frieden und das Behagen meines Hauses dahin. Du hast Dich mir und hast mir meine Kinder entfremdet. – So, nun ist’s heraus, was mir jahrelang auf der Seele lag und was ich Dir aus falscher Schonung bisher verschwiegen habe. Und damit Du gleich alles weißt – ich bin fest entschlossen, dieser heillosen Wirthschaft ein Ende zu machen. Sobald Mathilde das Haus verlassen hat, verkaufe ich die Villa, und wir richten unsern Haushalt unsern Einnahmen gemäß ein. Dieses Scheindaseins bin ich müde – ich trag’s nicht länger!“

„Nun, ich gestehe, Du bist galant!“ – Frau Rositas Augen funkelten und ihre Stimme erhielt einen herben Klang. „Das ist der Dank für meine Bemühungen, Deinen Töchtern ihren Weg zu den Spitzen der Gesellschaft zu bahnen und ihnen zu einer glänzenden Partie zu verhelfen! Also um meiner Eitelkeit zu genügen, hab’ ich seit Jahren die ungeheure Last auf mich genommen, Fest auf Fest zu veranstalten, Menschen zu besuchen, einzuladen und durch Schmeichelei zu gewinnen, die mir gleichgültig oder gar verhaßt waren? Alles, was ich für Dich und Deine Kinder erreicht habe, bedeutet Dir nichts? Wem anders als mir ist es zu danken, daß Deine Tochter Mathilde heute einen adeligen Namen trägt, daß sie Mitglied einer der stolzesten Familien des Landes geworden ist und daß sie einer beneidenswerthen Zukunft entgegengeht?“

„Das lohne Dir –“ dem gereizten Gatten drängte sich eine Verwünschung auf die Lippen, allein er besann sich noch rechtzeitig und mäßigte seine Worte. „Deine Großthaten sind mir zum Fluch geworden, Rosita, begreifst Du das nicht? Es fehlt uns der feste Boden unter den Füßen, und je höher wir steigen, desto größer wird die Gefahr des Absturzes. Voßlebens adelige Sippschaft hat der Tochter des vermeintlichen Millionärs widerstrebend die Arme geöffnet; kommt es aber zu Tage, wie wenig ich im Grunde noch mein nenne, so wird für meine Tochter jene stolze Familie zur Hölle.“

„Nun, bei diesen Befürchtungen wirst Du um so besser einsehen, daß wir unserer Existenz den festen Grund nicht rauben dürfen.“

„Welchen?“

„Mein Vermögen! Schlagen Deine Spekulationen fehl, so bleiben uns 450000 Mark! Damit können wir zur Noth anständig leben – sie dürfen nicht angetastet werden.“

„Ei, sieh doch! Und der Verlust meiner kaufmännischen Ehre gilt Dir nichts?“

„Ach geh’ – wer fragt heute in der Geschäftswelt nach Ehre? Der Besitz giebt Ansehen, und das ist so gut wie Ehre. Erinnerst Du Dich noch des Gesprächs, das wir vor acht Tagen beim Bankier Lossen führten? Da wurden die betrügerischen Kniffe aufgezählt, durch welche ein Bankier die Aktien seiner faulen Gründungen kleinen Leuten aufgehängt und diesen ihre Ersparnisse abgeschwindelt hatte. Als einige Gäste diese Erzählungen mit Entrüstung aufnahmen, wie urtheilten da Deine Kollegen über den Betrüger – weißt Du es nicht mehr? Nun, so will ich es Dir sagen: „Zugegeben, der Mann hat mit dem Aermel das Zuchthaus gestreift – er ist doch durchgedrungen, mithin ein tüchtiger Mensch. Heute besitzt er Millionen, und die Börse muß mit ihm rechnen.“ – Da hast Du die Werthschätzung der kaufmännischen Ehre!“

Frau Rosita machte eine so verächtliche Bewegung, als werfe sie dem Gatten sein Idol vor die Füße, und wandte sich dann zur Thür. Der Konsul aber vertrat ihr den Weg und sagte hastig: „Der lange Verkehr mit leichtfertigen Menschen scheint auch Deine sittlichen Begriffe verwirrt zu haben. Ich bin anders geartet als jene Anbeter des goldenen Kalbes. Darum werde ich nun und nimmer feig zurücktreten, und wenn Du mir Deine Hilfe versagst, so muß ich meinen Kredit aufs äußerste anspannen, selbst auf die Gefahr hin – alles zu verlieren. Und Rosita – es kann Dir im Falle des Verlusts doch unmöglich schwer werden, zu jenen bescheidenen Verhältnissen zurückzukehren, in denen wir einst glücklich waren. Als Du vor zwölf Jahren in Montevideo als arme Gouvernante in mein Haus tratest –“

„Erinnere mich nicht an diese Zeit!“ unterbrach sie ihn und stampfte mit dem Fuße. „Damals lag eine Reihe von Demüthigungen und Entbehrungen hinter mir, an die ich nicht mehr denken will. Ich habe den Fluch und die Bitterkeit der Armuth gründlich ausgekostet, und weil ich ihr nicht wieder zum Opfer fallen will, verweigere ich Dir das Darlehen und halte fest, was ich besitze. Es wird die Stunde kommen, in der Du meine Vorsicht segnest.“

Mit diesen Worten schlüpfte sie durch die Thür. Der Konsul sah ihr wie betäubt nach und murmelte: „So muß ich ohne Dich fertig werden, Herzlose! Und mögen die Würfel fallen, wie sie wollen, unsere Wege werden in Zukunft getrennt sein. Zum Glück bleibt mir Bettina!“

Kaum hatte der Konsul den Namen Bettinas ausgesprochen, so vernahm er ihre Stimme; in der nächsten Sekunde flog die Thür weit auf und das Mädchen warf sich in seine Arme. „Papa, lieber Papa!“ rief sie und küßte den Erregten auf die Wange, „Graf Trachberg hat Dir etwas zu sagen.“

Der Konsul sah von der Tochter, welche das erglühende Gesicht mit einer schämigen Bewegung an seine Schulter lehnte, zur Thür hin, über deren Schwelle eben der Graf, dessen Vetter Voßleben, Mathilde und Frau Rosita traten.

[8] „Wir bringen eine Neuigkeit, welche alle finsteren Gedanken aus Deinem Kopfe verscheuchen wird, mein Freund!“ – Rosita sagte es mit strahlendem Lächeln und trat an die Seite des Grafen. Dieser verbeugte sich leicht und erklärte in ehrerbietigem Tone: „Herr Konsul, ich liebe Ihre Tochter Bettina und bitte Sie um deren Hand. Es würde uns alle glücklich machen, wenn Sie den Gästen Ihres Hauses noch während dieses herrlichen Festes unsere Verlobung anzeigen wollten.“

Der Hausherr antwortete nicht sogleich; seine Blicke glitten prüfend von der Tochter zu dem hochgewachsenen Aristokraten hinüber, dann nach einer Weile fragte er: „Liebst Du den Grafen Trachberg, Bettina?“

Das Mädchen nickte stumm.

„Ihr Antrag, Herr Graf, überrascht mich derart, daß ich eine Entscheidung in dieser Stunde unmöglich treffen kann. Gewiß, Sie zu meiner Familie zählen zu dürfen, erscheint mir ehrenvoll – – indessen –“

Bevor der Konsul seine Bedenken geltend machen konnte, wurde er von seiner Frau und dem jungen Ehepaar mit Bitten bestürmt. Mathilde theilte den Ehrgeiz ihrer Stiefmutter, in der großen Gesellschaft eine hervorragende Rolle spielen zu wollen. Was aber konnte der Persönlichkeit mehr Glanz und Würde geben als ein stolzer Titel, ein hoher Rang? Von ihrer Schwester als einer Gräfin Trachberg reden zu können, schmeichelte ihrer Eitelkeit eben so sehr wie Frau Rosita der Gedanke, in der gräflichen Equipage die Rennen besuchen zu können. Beide Damen fanden es unbegreiflich, daß der Vater Bettinas den Grafen nicht jubelnd in die Arme schloß. Auch Herr von Voßleben wünschte, daß das verwandtschaftliche Band, welches bisher zwischen ihm und den Trachbergs nur ein loses gewesen war, durch die Verschwägerung befestigt werde. Diese drei Bundesgenossen der Liebenden wußten die Einwendungen des Vaters, daß Bettina wie der Graf sich erst näher kennen und prüfen müßten, durch eine Reihe von Scheingründen zu widerlegen. Als jedoch der Konsul von der Vermögenslage sprach, die um der gesellschaftlichen Verpflichtungen willen bei dem jungen Paare eine besonders günstige sein müsse, wurde Trachberg bedenklich, und als Wesdonk weiterhin auf die schwankenden Glücksumstände des Kaufmanns hinwies und gar eine Andeutung fallen ließ, daß sein Haus vor einer wichtigen Entscheidung stehe und daß es schwer, ja geradezu unmöglich sei, Bettinas Zukunft sicher zu stellen, da war der edle Freier innerlich entschlossen, von der Veröffentlichung der Verlobung an diesem Abend abzustehen.

Bevor er jedoch seinen Verzicht aussprechen konnte, trat Rosita in den Mittelpunkt des Kreises: Sie fühlte, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, den Gatten durch ihre Großmuth zu beschämen. Ein erhabener Entschluß stieg in ihrer Seele auf, und mit königlicher Miene sprach sie feierlich: „Bettina, theuerstes Kind, wenn Dein allzu gewissenhafter Vater seine Vermögensumstände als schwankend bezeichnet, so muß ich es wohl gestehen, daß ich ein persönliches Vermögen von 450 000 Mark besitze, das keinen Zufällen unterworfen ist. Sollte Dein Vater jemals nicht in der Lage sein, Dir die Mittel für eine standesgemäße Lebensführung zu gewähren, so trete ich für ihn ein. Durch Geldverlegenheiten soll das Glück Eurer Ehe niemals getrübt werden, das verspreche ich Dir, das verspreche ich Ihnen, mein lieber Graf.“

Trachberg athmete erleichtert auf und küßte dankend die Hand, welche Frau Rosita ihm reichte.

Nun war die letzte Verschanzung gestürmt, welche der sorgenvolle Handelsherr aufgebaut hatte, und so beantwortete er den bittenden Blick seiner Tochter mit einem innigen Kuß. „Der Wunsch, Dich glücklich zu sehen, läßt mich übereilt handeln,“ sagte er leise; dann wandte er sich an den Grafen: „Trotz schwerer Bedenken will ich Ihrem Wunsche willfahren und der Gesellschaft die Verlobung noch heute anzeigen, wenn Sie mir versichern können, Herr Graf, daß Sie meine Tochter um ihrer selbst willen lieben und daß Sie als ihr Gatte redlich bestrebt sein werden, Bettina glücklich zu machen.“

Trachberg, welcher nach der Erklärung der Hausfrau in der Bedenklichkeit des Konsuls nur noch die spießbürgerliche Peinlichkeit des ehrenfesten Kaufmanns sah, lächelte überlegen und antwortete mit einem zärtlichen Blick auf das Mädchen: „Meine Gefühle für Ihr Kind, Herr Konsul, können nicht durch äußere Umstände beeinflußt werden. Ich hoffe, Sie während unserer Verlobungszeit überzeugen zu können, daß nicht nur mein Name, mein Rang und meine Stellung in der Gesellschaft Sicherheit für das Glück Bettinas bieten, sondern auch meine persönlichen Eigenschaften.“

„Nun, so heiße ich Sie als Schwiegersohn frohen Herzens willkommen.“ Wesdonk reichte dem Grafen die Rechte, und der Bund war geschlossen. „So laßt uns denn zur Gesellschaft gehen!“

„Aber Papa!“ rief Bettina mit glücklichem Lachen, „so willst Du eine der feierlichsten Handlungen Deines Lebens vornehmen, ohne Frack und weiße Binde?“

„Entschuldigt meine Zerstreutheit und geht voran!“ Der Konsul wandte sich rasch seinem Ankleidezimmer zu.

In seiner Seele war ein Aufruhr, der den Frühlingsstürmen glich; über die lichten Glücksempfindungen, welche der Gedanke an Bettinas Verlobung hervorrief, huschten finsteren, drohenden Wolken gleich die Fragen: „Was antwortest Du den Fabbris? Was hast du Ihnen zu bieten? Was wird aus Dir, wenn Deine Hilfe den Sturz dieses Hauses nicht aufhält?“ Jetzt, da er wieder allein war, kam die gespenstige Sorge zurück, und er hatte die Empfindung, als sauge sie ihm Blut und Lebensodem aus. –

Hastig schlüpfte er in den Frack und eilte aus dem engen Raum, dessen Luft ihm dumpf und schwer erschien. Im Arbeitszimmer riß er die zum Balkon führende Thür auf und trat mit einen Ausruf der Erleichterung hinaus. Hier wehte ihm der kühle Nachtwind entgegen und trug vom Thiergarten her den Duft des sprossenden Waldes, der grünenden Rasenflächen. Als seine Blicke über den Garten und den dunklen Park hinschweiften, drang aus den regungslosen Baumgruppen eine süße, lockende Vogelstimme herüber. Eine Drossel sang ihr Liebeslied und rief in seiner bewegten Seele traumhafte Bilder aus der Vergangenheit wach. Die funkelnde Sternensaat, welche jetzt aus den dunklen Himmelstiefen so goldig und verheißungsvoll auf ihn niederblickte, führte seine Gedanken in die Ferne, zu jenen Inselgruppen, auf denen er seine Jugendjahre verlebt hatte. Ihm erschienen in diesem Augenblick jene weltverlorenen Inseln wie Eilande des Friedens inmitten der unruhvollen Gegenwart, wie das Land der Seligen, von dem die Kampfesmüden träumen …

„Papa, lieber Papa, wo bleibst Du denn? Wir sind schon zu Tisch gegangen, und nur Dein Platz ist noch leer!“ Es war Bettinas Stimme, welche den Konsul jäh aus seinem Sinnen aufstörte. Und jetzt trat sie mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen zu ihm hinaus auf den breiten Balkon. „Aber bester Papa, was suchst Du denn hier draußen in der Dunkelheit? Drunten ist’s weit schöner! Der Saal erstrahlt im Licht der Kerzen, und hundert frohe Menschen ergötzen sich drin. Komm doch hinunter!“

Wesdonk legte mit liebevoller Bewegung den Arm um sein blühendes Kind und sagte: „Was ich suche, Bettina? Die Natur, der ich seit lange, lange entfremdet bin. Hörst Du den Schlag der Drossel, athmest Du den herben Duft der erwachenden Erde, siehst Du die Gestirne funkeln? Mein Kind, als mich eben der erste Frühlingshauch berührte, gingen mir seltsame Erinnerungen durch den Sinn. Es giebt Augenblicke, wo die Ereignisse auf uns eindringen wie die hochgehenden Wogen der sturmbewegten See. Alles drängt vorwärts, einer großen Entscheidung zu, aber mitten im Gewirre berührt uns ein Naturlaut und lenkt unsere Blicke rückwärts. Das ist seltsam – nicht wahr?“

„Gewiß, Papa, aber die Gesellschaft –“

„Sie wird mich noch fünf Minuten entbehren können. Bettina, mir ist beklommen ums Herz … Du stehst gleich mir vor einem großen Wendepunkt Deines Lebens, und wir wissen nicht, wie die Lose fallen. Ich hoffe, daß Dir die glücklichste Zukunft bevorsteht, aber je höher unser Weg aufwärts führt, desto mehr droht der Absturz. Ich habe soeben in Gedanken mein Leben überflogen, und weißt Du, Bettina, wo ich am glücklichsten war? Auf den weltentlegenen Inseln des Stillen Oceans. Dort, wo ich mitten unter einfachen Naturmenschen Pflanzungen anlegte und in den Erholungsstunden schwamm, ruderte, plauderte und mich an kindlichen Spielen erfreute, dort war ich frei und glücklich. Sobald ich in die Kulturwelt zurückkehrte, ging die Sorge [10] neben mir her. Wo die Menschen sich unter engen Lebensformen zusammendrängen, wird der Daseinskampf mit Erbitterung geführt, und erbarmungslos schreiten die Sieger über die Gefallenen hinweg. Rousseau hat recht: mit der Civilisation ist auch das Elend in die Welt gekommen. Nicht in der Häufung und Verfeinerung der Genüsse, sondern in der Einfachheit beruht das Glück der Menschheit. Wohl dem, der zur Natur zurückkehren kann! Die fernen Inseln des Weltmeeres waren mein Paradies. … Doch das ist vorbei – wir müssen vorwärts, Bettina!“ – Der Konsul drückte die Tochter mit Innigkeit an seine Brust, sah ihr tief in die Augen und sagte mit bebender Stimme. „Was immer die Zukunft bringen möge, mein Kind, sei stets meiner Liebe eingedenk! Möglich, daß die Wogen über mir zusammenschlagen … Ich habe mein Bestes gethan, um Dein und Deiner Schwester Glück zu sichern.“

„Wie wunderlich Du sprichst, Papa!“ Bettina erwiderte zärtlich den Kuß des Vaters und fuhr heiter fort: „Meinst Du, ich wisse das Glück, einen guten lieben Papa zu besitzen, nicht zu schätzen? Dies Glück soll noch erhöht werden durch meine Verlobung mit einem so ritterlichen Manne wie Graf Guido ist. Was will ich mehr? Mir schwindelt fast bei dem Gedanken an all das Neue, Schöne, Unerwartete, das mir bevorsteht! Und auch der Abend Deines Lebens soll golden und friedlich werden, Papa. Was könnte ihn wohl verfinstern? Geh, Du bist überarbeitet – erhole Dich! Komm in den Saal, unter lustige Menschen, dort müssen Deine traurigen Gedanken wie Nachtschatten vor dem Licht zerrinnen.“



3.

Sobald der Hausherr mit Bettina an seiner Seite im Speisesaal erschien, grüßten ihn die engeren Bekannten der Familie durch freundlichen Zuruf. Aber ihm selbst wollte keine frohere Stimmung kommen. Die überhitzte Luft des menschengefüllten Saales legte sich bedrückend auf seine Brust, die Schwüle erschien ihm unerträglich. Und sein Unbehagen steigerte sich noch, als er seine Frau in ausgelassener Laune an einem besonderen Tisch präsidieren sah, an dem sich die Darsteller des Festspiels noch in ihren Kostümen niedergelassen hatten.

Sie kann lachen – in dieser Stunde, sagte er sich bitter, während ich aufschreien möchte vor Angst und Sorge. Und wieder trat mit voller Deutlichkeit die Gefahr seiner Lage vor sein Bewußtsein. Ihm war zu Muthe, als stehe er schwindelnd und haltlos an einem furchtbaren Abgrund, und während seine Gäste sich den Genüssen der Tafel hingaben, starrte er wie geistesabweseud auf den leeren Teller und schlürfte nur von Zeit zu Zeit ein Glas feurigen Rheinweins.

Als Frau Rosita den tiefen grüblerischen Ernst in den Mienen ihres Gatten bemerkte, nahm sie an, er lege sich den Toast auf die Verlobten zurecht. Der Konsul war ein gewandter Redner, machte jedoch nur in seltenen Fällen von seiner Begabung Gebrauch, und seine Scheu vor jedem öffentlichen Auftreten mußte immer erst durchbrochen werden, bevor seine Gedankenquelle in Fluß kam. Frau Rosita beschloß, ihm zu Hilfe zu kommen. Sie ließ ihr Glas hell erklingen, und als es still geworden war im weiten Saale, erhob sie sich lächelnd und sagte: „Mein Gatte hat seinen lieben Gästen eine Mittheilung zu machen, von der ich hoffe, daß sie die frohe Theilnahme unserer Freunde finden wird.“

Mit einer neckischen Handbewegung lenkte sie die Blicke aller Anwesenden auf den Hausherrn. Dieser fuhr erschreckt aus seinen Träumereien auf, und als er alle die forschenden Blicke gewahrte, färbte sich sein Gesicht dunkelroth vor Verlegenheit. Wie ein aufsprühender Funkenschauer wirbelten die Gedanken durch sein Gehirn. Mühsam erhob er sich vom Stuhle. Doch über die wirren Stimmen, die sein Inneres durchtönten, wurde eine übermächtig, die rief: es gilt das Glück Deines Kindes!

Und er ergriff eine volle Sektschale, die ihm sein Nachbar Horst in die Hand drückte, erhob sie mit einer unsicheren Bewegung und wollte sprechen. Aber die Gedanken verwirrten sich, es wurde mit einem Male dunkel vor seinen Augen, und er hatte das Gefühl, als senke sich die Decke des Saals auf ihn nieder und begrabe ihn unter ihrem Gebälke. Die Gesellschaft sah plötzlich die mächtige Gestalt des Konsuls wanken, das Sektglas zerbrach in seiner Hand und die Scherben fielen klirrend auf den Teller. Im nächsten Augenblick wurden die Augen des Mannes gespenstig groß und starr, dann kam der dumpfe Schrei „Luft!“ von seinen Lippen und er brach zusammen.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 2, S. 37–46

[37] Ein Schrei des Entsetzens ertönte ringsum, es erfolgte ein wilder Tumult, von allen Seiten streckten sich Hände aus, um den Konsul aufzuheben. Frau Rosita und ihre Töchter waren erst vom Schrecken gelähmt, dann liefen sie zu der Stelle hin, wo der Gefallene lag, allein ein Menschenknäuel versperrte ihnen den Zugang. In dem wirren Durcheinander wollte jeder helfen und hinderte seinen Nächsten an der freien Bewegung. Endlich gelang es dem Sanitätsrath Horst, der als Arzt und Freund des Hauses von den meisten Besuchern gekannt war, seinen Anordnungen Geltung zu verschaffen. Der Bewußtlose wurde in eines der Nebenzimmer getragen und hier auf einen Diwan niedergelegt. Kaum war dies geschehen, so schloß Horst die Thür vor den nachdrängenden Gästen ab und gestattete nur den Angehörigen, im Zimmer zu bleiben. Als Hausarzt der Familie wußte er, daß sein Freund an asthmatischen Beschwerden leide, und er glaubte zunächst, es handle sich um einen Erstickungsanfall. Ohne Rücksicht auf Frau Rositas Dekorationskünste riß er einen orientalischen Teppich herunter, welcher das Fenster des Raumes verhängte, und ließ die Nachtluft hereinströmen. Nun stellte er mit allem Eifer Wiederbelebungsversuche an, allein zu seiner Ueberraschung erwiesen sie sich als fruchtlos. Jetzt erst forschte er nach dem Herzschlag des Ohnmächtigen und erkannte mit Schrecken, daß nichts mehr zu hören war. Er mußte Gewißheit haben, und unter dem Vorwand, daß er den Kranken entkleiden müsse, bat er die Frauen, das Zimmer zu verlassen.

Bettina wurde von Mathilde und der Stiefmutter in ein halbdunkles Stübchen nebenan geführt, dessen Thür sich auf [38] den Flur öffnete. Während sie dort voll Angst auf die weiteren Mittheilungen des Arztes warteten, drangen vom Vorplatz her die Stimmen abziehender Gäste herein.

„Fatale Störung, das!“ hörte Bettina eine schnarrende Stimme draußen sagen. „Geschichte war famos im Zuge. Hast Du ’ne Ahnung, Knobelwitz, was der Alte anzeigen wollte?“

„Wie ich eben höre, die Verlobung seiner Tochter Bettina mit dem Grafen Trachberg – –“

„Donnerwetter! Die Kleine ist wohl ’n Goldfisch?“

„Jedenfalls. Billig verkauft sich der schöne Guido nicht.“

Säbelrasseln und Zuschlagen der Hausthür verkündete den Abzug der Sprechenden, deren Worte wie aus einem dumpfen Traum zu Bettina gedrungen waren.

Frau Rosita und Mathilde hatten den Vorgängen im Nebenzimmer gelauscht, jetzt mit einem Male öffnete sich die Thür. Bettina flog mit einem freudigen Aufschrei der Schwelle zu, sie hatte mit Sicherheit erwartet, der Vater werde ihr entgegentreten; statt dessen kamen Herr von Voßleben und Graf Trachberg mit ernsten, unglückverheißenden Mienen aus dem Raume. „Mathilde,“ sagte der Diplomat zu seiner jungen Frau, „der Zustand Deines Vaters giebt zu schweren Bedenken Anlaß.“

„Er ist tot!“ schrie Bettina auf, und ehe sie jemand aufhalten konnte, war sie über die Schwelle geeilt. Sie wollte sich über den Toten werfen, allein der Arzt fing sie in seinen Armen auf.

„Weinen Sie Ihren Schmerz aus, liebes Kind, aber nicht hier; den Toten dürfen Sie erst sehen, wenn Sie gefaßter sind.“

Mit diesen Worten drängte sie der theilnehmende Freund hinaus, und da Lisa eben in die Stube trat, gab er ihr einen Wink, über die Verzweifelnde zu wachen. Darauf schloß er das Zimmer ab, in welchem der Konsul lag, und trat in den Festsaal, um dem Rest der Versammlung anzukündigen: „Mein Freund, der Konsul Wesdonk, ist soeben infolge einer Lungenlähmung verschieden.“

Die Nachricht trug kalte Schauer durch die lichten Räume und scheuchte den Rest der Gäste fort. So leise schlichen sich diese aus der Villa, als könnte ihr Schritt den ewigen Schlaf des Dahingeschiedenen stören.

Die Töchter ließen in heißen Thränen ihrem Schmerze freien Lauf. Frau Rosita aber zeigte sich gefaßt und konnte Bettina noch einige Worte des Trostes sagen. Sie bat Lisa, die Weinende in ihr Schlafzimmer zu bringen, und bewog auch Mathilde und Voßleben, sich zurückzuziehen.

Als dies geschehen war, ließ sie sich vom Sanitätsrath die Thür aufschließen und sagte mit frommem schmerzlichen Augenaufschlag: „Ich werde bis zum Morgen am Lager des geliebten Toten beten.“

Sie stellte zwei silberne Leuchter neben das starre Antlitz und ließ sich, Gebete murmelnd, auf die Kniee nieder. Als das Rollen des letzten Wagens sie belehrte, daß auch der Arzt das Haus verlassen habe, streifte sie leicht die Stirn des Gatten mit ihren Lippen und sagte leise, ganz leise: „Mir scheint, theures Herz, Dich hat der liebe Gott zur rechten Zeit abberufen. Hab’ Dank für Deine Güte und ruhe sanft!“

Darauf erhob sie sich und lüftete vorsichtig die Thürvorhänge, um zu sehen, wer noch im Festsaale sei. Als sie den Diener und das Hausmädchen bemerkte, welche schläfrig die Tafel abräumten, huschte sie gleich einem Schatten über das Parkett und gab dann leise aber nachdrücklich ihre Anordnungen. Sie blieb, bis die werthvollen Tafelgeschirre in den Schränken verwahrt, die übriggebliebenen Vorräthe in der Speisekammer abgeschlossen waren, und dann erst entfernte sie sich schwebenden Schrittes in der Richtung nach dem Treppenhause.

*      *      *

Bettina war unterdessen vom Grafen Trachberg und von Lisa bis an ihr Schlafgemach begleitet worden, wo sich der Graf mit wohlgesetzten, aber förmlich klingenden Worten verabschiedete; Lisa hatte die Freundin umarmt und herzlich geküßt … Als Bettina im Schlafzimmer ein Licht entzündete, fiel ihr Auge auf den breiten Wandspiegel. Ein Laut des Schreckens kam von ihren Lippen beim Anblick des Spiegelbildes. Sie befand sich noch immer in dem Pagenkostüm, das sie zum Festspiel angelegt hatte. Zum ersten Male drängte sich ihr die Bemerkung auf, wie sehr die Erscheinungswelt von unserer Seelenstimmung abhängig ist. Als sie die Verkleidung anlegte, war sie entzückt gewesen von dem Reiz der Farben und der Anmuth der Formen, mit Selbstgefälligkeit hatte sie ihr Bild betrachtet und ihm lächelnd zugewinkt. Nun waren nur drei Stunden seit jenem Augenblick des Glücks vergangen, und es ergriff sie beim Anblick der leuchtenden Farben ein Gefühl so tiefen Abscheus, so herber Selbstverachtung, daß sie in den Ruf ausbrach: „Herunter mit der Narrenjacke!“ Mit zitternden Händen riß sie sich den kostbaren Anzug vom Leibe und schleuderte jedes Stück weit von sich.

Halb entkleidet setzte sie sich auf den Rand ihres Bettes und ließ die Ereignisse des Abends noch einmal an sich vorüberziehen. Was drängte sich nicht alles in den engen Zeitraum weniger Stunden hinein – welche furchtbaren Wandlungen hatten sich vollzogen! Vor ein paar Stunden lebte sie noch des wonnigen Glaubens, daß die Welt ganz besonders zum Vergnügen ihrer werthen Person erschaffen sei, nur durch das Uebermaß geselliger Veranstaltungen war sie bisher ermüdet worden; sie hatte sich dem Wahn hingegeben, in der vollkommensten aller Welten zu leben. Und welche Erhebung, welch’ berauschende Gefühle und rosige Hoffnungen hatte ihr der Abend gebracht! Sie hatte geglaubt, von einem gütigen Geschick auf festgefügte Stufen des Glücks gestellt zu sein, und nun mit einem Schlage war alles zertrümmert!

Ihr war es plötzlich, als sehe sie noch einmal den Vater mit brechenden Augen wanken und nach einem Halt tasten, sie hörte noch einmal den dumpfen Fall. Hatte der sterbende Vater nicht all ihr schimmerndes Glück mit sich hinabgerissen? Und was sollten seine dunklen Andeutungen vorhin? Ihr war zu Muthe, als schwanke das Haus, welches sie bisher für unerschütterlich gehalten. Die Unterredung auf dem Balkon trat lebhaft vor ihre Seele. Sie hatte mit heimlicher Ungeduld auf die letzten Worte des Vaters gehört und gleichwohl einen tiefen Eindruck von ihnen empfangen. Seine Stimme hatte so weich geklungen, sein Auge so sehnsüchtig nach den dunklen Himmelstiefen geblickt! Sie suchte in der Erinnerung nach jedem Wort, das der theure Heimgegangene gesprochen, und da ihr fieberndes Gehirn die Sätze nicht gleich wiederfinden konnte, so kam das brennende Verlangen über sie, noch einmal in dieser Nacht an dieselbe Stelle zu treten, wo sie mit dem Vater in feierlicher Stimmung zum Sternenhimmel aufgeblickt hatte.

Rasch entschlossen zog sie ein Morgenkleid an und lief über die mit dicken Teppichen belegte Treppe hinauf zum Arbeitszimmer des Vaters. Als sie die Thür öffnete, tönte ihr ein Ruf der Ueberraschung entgegen. Auch sie prallte auf der Schwelle zurück bei dem unerwarteten Anblick, der sich ihr bot. Frau Rosita, welche bei dem Toten hatte wachen wollen, befand sich vor dem Schreibtisch. Des Vaters Geldschrank war geöffnet, und die trauernde Witwe hatte Geld, Papiere und das Kontobuch des laufenden Jahres vor sich ausgebreitet. Beim Anblick der eintretenden Stieftochter hielt sie in jähem Schreck die Hände über die Banknoten, dann glitt ein fahles Lächeln über ihre Züge und sie fragte mit unsicherer Stimme: „Was suchst Du hier, Bettina?“

Diese erholte sich nicht so leicht von ihrer Betroffenheit wie ihre Mutter. Sie schwieg eine Weile, ihre Blicke hingen an einigen Rollen Goldes, die im Schein der Lampe funkelten; dann entgegnete sie in gepreßtem Tone: „Ich suchte – suchte – das Andenken meines Vaters – wollte auf den Balkon, wo er zum letzten Male mit mir gesprochen hat. Dort enthüllte er mir seine Weltverachtung, und mir will scheinen, sie war gar wohl berechtigt. Was aber suchst Du hier? Ich dachte, Du seiest bei dem Toten, und finde Dich schon – bei der Erbschaft.“

Bettina hatte bei den letzten Worten die Stiefmutter so fest und drohend angesehen, daß diese die Augen niederschlug. Aber Rositas Verwirrung dauerte nicht lange, ihre listige Natur fand rasch einen Ausweg. „Thörichtes Kind,“ sagte sie sanft und einschmeichelnd, „wer sollte über Eure Interessen wachen, wenn ich es nicht thue? Dein armer Vater befand sich in geschäftlicher Bedrängniß. Nach den Andeutungen, welche er mir noch vor einigen Stunden machte, mußte ich beinahe befürchten, daß er dicht vor dem Ruin stehe. Als ich nun drunten vor der Leiche betete, kam mir der Gedanke: ist dein Gatte auch in Ehren gestorben, können wir [39] seinen Verbindlichkeiten gerecht werden? Ich mußte wissen, wie es um die Vermögenslage bestellt sei, bevor fremde Hände hier eingriffen und aus unserer Unkenntniß Nutzen schöpften. Nun Bettina, ich kann Dir, nach einem flüchtigen Einblick in die Bücher, die tröstliche Versicherung geben: Dein Vater hat wenigstens so viel hinterlassen, daß wir alle vor Mangel geschützt sind.“

„Das ist ein erbärmlicher Trost für das, was ich verlor.“

Bettina verließ das Zimmer und nahm ein Gefühl der Verachtung gegen die Frau mit, welche über der Frage nach dem Erbe so rasch den Toten vergaß.

Die Witwe aber blickte der Entschwindenden lange nach, dann stampfte sie plötzlich mit dem Fuße auf und sagte: „Pah – was liegt daran! Mag sie gering von mir denken, wenn sie nur äußerlich Frieden hält! Vor der Gesellschaft werde ich die Stelle der zärtlichen Mutter bis zu Deiner oder – meiner Verheirathung weiter spielen.“




4.

Frau Rosita fand als trauernde Witwe bei ihren Freunden mehr als bloßes Mitgefühl, sie erregte Bewunderung durch den ergreifenden Ausdruck, den sie ihrem Schmerze gab. Sie ließ keine lauten Klagen hören, aber ihre Stimme, ihr ganzes Wesen hatte etwas Gedämpftes, als schreite sie gebückt unter der Last ihres Unglücks. Ihre dunklen Augen schwammen in stillen Thränen, und wenn man die Herzensgüte des Hingeschiedenen pries, zitterte ihr Körper vor verhaltener Erregung. Und trotz des tiefen Kummers, der sich in der unbeschreiblichen Traurigkeit ihres Wesens zu erkennen gab, besaß diese seltene Frau Kraft genug, die Zügel des Haushalts zu führen, eine Fülle von Geschäften zu erledigen und eine ebenso würdige als großartige Trauerfeier zu veranstalten. Die Todesanzeigen waren nach ihrer Angabe abgefaßt und gedruckt worden, und das erste Exemplar derselben sandte sie an die Fabbris als Antwort auf deren erneuten Hilferuf. –

Wo drei Tage vorher das farbenglänzende Festspiel in Scene gegangen war, hatte man den Katafalk errichtet, und hundert flammende Kerzen warfen ihren Schein auf das stille, von Frühlingsblumen halb verdeckte Antlitz des Toten. Der Saal und die anstoßenden Räume waren mit teilnehmenden Freunden gefüllt. Auf den zur Bahre hinaufführenden Stufen standen die Angehörigen des Verblichenen. Frau Rosita hatte am Fußende des Sarges, ihr gegenüber Mathilde mit Herrn von Voßleben Aufstellung genommen. Graf Trachberg stand zwischen der Witwe und Bettina, die ihr verweintes Gesicht hinter den Lorbeerbüschen verbarg. Durch einen Choral, welchen Mitglieder des Domchors hinter dem Gehege der Palmen und Orangen sangen, wurde die Feier eingeleitet, dann hielt der Geistliche eine ergreifende Rede, und nach derselben spielten jene jungen Künstler, welche den Tanz der Pagen beim Festspiel begleitet hatten, das Adagio aus Schuberts C-dur Quintett. Die Oeffentlichkeit dieser Totenfeier hatte Bettinas Widerspruch erregt, ihr erschien die ganze Veranstaltung wie eine Entweihung, wie eine schale Komödie. Wer sein Leid und Herzweh öffentlich ausstellt, sagte sie sich, dem fällt der Abschied von dem Toten nicht allzuschwer. Vor dem Zauber der Musik aber schwand allmählich ihr Groll, ihre Bitterkeit. Eine feierliche Stimmung kam über sie, und als jetzt Viola, zweite Geige und Violoncell zusammenklangen und die Töne der ersten Geige unter der Meisterhand Franz Rotts recitativartig darüber hinschwebten glaubte sie eine süße Engelsstimme zu vernehmen, die bald klagend bald tröstend zu ihr spreche und mit der Verheißung ende: Es giebt ein Wiedersehen!

Die hehren Klänge hatten Bettina aufgerichtet und erhoben; ja, es blieb ein feierlicher Nachhall in ihrer Seele, der sie nicht bemerken ließ, daß der Sarg geschlossen wurde. Auf Frau Rosita aber mußte die Musik in ganz anderer Weise gewirkt haben, denn als der letzte Ton verhallte und gleichzeitig der Sarg sich schloß, taumelte sie und sank ohnmächtig in die Arme des herzuspringenden Grafen Trachberg.

Es entstand eine Bewegung in der Trauerversammlung, einige Damen kamen der vom Schmerz Ueberwältigten mit ihren Riechfläschchen zu Hilfe. Auch Bettina bemühte sich um die Ohnmächtige, deren Schwächezustand jedoch rasch vorüberging. Mit sanftem Lächeln blickte sie zu dem Grafen auf, entwand sich dann mit einem leisen Dankeswort seinen Armen und schritt, auf Bettina gestützt, in merkwürdig gefaßter Haltung die Stufen herab, um dem Sarg bis zum Ausgang des Saales zu folgen. Gefaßt verabschiedete sie sich auch von den Theilnehmern der Feier; sie sagte jedem mit bewegter Stimme ein Dankeswort und reichte mit besonderer Herzlichkeit den Musikern ihre Hand. Die Ausländer küßten dieselbe, Franz Rott aber begnügte sich damit, einen Händedruck auszutauschen. Auf seinen kühngeschnittenen männlichen Zügen lag dabei etwas wie ein geheimer Widerwille. Unwillkürlich reichte er auch Bettina die Hand, und es schien ihr, als habe er ein Wort des Mitgefühls auf den Lippen, allein er schwieg und schied mit einer kurzen Verbeugung. –

Die Tage nach der Bestattung des Konsuls brachten für die Bewohner der Villa die Ruhe nach dem Sturme. Frau Rosita konnte schon am zweiten Morgen einer lebhaften Befriedigung Ausdruck geben, als sie beim Frühstück nach ausführlichen Berichten über die Leichenfeier in den Zeitungen suchte und nebenbei das folgende Telegramm aus Hamburg fand: „Soeben hat das alte berühmte Handelshaus Fabbri und Söhne seine Zahlungen eingestellt.“

„Da haben wir’s, da haben wir’s!“ rief sie mit strahlendem Gesicht. „Ich hab’s kommen sehen! Würde Dein armer Vater noch leben, Bettina, heute müßte er mir für meinen guten Rath Dank wissen.“

Bettina schaute die Mutter fragend an, diese aber besann sich, daß es besser sei, ihre Stieftochter nicht über den letzten ärgerlichen Streit ihrer Ehe aufzuklären, und gab nur die Andeutung, daß sich der Konsul auf ihren Rath noch rechtzeitig von den Fabbris zurückgezogen habe, deren Bankrott die Zeitungen eben verkündeten.

Bettinas Schwager hatte, unter dem Hinweis auf den plötzlich erfolgten Tod seines Schwiegervaters, die Erlaubniß erhalten, seine Abreise um vierzehn Tage zu verschieben. In dieser Zeit war es möglich, die Erbschaftsangelegenheiten für seine junge Frau zum Abschluß zu bringen. Der Konsul hatte die testamentarische Verfügung getroffen, daß sein Nachlaß seiner Frau und seinen Töchtern zu gleichen Theilen zufallen solle. Zu Testamentsvollstreckern waren Sanitätsrath Horst und ein Rechtsanwalt ernannt. Diese glaubten, Frau Rosita, deren persönliches Vermögen sich, wie aus den Büchern ersichtlich war, auf rund 450000 Mark belief, werde zu Gunsten der Töchter auf ihr Drittel verzichten, allein in diesem Punkte hielt die Witwe es für eine strenge Pflicht der Pietät, den letzten Willen des Verstorbene genau auszuführen. Ja es zeigte sich bei der Vertheilung des beweglichen Mobiliars, daß die tiefbetrübte Frau stets solche Stücke als „Erinnerungszeichen an ihr zerstörtes Glück“ wählte, die einen besonders hohen Werth besaßen. Nachdem die Firma aufgelöst und die Villa verkauft war, ergab sich ein Barvermögen von rund 180000 Mark. Jede von den Erbinnen erhielt somit 60000 Mark und einen Theil des Hausraths.

Frau Rosita hatte den Löwenantheil an sich gerafft und dadurch die Voßlebens tief verstimmt. Bettina war zufrieden, daß die Stiefmutter ihr wenigstens den neuen Bechsteinschen Flügel ließ, an dem sie viel Freude hatte. Das ihr zugefallene Vermögen war nach ihrer Schätzung sehr groß, und sie begriff nicht, warum der Schwager, Mathilde und Frau Rosita so enttäuschte Gesichter machten, als die Testamentsvollstrecker ihnen das Ergebniß der Erbschaftstheilung verkündeten. Sie besaß nicht die geringste Vorstellung von der Kostspieligkeit eines standesgemäßen Unterhaltes, von dem ihre Verwandten so oft sprachen, und verachtete den Reichthum, weil sie nur geringe persönliche Bedürfnisse hatte. Um so tiefer ward sie verwundet, wenn ihre Stiefmutter einem heuchlerischen Bedauern über die schlimme Lage Ausdruck gab, in welcher ihr Gatte seine an vornehme Lebensführung gewöhnten Kinder zurückgelassen habe. Bettina war zu schüchtern, um ihrer Entrüstung Worte zu leihen, aber sie war ihrer entschlosseneren Schwester dafür dankbar, daß diese den verdeckten Tadel Rositas mit der barschen Bemerkung abschnitt: „Nun, für die Zukunft seiner Witwe hat mein Vater wenigstens in auskömmlicher Weise gesorgt.“

In Bettinas argloses Gemüth warfen solch versteckte Feindseligkeiten trübe Schatten. Sie erkannte immer deutlicher, daß die frühere Zärtlichkeit der Stiefmutter nur durch die Rücksicht auf den Vater eingegeben war, und sie mußte fürchten, daß diese Frau sehr bald die Maske ganz fallen lassen werde. Auch [42] von Mathilde, deren stark ausgeprägte Selbstsucht niemals ein wärmeres Gefühl zwischen den beiden Schwestern hatte aufkommen lassen, fühlte sich Bettina durch deren Begehrlichkeit bei der Erbschaftstheilung noch stärker abgestoßen. Diese Unsicherheit und Hilflosigkeit ihrer Lage drückte ihre Seele mehr und mehr nieder, und sie sehnte sich mit aller Macht nach einem innigen Verkehr mit Guido. Der aber war gerade durch den Besuch eines fremden Monarchen, dem zu Ehren Paraden und Felddienstübungen angestellt wurden, dienstlich so sehr in Anspruch genommen, daß er die Villa nur selten und dann bloß auf kurze Augenblicke besuchte. Bei den flüchtigen Begegnungen mit Bettina war er sehr freundlich und zuvorkommend, allein seine Artigkeit verhüllte den Blicken des Mädchens nicht ganz, daß das Feuer seiner Liebe bereits im Erlöschen begriffen sei, und immer beklemmender fielen ihr jene Worte aufs Herz, die sie in dem entsetzlichen Augenblick nach ihres Vaters Tod von den abziehenden Gästen gehört hatte und deren Verständniß ihr erst jetzt aufzudämmern begann.

Durch seinen Vetter hatte der Graf Einblicke in die Vermögenslage der Hinterbliebenen des Konsuls erhalten. Es bedurfte kaum der Kunstgriffe, die er anwandte, um den Gatten Mathildens zum Sprechen zu bringen, denn Voßleben fühlte ein lebhaftes Bedürfniß, sich über die Habgier seiner Schwiegermutter zu beklagen. Trachberg stimmte in die Zornesausbrüche seines Vetters mit ein und bezeichnete das Benehmen der Dame als unverantwortlich. Heimlich aber stiegen allerhand Berechnungen in ihm auf. Die Tochter ist jung, sagte er sich, allein ihre Mitgift beträgt nur 60000 Mark; die Mutter ist noch nicht alt und ihre Mitgift beträgt eine halbe Million. Mit dieser Summe könnte ich meine Güter von Schulden entlasten und ihre Erträgnisse flüssig machen – mit Bettinas Erbe kann ich nur den schlimmsten meiner Blutsauger auf einige Jahre von mir fern halten. Immer häufiger nahmen seine Gedanken diese Richtung, und Graf Trachberg war nicht der Mann, lange zu zögern, wenn es seinen klar erkannten Vortheil galt.

Als er eines Morgens beim Anbruch der Dämmerung seinen Klub verließ, wo er im Spiel gerade die Geldsumme verloren hatte, die er zu gewinnen wünschte, um Deckung für eine Wechselschuld schaffen zu können, da sagte er mit heroischer Selbstüberwindung: „Hol’s der Henker, ich nehm die Mama! Die Zeit der Illusionen ist vorüber, wir müssen vernünftig werden, Guido!“

Und am Nachmittag dieses denkwürdigen Tages fuhr der Graf zur Villa und ließ sich bei Frau Rosita melden. Sie empfing ihn im japanischen Salon, dessen Balkonthür geöffnet und gegen das einströmende Licht der Maisonne durch eine Markise geschützt war. Der Graf mußte sein Auge erst an das im Zimmer herrschende Halbdunkel gewöhnen, bevor er bemerkte, daß sich jener junge Künstler aus Florenz mit dem Rafaelkopf bei Frau Rosita befand; er war gekommen, um sich von seiner Gönnerin zu verabschieden, und er that dies mit überschwänglichen Dankesversicherungen. Als er das Zimmer verlassen hatte, wischte sich Rosita die thränenfeuchten Augen mit einem duftigen Spitzentuch und sagte mit trübem Lächeln: „Sie sehen, lieber Graf, meine Freunde verlassen mich, das Haus der Witwe verödet rasch. Der junge Mann, dessen harmlose, kindliche Fröhlichkeit mich so oft erheiterte, muß in seine Heimath zurückkehren. Eine Freundin in Rom hatte ihn mir empfohlen, und es gewährt mir jetzt einige Genugthuung, sein Talent gefördert und ihm das Vaterhaus nach Kräften ersetzt zu haben. – Doch ich spreche von mir, und Sie, lieber Graf, brennen unterdessen vor Begierde, Ihre Braut zu sehen; verzeihen Sie! Bettina ist, so viel ich weiß, im Garten, ich werde sie –“

Rosita wollte auf den Balkon treten, um die Tochter zu rufen, der Graf aber hielt sie mit der Bemerkung zurück, daß er nicht Bettina, sondern sie selbst zu sprechen wünsche.

Ueberrascht wandte sich die Witwe um, ließ sich auf einen Diwan nieder und lud den Grafen durch eine Handbewegung ein, an ihrer Seite Platz zu nehmen. Dieser empfand in dem lauschigen, halbdunklen Raume die Anmuth ihrer Bewegungen, ihre üppige Schönheit. Der gedämpfte Ton ihrer Stimme erhöhte den Reiz der Unterredung.

„Sie sehen mich in der peinlichsten Lage meines Lebens, gnädige Frau,“ begann der Graf. „Nur die bezaubernde Liebenswürdigkeit Ihres Wesens verleiht mir den Muth, mich Ihnen ganz anzuvertrauen. Ich habe stets Ihre Einsicht praktischen Verhältnissen gegenüber bewundert, und ich hoffe, daß jetzt auch meine Lage von Ihnen richtig erfaßt und beurtheilt werden wird.“

Als der Sprecher hier eine Pause der Verlegenheit eintreten ließ, neigte Frau Rosita mattlächelnd den Kopf und warf ein: „Ich fürchte, Sie überschätzen mich. Sie wollten wohl mit mir über Ihre Verlobung sprechen?“

„So ist es, meine verehrte gnädige Frau, und ich muß Ihnen offen bekennen, daß sich den bisherigen Wünschen ein unübersteigliches Hinderniß in den Weg stellt.“

„Ah!“ – Die Witwe richtete mit einem Male den Kopf auf, und ihre Mienen wie die hastige Art, mit der sie ihren Fächer bewegte, ließen ihre Spannung erkennen.

Und der Graf legte ihr offen seine finanziellen Verlegenheiten dar. Er sprach von der Mißwirthschaft seines Vaters, welcher es zuzuschreiben sei, daß er die Familiengüter mit Schulden belastet empfangen habe, aber er schwieg von den eigenen Spielschulden; er nannte die Abfindungssumme, welche er seinen Schwestern habe zahlen müssen, und ging zartfühlend über die Summen hinweg, die er für seine eigene verschwenderische Lebensführung verbraucht hatte. Als er Frau Rosita den Betrag aller seiner Verbindlichkeiten genannt hatte, begriff diese es vollkommen, daß der Graf zwischen Bettina und der ihm liebgewordenen militärischen Laufbahn zu wählen habe. „Ich bot Ihrer liebenswürdigen Tochter meine Hand an,“ schloß der Graf seine Bekenntnisse, „weil Voßleben mich in den Glauben versetzt hatte, ich könne dem Zuge meines Herzens frei folgen, da meine Finanzlage von dem Herrn Konsul ohne Schwierigkeit geregelt werden würde. Leider ergab sich nach dessen Hinscheiden, daß dies nicht der Fall ist. Nun haben zwar Sie, verehrte Frau, in Ihrer Großmuth uns Ihre Unterstützung zugesagt, allein Sie werden einsehen, daß es sich schwer mit meinem Ehrgefühl in Einklang bringen läßt, laufende Unterstützungen anzunehmen. Ich würde niemals das drückende Gefühl überwinden können, daß Sie sich um unseretwillen Entbehrungen auferlegen müßten. Außerdem“ – hier dämpfte der Graf seine Stimme zum Flüsterton herab, „sind mir in den letzten Tagen schwere Bedenken gekommen, ob ich ein junges Mädchen wie Bettina so glücklich machen kann, wie sie es verdient. Ich zähle schon achtunddreißig Jahre und Ihre Stieftochter nicht viel mehr als zwanzig; aus diesem großen Unterschied der Jahre ergiebt sich naturgemäß auch eine weitgehende Verschiedenheit der Lebensauffassung. Bettina tritt mit allen Illusionen der Jugend ins Leben, ich aber – habe keine Illusionen mehr. Ja, wenn Bettina Ihr Lebensalter hätte und Ihre Erfahrung, meine Gnädigste – –“

Er verstummte mit einem Seufzer und sein Gegenüber setzte in Gedanken hinzu. „und meine halbe Million“; allein im nächsten Augenblick senkte Rosita unter seinem schmachtenden Blick den Kopf zum Fächerrand nieder und erwiderte: „Ich verstehe Ihre peinliche Lage, Herr Graf, und – ‚alles verstehen, heißt alles verzeihen.‘ Warum aber haben Sie sich an mich gewandt – wäre es nicht richtiger, Bettina alles zu bekennen? Meine Tochter ist einsichtsvoll und stolz genug, um Sie sofort Ihres Versprechens zu entbinden.“

„Das weiß ich. Und seien Sie versichert, daß ich mein Wort erfüllen würde, wenn Fräulein Bettina meine Vermögenslage anders beurtheilen sollte als ich selber. Was mir den Gedanken eingab, mich an Sie zu wenden, theuerste Frau, das ist der Umstand, daß ich vor allen Dingen von Ihnen zu hören wünschte, ob Sie nach Klarstellung der Verhältnisse mich um meines Zurücktretens willen verurtheiten werden, und dann, weil ich meine Schwäche kenne. Bevor ich es über mich gewinnen könnte, Bettina weinen zu sehen, würde ich mein Versprechen erneuern, und wenn es gleich mein Ruin wäre und der ihres eigenen Lebensglücks. Sie, meine Gnädigste, besitzen den feinen Takt und die Kenntniß des menschlichen Herzens, welche^ Sie befähigen werden, das Band zu lösen, ohne die Gefühle Ihrer Tochter zu verwunden. Wollen Sie mich von der schmerzlichsten Pflicht meines Lebens entbinden? Darf ich auf Ihre Vergebung, auf die Erhaltung Ihrer Achtung und Freundschaft rechnen, theuerste Frau Konsul?“

Er hatte ihre Hand ergriffen und schaute ihr mit so warmen Blicken in die glänzenden Augen, daß sie verwirrt erst nach einer Weile zu antworten vermochte. „Ich will Ihre Sache bei Bettina führen, lieber Graf,“ sagte sie leise.

„Und Sie billigen meinen Schritt, Sie denken nicht gering von mir?“ Seine Stimme hatte einen flehenden bangen Klang.

[43] „Wer vernünftig handelt, ist niemals zu tadeln.“

„Ich werde leider so lange Ihre Nähe meiden müssen, verehrteste Frau, bis Ihre Tochter mir nicht mehr grollt. Darf ich hoffen, daß Sie mich nicht vergessen, daß Sie mir die Zuneigung bewahren, die mich in Ihrem Hause so wohlthuend berührte? Darf ich hoffen – –“ Er war in der Stimmung, ihr schon jetzt ein Liebesgeständniß zu machen, allein er besann sich rechtzeitig, daß ein allzurasches Enthüllen seiner Absichten die erfahrene Frau stutzig machen könnte. Er brach daher mit einem Seufzer ab und küßte die wohlgepflegte Hand Rositas.

Diese sah ihn mit blitzenden Augen an und erwiderte lächelnd: „Ihre Frage war völlig überflüssig. Sie wissen recht gut, daß man Ihnen nicht zürnen kann und daß man Sie auch niemals vergißt. Auf Wiedersehen!“

Und der Graf Guido verließ die Villa mit dem erhebenden Bewußtsein, daß er ein widriges Geschäft glatt abgewickelt habe und diesmal seinen Gläubigern in Wahrheit versprechen könne, seine Schulden würden vor Ablauf eines Jahres getilgt werden.

*      *      *

Frau Rosita stand auf der Schwelle des japanischen Zimmers, bis die Schritte des Grafen auf der Treppe verhallten, dann lachte sie stolz auf und rief: „Er ist mein, der kluge Graf ist mein! Frau Rosita, Gräfin von Trachberg – wie das klingt! Doch still, da kommt Bettina! Nun, ich bin gerade in der Laune, um diesem Prinzeßchen den bitteren Trank zu mischen. Laßt uns Licht in die Sache bringen!“

Sie war eben dabei, die Markise aufzuziehen, als Bettina bei ihr eintrat. Das Mädchen hatte den Grafen vom Garten aus eilig das Haus verlassen sehen. Was war geschehen, daß er seine Verlobte nicht aufsuchte? Von innerer Unruhe getrieben, eilte sie zu ihrer Stiefmama und bat sie mit erregten Worten um Aufklärung dieses seltsamen Verhaltens.

Frau Rosita gab sich den Anschein mütterlicher Zärtlichkeit, führte die Tochter zu einem Sitzplatz und träufelte ihr Tropfen für Tropfen den Gifttrank ein. Sie ließ zunächst den Charakter des Grafen im edlen Feuer der Tugend und Ritterlichkeit erstrahlen, bezeichnete seine Geldverlegenheiten als die Folge seines Familiensinns und seiner Großmuth und erklärte ihr dann, wie der edle Mann nach und nach zu der Ueberzeugung gelangt sei, daß er voreilig gehandelt habe und die Verlobung auflösen müsse, weil er sich außer stande sehe, Bettina so glücklich zu machen, wie sie es verdiene.

Das Mädchen war bleich geworden und brachte erst nach längerem inneren Kampfe die Frage über die Lippen. „Also um der Mitgift willen sagt er sich los von mir?“

Diese Frage hatte Rosita erwartet. Indem sie sich jetzt den Anschein zartester Rücksichtnahme für ihr armes verschmähtes Kind gab, bewies sie, daß der Graf bei gewissenhafter Prüfung seiner Gefühle die Ueberzeugung gewonnen habe, sein Antrag sei einer flüchtigen Aufwallung entsprungen. In sanftem Tone führte sie demüthigende Einzelheiten an, um die Wandlung der gräflichen Empfindungen verständlich zu machen, und als sie die Unvermeidlichkeit des Bruches dargethan hatte, schloß sie mit der Aufforderung: „Und nun, mein armes, beklagenswerthes Kind, wirf Dich an dies mitfühlende Herz und weine Dich aus! Thränen erleichtern den Schmerz.“

Aber Bettina verschmähte es, sich an dieses Herz zu flüchten. Mit starr blickenden Augen saß sie am Fenster und regte sich nicht. Ihr Haar leuchtete unter den Strahlen der sinkenden Sonne wie rothes Gold und hob sich seltsam ab von der Marmorblässe ihres Gesichts. Sie besaß zu wenig Lebenserfahrung, um glatt vorgetragene Lügen von der Wahrheit unterscheiden zu können, und doch sagte ihr ein untrügliches Gefühl, daß die Stiefmutter sie hasse, daß der mitleidige Ton erheuchelt sei. Sie erhob sich daher nach einer Weile des Nachsinnens und erklärte in müdem Tone: „Wenn Graf Trachberg nicht den Muth besitzt, offen und männlich mit mir zu sprechen, so wird er vielleicht die Kraft finden, mir zu schreiben, warum er mich aufgiebt.“

Sie setzte sich an den Schreibtisch, nahm eine Karte und schrieb darauf: „Herr Graf, Sie sind frei!   Bettina.“

Schon am folgenden Tage erhielt sie eine ausführliche Antwort des Grafen, worin dieser alle seine Gründe und Bedenken wiederholte. Er versicherte ihr, daß es ihm entsetzlich schwer geworden sei, ihrer Hand zu entsagen, und daß er sie anflehe, ihm Verzeihung zu gewähren.

Das Mädchen zerriß den Brief, dessen gewundene Phrasen sie durchschaute. Lügen, nichts als feige erbärmliche Lügen, der Frühlingstraum ihres Lebens zerstört – wie sollte sie die Oede ihres Daseins verwinden? Wo blieb ihr ein Ort, der ihr eine Zuflucht bot und – Vergessen?

Sie dachte an Mathilde, welche am nächsten Morgen die Reise nach Mexiko antreten wollte. Zu ihr eilte sie hin. Sie fand die Schwester unter Kisten und Koffern; athemlos rief sie ihr schon auf der Schwelle entgegen: „Schwester, nimm mich mit Dir nach Mexiko!“

Mathilde blickte von dem Koffer auf, den sie eben verschlossen hatte, und antwortete mit allen Zeichen des Erstaunens. „Soll das Scherz oder Ernst sein?“

„Heiliger Ernst!“ Und nun erzählte Bettina in fliegender Hast und mit brennender Schamröthe im Gesicht, daß Graf Trachberg sie verschmäht und die Verlobung aufgelöst habe. „Du kannst mich vor Verzweiflung retten, Mathilde. Ich muß fort aus diesem Hause, aus dieser Stadt – ich kann mit der Stiefmutter nicht mehr zusammenleben! Nimm mich mit Dir, Schwester, ich bedarf großer Eindrücke, neuer Gesichtskreise, um über das brennende Gefühl da drinnen weg zu kommen. Ich werde Euch nicht zur Last fallen, kann ich doch die Kosten der Reise und meines Aufenthalts aus eigenen Mitteln bestreiten. Ach, Mathilde, Schwester, sei gütig und nimm mich mit Dir – Du ahnst nicht, wie elend und unglücklich ich mich fühle.“

Schluchzend warf sich das Mädchen der Schwester an die Brust, und heiße Thränen rannen über ihre Wangen. Allein Mathilde gehörte zu den ruhigen gleichmäßigen Naturen, welche sich durch Gefühlsausbrüche nicht überrumpeln und zu keiner Thorheit fortreißen lassen. Während Bettina sich an ihrem Halse satt weinte, sann sie nach, ob deren Absicht mit ihren eigenen Zukunftsplänen in Einklang zu bringen sei, ohne daß dadurch für sie selbst Unbequemlichkeiten entstehen würden. Und als die Weinende endlich ihre Thränen trocknete, wies sie ihr einen Platz auf einem Feldstuhl an, setzte sich ihr gegenüber auf eine Kiste und sagte. Ich begreife, liebe Betty, daß dieser Schlag Dich aus der Fassung gebracht hat. Und ich fühle Deine Vereinsamung mit. Ich wäre gern mit dem Bewußtsein von Dir geschieden, Du seiest in guter Hut. Wenn indessen die finanzielle Lage des Grafen eine so mißliche ist, wie er angiebt – und es liegt kein Grund vor, an seinen Worten zu zweifeln – so mußte er von einer Verbindung mit Dir zurücktreten, und wenn er Dich auch noch so sehr geliebt hätte. Das ist der Fluch unserer Verhältnisse: Offiziere und Beamte, welche kein Vermögen oder gar Schulden besitzen, können nur eine reiche Frau heirathen, oder sie müssen unvermählt bleiben. Wenn Du Deine zerstörten Hoffnungen beweint hast, lieb Schwesterchen, dann wirst Du zu der Einsicht gelangen, daß Dich Graf Trachberg unter den obwaltenden Verhältnissen vor einem Leben voll schwerer Sorgen bewahrt hat. Ein stolzer Name, eine hohe Lebensstellung bedürfen der goldenen Unterlage, sonst bringen sie dem Träger nur Entwürdigung. Die Grafenkrone wird auf dem Kopf eines Bettlers zur Narrenkappe. Darum sei vernünftig, Betty, und gerecht – der Graf trug Dir seine Hand an, weil er Dich liebte und in Dir die reiche Erbin sah; um Dich mit einer Mitgift zu heirathen, die ihn nicht einmal von seinen Schulden entlastet, dazu ist er nicht mehr jung und thöricht genug. Und ganz heimlich sei es gesagt: mein Mann hätte vielleicht an mir ebenso gehandelt wie sein gräflicher Vetter an Dir, wenn er vor unserer Hochzeit gewußt hätte, daß meine Mitgift so lächerlich gering ausfallen würde. Ja, mein Schwesterchen, sieh mich nicht so entsetzt und ungläubig an – ich bin frei von thörichten Einbildungen und kenne die zwingende Gewalt gesellschaftlicher Verhältnisse. Mein Georg ist ein prächtiger Mensch, und ich weiß, daß er mich aufrichtig liebt, allein er besitzt Ehrgeiz und strebt nach einer raschen glänzenden Laufbahn; dazu gehört aber Geld. Daß ich so wenig davon mein nenne, das wird Mißstimmungen auch in die Ehe hineintragen, und ich werde in den ersten Jahren all meine Klugheit aufbieten müssen, um das Band, das ihn an mich bindet, zu einem recht innigen zu machen, um meinem Gatten einflußreiche Freunde zu verschaffen. Aus diesem Grunde, liebe Betty, geht es nicht an, daß Du uns sofort begleitest. – Zürne mir nicht, mein Herz, und laß auch den Kopf nicht [44] hängen! Georg und ich wagen den Sprung ins Dunkle; wir gehen in ein fernes Land, kommen in fremde Verhältnisse, da müssen wir beide Hände frei haben und dürfen uns keine anderen Verpflichtungen auferlegen als die, welche das Amt bedingt. Haben wir uns erst drüben zurecht gefunden, haben wir unser Haus behaglich eingerichtet und uns einen Gesellschaftskreis gebildet, dann wirst Du uns allem Vermuthen nach sehr willkommen sein.“

Bettina war bei Mathildens scharfsinnigen Auseinandersetzungen immer gebrochener in sich zusammengesunken. Lange saß sie stumm und hoffnungslos auf ihrem Stühlchen, dann erhob sie sich mit der tonlosen Entgegnung. „Ich sehe ein, daß Du sehr vernünftig bist und daß ich hier zurückbleiben muß. Ich will mir Mühe geben, Deine klugen Gründe nach Verdienst zu würdigen.“

Mit Verzweiflung im Herzen kehrte sie in ihr Zimmer zurück; dort warf sie sich aufs Sofa und rief, in Thränen ausbrechend. „Ich suchte der Schwester Herz und fand nur schnöde Berechnung. O, nun verstehe ich Dich, theurer Toter, verstehe Deine Sehnsucht nach der stillen großen Welt der Natur. Wer mir den Weg zeigen könnte zur Flucht aus dieser Enge, dieser Lüge!“

Der Abschied der Schwestern am anderen Tage war ein recht kühler. Die praktische Frau von Voßleben hatte Bettina noch soviele Aufträge zu geben und wichtige Besorgungen einzuschärfen, daß ihr zu sentimentalen Anwandlungen keine Zeit blieb. Erst als sie Bettina zum Abschied küßte, fiel ihr deren verschlossene Haltung auf und sie bemerkte flüchtig: „Du siehst merkwürdig blaß aus, Betty. Nach den gesellschaftlichen Anstrengungen des Winters und den schmerzlichen Erregungen der letzten Wochen mußt Du etwas thun, um Dich wieder aufzufrischen. Nun, Du wirst ja mit der Mama Baden-Baden besuchen. Geh’ dort recht viel spazieren, mein Herz. Und jetzt lebt alle wohl!“

Es waren mit Bettina und Frau Rosita zahlreiche Freunde und Verwandte auf dem Bahnhof erschienen, um dem jungen Ehepaar Lebewohl zu sagen. Man brachte für Mathilde Blumen und kleine Andenken und tauschte mit ihr und Herrn von Voßleben die wärmsten Freundschaftsversicherungen aus. Nur Bettina stand abseits und blickte dem Zug, als er aus dem Bahnhof hinausrollte, mit trockenen Augen nach. Keine Trauer empfand sie, nur das Gefühl unendlicher erdrückender Leere. – –

In den nächsten Tagen fand der Umzug von der Villa in den ersten Stock eines neuen, vornehm eingerichteten Miethshauses statt. Das bot für Frau Rosita die willkommenste Zerstreuung. Auch Bettina nahm an den Arbeiten regen Antheil; beim Ausräumen der Zimmer, die ihr Vater bewohnt hatte, erschien ihr jedes Stück, das seine Hand berührt, wie ein heiliges Vermächtniß. Mit Sorgfalt forschte sie im Bücherschrank und in den Schubfächern des Schreibtisches nach hinterlassenen Papieren. Eines Tages fand sie ein unscheinbares verstaubtes Buch, dessen vergilbte Blätter eng beschrieben waren. Auf der ersten Seite stand in großen Buchstaben. „Mein Tagebuch“, darunter in kleiner Schrift: „Begonnen an Bord der ‚Schwalbe‘.“

Bettina zitterte vor Erregung. Ihr war es, als habe sie einen Schatz entdeckt, den sie vor neidischen Blicken schützen müsse. Hastig hüllte sie das Buch in eine Zeitung ein und verschloß es in ihren Schreibtisch. Sie konnte es nicht erwarten, sich in die geliebten Blätter zu versenken. Doch erst, als die Einrichtung von Frau Rositas neuer Wohnung annähernd vollzogen war und sie in derselben ein kleines, aber nett eingerichtetes Zimmer erhalten hatte, fand sie dazu Gelegenheit. – Eines Abends nahm sie ihren Schatz hervor und las bis um Mitternacht die Aufzeichnungen des Vaters. Diese umfaßten die Erlebnisse eines Jahrzehnts und reichten von seiner ersten großen Seereise bis zur Uebersiedlung von den Fidschi-Inseln nach Montevideo. Der junge Wesdonk war „mit tausend Masten“ in die Welt hinausgefahren, die Seele erfüllt vom Geiste Rousseaus. Mit der Phantasie des Dichters schilderte er das Meer, jene Inseln im Stillen Ocean, auf denen er seine schönsten Lebensjahre in Arbeit und Frieden verbrachte. Worte voll tiefen Glückes widmete er seiner ersten Frau, die er dort als die Tochter eines deutschen Kaufmanns gefunden und nach mannigfachen Schwierigkeiten heimgeführt hatte. Er verglich das Dasein, das er an ihrer Seite genoß, den Freuden von Paul und Virginie. Und aus allem leuchtete immer wieder das Entzücken an der schönen, tropischen Natur hervor, sein warmes Mitgefühl für die Eingeborenen des Landes. Nicht ohne tiefe Rührung konnte Bettina die letzten Blätter lesen, auf denen der Vater erzählte, wie schwer ihm und seiner Frau der Abschied von den Inselbewohnern geworden sei und wie viele Klagen und Scheidegrüße ihnen gefolgt seien. Das Tagebuch schloß mit einigen flüchtigen Bemerkungen, aus denen zu erkennen war, daß Wesdonk in der südamerikanischen Handelsstadt wohl die Absicht gehabt, die Aufzeichnung seiner Erlebnisse fortzusetzen, daß ihn jedoch die Fluth der Geschäfte abgelenkt hatte.

Als Bettina das Buch aus den Händen legte, glühten ihre Wangen und ihre Augen glänzten wie die einer Fieberkranken. Jetzt erst verstand sie die letzten Reden ihres Vaters ganz. Süße heilige Gefühle durchwogten ihr Inneres. Wie auf Geisterschwingen fühlte sie sich über Zeit und Meere weggetragen zu jener Inselwelt, die ihren Eltern zum Paradies geworden war. Sie hatte stundenlang mit den Theuren in der gleichen Welt geweilt, hatte den Hauch ihres Glückes verspürt, und jetzt, da sie das Tagebuch wieder sorgfältig verwahrte, sagte sie sich mit schwärmerischem Gefühl: „Ich werde nicht mehr allein sein. Dies Buch – es führt mich zu Euch zurück, die Ihr mich geliebt und gesegnet habt. O, daß ich auch ein solches Eiland fände wie Ihr, eine Stätte, die noch unberührt ist vom vergiftenden Hauche der Kultur!“




5.

Berlin schmachtete unter der Gluth der Julisonne, und die aus den Straßen und Alleen aufwirbelnden Staubwolken hatten die Laubmassen des Thiergartens grau gefärbt. Mit dem matten Aussehen der Bäume stand die Stimmung jener Stadtbewohner im Einklang, die in der schwülen Luft ausharren mußten. Auch Frau Rosita gehörte zu denen, welche die Millionenstadt an der Spree noch nicht mit einem Badeort vertauschen konnten. Sie befand sich in einem ärgerlichen Zwiespalt, und dieser Zustand wirkte derart auf ihre Nerven, daß sie Bettina ihre schlechte Laune empfinden ließ. Im Frühjahr hatte sie die Absicht gehegt, mit der Stieftochter die heiße Jahreszeit in Baden-Baden zu verbringen, wo sie darauf rechnen konnte, einen größeren Bekanntenkreis zu finden. Unterdessen war sie dem Grafen Trachberg begegnet, der ihr zu verstehen gab, daß er seinen Urlaub gern in ihrer Nähe verleben werde, falls sie allein reise. Die verständige Witwe begriff nach den Andeutungen des Grafen. daß sie zwischen seiner und Bettinas Gesellschaft zu wählen habe. Ohne Schwanken entschloß sie sich für den Gegenstand ihrer Hoffnung und mühte sich nun vergeblich mit der Frage ab: wie schaffe ich mir auf gute Art die Stieftochter vom Halse?

Die Hilfe sollte ihr von einer Seite kommen, von der sie es nicht erwartete. Bettina selbst war infolge der Lieblosigkeit und steten Bevormundung von seiten ihrer Stiefmutter zu dem Entschluß gekommen, Berlin nach einer andern Richtung zu verlassen als diese. Nur war sie noch unsicher, wie sie ihren Plan ausführen könne.

Eines Tages machte sie einen Besuch bei Lisa Horst, deren Mutter seit Jahren tot war. Sie fand die Freundin in großer Erregung und das ganze Haus in Unordnung. „Wir reisen,“ rief ihr Lisa entgegen, „und die ganze Last des Einpackens, die ganze Sorge für die Geschwister ruht auf mir. Wirthschafterin und Magd bleiben hier. Ach, ich wünschte, Du könntest uns begleiten, Betty!“

„Wohin geht Ihr?“

„An die Ostseeküste. Papa hat sich einen ganz einsamen Fleck Erde ausgesucht, ein Lotsendorf, das von Badegästen fast gar nicht und von Touristen noch weniger besucht wird. Er bedarf zur Kräftigung seiner Nerven nicht nur der Seeluft, sondern auch der Ruhe und Stille des Landlebens. Na, das wird schön langweilig werden! O, Betty, wenn Du der Freundschaft ein Opfer bringen, wenn Du auf Baden-Baden verzichten und mit uns ins Land der Flundern ziehen wolltest, das wäre groß, edel, erhaben – – aber freilich, alles in der Welt hat eine Grenze, und keine Menschenseele wird den Muth haben, sich freiwillig monatelang auf eine Sandbank zu setzen.“

Um Bettinas Mund irrte ein leises Lächeln. „Diesen Muth hätte ich schon, Lisa, wenn mich Dein Papa nur mitnehmen wollte.“

[45] Die Tochter des Sanitätsraths stand einen Augenblick ganz starr vor Ueberraschung da; in der nächsten Minute aber rannte sie wie toll in das Arbeitszimmer ihres Vaters mit dem Alarmruf. „Sie geht mit uns! Sie opfert sich! Sie begleitet uns!“

Horst erschien gleich darauf mit seiner aufgeregten Tochter im Salon, um Bettina zu fragen, ob sie ernstlich gewillt sei, mit an die See zu gehen. Bettina erwiderte, daß sie ihrem Vormund sehr dankbar sein würde, wenn er sie mitnehmen wollte.

„Von Herzen gern,“ antwortete dieser, „allein das Lotsendorf, wohin wir gehen, ist der einsamste Ort der ganzen Küste.“

„Ich bedarf der Einsamkeit.“

„Aber wird Ihre Mama Sie freigeben, liebe Bettina?“

„Im Nothfall sprichst Du ein Machtwort, Papa. Wozu bist Du denn Vormund?“

Der Arzt lächelte über den Eifer seiner entschlossenen Tochter und meinte, Bettina solle erst bitten, und fruchte das nichts, so wolle er am Abend bei Frau Rosita vorsprechen und sie umzustimmen suchen.

Bettina versprach, Botschaft zu senden, und verließ in großer Erregung das Haus. Die Aussicht, mit der Freundin an der See leben zu können, erschien ihr so verlockend, daß sie hätte aufjubeln mögen. Nur die Furcht vor einem Nein der Stiefmutter dämpfte ihre Freude; trotzdem beschloß sie, die Sache gleich zur Entscheidung zu bringen. Bei den ersten Worten hatte Frau Rosita die Bittstellerin mit einem finsteren Blicke gemessen, dann aber, als sie erkannte, um was es sich handle, athmete sie plötzlich auf, ihre Augen leuchteten, ihr Gesicht verklärte sich. Als die Sprecherin zu Ende war, nahm sie wieder eine Leidensmiene an und antwortete im Tone der Klage. „Du weißt, mein liebes Kind, wie gern ich jeden Deiner Wünsche erfülle, soweit dies in meiner Macht steht. Ich werde Deine Gegenwart in Baden schmerzlich vermissen, allein ich begreife vollkommen, daß Du die Gesellschaft einer munteren Jugendfreundin der einer einsamen Witwe vorziehst. Außerdem glaube ich, daß die Seeluft Deine blassen Wangen rascher röthen wird als die des Schwarzwalds. So sage ich denn ‚ja‘ – geh’, mein Kind, und rüste Dich zur Abfahrt! Die Vorkehrungen für die Sicherheit unserer Wohnung treffe ich allein.“

Bettina war gerührt von dieser selbstlosen Willfährigkeit, und als Rosita sie am nächsten Morgen zum Bahnhof brachte, ihr dort eine Purpurrose ins Knopfloch des Mantels steckte und sie der Fürsorge Horsts mit mütterlicher Zärtlichkeit empfahl, wurde das Mädchen irre und warf sich das Unrecht vor, am Herzen dieser Frau gezweifelt zu haben. „Sie mag nervös und launenhaft sein,“ sagte sie sich, „aber sicher liebt sie Dich und ist keine Heuchlerin.^

Frau Rosita blieb auf dem Bahnsteig stehen und winkte den Scheidenden Abschiedsgrüße zu, bis der Zug ihren Blicken entschwunden war, dann aber wandte sie sich rasch mit einem Ausruf der Erleichterung zum Gehen. Am Abend desselben Tages fuhr sie strahlend vor Heiterkeit und freudiger Erwartung dem fernen Baden zu, und als die letzten Häuser Berlins hinter ihr lagen, murmelte sie vor sich hin: „Gott sei Dank, nun bin ich frei! Meine Geduld war nahezu erschöpft!“

*      *      *

Zur selben Zeit hatten die Horsts und Bettina bereits die Küste erreicht und befanden sich seit zwei Stunden an Bord eines kleinen Dampfers, der in flottem Lauf über ein weites Haff hinfuhr. Noch war das offene Meer nicht in Sicht, und Bettinas Auge schweifte über Wiesenflächen und weidende Heerden, über Dörfer und Kirchthürme bis zu blauen, bewaldeten Höben hin; doch schon verspürte sie den frischen Hauch des Meeres, und ihre Brust hob sich erleichterter, ihre Seele wurde freier.

Die Reisenden hatten im Schatten des Leinwanddaches ein recht schmackhaftes Gericht aus der Schiffsküche verzehrt, und als sie beim Kaffee angelangt waren, bat ein Herr um die Erlaubniß, mit seiner Gattin die noch vorhandenen freien Plätze in der Tafelrunde einnehmen zu dürfen. Während das Ehepaar sich niederließ und dem Kellner einen Auftrag gab, erkannten die Freundinnen in dem Fremden einen Schauspieler Namens Ludmiller, den sie im vergangenen Winter als Hamlet bewundert hatten. Zu ihrer Ueberraschung entpuppte sich der Tragöde als ein munterer Plauderer, der sich durch ein Taschenspielerkunststück einführte. Als ihm der Kellner ein etwas klein gerathenes Beefsteak vorsetzte, betrachtete er es von allen Seiten, schüttelte trübe den Kopf und wandte sich an den zwölfjährigen Fredi Horst mit der Bemerkung: „Sie werden dem Wirth nachher bezeugen, junger [46] Herr, daß dies Stück Fleisch zur Sättigung eines Hungrigen nicht ausreichte und daß ich genöthigt war, als Nachtisch Messer und Gabel zu verschlucken.“

Hierauf verspeiste er das Beefsteak, dann nahm er feierlich die Gabel und ließ sie vor Fredis Augen im Schlund verschwinden. Der Knabe war starr und stumm vor Verwunderung. Ludmiller aber zögerte nicht, der Gabel das blanke Messer folgen zu lassen, dann wischte er sich mit der Miene höchster Befriedigung den Mund und sagte zu dem fassungslosen Fredi. „Sollten Sie, junger Herr, jemals gleich mir genöthigt sein, Ihren Hunger mit solch geschmacklosem Futter zu stillen, so rathe ich Ihnen dringend, eine Tasse Kaffee mit Cognac darauf zu setzen, denn diese Dinge sind nicht leicht verdaulich. – Kellner, zwei Tassen Mokka mit Cognac!“

Dieses Kunststückchen bildete die Einleitung zur gegenseitigen Vorstellung und allgemeinen Unterhaltung der Reisegefährten. Lisa konnte dabei die neckische Bemerkung nicht unterdrücken, sie habe Herrn Ludmiller zuletzt als Hamlet gesehen und damals nicht geahnt, daß der finstere Dänenprinz auch Messer verschlucken könne.

„Sie werden sich vielleicht noch erinnern, mein Fräulein, daß dieser Prinz seinem Freund Horatio versichert, es gebe mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lasse. Nun, solch ein Ding, das zwischen Himmel und Erde herumflattert und die landläufige Schulweisheit in Verwunderung setzt, mag wohl meine Seele sein. In mir regte sich schon früh das Komodiantenblut, ich entlief der Zucht meines Vaters, und da ich beim Theater, für das ich schwärmte, keine Gegenliebe fand, weil ich noch gar zu jung und unscheinbar aussah, so begann ich meine Laufbahn als Clown im Cirkus. Heute aber, da auf diesem ehrwürdigen Haupte der üppige Lockenwald langsam sich lichtet, vollzieht sich in meinem Innern ein wunderlicher, täglich sich erneuernder Kampf, der brauseköpfige, lärmende Clown der Jugendzeit will dem rheumatischen, den Weltfreuden entsagenden und der Altersversorgung beim Hoftheater zustrebenden Charakterspieler nicht das Feld räumen. Die beiden Gegner führen in meinem Innern ein verzweifeltes Ringen aus und darum erscheint mein Betragen oft wunderlich. Ich schwanke zwischen den entgegengesetztesten Stimmungen und bin wie ein verliebtes Mädchen bald ‚himmelhoch jauchzend‘, bald ‚zum Tode betrübt‘.“

Ludmiller hatte diese Erklärung mit erstaunlicher Zungenfertigkeit hervorgesprudelt, nun holte er tief Athem und erkundigte sich nach dem Reiseziel der Horsts. Als man ihm Massow nannte, rief er mit der Miene des Entsetzens seiner Frau zu: „Ludmilla, man ruiniert uns!“

Die Angeredete, eine nicht eben schön, aber klug und thatkräftig aussehende Frau, hatte der überschäumenden Natur ihres Gatten so oft einen Dämpfer aufzusetzen, daß ihre Sprache, nicht recht im Einklang mit ihren energischen Zügen, sich an einen sanften Klang gewöhnt hatte. „Du solltest die Erklärung voraufschicken, lieber Karl,“ sagte die kleine Frau, „daß Deine Worte nicht ernst zu nehmen sind.“

„Nicht ernst? Wo die Verzweiflung aus mir spricht? – Kennen Sie Massow, mein Herr?“

Horst entgegnete kopfschüttelnd, daß ihn nur die Schilderung eines Freundes bewogen habe, den Ort aufzusuchen.

„Nun, dann können Sie freilich nicht ahnen, wie sehr Sie uns berauben,“ fuhr Ludmiller in klagendem Tone fort. „Ich habe im vorigen Jahre Massow besucht und die Bäume jenes Wäldchens gezählt, das die Nordseite des Vorgebirges, des sogenannten ‚Höwts‘, bedeckt. Die Halbinsel, auf der das Lotsendorf liegt, besitzt rund hundertzwanzig Buchen und hundertzwanzig Föhren. Da sich nun bisher in jedem Sommer durchschnittlich zwölf Badegäste in Massow niederließen, so kamen auf jeden Gast zwanzig Schattenbäume. Dies auskömmliche Verhältniß aber wird schrecklich verändert, sobald die Zahl der Badegäste steigt. Ludmilla, uns bleiben nur fünfzehn Bäume, und was vielleicht noch schlimmer ist, uns steht eine Hausse der Flundern und Heringe bevor!“

Das Gelächter der kleinen Reisegesellschaft verstummte, als der Kapitän mit der Bemerkung herzutrat, daß ein von Massow kommendes Segelboot in Sicht sei.

Es war ein starkgebautes Boot, das auf ein Flaggenzeichen des Dampfers herbeigesegelt kam, um die für Kassow bestimmten Fahrgäste und Gepäckstücke mitzunehmen. Ludmiller sprang zuerst in das schwanke Fahrzeug, um den die Schiffstreppe herabsteigenden Damen behilflich zu sein. Allein er überzeugte sich schon beim Empfang seiner Gattin, daß die beiden breitschultrig und breitbeinig im Boot stehenden Lotsen fester standen und fester zugriffen als eine „Landratte“, und so begnügte er sich damit, die Damen zu den Bänken zu geleiten.

Als der Sanitätsrath mit seinen drei Kindern und Bettina neben den Ludmillers Platz genommen hatte, fragte der alte graubärtige Lotse am Steuer nach weiteren Passagieren für Massow.

Ein junger schüchtern aussehender Mensch, der während der Fahrt Lisa und Bettina unablässig mit schmachtenden Blicken angestarrt hatte, rief jetzt hinunter. „Pischel, ist noch Platz?“

Der Mann am Steuer nickte.

„Dann nehmt mich mit. Ich werde über den schmalen Hals zu Fuß nach der Pfarrei gehen.“

Die Lotsen brummten etwas in den Bart, was nicht gerade sehr ermunternd klang, allein sie nahmen auch diesen Reisenden ins Boot und wiesen ihm seinen Platz zwischen den Koffern an. Als der Dampfer den Kurs änderte und mit voller Kraft nordwärts steuerte, setzten die Lotsen ihr Segel um und richteten den Kiel gen Osten. Nach kurzer Zeit gewann das Fahrzeug die offene See und frischer Wind blähte sein Segel, sodaß es in flottem Laufe durch die Wellen schoß. Während Lisa lachend ihre Schwester Lotte umfaßte und beim Anschlagen und Aufspritzen der Wogen einen leisen Angstschrei ausstieß, erhob sich Bettina von der Bank, lehnte sich gegen den Mast und schaute auf die zackigen hohen Küstenränder. Im Licht der Abendsonne flimmerten fernab die Dünen, dann wurden einige glührothe Backsteinhäuschen sichtbar und eine weite grüngoldige Wiesenfläche. „Das ist Massow,“ sagte Ludmiller, „hier gründen wir unsere Ferienkolonie.“

Bettina fühlte bei dieser Nachricht ihr Herz schwellen. Das kleine Stück Land hob sich wie eine Insel aus dem weiten wogenden Meere. Den schmalen langen Dünenstreifen, der es mit der Küste verband, sah man nicht; dem Kenner der Landschaft verrieth er sich durch eine silberne Linie über den grünlich blauen Wogen – die Brandung.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 3, S. 69–78

[69] Das also war Massow! Dort wohnten die wetterharten Gestalten, welche das Boot lenkten! Bettina betrachtete sie mit regem Antheil. Es waren Männer mit tiefgebräunten bärtigen Gesichtern, ihre Züge waren so hart wie ihre Hände, und sie sprachen nur, wenn sie gefragt wurden; aber sie antworteten mit jener achtungsvollen Freundlichkeit, welche erkennen ließ, daß ihnen der Besuch von Badegästen willkommen sei. Der Mann am Steuer, der Oberlotse Pischel, gehörte zu den „seebefahrensten“ Leuten [70] der ganzen Küste und wußte mit Fremden umzugehen. Kurz vor der Landung rieth er dem Sanitätsrath, der sich nach den Miethswohnungen des Ortes erkundigte, im Schulhause vorzusprechen.

Das Fahrzeug schoß durch die Brandung und saß plötzlich mit einem so starken Ruck auf dem Sande, daß der schüchterne junge Mann zwischen die Koffer fiel. Die Bootsleute sprangen mit ihren hohen Wasserstiefeln in die seichte Fluth und trugen die Reisenden über die Spritzwellen zum Ufer hin. Dort verabschiedete sich der Fremde mit einer so gedrückten Miene, daß Ludmiller fragte, wer denn der Arme sei. Man gab ihm zur Antwort: der jüngere Sohn des Pfarrers von Großküstrow. Er sei Theologe und im Staatsexamen dnrchgefallen und könne sich auf einen unliebsamen Empfang seitens des gestrengen Herrn Vaters gefaßt machen.

Die Lotsen führten die Reisenden vom Weststrand, vorüber am Gasthaus und einigen Bauernhöfen, bis zum Fuß des Höwts, wo dicht am Rande des Wäldchens das Schulhaus lag. Dort fanden die Horsts drei passende Stuben im obern Stockwerk, von denen sie Bettina das Balkonzimmer einräumten. Lisa schlief mit ihrer jüngeren Schwester und der Sanitätsrath mit Fredi in einem Raum. Der Lehrer, welcher mit seiner Frau und einem kleinen Kinde im Erdgeschoß hauste, war eifrig bemüht, den Gästen sein Haus behaglich zu machen; er ließ die Koffer herbeischaffen, welche Lisa und Bettina rasch auspackten, und sorgte für ein einfaches Abendbrot, das in der Hollunderlaube des sorgsam bepflanzten und von Obstbäumen beschatteten Gartens verzehrt wurde.

Horst fühlte sich von der Reise erschöpft und ging mit Fredi früh zur Ruhe. Lotte, welche eine glückliche Veranlagung zum Hausmütterchen besaß, half der Lehrersfrau in der Küche. Bettina und Lisa aber verspürten den Drang, noch zum Vorgebirge hinaufzusteigen und einen Blick über das weite mondbeglänzte Meer zu werfen. Hinter dem Schulhaus führte ein Pfad zwischen Aehrenfeldern und hohen Buchen zur Höhe hinauf. Barhaupt schritten die Freundinnen in der Abenddämmerung über den schmalen Rain einem Häuschen entgegen, das die Spitze des breiten sattelförmigen Berges krönte. Es war das Lotsenhaus oder, wie es von den Bewohnern der Halbinsel genannt wurde, der „Utkiek“. Von diesem Punkte aus beobachtete der wachthabende Lotse alle Erscheinungen des Meeres und gab den Kameraden im Dorf Glockenzeichen, sobald ein Schiff in Sicht kam, das durch die Bucht nach der fernen Hafenstadt geführt werden mußte. Als die Freundinnen die Höhe erreichten, saß ein Wachtmann vor der Bank des Häuschens und blickte durchs Fernrohr nach einem der Küste zusteuernden Vollschiff. Sobald er die beiden Mädchen gewahr wurde, lud er sie durch eine Handbewegung ein, auf der Bank Platz zu nehmen, während er selbst sich erhob und zu einer tiefer stehenden Buche schritt; von einem starken Ast des Baumes hing die Signalglocke herab, welche er jetzt in Bewegung setzte.

Die Mädchen, durch den raschen Aufstieg etwas außer Athem gekommen, ließen sich auf der Bank nieder und genossen den Rundblick über Land und Meer. Das Höwt fiel nach Osten hin steil zur See ab; in zwei Gipfeln stieg es empor. Dem „Utkiek“ gegenüber erhob sich gen Süden eine etwas tieferliegende, mit Buschwerk überwachsene zweite Kuppe, an deren Fuß einige angepflockte Schafe und Ziegen weideten. Die Nordseite des Vorgebirges senkte sich flach zur Düne hinab und war von dichtem Buchenwald bedeckt. In einer Ausbuchtung zwischen Wald und Düne lag eine Fischerflotte vor Anker; die Männer hatten am Strand Feuer entzündet, deren Rauchwolkchen langsam zu den Strandfelsen aufschwebten. Ueber Bettina kam das Gefühl des Friedens. Die Abenddämmerung, das leise Rauschen der Brandung, welches sich mit dem der Buchen mischte, der Anblick der rastenden Fischer, die sich in der Bucht geborgen fühlten, das alles wirkte beruhigend auf ihre Nerven und löste ihren Schmerz in Wehmuth auf.

„Sieh doch, Lisa,“ sagte sie und legte den Arm um die Freundin, „wie schön und friedvoll dies einsame Land ist! Hier empfindet man den beglückenden Einfluß der allgütigen Natur. Ich bin gewiß: Menschen, die der Hauch des Meeres so unmittelbar trifft wie hier, die sich täglich an der Schönheit dieses Blickes, an der Größe und Erhabenheit des Meeres erbauen, müssen sich unendlich freier und besser fühlen als wir, die von Mauern umschlossenen Bewohner der großen Städte. Hier möchte ich mein ganzes Leben verbringen, dies ist die ‚von der Vergessenheit Reiher‘ überrauschte Insel.“

Lisa schaute die schwärmerische Freundin überrascht an, dann erwiderte sie mit einer schalkhaften Bewegung des Kopfes. „Ja, liebes Herz, hier könnte ich’s zur Noth auch aushalten, aber nicht allein. Dieses Eden müßte einen Adam haben.“

„Um seiner selbst willen geliebt zu werden, ist ein Glück, das nur wenigen Frauen zufällt,“ antwortete Bettina mit Bitterkeit.

Lisa lachte verschämt. „Nun, so gehöre ich zu den wenigen, denn Garcia Diaz liebt mich wahrlich nicht um meines Vermögens willen.“

„Wie?“ rief Bettina überrascht. „Der Spanier liebt Dich? Jener Cellist, mit dem Du den Fandango im Festspiel getanzt hast?“

„Ja,“ gestand Lisa, „dieser Tanz hat unser Geschick entschieden. Garcia liebt mich heiß und leidenschaftlich, ich aber wage es nicht, mich dem Vater zu entdecken ... Ich muß Dir ein Geständniß machen, Betty – er kommt hierher.“

„Wer? Diaz?“

„Ja. Doch still, da ist der Lotse wieder!“ Lisa brach ab und richtete an den Seemann die Frage, ob es gestattet sei, das Innere des Wächterhäuschens zu sehen. Der freundliche Mann bejahte und führte seine Gäste in die halbdunkle Stube. Er entzündete eine Zinnlampe, bei deren mattem Scheine die Mädchen einen riesigen Kachelofen, einen Tisch, auf dem eine abgegriffene Bibel lag, eine breite Bank und einen Schrank bemerkten. Der letztere war mit seltenen Muscheln, Steinen und allerlei fremdartigen Gegenständen gefüllt. Der Lotse zeigte zuvorkommend diese Schätze und erzählte, daß die Pfeilspitzen, die seltsam gefärbten Thongefäße, Korallenschnüre und geschnitzten Kokosnußschalen Andenken seien, welche er und seine Kameraden aus fernen Zonen mitgebracht hätten; dabei gab er zu jedem Gegenstand eine kurze Erläuterung. Unter den Stiftern der Erinnerungszeichen kehrte der Name Ewald Monk am häufigsten wieder, und als Lisa verwundert ausrief: „Dieser Monk muß ja alle Welttheile gesehen haben!“ erwiderte der Alte lächelnd: „Ja, Monks Ewald ist ein höllisch fixer Kerl. Er ist der jüngste Lotse am Ort, hat aber mehr Fahrten gemacht und mehr erlebt als wir alle.“ –

Schweigend kehrten die Mädchen zurück. Als Bettina sich endlich zur Ruhe legte, war es ihr, als wenn in matten Zwielichtfarben noch einmal alle heiteren Erscheinungen des Tages an ihr vorüberglitten: die schönen Gelände des Haffs, das Boot mit dem fliegenden Segel, das im Purpurlicht der Abendsonne erglühende Fischerdorf und die köstliche Mondnacht. Durch die geöffnete Balkonthüre drang süßer Rosenduft ins Zimmer und umgaukelte ihre Sinne. Entschlummernd sah sie den Vater vor sich, der küßte sie im Traume und sagte leise: „Zu diesem Asyl hab’ ich Dich geführt, Bettina; hier bist Du geborgen!“




6.

Sie waren thatsächlich gut aufgehoben im Schulhaus – die stadtmüden Gäste. Bettina, Lisa und Lotte theilten sich in die Wirthschaftssorgen, und die Herstellung der Mahlzeiten gewährte ihnen die angenehmste Beschäftigung. Die Horsts hatten reiche Vorräthe aus Berlin mitgebracht, und da Flundern und andere Fische im Dorfe in Fülle zu haben waren, so konnten die Mädchen den Fleischer wohl entbehren, der nur zweimal in der Woche mit seiner Ware vom Festlande herüberkam. Lisa kaufte zudem alle jungen Hühner auf, die im Massow zu finden waren, und nahm sie in eigene Pflege. Die bewegliche Schar bereitete ihr manche drollige Verlegenheit. Die Hühner wurden in der Scheune untergebracht, Lisa aber hatte den Freiheitsdrang ihrer Schlachtopfer nicht in Betracht gezogen. Nun kam es vor, daß das Federvieh durch das geöffnete Thor entwischte und sich in die nahegelegenen Felder verstreute. In solchen Fällen wartete Lisa die Schulpause ab und rief die Jungen zur Hilfe auf: „Wer mir ein Hühnchen zurückbringt, erhält fünf Pfennig!“ Auf diese Verheißung hin stoben die Kinder nach allen Seiten auseinander. Wenige Minuten später befanden sich die gackernden Ausreißer sammt und sonders wieder in Gewahrsam.

In Massow bestand keine Badeverwaltung, doch der Gastwirth des Orts hatte am östlichen und westlichen Theil des Strandes [71] für den weiblichen und männlichen Theil der Gesellschaft je eine geräumige Badehütte aufgestellt. Die Mädchen standen in der Regel früh am Morgen auf und badeten vor dem Frühstück. Der Anblick der sonnüberstrahlten Meerfluth und der erfrischende Morgenwind riefen dann all ihre Lebensgeister wach. Bettina war eine ausgezeichnete Schwimmerin, deren Ausdauer kaum eine Grenze hatte; war das Meer nicht allzu stürmisch bewegt, so schwamm sie so weit aus der Bucht, daß die Gefährtinnen sie aus den Augen verloren; kam sie zurück, so zeigte sie keine Spur von Erschöpfung. Nach dem Bad kehrten die Mädchen über den Wiesenpfad zum Schulhause zurück, bereiteten rasch den Kaffee und frühstückten gemeinsam mit dem Sanitätsrath und Fredi im thaufrischen duftigen Garten.

Gewöhnlich fanden sich die Horsts und Ludmillers dann während der Morgenstunden zwischen den Buchen- und Fichtenwäldchen in einer Thalmulde zusammen, die sie als die „Wolfsschlucht“ bezeichneten. Hier lagerten sie sich im Schatten der Buchen auf dem Rasen, plauderten und lasen oder vergnügten sich am Croquetspiel. Am Nachmittag unternahm man weite Fahrten im Segelboot nach verschiedenen Küstenpunkten oder man ging über den schmalen Hals ins nahe Pfarrdorf, wo sich ein gutes Wirthshaus mit Kegelbahn befand.

Wiederholt war den Mädchen bei solchen Gängen ein Landhaus an der Südseite aufgefallen, das sich mit seinem breiten Schieferdach aus einem heckenumschlossenen Obstgarten heraushob. Zuweilen hatten sie helle Kinderstimmen hinter dem grünen Gehege vernommen, hie und da begegnete ihnen auch ein stattlicher Herr mit strengen Zügen, an dessen Seite eine rundliche neugierig blickende Dame einherschritt. Der Schullehrer, den sie ausforschten, erklärte den Mädchen, dies seien die Respektspersonen von Massow, nämlich der Lotsenkommandant und seine Gattin.

Ein Zufall sollte bald darauf den Horsts das Landhaus erschließen. Eines Morgens trat der Lotsenkommandant mit dem Lehrer an der Seite vor die Hollunderlaube, in welcher der Sanitätsrath mit seinen Angehörigen eben das Frühstück verzehrte. Mit allen Zeichen der Bestürzung erklärte er, daß ganz plötzlich eines seiner Kinder heftig erkrankt sei. Gelegentlich habe er gehört, daß sich ein Arzt im Schulhause befinde, und so sei er gekommen, den Herrnt Sanitätsrath recht sehr um seine Hilfe zu bitten. Er könne sich zwar denken, daß Badegäste Massow nicht aufsuchten, um Berufspflichten zu erfüllen, allein der nächste Arzt wohne zwei Stunden entfernt, und es handle sich um die Rettung eines Menschenlebens.

Horst hatte sich unterdessen schon erhoben und erwiderte freundlich: „Es bedarf unter uns keiner Bitte, Herr Kommandant, denn wir gehören beide zur ‚Rettungsgesellschaft für Schiffbrüchige‘. Hoffentlich gelingt es mir, das Lebensschiff ihres Kindes wieder flott zu machen und nun lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren!“

Es war dem tüchtigen Arzte wirklich gelungen, das Kind, welches am Scharlachfieber schwer erkrankt war, in kurzer Zeit jeder Gefahr zu entrücken. Nach der Genesung des Bübchens machten die dankbaren Eltern ihren Besuch im Schulhaus und luden dessen Gäste dringend ein, sich in ihrem Heim einzustellen.

Als die Mädchen in Papa Horsts Begleitung dieser Aufforderung Folge leisteten, fanden sie eine größere Gesellschaft im Garten vor. Der Lotsenkommandant hatte den Besuch seiner Schwiegereltern und seines Schwagers, eines jungen Offiziers, erhalten; außerdem hatte sich der Pfarrer von Groß-Küstrow mit seinem Sohn, jenem schüchternen Reisegefährten, eingefunden. Der Hausherr eilte den Ankommenden mit unverhohlener Freude entgegen und stellte seine neuen Gäste vor; dabei reckte sich Lieutenant Ellernbruck gewaltig in die Höhe, als wollte er vor den Augen der jungen Damen in den Himmel wachsen. Seinen blonden Schnurrbart zwirbelnd, ließ er prüfend seine Blicke über Bettina, Lisa und Lotte gleiten und sagte sich in Gedanken: Da haben wir drei Grazien! Nummer eins: verträumtes Wesen, rothe Haare, vornehme Haltung – sucht ein Ideal, kann ich nicht leisten. Nummer zwei: pikantes Gesicht, Schelmenaugen, munteres Wesen, also vernünftiges Mädchen, mit dem sich spaßen läßt. Nummer drei: grethchenhafter Backfisch, naiv und voller Einbildungen – also Zukunftsmusik. Kriegsplan: Vorpostengefecht mit Nummer zwei. Ist kein Terrain zu gewinnen, so werf’ ich mich auf Nummer drei. Vorwärts denn „Lisette^ soll die Losung sein. Und mit Hochgefühl wandte er sich an Lisa. „Hätte ich eine Ahnung gehabt, meine Gnädigste, daß sich unser Höwt über Nacht in den Berg Ida verwandeln würde, so wär’ ich früher um Urlaub eingekommen.“

„In den Berg Ida?“ Lisa blickte zur Höhe hinauf, wo eben einige Schafe blökten und sagte mit Schelmenmiene: „Ich sehe die Schafe, vermisse jedoch den Schäferprinzen.“

„Thut nichts – die Göttinnen wenigstens sind da, gnädiges Fräulein, und wenn ich in dieser Schönheitskonkurrenz den goldenen Apfel zu vergeben hätte ...“

„Aber, Herr Lieutenant,“ unterbrach ihn Lisa spottend, „es hieße der Gerechtigkeit ins Gesicht schlagen, wollten Sie nach so kurzer Bekanntschaft bereits Ihr Urtheil fällen. Auch können Sie versichert sein, daß wir drei keine anderen Aepfel auf dieser Insel suchen als – eßbare.“

Sie wandte sich dem im Schatten eines breitästigen Apfelbaums aufgestellten Kaffeetisch zu, und der Lieutenant sagte sich: Kurzer Angriff ... abgeblitzt ... werde nach dem Kaffeeklatsch Spielchen vorschlagen.

Die kleine Gesellschaft unterhielt sich jedoch in dem schattigen Gartenwinkel so vortrefflich, daß des Lieutenants Vorschlag, eine Croquetpartie zu machen, keinen Anklang fand. Man plauderte über die Tagesereignisse und das gesellschaftliche Leben der Hauptstadt. Zu Bettinas Verwunderung legten der Pfarrer und die Gattin des Lotsenkommandanten eine schwer zu stillende Begierde an den Tag, Neuigkeiten vom Hofe und aus der großen Welt zu erfahren. Sie schienen die Städter nicht wenig zu beneiden, daß diese inmitten rauschender Vergnügungen lebten, von denen sie selbst nur aus der Ferne hörten. Als die Damen später einen Gang durch den blühenden Garten unternahmen, sagte Bettina zur Hausfrau: „Sie leben in einem kleinen Paradies – wie glücklich müssen Sie sein!“

Diese schaute die Sprecherin überrascht an und fragte verwundert: „Sprechen Sie im Ernst? Nennen Sie mich glücklich um dieses Gartens willen, der eine Oase bildet in der Wüste?“

„Sie können für sich allein leben und sind frei ...“

Die Frau des Lotsenkommandanten lachte. „Das Alleinleben ist recht schön für den Uebersättigten, nur darf es nicht zu lange dauern. Während des Sommers finde ich den Aufenthalt auf der Halbinsel ganz erträglich, da haben wir auch viel Besuch, im Winter aber – Sie haben keine Ahnung, wie schauerlich es da wird! Mein Mann hat wenigstens seine Berufsthätigkeit, und diese führt ihn von Zeit zu Zeit nach der nahegelegenen Hafenstadt, ich jedoch sitze mit den Kindern im Schnee und schmachte nach geselligem Verkehr, nach den Vergnügungen, die meine Mädchenjahre so schön und ereignißreich gemacht haben und die ich seit meiner Verheirathung schmerzlich entbehren muß. Mein Mann und ich werden den Tag segnen, an dem unsere Versetzung nach einer Stadt erfolgt. Hoffentlich geschieht’s bald – sonst laufe ich noch davon.“

Bettina erblickte in diesen überraschenden Aeußerungen nicht viel mehr als die Merkmale eines leichtfertigen Charakters. War es denn möglich, daß diese Frau das unaussprechliche Glück, hier in der Einsamkeit ganz dem Gatten und den Kindern leben zu können, um elender Nichtigkeiten willen opfern wollte? Freilich mochte jene die große Welt noch nicht so klein und erbärmlich gesehen haben wie sie selbst, es mochten ihr so bittere trübe Erfahrungen erspart geblieben sein. Allein trotz dieser Entschuldigungen fühlte sie sich von der Frau eher abgestoßen als angezogen.

Spät am Abend erst verließen die Horsts das Landhaus, und der Lotsenkommandant sagte seinen Gästen beim Abschied: „Betrachten Sie mein Haus als das Ihrige, Sie werden mir stets willkommen sein!“

Die neue Bekanntschaft trug viel dazu bei, den Sommergästen den Aufenthalt in Massow angenehm zu machen. Wollten sie segeln, so stand ihnen des Kommandanten Boot zur Verfügung, bedurften sie der Zerstreuung, so stellten der kecke Lieutenant und der schüchterne Theologe sich rechtzeitig ein – kurz, man hatte allen Grund, mit der Gestaltung der Dinge zufrieden zu sein.


*      *      *

In der Bucht vor Massow war ein Kriegsgeschwader vor Anker gegangen, das von den dänischen Küsten herabkam, und dessen Befehlshaber hier einige Uebungen vorzunehmen gedachte. Der Anblick der schwarzen Kanonenboote und zweier Fregatten brachte [72] die Einwohner des Dorfes in große Erregung. Fischer- und Lotsenboote umschwärmten am Abend die eisengepanzerten Kolosse. Nur der Sanitätsrath bekümmerte sich nicht mehr um die Flotte, als daß er die mürrische Bemerkung hören ließ. „Hoffentlich treibt der Kommandant keinen Mißbrauch mit den Kanonen. Jeder Schießversuch käme einem Angriff auf meine Nerven gleich.“

Lisa und Bettina stiegen gegen Abend zum Höwt hinauf, um einen Blick auf das Geschwader zu werfen. Es hatte während des Tages etwas gestürmt, jetzt war die Luft ruhiger geworden, aber die Brandung rauschte und zerflatterndes Gewölk ging über den Himmel hin. So oft die Sonne hinter den Wolkengebilden hervorbrach, leuchteten die schäumenden Wogen und waldigen Küsten unter ihren Strahlen auf. „Welch’ herrlicher Anblick!“ rief Bettina auf der Höhe aus. „Hier erst finde ich mich selbst, finde eine neue Welt, die immer die wahre ist!“

„Hoia ho! Gu’n Tag ooch, Pischel!“

„Gu’n Tag, Ewald. All’ wedder taurück?“

Die Begrüßung, welche so jäh in die überschwengliche Stimmung Bettinas fiel, wurde zwischen zwei Lotsen ausgetauscht, von denen der ältere, Pischel, den Mädchen bekannt, der jüngere dagegen fremd war. Dieser unterschied sich wesentlich von seinen Kameraden durch die leichte aufrechte Haltung, den freien Gang und die äußere Erscheinung, durch den Vollbart und sein kurzgestutztes dunkles Haar. Auch war er nicht mit den landesüblichen weiten Hoseb und der kurzen Jacke, sondern nach Art der englischen Matrosen bekleidet. Er mochte etwa fünfunddreißig Jahre zählen, doch war sein dichtes Haar schon von weißen Fäden durchzogen. Er ließ sich neben dem Oberlotsen auf der Bank nieder, und die Mädchen hörten aus der Unterhaltung der beiden Männer, daß der Jüngere mit dem Kriegsgeschwader eine längere Fahrt gemacht und nun zum „Utkiek“ heraufgekommen sei, um mit Pischel eine gemeinsame Feldarbeit zu verabreden. Lisa, welche gern Aufschluß über die Beschaffenheit der einzelnen Kriegsschiffe erhalten hätte, wandte sich, als das Gespräch der beiden stockte, an Pischel.

Doch der verwies sie an den Fremden mit der Bemerkung: „Hier mein Freund Ewald Monk kann Ihre Fragen besser beantworten als ich, denn er ist jahrelang auf einem Kriegsschiff gefahren und eben wieder mit dem Geschwader draußen gewesen.“

Und Monk grüßte die Mädchen mit einer artigen weltmännischen Verbeugung, nannte ihnen die Namen der Kriegsschiffe, belehrte sie uber deren Ausrüstung und innere Einrichtung und machte sie darauf aufmerksam, daß am nächsten Morgen vom Höwt aus ein vollkommenes Kriegsschauspiel zu beobachten sein werde. Die Uebung beginne schon in aller Frühe.

Die Freundinnen dankten ihm für die Auskunft, und Bettina fühlte sich von der einfachen und natürlichen Sprache des Lotsen, von seiner ruhigen männlichen Haltung sehr angenehm berührt. Sie betrachtete ihn aufmerksamer und hatte die wohlthuende Empfindung, einem grundehrlichen Menschen gegenüber zu stehen. Monk war der jüngste Lotse am Orte und der hübscheste. Seine mittelgroße Gestalt war gedrungen und breit, aber nicht plnmp; sein von Sonne und Wetter gebräuntes Gesicht hatte etwas Starres, unbewegliches, allein aus seiner breiten Stirn und seinen scharfblickenden grauen Augen schloß Bettina auf Willenskraft und natürlichen Verstand. Sie erinnerte sich, daß die meisten der Seltenheiten im Lotsenhaus von ihm herrührten, und während sie sich mit Lisa auf der Bank niederließ, brachte sie das Gespräch auf seine weiten Fahrten.

Der Seemann schob den Strohhut in den Nacken, fuhr sich mit der braunen Hand über die Stirn, als wolle er seine Gedanken sammeln, und sagte dann mit einem Anflug von Verlegenheit: „Ja, wer wie ich seit seinem vierzehnten Jahre draußen gewesen ist und alle Meere befahren hat, der kann mancherlei erzählen. Es liegt ein abenteuerliches Leben hinter mir. Ich war mit den Walfischfängern droben auf Island und befand mich in einem Boot, das ein Wal zertrümmerte, als wir ihm die Harpune in den Rücken gepflanzt hatten; fünf Kameraden gingen zu Grunde, ich aber wurde aus dem blutigen Gischt wieder herausgezogen. Ich bin als Schiffbrüchiger tagelang ohne Trunk, ohne Nahrung auf einem Mast im Meere herumgetrieben und war dem Wahnsinn nahe, als endlich ein vorübersegelndes Schiff mich bemerkte und anfnahm. Das Meer mit seinem Reiz und seinen wilden Schrecken – es ist mir vertraut geworden.“

Bettina betrachtete den Mann mit steigender Verwunderung, er hatte das alles so schlicht gesagt, als rede er vom Gewöhnlichsten, und doch, welch’ tiefe Eindrücke mußte ein solches Leben hinterlassen haben! Der Held so vieler Abenteuer zog sie mächtig an, sie hätte gern tiefere Blicke in sein Inneres gethan und betrachtete forschend seine Züge, allein dort stand nur eherne Entschlossenheit zu lesen.

Als die Mädchen endlich aufbrachen, begleitete sie der Lotse bis zum Schulhaus und verabschiedete sich dort mit der Bemerkung: „Wenn die Herrschaften Lust haben sollten, nach der Uebung eines der Schiffe zu besichtigen, so bin ich gern bereit, Sie mit dem Segelboot hinzufahren.“

Die Mädchen blickten ihm nach, wie er durch die Weizenbreiten zum östlichen Strande schritt. Ein purpurner Duft lag über den Hügeln der Küste, und die Wasserfläche vor Groß-Küstrow schillerte in allen Farben. Es schien Bettina, als webe das rothe Abendlicht einen Glorienschein um den einfachen Seemann, der so manchen wilden Kampf mit den Elementen bestanden, der den ganzen Erdball umkreist hatte. An diesem Abend nahm eine tränmerische poetische Stimmung sie ganz in ihren Bann. Sie glaubte die zirpenden Heimchen zu verstehen, deren Konzert von den Wiesen herauftönte: „Bleib’ bei uns“, riefen sie, „hier ist Deine Heimath!“ – –

Am nächsten Morgen waren Land und Meer voll Sonnenglanz. Eine Kanonade, die an fernen Donner gemahnte, hatte die Mädchen aus dem Schlaf geweckt. Ohne an die häuslichen Pflichten zu denken, kleideten sie sich hastig an und eilten zum Vorgebirge, um die Bewegungen des Geschwaders zu beobachten. Als sie mit gerötheten Wangen und völlig athemlos anlangten, fanden sie schon die Ludmillers auf dem „Utkiek“.

„Meine Herrschaften!“ rief der Schauspieler im Tone des Herolds. „Sie haben das unverdiente Glück, von dieser Höhe aus einer Entscheidungsschlacht von eben so großer geschichtlicher Bedeutung wie die der Völkerschlacht bei Leipzig beizuwohnen. Dies Glück erfährt noch dadurch eine gewaltige Steigerung, daß Sie das denkwürdige Schauspiel genießen, ohne durch Pulverdampf oder platzende Bomben belästigt zu werden. Sehen Sie, es geht los. Himmel, wie das kracht! So mögen bei Trafalgar Himmel und Erde gebebt haben, als Nelson – –“

Er unterbrach sich plötzlich, brachte sein Opernglas vor die Augen und fuhr, in natürlichen Ton zurückfallend, fort: „Kinder, die Sache ist wirklich großartig! Mit welch’ erschreckender Schnelligkeit sich diese schwarzen ungethüme bewegen, wie tief sie die Fluth durchwühlen und welche Sprache sie reden! Ihr Götter des Olymps, laßt mich als Lear nur einmal solche Donnerworte reden! O, wie wollt’ ich Euch niederschmettern, Ihr Entarteten!“ – Von seinem Feuer hingerissen, wandte sich der Schauspieler Bettina und Lisa zu und rief, in der Rolle des seine undankbaren Töchter verfluchenden Lear, mit höchstem Pathos:

„O, laßt nicht Weiberwaffen, Wassertropfen,
Beflecken meine Manneswange! – Nein,
Ihr Hexren, so will ich an Euch mich rächen,
Daß alle Welt –, will solche Dinge thun –
Was, weiß ich selbst noch nicht, doch schaudern soll
Die Erde drob ...“

Lisa lachte hell auf und unterbrach den phantasievollen Künstler mit den Worten: „Bevor ich Eurer Majestät das Recht zugestehe, mich am frühen Morgen als Hexe zu verwünschen, bitte ich mir die Hälfte Eures Reiches aus.“

„Die führe ich nicht bei mir, wohl aber kann ich mit einem Gläschen Cognac aufwarten; sollte diese Herzstärkung den Damen einen Ersatz für halb Britannien gewähren, so bitte ich zuzugreifen.“ – Er entnahm seiner Rocktasche eine Jagdflasche und ein Gläschen, allein die Mädchen lehnten die Gabe ab. Als Ludmiller sich nach einem anderen Abnehmer umsah, kamen gerade Pischel und Monk über die Höhe.

Die beiden Lotsen hatten Korn gemäht und schritten in Hemdärmeln mit der Sense auf der Schulter, über das Höwt. Als Ludmiller ihnen einen Trunk anbot, traten sie lachend herzu. Die Arbeit hatte ihre gebrannten Wangen geröthet, Monks Augen glänzten und seine Zähne blitzten weiß unter dem dunklen Schnurrbart hervor. Im Glanz und Duft des sonnigen Morgens erschien er Bettina frischer und jugendlicher als am Abend vorher. Ludmiller zog die beiden Männer ins Gespräch, und diese erklärten die Bewegung der den Feind markierenden Fregatte, welche auch Segel eingesetzt hatte und jetzt majestätisch am linken Flügel des Geschwaders vorüberrauschte. Der Morgenwind blähte die [74] Segel, daß sie in runden anmuthigen Linien hervorsprangen und sich wie hundert Schwanenflügel über das stolze Fahrzeug bauschten.

„O, wie viel schöner ist doch ein reich aufgetakeltes Segelschiff als diese flachen, nüchternen und schwarzen Kanonenboote,“ rief Bettina aus. „Wäre ich ein Seemann, ich würde niemals auf einem Dampfer fahren, die Schiffsmaschine zerstört die Poesie des Meeres.“ Ihr Blick fiel auf Monk und sie fragte ihn, welche Art von Fahrzeug er vorziehe.

„Das Segelschiff natürlich. Der Dampfer setzt den Matrosen herunter, da ist der Kaschinist die wichtige Person.“

„Und des Katrosen Beruf ist edler, menschenwürdiger," fuhr Bettina mit Wärme fort. „Der Seemann ringt noch mit Wind und Fluth, der Maschinist gebietet lässig einer zum Sklaven herabgewürdigten Naturkraft. Wie muß es doch den Muth stählen, den Stolz aufrichten, wenn ein Mensch mit den Stürmen kämpft und Sieger bleibt! Wär’ ich ein Mann, dann wüßte ich meinen Beruf: ich ginge zur See.“

„Ei,“ sagte Ludmiller scherzend, „Ihr Schicksat läßt sich korrigieren. Heirathen Sie einen Seemann und begleiten Sie diesen auf seinen Fahrten!“

Lisa, welche auf die Uhr gesehen hatte, mahnte ihre Begleiter daran, daß es Zeit sei, ans Frühstück zu denken. So brach man auf, und Ludmiller verabredete mit den beiden Lotsen für den Nachmittag eine Fahrt zu den Schiffen.

Der Tag war heiß und schwül geworden, als Lisa, Bettina und die Ludmillers zwischen vier und fünf Uhr mit Ewald Monk und Pischel auf die Reede hinausfuhren; kein Lüftchen regte sich und es mußte anstrengend gerudert werden. Nach halbstündiger Fahrt erreichte das Boot die vor Anker liegenden Kriegsschiffe. Vom Deck eines der nächstliegenden kamen laute Zurufe. Der Lotsenkommandant befand sich mit seiner Frau und Lieutenant Ellernbruck an Bord und lud die Anfahrenden im Namen der Marineoffiziere zur Besichtigung des Schiffes ein.

Man folgte der freundlichen Aufforderung, stieg an Bord und musterte nun die Einrichtungen von der Kommandobrücke an bis zu delt tiefliegenden Vorrathskammern hinab. Auf dem Wege durch die Schiffsräume hatte Ludmiller durch seine heiteren Randglossen zu den Erklärungen der führenden Offiziere die Unterhaltung rasch in Fluß gebracht, und als die Gesellschaft aus dem dunklen Kielraum wieder zum Verdeck hinaufstieg und die Damen sich verabschieden wollten, baten die Offiziere ihre Gäste dringend, noch ein Stündchen zu verweilen. Die Gesellschaft stieg zum hübschen Speisezimmer hinab, wo ein frischer Trunk gereicht wurde. Bald zeigte es sich, daß die Fäden, welche gewisse Schichten der Gesellschaft verknüpfen, überall neue Verbindungen aufweisen. Bettinas Vater war dem Kapitän zur See, dem Befehlshaber des Schiffs, bekannt gewesen, und dieser erzählte, daß er dem Konsul einst im Hause Ludolf Fabbris begegnet sei. Damals habe Wesdonk ein auffallend hübsches Töchterchen mit dunklem Haar zur Seite gehabt.

„Meine Schwester Mathilde,“ bemerkte Bettina.

„Befindet sich dieselbe gleichfalls in Massow?“

„Nein, sie hat sich mit Herrn von Voßleben, einem jungen Diplomaten, verheirathet und ist gegenwärtig in Mexiko.“

„Georg von Voßleben?“ rief ein Lieutenant überrascht aus, und als Bettina nickte, setzte er erfrent hinzu: „Wir sind Schulkameraden.“

Die Unterhaltung gewann nunmehr einen so vertraulichen und heiteren Ton, daß niemand von der Gesellschaft das Hinschwinden der Zeit bemerkte. Mitten in das fröhliche Lachen hinein fiel die Meldung eines der aufwartenden Schiffsjungen, daß der Oberlotse Pischel den Lotsenkommandanten zu sprechen wünsche. Der Alte wurde hereingerufen und berichtete, daß ein schweres Gewitter im Anzuge sei und daß es ihm bei der anbrechenden Dämmerung räthlich erscheine, vor Ausbruch des Unwetters die Rückfahrt anzutreten.

Der Lotsenkommandant sprang auf und erwiderte: „Sie haben recht, Pischel. Wir waren in so angenehmer Gesellschaft und haben uns verplaudert. Also morgen wird mir das Vergnügen zu theil, die Herren bei mir zu sehen!“

Während die Gäste sich in Bewegung setzten, lud er auch die Ludmillers zu einem Glas Bowle für den nächsten Abend in sein Haus und sagte den beiden Mädchen, daß er den Sanitätsrath personlich bitten werde, mit seinen Damen an dem bescheidenen Feste theilzunehmen.

Auf Deck sah Bettina den Lotsen Monk gegen die Galerie gelehnt zu den bleigrauen Wolken aufschauen. Sie machte sich heimlich Vorwürfe darüber, daß sie ihn stundenlang hatte warten lassen. Warum war er überhaupt von ihrer Gesellschaft ausgeschlossen? Warum stand er, der wohl mehr erlebt hatte als all diese elegant gekleideten Herren, gleich einem Diener bei Seite? War er ein schlechterer Seemann als die Offiziere? Gewiß nicht! Was ihn unter sie stellte, war nur ein Mangel an jener Geistesbildung, die sie gering schätzte, und die Zufälligkeit der Geburt.

Die Offiziere wetteiferten in ritterlicher Höflichkeit gegen Bettina, und als ein heftiger Windstoß deren Hut in die Wogen hinaustrug, wollten sie ein Boot niederlassen, um ihn aufzufischen. Ewald Monk aber, der bis dahin bei Seite gestanden war, trat jetzt rasch zur Schiffstreppe und sagte in bestimmtem Tone: „Wir halten Kurs auf den Hut, er soll nicht verloren gehen!“

Die Gesellschaft stieg in die Boote; das des Lotsenkommandanten stieß zuerst ab, dann folgte das von Pischel gesteuerte. Bettina war in stolzer Haltung an den Offizieren vorübergeschritten; als sie auf der letzten Stufe der Schiffstreppe stand, streckte der im schwankenden Fahrzeug stehende Monk die Arme nach ihr aus und trug sie zur vordersten Bank. Ein seltsamer Schauer ging dabei durch ihren Körper, und nur wie im Traume hörte sie die Abschiedsworte der Offiziere.

Als das Boot, dessen Segel Monk hißte und überwachte, an dem riesigen Schiffskörper keine Deckung mehr fand, fielen Wind und Wogen mit betäubender Gewalt über dasselbe her; am südlichen Horizont zerriß von Zeit zu Zeit ein zackiger Blitz die tiefhängenden Dunst- und Wolkenmassen. Lisa wurde unruhig, als das schwache Fahrzeug unter ihr immer heftiger schwankte, sie hielt den Arm Bettinas krampfhaft mit beiden Händen umschlossen, in der Befürchtung, das Boot werde kentern.

Bettina saß ruhig an ihrer Seite, hielt die heißen Wangen dem Sturm entgegen und schaute mit leuchtenden Augen zum drohenden Himmel empor. Auch in ihr rührten die tosenden Wasser, die wild daherbrausenden Winde starke Empfindungen auf, aber es war nicht Furcht, was sie beherrschte. Sie freute sich, den entfesselten Elementen die Stirn bieten zu können, sie trotzte der Gefahr.

„Halt’ luvwärts, Pischel, dort seh’ ich den Hut!“ Bettina schaute sich nach Monk um, der, hinter ihr stehend, seinem Kameraden am Steuer die Worte zugerufen hatte, er deutete dabei auf eine Stelle, wo aus dem Halbdunkel etwas Weißes hervorschimmerte.

Doch Pischel antwortete unmuthig: „Lat den Hut man swimmen, Ewald! Fischen bei dem Flackerwind lohnt nich.“

Ewald aber schrie in rücksichtslosem Ton „Halt’ das Steuer auf den Hut, sonst spring’ ich in See!“

Pischel fluchte, riß aber doch das Steuer scharf herum. Monk legte sich am Bug nieder, und als die Stelle erreicht war, wo das Strohhütchen schwamm, griff er mit der Rechten weit hinaus und erhaschte es. Blitzschnell sprang er dann auf, warf Bettina ihr Eigenthum in den Schoß und griff mit raschem Ruck wieder in das Segel. Es war die höchste Zeit, denn in der nächsten Sekunde traf der Wind das Boot mit stürmischer Gewalt.

Auf Bettina machte die kühne Mannhaftigkeit des Lotsen einen großen Eindruck. Wenn sie diesen einfachen Kann mit dem Grafen Trachberg verglich, erschien er ihr wie ein Held. Fest wie ein der Brandung trotzender Fels stand er neben ihr und hielt das knarrende Seil des Segels in seinen Händen. Ihn ließ die Gefahr unbewegt. Und Bettina fühlte sich so wohl und sicher an seiner Seite, daß der Ausbruch des Gewitters sie völlig berauschte.

Das Boot flog vor dem Winde mit rasender Eile dem Ufer zu. Zwar klatschte von Zeit zu Zeit eine Sturzwelle über die Insassen und durchnäßte sie bis auf die Haut, aber das wurde mit Humor ertragen. Durch die schäumende Brandung hindurch lief das Fahrzeug auf den Strand, wo sich bereits mehrere Lotsen eingefunden hatten, um beim Bergen zu helfen. Diese sprangen den Wogen entgegen und wollten die Frauen ans Land tragen. Monk aber kam allen zuvor. Mit einem Sprung war er im Gischt der Strandwellen, hob Bettina aus dem Boot und trug sie zur Düne.

Ludmiller zahlte in aller Hast das Fahrgeld und sagte dabei zu Monk: „Sie haben um einer verwegenen Galanterie willen unser Leben aufs Spiel gesetzt, Lotse! Wäre ich Ihr Kommandant, ich strafte Sie.“

[75] Monk erwiderte mit einem Blick auf Bettina: „Ich bin gewohnt, mein Wort zu halten.“

Jetzt rissen die Wolken, und heftige Regenschauer zwangen die kleine Gesellschaft zu eiliger Flucht.

„Im Sturmschritt, marsch, marsch!“ kommandierte Ludmiller, und alle liefen der schützenden Behausung zu.




7.

Der Sanitätsrath erhielt am nächsten Morgen die Einladung des Lotsenkommandanten. Bettina hatte die Absicht, daheim zu bleiben, allein da Lisa sich entschieden weigerte, ohne die Freundin zu gehen, und man von allen Seiten auf sie einredete, so wollte sie nicht als Spielverderberin gelten und schloß sich am Abend den Horsts an. Auf dem Wege zum Landhause begegnete ihnen Pischel. Bettina blieb bei dem Alten stehen, und während ihre Begleiter weitergingen, sagte sie: „Ich konnte Ihnen gestern nicht einmal für die Rettung meines Hutes danken. Bitte, nehmen Sie das und trinken Sie mit Ihrem Kameraden Monk ein Glas Wein auf mein Wohl.“ Freundlich lächelnd drückte sie dem Alten ein Geldstück in die schwielige Hand und schritt weiter.

Pischel, der ganz verdutzt dastand, öffnete nach einer Weile die Hand und sah ein Goldstück funkeln. „Zehn Mark!“ rief er überrascht aus. „Ei, das Mamselken is höll’sch nobel!“

Vor dem Schulhaus knüpfte er mit dem Lehrer, der seine Kuh dem Stalle zutrieb, ein Gespräch an und erzählte, daß ihm das „rothhaarige Frölen“ eine Krone als Trinkgeld gegeben habe.

Der Lehrer nickte lächelnd und meinte, Fräulein Wesdonk müsse wohl Geld haben wie Heu, ihr Vater sei Konsul gewesen und auf ihrer Kommode stehe die Photographie einer Villa; als er sie neulich gefragt habe, was das für ein Schloß sei, habe sie ihm geantwortet. „Mein Vaterhaus.“ Nun, dies Vaterhaus sei ein schönerer Besitz als das Schloß der Gräfin von Lindström drüben an der Küste.

Pischel schüttelte verwundert den Kopf und konnte es nicht fassen, daß Menschen einen solchen Besitz verlassen, um in einem Nest wie Massow den Sommer zu verbringen.

„Ja, siehst Du, Pischel,“ belehrte ihn der Schulmeister, „auch der Reiche will einmal eine Abwechslung haben. Wer immer Austern genießt, kriegt plötzlich Heißhunger nach Pellkartoffeln und Hering.“

Um diese Aufklärung und zehn Mark bereichert, trottete der Lotse nach dem Gasthaus, wo er Ewald Monk mit dem Wirthe bei einem Glase Dünnbier vor der Thür sitzen sah. Breitspurig stellte er sich vor die beiden hin und sagte pfiffig lächelnd: „Nu man rut mit dat grugliche Zeug, wat Ihr drinkt! Jahn, bring’ uns mal ’ne Bottel Rotspohn ut den Keller, äwer feinste Marke, wi möten ’nen deipen Trunk dahn.“

Jahn, der Wirth, ließ sich das nicht zweimal sagen. Als Pischel mit dem ihn fragend anstarrenden Ewald allein war, erzählte er seine Begegnung mit Bettina, wies lachend das Goldstück vor und fügte hinzu, was ihm der Lehrer über die Verhältnisse des Mädchens anvertraut hatte. Die Flasche Wein, welche der Wirth feierlich entkorkte, wurde mit Andacht geleert. Während Jahn nun einen längeren Vortrag über das jammerwürdige langsame Verschwinden unverfälschter Rothweine hielt, schaute Ewald stumm auf den rubinrothen, ein feines Aroma ausströmenden Wein, und Wünsche und Gedanken, die sich bei der ersten Begegnung mit Bettina nur schüchtern hervorgewagt hatten, brachten jetzt mit einem Male sein Inneres in Gährung.

Als jungem Menschen war ihm draußen in fernen Welttheilen das Glück bei den Frauen günstig gewesen; in dem einsamen Massow hatten der Dienst und die Sorge um das tägliche Brot seine Abenteuerlust gedämpft, seine hochfliegenden Wünsche und Hoffnungen herabgedrückt. Allmählich machte er sich mit dem Gedanken vertraut, Kathrein, die Tochter seines Nachbars Bräuning, zu heirathen und mit den zwölfhundert Mark und dem kleinen Stück Land, welches diese ihrem Manne als Heirathsgut zubrachte, sich eine eigene Häuslichkeit zu gründen. Bettinas Erscheinen aber wirkte auf ihn wie ein verjüngender Trank. Weitgehende Hoffnungen, heiße Wünsche stiegen wieder in ihm auf, ein Schimmer kühner Jugendträume fiel in seine Seele. Wenn er solch ein Weib gewinnen könnte! Er dachte an den Blick, mit dem sie ihn angesehen hatte, als er im Sturm um ihres Hutes willen ins Wasser zu springen drohte, und ein Gefühl des Sieges überkam ihn. Warum sollte die Tochter des Konsuls nicht den einfachen Lotsen lieben können? Hatte er nicht vordem manches Frauenherz gewonnen? Bettina Wesdonk war Waise, also unabhängig, und konnte frei wählen. Er leerte sein Glas auf einen Zug und sagte sich heimlich: ich wag’s! Dann sprang er auf und griff uach seinem Hut. Er gehörte zu den Strandwächtern der kommenden Nacht und wollte sich nach dem Wachthäuschen begeben.

„Holt an!“ sagte Pischel. „Du kriegst noch Geld rut.“ Jahn gab von den zehn Mark sieben wieder heraus. Ewald schob drei Mark zurück und meinte, sie hätten es versäumt, auf das Wohl der Spenderin zu trinken, das müsse noch geschehen. „Hast recht, Ewald, die möten wi leben laten.“ Bald darauf klangen die frisch gefüllten Gläser wieder zusammen auf das Wohl des „schenerösen Frölen.“

Monk verließ das Gasthaus mit heißem Blut und klopfenden Schläfen. Er fühlte den Muth kühnen Wagens in der Brust, und als er beim Gatter des nächsten Gehöfts die plumpe Gestalt von Kathrein Bräuning bemerkte, die seiner zu warten schien, bog er nach dem Fichtengehölz der Düne aus. „Du magst lange leben und gesund bleiben, aber für einen andern als Ewald Monk,“ murmelte er. „Deine zwölfhundert Mark und Dein Kartoffelacker locken mich nicht mehr, alberne Dirn’!“

Sein Weg führte am Landhaus des Kommandanten vorüber. Musik und Rosenduft drangen über die Schlehdornhecke. Der Lotse hielt an und schaute in den Garten hinein. Das Haus war hell erleuchtet, und die Gesellschaft befand sich im Salon, dessen Fenster weit geöffnet waren. Fast wie ein Erschrecken ging es ihm durch die Nerven, als er Bettina mit weicher Stimme ein Lied singen hörte; traumhaft klangen die Töne zu ihm herüber und umspannen ihn mit einem eigenthümlichen Zauber. Er merkte nicht, daß er noch immer in Gedanken verloren an der Hecke stand, als der Gesang längst verklungen war. Ein Geräusch ließ ihn aufblicken, in der ersten Ueberraschung zuckte er merklich zusammen, denn Bettina, welche frische Luft schöpfen und die Gesellschaft auf ein paar Minuten los sein wollte, war in den Garten hinausgetreten und kam gerade auf ihn zu; offenbar hatte sie ihn bemerkt. Sein erster Gedanke war, rasch weiter zu gehen und eine Begegnung zu vermeiden, im nächsten Augenblick wurde er sich bewußt, wie günstig dieses Zusammentreffen für seine Pläne sei. So blieb er und grüßte Bettina mit achtungsvoller Höflichkeit.

„Sie hier?“ rief diese, „und regungslos wie ein Träumender? Hat denn für Ihren rauhen Beruf der Zauber einer solchen Sommernacht auch noch seine Gewalt?“

„Warum nicht, gnädiges Fräulein? Unser Beruf führt uns auch unter milderen Himmel, als unser heimathlicher ist, in den lachenden Gefilden des Südens geht uns eine lieblichere Welt auf. Und da hab’ ich im Vorbeigehen Ihren Gesang gehört, der hat mich wieder hinausgetragen in jene schöne Ferne.“

Bettiua schaute ihn überrascht an. Welch’ reiches Innenleben mußte dieser kühne Mann besitzen, wenn er einen so sicheren, tiefen Ausdruck dafür fand. „Und zieht es Sie nicht wieder hinaus – zu fremden Ländern?“ fragte sie leise.

Er sann eine Weile nach, dann schüttelte er den Kopf und meinte, in jedem Küstenbewohuer stecke etwas vom Wandertrieb der Zugvögel; früher habe es ihn im Frühjahr stets gepackt. Aber wer weit in der Welt herumgekommen sei, verliere allmählich die Lust, herumzuschweifen, und denke daran, sich ein Nest zu bauen. Alles im Leben habe seine Zeit ...

„Und Sie möchten sich in Massow Ihr Nest bauen?“ Bettinas Stimme bebte.

Ewald schwieg verlegen und riß einige Sprossen von der Hecke ab, dann sagte er mit plötzlicher Entschlossenheit. „Das möcht’ ich wohl – wenn ein Singvogel, wie ich ihn eben gehört, das Nest mit mir theilte.“

Keck und forschend blickte er dabei Bettina an; diese erröthete und schwieg. Plötzlich wurde ihr Name gerufen und durch die Dämmerung bewegten sich mehrere Gestalten.

„Ich muß gehen, aber ich sage – auf Wiedersehen!“

Sie reichte ihm die Hand über die Hecke, und er drückte sie so rauh und kräftig, daß Bettina Schmerz empfand.

„Auf morgen, lüttge Nachtigall!“ sagte er und schritt seines Weges.

Im nächsten Augenblick flog Lisa an den Hals der Freundin und flüsterte ihr glückselig ins Ohr: „Er ist gekommen – Garcia Diaz.“

[76] Richtig, da trat er hinter dem Boskett hervor, der Spanier mit der schlanken Gestalt und dem dunklen Krauskopf: „Ich bin auf einer Touristenfahrt ganz zufällig nach Massow gekommen,“ plauderte der Schelm mit seiner melodisch klingenden Stimme. „Im Gasthaus sagte mir der Wirth – ganz zufällig, Fräulein Wesdonk und der Herr Sanitätsrath seien in diesem Haus. In der Freude meines Herzens laufe ich hierher, glaube, Sie alle wohnen hier. Wie ich in den Salon stürme, errege ich große Verlegenheit; da man aber gastfrei ist in Deutschland, so bittet man mich, zu bleiben, und ich fühle mich schon wie zu Hause. Massow gefällt mir sehr, sehr; ich werde einige Tage verweilen.“ All das sprudelte er in gebrochenem Deutsch mit solcher Komik heraus, daß Bettina lächeln mußte.

Er küßte galant Bettinas Hand und ging mit den Mädchen in den Salon zurück, wo Ludmiller sehr rasch Fühlung mit ihm gewann. Und die beiden Künstler offenbarten eine so glänzende Unterhaltungsgabe, daß die Gesellschaft in heiterster Stimmung fast bis Mitternacht zusammenblieb.

Garcia Diaz begleitete die Horsts zum Schulhaus und wußte es auf dem kurzen Wege dahin so einzurichten, daß er mit Lisa einige Sekunden hinter einem Erlengebüsch zurückbleiben und einen leidenschaftlichen Kuß mit ihr tauschen konnte. „Ich liebe Dich, Lisa, liebe Dich unaussprechlich und werde wahnsinnig, wenn Du nicht bald die Meine wirst.“

„Gedulde Dich bis zu unserer Abreise, Garcia! Mein Vater hat mir noch nie eine Bitte abgeschlagen, sobald ich zur rechten Zeit kam, ich hoffe . .

„Lisa, wo bleibst Du?“ rief der Sanitätsrath, den die auffallende Anhänglichkeit des spanischen Cellisten etwas besorgt machte, und die Liebenden beeilten sich, den Voranschreitenden zu folgen.

In Garcias leichtentzündlichem Herzen wogten die leidenschaftlichen Gefühle noch nach, als die Horsts längst zur Ruhe gegangen waren. Die fröhliche Unterhaltung der Tafelrunde, der feurige Wein und die Hoffnungen, welche Lisa ihm gab, hatten seine Phantasie mächtig erregt. Er konnte sich noch nicht in dem öden Gasthaus zur Ruhe legen und ging am Strand spazieren, wo er in einer Art schwärmerischer Verzückung mit den Gestirnen sprach. Als die vom Meer heraufkriechenden Nebel ihn einzuhüllen begannen, wanderte er an den stillen Gehöften vorüber zum Schulhaus zurück. Er wollte noch einmal das kleine Giebelfenster sehen, welches Lisa ihm als das ihres Zimmers beschrieben hatte. Ob sie schon schlief? Garcia sagte sich, daß das unmöglich sei. Auch sie mußte ja gleich ihm an die Zukunft denken, an die wonnige Zukunft, auch sie würde vor Sehnsucht den Schlaf nicht finden können. Ach, wenn er sie noch einmal sehen, noch einmal sprechen dürfte, und wär’ es auch nur, um ihr gute Nacht zu sagen!

In solchen Gedanken war der Spanier zur Giebelwand des Schulhauses gelangt und bemerkte zu seiner Ueberraschnng, daß eine hohe Eiche ihren Wipfel über das Fenster der Geliebten hinaus bis zum Dachfirst streckte. Die starken Aeste des Baumes reichten bis an die Wand des Hauses, und ihn lockte es plötzlich, hinaufzusteigen und der Geliebten seine Anwesenheit kund zu thun. Er besaß große Gewandtheit in allen Leibesübungen, und es schien ihm ein Leichtes, hinaufzukommen, umsomehr als eine breite Egge, die an der Wand des Hauses lehnte, ihm den Aufstieg bis zum untersten Ast wesentlich erleichtern mußte. Mit keckem Entschluß knöpfte er das jetzt unbequem schwere Jackett, das er vorhin wegen der empfindlichen Nachtkühle angelegt hatte, über der Brust zu, stellte die Egge gegen den Stamm und stieg aufwärts.

Als er sich, um den Ast zu erreichen, auf der Kante der Egge emporhob, gab diese dem Druck des Fußes nach und fiel rückwärts zur Erde, so daß sie ihre Eisenzacken nach oben streckte. Garcia aber hatte den Ast erfaßt, und mit kräftigem Aufschwung gewann er die Höhe. Die vielen Aeste, von denen einige an der Schattenseite des Baumes bereits abgestorben und verdorrt waren, bildeten von da ab bequeme Stützpunkte und Staffeln, und mit spielender Leichtigkeit erreichte er den letzten festen Ast unter dem Gipfel. Als er auf diesem Fuß faßte, hätte er einen Triumphschrei ausstoßeu mögen, denn er sah das Fenster von Lisas Zimmer dicht vor sich. Wie aber sollte er die Geliebte, von deren Wachen er überzeugt war, von seiner Nähe in Kenntniß setzen, ohne deren Schwester Lotte zu wecken? Er beschloß, einen der Zweige abzubrechen und damit leise gegen das Fenster zu klopfen, und er entdeckte auch einen, der lang genug war, über seinem Kopfe. Aber bei dem Bestreben, das zähe Holz abzureißeu, ließ er es an der nöthigen Vorsicht fehlen, und als nun der Zweig plötzlich brach, verlor er den Halt. Vergebens tastete er im Dunkel nach dem Stamm; er schwankte, glitt aus und stürzte mit einem leisen Aufschrei in die Tiefe. In der nächsten Sekunde empfing er einen schmerzhaften Stoß gegen den Rücken, dann hing er wie ein Aufgespießter am Stumpfe eines abgedorrten Astes, der sich zwischen seinen Rücken und das Jackett geschoben hatte.

Als Garcia nach der ersten Betäubung sich über seine Lage klar geworden war, fand er sie zwar immer noch mißlich genug, war aber dem Schicksal dankbar dafür, daß es ihn vorläufig vor dem völligen Absturz bewahrt hatte. Mit einem Blick maß er dann die Entfernung bis zum Boden, sie mochte etwa zwanzig Fuß betragen; ihm kam der Gedanke, die beiden Knöpfe des Jacketts, welche dem Stoß widerstanden hatten – die beiden untern waren abgesprungen – mit den Händen zu lösen und dann zu versuchen, ob es gelinge, aus den Aermeln zu schlüpfen und sich hinunterfallen zu lassen. Er wollte lieber die Gefahr einer Beschädigung wagen, als vielleicht bis zum Morgen am Baume hängen und dann dem Hohn und Spott der Dorfbewohner preisgegeben sein. Zudem machte ihn der Gedanke rasend, daß Lisa durch sein Abenteuer bloßgestellt werden könne. Lieber ein Bein brechen, sagte er sich, als hier hängen bleiben. Eben begann er an dem untersten der beiden Knöpfe zu zerren, da fiel das Mondlicht durchs Laub und ein heller Schein traf die Erde. Ein heftiges Erschrecken lähmte Garcias Hand, denn er sah, daß gerade unter ihm die umgestülpte Egge lag; wenn er vom Baum fiel, so spießten die Stacheln des Ackergeräths seinen Körper auf. Der arme Bursche befand sich in einer gefährlichen Klemme und in seiner Angst rief er die Santissima Madonna und alle Heiligen an. Aber der Himmel sandte keine Hilfe.

Allmählich fingen, da der Blutumlauf gehemmt war, seine Arme an, abzusterben. Als die Schmerzen immer unerträglicher wurden, gerieth der nervöse Spanier in Wuth, verwünschte diese qualvolle, ewigwährende Nacht und erging sich in den kräftigsten Flüchen, welche die spanische Sprache aufzuweisen hat. Als auch sein Fluchvorrath erschöpft war, kam er zu einem verzweifelten Entschluß. Er wollte um Hilfe rufen, selbst auf die Gefahr hin, sein und Lisas Geheimniß entdeckt zu sehen. Vielleicht hörten ihn die Schwestern zuerst und brachten ihm Rettung. So rief er denn Lisas Namen erst halblaut, dann stärker und stärker; allein die Schwestern schliefen beide den tiefen Schlaf des Gerechten, niemand vernahm seine Rufe, nur die Hunde in der Nachbarschaft wurden laut und übertönten mit ihrem wüthenden Gekläff seine Stimme.

Als er endlich heiser und zum Tode ermattet verstummte und langsam in einen Zustand völliger Theilnahmlosigkcit zu versinken begann, wurde am Fuß der Eiche eine rauhe Stimme laut. „Halloh!“ rief ein Mann, der vom Höwt herunterzukommen schien, „sitzt jemand da oben?“ Garcia fuhr auf und antwortete mit dem Aufgebot seiner letzten Kraft: „Jawohl, ein Badegast.“

„Ei zum Daus, wie kommen Sie denn in der Nacht auf des Schulmeisters Eichbaum?“

„Ich – ich wollte Vogeleier suchen,“ stotterte Garcia in so kläglichem Tone, daß der Mauu drunten hell auflachte.

„Vogeleier im August, da sieht man, daß Sie ein Städter sind. Bei uns weiß jeder Bauernjunge, daß die Vögel Mitte August keine Eier haben.“

„O, retten Sie mich, ich leide schrecklich, denn ich hänge seit langer, langer Zeit ganz hilflos an einem Ast.“

„Geduld! Ich hole eine Leiter.“

Der Mann verschwand in der Richtung nach dem Lotsenwachthaus und kam nach zehn Minuten, die Garcia eine Ewigkeit dünkten, mit einer Leiter und einem Seil über dem Rücken zurück.

Bald darauf war der Gefangene erlöst. Sein Retter war Ewald Monk, der beim Verlassen seines Nachtpostens auf dem „Utkiek“ die letzten Nothschreie des zappelnden Spaniers gehört hatte. Es währte lange, bis dieser die Arme wieder bewegen konnte. Als es endlich möglich war, wollte er in dankbarer Aufwallung den Seemann umarmen, der aber faßte ihn bei der Brust und rüttelte ihn so heftig, daß ihm fast der Athem verging: „Wollen Sie mir endlich sagen,“ rief er dabei wüthend, „was Sie da droben zu schaffen hatten?“

Der Spanier begriff die Neugierde seines Retters so wenig wie dessen Entrüstung, hielt es jedoch für gerathen, ein offenes [78] Bekenntniß abzulegen. Als er ihm über seine Person Aufschluß gegeben hatte und gestand, daß er Lisa Horst liebe und mit dieser einen letzten Gruß habe austauschen wollen, ließ ihn Monk los und brummte etwas von Narrheiten in den Bart; als aber Garcia seiner Börse ein Zwanzigmarkstück entnahm und es ihm als „Finderlohn“ überreichte, nahm er es dankbar an und begleitete den Fremden höflich bis zum Gasthaus. –

Als sich der Künstler am Nachmittag, noch immer sehr ermattet durch das nächtliche Abenteuer, in der Wolfsschlucht einfand – man hatte am gestrigen Abend verabredet, sich hier zu treffen – fand er Lisa und Bettina allein im Schatten einer Buche. Auf seine Frage, wie die Damen geschlafen hätten, antwortete Lisa. „Wundervoll. Ach, ich habe so schön geträumt. Ich sah eine zauberhafte Mondnacht, und Sie, Diaz, standen unter einem jener blühenden Kamelienbäume, von denen Sie uns neulich erzählt haben, mit der Mandoline im Arm und brachten mir eine Serenade. Sie sangen mit schmelzender Stimme eine anmuthige Weise – das klang so süß! In Wirklichkeit habe ich Sie nie so bestrickend singen hören.“

Garcia lachte. „In Wirklichkeit habe ich unter Ihrem Fenster gesungen in dieser Nacht, aber ein miserere,“ und er berichtete den aufhorchenden Freundinnen sein Erlebniß und wie er durch den Lotsen Monk aus der schrecklichen Lage befreit worden sei. Lisa schalt ihn um seines Leichtsinns willen, raffte sich aber zu dem Entschluß auf, dem Vater ihre Liebe zu gestehen, damit künftig ähnliche Streiche vermieden würden. Bettina fühlte sich angenehm berührt, daß sich Ewald auch hier wieder männlich und hilfreich gezeigt hatte, und sagte sich, daß sie auf die Verehrung eines solchen Mannes stolz sein könne.

Der Sanitätsrath war an einem der nächsten Tage nicht wenig überrascht, als Diaz mit einer Rosenknospe im Knopfloch seines schwarzen Rockes, mit hellfarbenen Handschuhen und in ungemein feierlicher Haltung sich bei ihm einfand und kurzweg um Lisas Hand anhielt. Der würdige alte Herr war erst sprachlos vor Erstaunen, dann brach er in die Worte aus: „Sie haben mit dem Entdecker des Kaps der guten Hoffnung, dessen Namen Sie tragen, jedenfalls die Kühnheit gemein. Das Leben erfordert etwas mehr als die Fähigkeit, einen Fandango gut zu tanzen und ein Lied zu singen. Worauf wollen Sie denn die Existenz Ihrer Frau gründen?“

„Ich bin gekommen, um Ihnen das zu erklären, verehrter Herr Sanitätsrath.“ – Mit einer graziösen Bewegung entnahm Diaz seiner Brusttasche zwei Schreiben, die er dem Vater Lisas vorlegte. Das erste war der Vertrag mit einem englischen Konzertunternehmer, in dem er versprach, gegen ein Honorar von dreihundert Mark für den Abend in zwölf Konzerten mitzuwirken; das zweite war der Brief eines spanischen Herzogs, aus dessen Inhalt hervorging, daß Diaz sich verpflichtet hatte, während fünf Monaten aus dem bei Barcelona gelegenen Schloß des Granden mit vier anderen Musikern Kammermusik zu spielen, wogegen der Herzog außer den Kosten des Unterhalts und der Reise ihm ein Gehalt von sechshundert Franken für den Monat zusagte.

Horst schob die beiden Schriftstücke zur Seite und meinte, das seien Geleitbriefe für wandernde Spietleute, die nichts als eine sichere Fahrt auf ein Jahr in Aussicht stellten. Was aber dann werden solle? Diaz möge wiederkommen, wenn er sich eine feste Stellung in der Musikwelt erobert habe.

Der junge Künstler ließ sich jedoch nicht so leicht aus der Fassung bringen. Er erklärte, daß der Herzog eine der einflußreichsten Personen am spanischen Hof sei und ihm stets das größte Wohlwollen, ja mehr als das, wahre Freundschaft bewiesen habe; diesem werde es ein Leichtes sein, ihm eine lohnende Stellung als Musiklehrer in Madrid zu verschaffen. Er schilderte das Schloß und die Gärten des Herzogs als ein kleines Paradies und die Herzogin als eine der gütigsten liebenswürdigsten Damen Spaniens, welche Lisa sicher mit Freuden bei sich aufnehmen werde. Für die Zukunft aber brauche er keine Sorge zu tragen, denn er sei der einzige Erbe zweier Tanten, die ihn beide mit wahrhaft mütterlicher Zärtlichkeit liebten. Beweise hierfür könne er durch zahlreiche Briefe erbringen.

Der Vater Lisas sträubte sich trotzdem hartnäckig gegen die Werbung. Die Verschiedenheit der Nationalität und der Erziehung erweckte in ihm schwere Bedenken, ob ein glückliches Zusammenleben der Liebenden möglich sei. Vergebens eilte die ängstlich harrende Lisa herbei und bot ihre ganze Beredsamkeit auf, ihr Vater blieb unerbittlich. Da fiel ihr als letzter Ausweg Bettina ein. Sie eilte hinaus und erschien kaum eine Minute später mit der Freundin, welche im voraus über die Werbung verständigt worden war. Was dem leidenschaftlichen Ansturm der Liebenden nicht gelungen war, das gelang den ruhigen Gründen Bettinas. Sie wußte durch die Vorstellung, daß Lisa ja auch dann und viel sicherer unglücklich werde, wenn ihre heißen Wünsche nicht erfüllt würden, den gutherzigen Vater umzustimmen. Schweren Herzens sagte er endlich Ja – Lisa war stets sein Liebling gewesen, und der Gedanke, daß die Tochter, deren sonnige Heiterkeit ihn seit Jahren erwärmt und erquickt hatte, mit einem fremden Manne in die weite Welt ziehen wolle, einem unsicheren Geschick entgegen, schmerzte ihn tief. So konnte ihn nur die Hoffnung trösten, daß Diaz nach einem Jahre zurückkehren und sich vielleicht in Deutschland einen Wirkungskreis schaffen könne.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 4, S. 101–110

[101] Der Sommer ging zu Ende. Bettina sah mit Wehmuth die schönen Tage schwinden und fühlte immer mehr, wie theuer ihr der einsame Fleck Erde geworden war. Fast täglich unternahm sie mit den Verlobten und Ludmiller weite Segelfahrten, und gewöhnlich saß Ewald Monk am Steuer ihres Bootes. Der Lotse erwies sich so gefällig gegen die Badegäste und wußte so trefflich über Land und Leute Auskunft zu geben, daß man ihn auch bei Spaziergängen an der Küste zum Führer wählte. So kam es, daß sich von Tag zu Tag ein herzlicherer Verkehr zwischen ihm und Bettina herausbildete. Ihr dünkte es köstlich, mit ihm zu wandern, er plauderte dann von seinen Fahrten, und sie hörte ihm mit Vergnügen zu. Monk aber fühlte sich an ihrer Seite stolz und glücklich. Es lag für ihn ein Reiz in ihrer Erscheinung, in ihrem stillen sinnigen Wesen, der ihn seine ruhige berechnende Art hier und da ganz vergessen ließ. Sie besaß einen scharfen Blick für alles Schöne, und während sie Feld und Wald durchstreiften, entdeckte sie buntfarbige Blätter, Blumen und Herbstgräser, die sie zusammenlas und kunstvoll zum Strauße band. Er folgte dann jeder ihrer anmuthigen Bewegungen mit den Augen und empfand die Schönheit ihrer Formen, den Reiz ihrer Bewegungen, den Glanz ihrer blauen Augen, ohne sich Rechenschaft über den Eindruck zu geben, den sie auf ihn übte. Und er bewunderte auch ihre stille Kühnheit. Sie wagte sich im Boot bei jedem Wetter aufs Meer, und niemals hatte er einen Angstruf aus ihrem Munde gehört. So war es kein Wunder, daß er an die herannahende Abreise der Badegäste mit Schrecken dachte und sich immer wieder mit der Frage abquälte: wie kann ich sie halten?

Als Ludmiller eines Tages ein geräumiges Boot für die Fahrt nach dem Dampfer bestellte, erschrak Ewald so heftig, daß er die Frage: „Zur Abreise?“ nur mit Anstrengung über die Lippen brachte.

„Ja mein Bester,“ entgegnete dieser. „Am 10. September muß ich wieder in Berlin sein.“

„Und die Horsts und Fräulein Wesdonk?“

„Wir reisen alle zusammen. Wollen Sie auch für unser Gepäck Sorge tragen?“

Ewald nickte und ging, um mit Pischel das Nähere zu verabreden; ihm schien plötzlich sein stolzer Glückstraum für immer zu zerrinnen.

Kurz vor Sonnenuntergang kam die ganze Badegesellschaft aufs Höwt, sie wollte sich noch einmal am Anblick des Meeres weiden. Und dieses zeigte im röthlichen Sonnenglanz einen Farbenzauber, der die jungen Mädchen entzückte. Ewald Monk stand stumm und traurig bei der Thür des Wachthauses und hörte den Lauten der Bewunderung zu. Als die kleine Gesellschaft die Höhe endlich verlassen wollte, trat Horst auf den Lotsen zu, um sich von ihm zu verabschieden; der aber sagte, daß er in jedem Falle am nächsten Morgen die Gäste zum Dampfer führen werde. Er schritt mit ihnen zur Wolfsschlucht [102] hinab, und da es sich hier unter den Bäumen traf, daß Bettina hinter den übrigen zurückblieb, um einen mit rothen Beeren geschmückten Zweig zu pflücken, so sagte er in gepreßtem Tone zu ihr: „Wenn es Ihnen bei uns gefallen hat, Fräulein Wesdonk, sollten Sie doch wiederkommen!“

Sie schlug langsam die Augen zu ihm auf. Es war ein seltsamer Glanz darin, als sie erwiderte: „Das werd’ ich auch, und zwar im nächsten Sommer schon.“

„Ist das ein Wort, auf das man bauen kann?“

„Ja, mein Freund.“

Sie reichte ihm die Hand und über sein Gesicht ging ein glückliches Lächeln. „Das freut mich, freut mich wirklich,“ sagte er, kräftig ihre Hand schüttelnd. „Ich wollt’, Sie blieben dann für immer ... Was wir sind, wir Massower, sehen Sie, mein liebes Fräulein, wir würden alles mögliche thun, um Ihnen den Aufenthalt hier angenehm zu machen und ich ganz besonders ...“ Er rang einen Augenblick nach Athem, dann fuhr er kühner fort: „Mir wird der Winter hier recht lang werden, es fehlt mir ’was, das mir lieb geworden ist ... Sehen Sie, liebes Fräulein, ich weiß nicht recht, ob ich das so sagen darf, ich bin nur ein Lotse, aber – ich hab’ Sie lieb, und das darf man wohl immer sagen, selbst wenn es mit der Liebe geht wie mit den Sonnenstrahlen, die nicht durch die Wolkenbank können. Sie stehen für mich jenseit der Wolkenbank und es mag für ein vornehmes Fräulein gleichgültig, ganz gleichgültig sein, was in unserm armseligen Dorf brennt und sich verzehrt. Doch das ist gewiß – wenn der Tag kommen sollte, wo Sie einen Mann brauchen, der sein Blut für Sie giebt, dann rufen Sie den Ewald Monk!“

Bettina hatte indessen nach dem Wipfel einer Buche geblickt, der vom letzten Strahl der Sonne getroffen wurde. Jetzt wandte sie sich zu dem Sprecher, dessen Gesicht sich geröthet hatte, dessen graue Augen wärmer blickten als je zuvor. Ewald erschien ihr als die Verkörperung der Ehrlichkeit und Treue, und es machte sie stolz, in der Brust dieses braven Burschen das heilige Feuer der Liebe entzündet zu haben. Aber noch besaß sie Besonnenheit genug, um sich von der eigenen Wallung des Bluts nicht fortreißen zu lassen.

„Sie haben mir Ihre Ergebenheit bewiesen,“ erwiderte sie. „Es macht mich glücklich, einen so aufrichtigen Freund zu besitzen, einen Freund, lieber Monk! Im nächsten Jahre – wenn ich wiederkehre – will ich sehen, ob Sie dann noch immer treu zu mir halten.“

„Ich bin wie ein Schiff, das bloß einen Kurs steuert. Und Sie, Fräulein Wesdonk, werden Sie gerne zurückdenken?“

Sie errothete bei der Frage und schickte sich an, zu gehen. Nach einigen Schritten erst hielt sie an, und da er mit gesenktem Kopf und düsterem Blick dastand, nickte sie freundlich und sagte:

„Ja, die Erinnerung wird mir lieb sein.“




8.

Die Abreise der Sommergäste erhielt durch den Kommandanten ein festliches Gepräge. Dieser hatte das Boot bekränzen lassen und begleitete die Freunde mit seinem eigenen Fahrzeug bis zum Dampfer. Pischel und die Lehrersfrau hatten die letzten Blüthen der Gärten gepflückt, um den Damen kleine Sträußchen zu verehren; die Lotsen trugen ihren Sonntagsanzug. Auch der Gastwirth, bei dem die Abfahrenden manchen Abend verbracht und manche Flasche geleert hatten, kam zum Landungsplatz, um Lebewohl zu sagen und die Herrschaften zu bitten, sein Haus „bestens zu rekommandieren“.

Ewald Monk, der an diesem Morgen das Boot steuerte, verwandte kaum den Blick von Bettina, die einige tiefrothe Georginen in ihren Gürtel gesteckt hatte. Mit strahlenden Augen sah sie über das flimmernde Wasser.

Als der Dampfer in Sicht kam, gab es ein Grüßen und Abschiednehmen, das kaum enden wollte. Bettina reichte Ewald noch einmal die Hand und sagte: „Auf Wiedersehen!“ Nach ein paar Minuten brauste der Dampfer davon, und das Mädchen stand auf dem Verdeck und winkte noch einmal mit der Hand. Ihr letzter Blick traf Ewald, der mit der Linken das Steuer lenkte und mit der Rechten den Hut schwang; das Licht der Morgensonne umfloß seine Gestalt. Wie hoch und kräftig er sich aufreckte, gleich den Seehelden aus der Wikingerzeit! Und vielleicht bedurfte es nur des Kriegs, um ihn zu ruhmvollen Thaten zu führen!

Während der Reise zog die Wehmuth in Bettinas Herz und je näher sie der Hauptstadt kam, desto tiefer wurden die Schatten in ihrer Seele. Als sie vor der Wohnung ihrer Stiefmutter stand, sagte sie sich beklommen: „Nun liegt die Freiheit hinter mir und vor mir die alte Enge.“

Frau Rosita war schon seit einiger Zeit von Baden-Baden zurück; sie begrüßte die Ankommende süß lächelnd mit der Bemerkung: „Die Seeluft hat Dir die Farben der Gesundheit wiedergegeben, Du bist also glücklich und heiter gewesen.“

„Die gleichen Merkmale lassen mich bei Dir auf die gleiche Stimmung schließen. Du siehst völlig verjüngt aus, liebe Mama.“

„Ach ja, mein Kind, ich habe in Baden-Baden einigermaßen Erholung gefunden – dank meinen lieben Freunden. Du ahnst nicht, wen ich dort getroffen habe – den Grafen Guido.“

„Ah!“

„Nein, blick’ nicht so finster, liebste Betty, der Zufall hat uns zusammengeführt, und ich konnte ihm nicht ausweichen, ohne mich lächerlich zu machen. Der Graf befand sich auf der Fahrt nach der Schweiz. Unterwegs erfuhr er, daß sich einige seiner näheren Freunde in Baden befänden, und beschloß, sie für ein paar Stunden aufzusuchen. Aus den Stunden wurden sechs Wochen, denn er gerieth in einen Bekanntenkreis, der ihn nicht wieder freigab. In Badeorten ist es schwer, Personen, die uns einst nahestanden, zu meiden; die Freunde des Grafen waren auch die meinigen; ich suchte ihn erst durch abstoßendes Benehmen von mir fern zu halten, erreichte aber damit nichts weiter, als daß ich mich lächerlich machte. Du kennst seine Liebenswürdigkeit, seinen feinen Takt, und – was willst Du, mein Kind, er ist mehr zu beklagen als Du. Er hat Dich wahrhaft geliebt, indessen seine Verlegenheiten, seine Stellung, sein Beruf – Du begreifst. Das Geld ist die ausschlaggebende Macht unserer Tage.“

„Ja, ich begreife –“ entgegnete Bettina in bitterem Tone und wandte sich der Thür zu. „Kann ich unter den früheren Bedingungen wieder bei Dir wohnen?“

„Gewiß, mein Kind, freilich – nun, das weitere können wir beim Abendbrot besprechen. Schüttle erst den Reisestaub ab und mache Dir’s bequem, ich werde unterdessen den Tisch decken lassen.“

Als sich die beiden Frauen eine halbe Stunde später am Theetisch gegenübersaßen, erzählte Rosita ausführlich ihre Erlebnisse in Baden, rühmte nochmals, wie aufmerksam und liebenswürdig Graf Trachberg sich benommen habe, und gestand zuletzt, sie habe ihm gestattet, während des Winters ihr Haus zu besuchen.

Bettina erbleichte; ihr graute vor dieser Gesellschaft, in welcher man, als wäre nichts geschehen, nach wenigen Monaten schon wieder die freundlichen Bande anknüpfte mit denen, die mit Menschenherz und Menschenglück ein frevelhaftes Spiel getrieben hatten. Nach einer Weile sagte sie tonlos: „Ich kann ja dem Herrn aus dem Wege gehen.“

„Mit der Zeit wirst auch Du versöhnlichen Gefühlen Raum geben müssen.“

„Niemals – doch da ich mit dem Grafen Trachberg nichts mehr zu schaffen habe, so ist es gleichgültig, wie ich über ihn denke.“

„Er gehört immerhin zur Familie Deines Schwagers ...“

„Ist kein Brief von Mathilde eingetroffen?“ fragte Bettina, um von dem peinvollen Gespräch abzulenken.

„Gestern kam einer an, der den Poststempel Mexiko trägt. Er liegt auf meinem Schreibtisch.“

Das erregte Mädchen nahm hastig das Schreiben an sich und las es. Die Schwester meldete ihre Ankunft in Mexiko, berichtete klagend über die Beschwerden der weiten Reise und schloß mit der Bemerkung, daß sie noch keine Bestimmungen über ihre Zukunft treffen könne; Bettina müsse jedenfalls den Winter über noch in Berlin ausharren.

Bettina legte verstimmt den Brief zur Seite, und ihre Stiefmama theilte offenbar, wenn auch aus anderen Gründen, dieses Gefühl, als sie unmuthig bemerkte: „Unsere Mathilde denkt zu viel an ihr liebes Ich, als daß sie anderen helfen könnte. Du wirst daher bei Deinen Zukunftsplänen gut thun, die Schwester [103] aus dem Spiele zu lassen. Zum Glück bietet Dir die Berliner Gesellschaft immer noch Aussichten genug, um eine gute Partie zu machen.“

„Ich denke nicht daran, zu heirathen,“ bemerkte Bettina kurz.

„Das sagt jedes junge Mädchen um seinen Idealismus zu beweisen, doch laß uns ehrlich sein, mein Herz: echtes Glück winkt jeder Frau nur in der Ehe. – Wir können vorläufig noch keine Bälle und Theater besuchen, wohl aber mit unseren Bekannten im engeren Kreise verkehren, und ich bin sicher, daß es uns noch im Laufe des Winters gelingen wird, für Dich eine passende Verbindung zustande zu bringen.“

Bettina fühlte sich durch das Gespräch mehr und mehr empört und rief mit Nachdruck. „Bitte, Mama, sprechen wir nicht mehr darüber!“

Allein Frau Rosita ließ sich nicht beirren, sie antwortete ebenso bestimmt: „Du bist sentimental, das taugt nicht. Wir müssen über diesen Gegenstand sprechen, denn es liegt in Deinem wie in meinem Interesse, klare bestimmte Ziele ins Auge zu fassen. So gern ich Dich bei mir habe, Betty – Du mußt Dich doch mit dem Gedanken vertraut machen, daß ein Zusammenleben auf die Dauer unmöglich ist. Es kann sein, daß ich nach Ablauf des Trauerjahrs mich in Paris ansiedle, ja Du dürftest es mir nicht verargen, wenn ich mich dann entschließen würde, den Witwenschleier abzulegen. Gewiß, ich habe Deinen Vater sehr geliebt und tief betrauert, aber es ist für eine Frau, die gewohnt war, den Mittelpunkt weiter Gesellschaftskreise zu bilden, demüthigend und unerträglich, allmählich bei Seite geschoben zu werden oder dort nur geduldet zu sein, wo man früher den Ton angab. Zudem hat jeder Mensch die Berechtigung, sich auszuleben, und so würde ich vielleicht, wenn ein liebenswürdiger Mann in geachteter Stellung mir seine Hand anträgt, nicht Nein sagen. Du siehst, ich bin ganz offen –“

„Und ich will Dir ebenso offen und ohne jede Empfindlichkeit antworten. Wenn dieser Fall eintritt, so werde ich Dir keinen Augenblick im Wege sein; ich ziehe mich mit meinem Erbe in einen stillen Erdenwinkel zurück, wo nichts mich hindert, nach Gefallen zu leben. Während dieses Winters aber kannst Du jeden Versuch sparen, eine ‚gute Partie‘ für mich zustande zu bringen, denn ich bin fest entschlossen, auf keinen Varschlag dieser Art einzugehen.“

„Nun wohl! Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied; der eine zerschlägt die Güter, welche das Schicksal ihm verliehen hat, der andere formt sich daraus den glänzenden Schmuck seines Lebens. Junge Mädchen sollten sich ihre Zukunft gestalten, solange der Schmelz und die Frische der Jugend vorhalten.“

Mit dieser Mahnung wurde Bettina entlasen, und als sie sich früh zur Ruhe niederlegte, ließ sie die friedlichen Tage in Massow noch einmal an ihrer Seele vorübergleiten. Mit dem Seufzer: „Ach, wär’ ich doch wieder dort – in der Stille, fern vom kleinlichen Kampf!“ entschlummerte sie.

*      *      *

Einige Wochen nach der Rückkehr fand Lisas Vermählung mit Garcia Diaz statt, und Bettina betheiligte sich voll Eifer an den Zurüstungen. Da der Sanitätsrath einen großen Verwandten- und Freundeskreis besaß, so wurde das junge Paar mit Gaben überschüttet. Und wie durch einen Blumengarten schritten die Verlobten zum Altar, denn die Trauung fand in den weiten Gesellschaftsräumen der Horstschen Wohnung statt, die mit grünen Gewinden, mit blühenden Rosenbüschen, mit Palmen und Orangenbäumen ausgeschmückt waren. Das Brautpaar fühlte sich in den schönen duftigen Räumen, umdrängt von all den Freundschaftsbeweisen der Gäste, wunderbar erhoben und die Freude ließ sie beide ihre Anmuth und Heiterkeit doppelt entfalten. Im Strahl des Glücks, das sie empfanden, trat die Schönheit und der Jugendglanz ihrer Erscheinung sieghaft hervor.

Nach einem rauschenden Feste begaben sich die Neuvermählten am Abend zum Bahnhof, um nach London abzureisen. Bettina war die einzige aus der Gesellschaft, welche sie begleiten durfte. Beim Abschied umarmte Lisa die Freundin unter Thränen und flüsterte ihr ins Ohr. „Bitte, nimm Dich meines armen Papas an, damit er die Lücke im Haus nicht allzu schwer empfindet.“ Bettina versprach es mit innigem Händedruck. –

Die nun ganz Vereinsamte hielt ihr Versprechen und ging der kleinen Lotte mit Rath und That so tapfer zur Hand, daß Lisa wenigstens im Haushalt nicht vermißt wurde. Der Sanitätsrath nahm die freundlichen Bemühungen seines Mündels sehr dankbar auf, freute sich stets, wenn er sie abends bei Tische sah, und klopfte ihr wohl launig auf die Schultern mit dem Bemerken, sie sei ein gutes verständiges Mädel und werde ihrem Vater immer ähnlicher. Nachdem jedoch der Gang der Dinge im Horstschen Hause wieder geregelt war, zeigte sich bei Lotte ein Hang zur Eifersucht. Diese wollte das Verdienst, die Schwester ersetzen zu können, ungeschmälert für sich in Anspruch nehmen, und so zog sich Bettina allmählich zurück. Sie besuchte dann in ihren Erholungsstunden bisweilen die Ludmillers, machte aber die überraschende Entdeckung, daß der lustige Reisegefährte in der Stadt völlig umgewandelt war. Er zeigte sich zu Hause launenhaft und zänkisch. Die Reibungen, denen er im Theaterleben ausgesetzt war, raubten ihm den Humor. Während des Winters erhielt er ein verlockendes Anerbieten für Amerika, und da er erklärte, einer Auffrischung bedürftig zu sein, so ging er mit Ludmilla nach der neuen Welt, wo er jahrelang festgehalten wurde.

So war Bettina ganz auf sich angewiesen; allein sie besaß viel geistige Regsamkeit, und da sie den Drang in sich verspürte, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, nahm sie mit Eifer ihre Musikstudien wieder auf und trat in den Frauenchor der Hochschule für Musik ein. Konsul Wesdonk hatte bei der Erziehung seiner Töchter großen Werth auf die körperliche Ausbildung gelegt und beide Mädchen von früh auf turnen und schwimmen lassen. Bettina hatte sich, was bei ihrer etwas schmächtigen Gestalt niemand vermuthete, viel Kraft und turnerische Gewandtheit erworben. Als sie nun in der Zeitung eine Anzeige des Inhalts fand, daß für eine höhere Töchterschule eine Turnlehrerin gesucht werde, bewarb sie sich um die Stelle und ertheilte den Unterricht während des Winters an vier Nachmittagen in der Woche. Sie verdiente damit soviel, daß sie die theuren Klavierstunden bei einem der besten Lehrer bezahlen konnte, und außerdem fühlte sie sich immer neu erfrischt von dem fröhlichen Treiben der jugendlichen Mädchenschar.

Mit der Stiesmutter kam sie fast nur während der Mahlzeiten zusammen. Die beiden Frauen gingen verschiedene Wege, und da Bettina ein Hinterzimmer nach dem Garten zu bewohnte und sehr selten die Gesellschaftsräume vorn betrat, so wußte sie kaum, mit wem Frau Rosita verkehrte. Zuweilen sah sie die hohe Gestalt des Grafen Trachberg kommen und gehen; zitternd wich sie dann aus.

Noch war das Trauerjahr der Witwe nicht zu Ende, da ward Bettina eine völlig niederschmetternde Ueberraschung zu theil. Als sie eines Abends ins Speisezimmer trat, das sie stets als eine Art neutralen Boden betrachtet hatte, wurde sie durch den Anblick ihres ehemaligen Verlobten erschreckt. Er saß Rosita gegenüber am hell erleuchteten Tisch und löste eben eine Auster aus der Schale. Bei Bettinas Erscheinen erhob er sich, und über sein blasses Gesicht ging eine jähe Röthe. Das Mädchen wollte durch die Thür zurücktreten, allein Rosita, die eben ihren Champagnerkelch geleert hatte, sprang auf, faßte sie bei der Hand und rief lachend: „Wozu das Versteckspielen! Du bist verständig und wirst heute mit Gleichmuth tragen, was vor einem Jahre Dich geschmerzt hätte. Mein Kind, Du sollst es zuerst erfahren, daß Graf Guido und ich Verlobte sind. So, jetzt ist’s heraus, und nun erwarte ich von Deinem guten Herzen, daß Du dem Bösewicht da drüben aufrichtig verzeihst und neidlos auf unser Glück ein Glas Champagner leerst.“

Bettina hatte die Empfindung, als breche der letzte Halt, auf den ihr Glaube an Aufrichtigkeit und edleres Empfinden sich gestützt hatte; kraftlos sank sie auf einen Stuhl. Während Rosita die Kelchgläser füllte, rang sie nach Fassung, und als ihr das Glas gereicht wurde, irrte schon ein mattes Lächeln um ihre Lippen, und sie sagte in leicht bebendem Tone: „Das kam freilich unerwartet, allein Du hast recht, ich bin neidlos genug, um Dir ein Glück zu gönnen, das mir nicht beschieden war.“

Sie nippte an dem schäumenden Trank und setzte dann den Kelch so plötzlich nieder, als ob er Feuer wäre. Die letzten Worte hatte sie mit leisem Hohn gesprochen, der Graf aber glaubte in seiner Selbstgefälligkeit, wirkliches Bedauern heraushören zu dürfen.

Die Verlobten wollten nach Tisch ausfahren. Als Rosita [104] das Zimmer verließ, um Toilette zu machen, schickte sich auch Bettina an, in ihr Zimmer zurückzukehren, die Stiefmutter aber rief übermüthig: „Du bleibst, bis ich wiederkomme. Noch ist das Eis nicht zwischen Euch gebrochen und ich will Euch versöhnt wissen. Bitte, sprecht Euch ohne Zeugen aus – Ihr habt zehn Minuten Zeit.“

Sorglos lachend verließ sie die beiden. Ihre Absicht, dem Grafen einen Beweis ihres Vertrauens zu geben, wurde von diesem nicht nach Gebühr gewürdigt, denn kaum verlor sich das Geräusch ihrer Schritte, so eilte Guido auf seine frühere Braut zu. „Bettina, Sie hassen, Sie verachten mich,“ flüsterte er erregt, „ich fühle es. Doch bei Gott, ich konnte nicht anders handeln, ich mußte mich der eisernen Nothwendigkeit beugen – mein Herz aber gehört Ihnen. Wir sind beide Opfer eines unerbittlichen Geschicks, das uns dennoch nicht ganz zermalmen kann, wenn wir klug handeln. Bleiben Sie bei uns, Bettina! Ist für mich die Gefahr des Ruins abgewendet, so findet sich vielleicht ein Ausweg. In jedem Falle hoffe ich Ihnen beweisen zu können, daß mir nichts in der Welt höher steht als Ihr Glück.“

Er hatte sie bei den letzten Worten mit einem heißen Blick angeschaut und wollte ihre Hand erfassen. Sie aber trat weit von ihm zurück, der blonde Kopf erhob sich stolz, und ihre Augen blitzten.

„Herr Graf,“ sagte sie schneidend, „wenn jemand in diesem Hause Mitleid verdient, so ist es Ihre Verlobte. Sie haben mich soeben einen Blick in Ihr Inneres thun lassen, der mich erschreckt. Noch weiß ich nicht, was ich in Zukunft beginnen soll, allein darüber wenigstens bin ich im Klaren – nie werde ich mit Ihnen unter einem Dache leben.“

„Bettina, Sie verkennen meine Absicht –“

Der Graf kam nicht dazu, sich zu vertheidigen, denn Rosita kehrte zurück und während sie ihren Handschuh zuknöpfte, fragte sie so obenhin: „Nun – habt Ihr Euch ausgesprochen?“

„Vollkommen,“ antwortete Bettina. „In drei Tagen verlasse ich Berlin.“

„O, also unversöhnlich? Wie schade, ich hätte Dich so gern bis zum Herbst in meiner Nähe gehabt; es giebt so mancherlei zu thun ... Indessen, ich achte Deine Gefühle, und nichts liegt mir ferner, als Deine Entschließungen beeinflussen zu wollen. Du bist ja selbständig und kannst Dein Leben ganz nach Deinem Gefallen gestalten. Aber etwas Freundschaft bewahre Deiner Mama wenigstens ...“

Sie reichte Bettina lächelnd die Hand und schmiegte sich dann mit einer halb stolzen halb zärtlichen Bewegung an den Grafen, der ihr den Arm geboten hatte und sie jetzt hinausführte. Bettina schaute den beiden in stummem Schmerze nach.

„Ob ich sie warne?“ fragte sie sich und schüttelte dann langsam den Kopf. „Sie würde mir nicht glauben, würde mich für eine eifersüchtige Närrin halten,“ murmelte sie. Tief aufathmend fügte sie nach einer Weile hinzu: „Welch’ einer Gefahr bin ich entronnen!“ – – –

Als Bettina am nächsten Tage ihren Turnunterricht gegeben hatte, wurde sie auf der Straße von der Mutter ihrer Lieblingsschülerin erwartet und zum Essen eingeladen. Sie hatte um so weniger Grund, die Freundlichkeit abzuweisen, als der Gatte der Dame ein Geschäftsfreund ihres Vaters gewesen war. So verbrachte sie denn einige Stunden im Kreise heiterer und liebenswürdiger Menschen, und als sie sich vom Tische erhob, sagte der Hausherr. „Wir haben für den Abend eine Loge im Theater genommen und bitten Sie recht sehr, uns Gesellschaft zu leisten. Halms ‚Sohn der Wildniß‘ wird gegeben, und wie ich höre, soll sehr gut gespielt werden. Sie haben zwar das Trauerkleid noch nicht abgelegt, allein die Pietät erleidet sicher keine Einbuße, wenn sie sich ein ernstes Schauspiel ansehen.“

Bettina ließ sich überreden. Sie kannte Halms romantische [105] Dichtung nicht und während der ersten Scenen sah sie den Vorgängen auf der Bühne mit gleichgültiger Miene zu. Die Vorstellung schien ihr unglücklich gewählt zu sein, und nur die Rücksicht auf ihren freundlichen Wirth hielt sie ab, das Theater zu verlassen, in dessen Luft sie sich beengt und bedrückt fühlte. Sobald jedoch Parthenia, die weiche poesieumflossene Tochter der Kultur, und Ingomar, der rauhe Sohn der Wildniß, sich gegenübertraten, ward ihre Theilnahme gefesselt. Die Handlung erhielt für sie mit einem Male sinnbildliche Bedeutung. Zwischen Parthenia, der Tochter Roms, und Ingomar, den eine Völkerwelle aus den Wäldern Galliens an die Grenzen der Civilisation geworfen hatte, bestand ein ähnliches Verhältniß wie zwischen ihr und Ewald Monk.

Der Lotse im einsamen Massow wurde ihr zum Sohn der Wildniß. Was diese Illusion so leicht erweckte, war vor allem auch der Umstand, daß der Darsteller des Ingomar denselben tiefen Klang der Stimme, die gleichen Bewegungen der breiten ausgespreizten Hand hatte wie Ewald und daß im letzten Akt, wo sich der Sohn der Wildniß dank Parthenias erziehender Liebe die Früchte der Kultur zu eigen macht, diese Aehnlichkeit eine ganz überraschende wurde.

Vor allem prägte sich ihr unauslöschlich jenes Liebesgespräch ein, in welchem die gefangene Parthenia mit ihrem stillen Reize den rauhen Ingomar zu ihren Füßen niederzwingt, wo dem reckenhaften Manne plötzlich die Frage sich aufdrängt: „Was ist denn Liebe, sag’?“ Wie Parthenias Antwort gleich einer Himmelsbotschaft in Bettinas Seele drang, dieses einfache schlichte Wort:

„Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag.“

Und der Sohn der Wildniß fragt weiter:

     „Und sag’, woher kommt Liebe?“
„Sie kommt und sie ist da.“
     „Und sag’, wie schwindet Liebe?“
„Die war’s nicht, der’s geschah.“

Das ist’s, klang es in Bettinas Innern, „die war’s nicht, der’s geschah.“ Konnte meine Liebe zu Guido schwinden, zum Abscheu werden, so war es keine Liebe, die mich einst mit ihm verband. Fort mit ihm! – Und über den Grafen, den Typus einer selbstsüchtigen Kultur, erhob sich riesengroß Ewald, der Naturmensch, dessen unverdorbenes Herz noch empfänglich war für die veredelnde Kraft der Liebe. Mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen folgte sie der Entwicklung der Handlung, und als diese mit einer rettenden heldenhaften That Ingomars abschloß, wurde ihr das Schauspiel zum Orakel. So würde Ewald in gleicher Lage handeln, sagte sie sich, so würde er emporwachsen zu edler sittlicher Kraft, wenn er eine Parthenia fände. Und es erschien ihr mit einem Male als eine erlösende würdige Lebensaufgabe, die gebundenen Kräfte in des Lotsen Seele frei zu machen, ihn zu erheben durch die Macht der Liebe.

Während sie das Theater verließ und nach Hause fuhr, wich der Bann des Geschauten keinen Augenblick von ihr, und verlockend tönten noch immer die Verse an ihr Ohr:

„Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag.“

Frau Rositas Zofe öffnete die Thüre der Wohnung, und während jene voranleuchtete, bemerkte Bettina, daß ein Brief für sie auf einem Tischchen im Flur lag; sie erwartete Nachricht von Lisa, welche inzwischen nach Madrid übergesiedelt war und seither nichts mehr von sich hatte hören lassen; hastig erbrach sie daher das Schreiben und las die in eckigen plumpen Schriftzügen hingestellte Frage: „Haben Sie denn Massow ganz vergessen?“ Unterzeichnet waren die Worte mit „Ewald Monk.“

Kaum war sie allein in ihrem Zimmer, so brach sie in Jubel aus. Sie küßte den Brief und sagte mit strahlendem Antlitz: „Nein, ich habe Dich nicht vergessen, Ewald! Dein Mahnruf [106] kommt zur rechten Zeit. Jetzt weiß ich, wo meine Heimath liegt. Ich will Deine Parthenia sein, Du Sohn der Wildniß!“

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An einem sonnigen Aprilmorgen verließ Bettina Berlin; in dem an ihrer Seite hängenden Täschchen trug sie ein Checkbuch und in ihrem Handkoffer den Plan zu einem Landhaus. Sie hatte nur drei Tage gebraucht, um ihre Angelegenheiten zu ordnen und sich zu einer Uebersiedlung nach Massow vorzubereiten. Der Sanitätsrath hatte ihr Vermögen ihr ausgeliefert. Sie übergab die Werthpapiere einem sichern Bankhaus und konnte fortan über 60000 Mark frei verfügen. Da sie die Absicht hegte, sich in Massow auf alle Fälle dauernd niederzulassen, so wandte sie sich an einen ihr befreundeten jungen Baumeister mit der Bitte, ihr den Aufriß zu einem Landhaus zu zeichnen, mit Küche, Vorrathskammer und Waschranm im Erdgeschoß, vier Zimmern im ersten Stock, einer Mansarde sammt Balkon und Trockenboden im Giebelraum. Der Architekt hatte seine Aufgabe in einigen Tagen so gut gelöst, daß der Entwurf von jedem gewandten Maurer- oder Zimmermeister ausgeführt werden konnte. Betreffs der Kosten hatte er bemerkt, daß er weder den Preis der Grundstücke noch des Baumaterials in Massow kenne, allein es sei anzunehmen, daß das ganze Landhaus bei einfacher Ausführung nicht mehr als 15000 Mark und nicht weniger als 12000 Mark kosten werde. Und das aufzuwenden, war Bettina fest entschlossen.

Sie wollte am Meer unter geraden treuen Menschen ein neues Leben führen. Sie hatte der Töchterschule eine Vertreterin gestellt; keiner ihrer Bekannten war in ihre Zukunftspläne eingeweiht. Ihre Stiefmutter und der Sanitätsrath glaubten, daß sie im Hause des Schullehrers oder des Lotsenkommandanten von Massow die schone Jahreszeit zubringen und im Herbst in die Stadt zurückkehren werde. Schon hatte sie ihren Platz im Zuge eingenommen und war eben dabei, ihr Handgepäck unterzubringen, da stieg hastig ein Passagier in den Wagen, dessen Anblick sie höchlich überraschte – es war der Geiger Franz Rott. Dieser stand bei der unverhofften Begegnung nicht minder erstaunt da und erst nach einer Weile brach er in die Worte aus: „Welch’ glücklicher Zufall!“

Bettina verwünschte innerlich das Zusammentreffen mit Rott. Kaum hatte dieser seinen Geigenkasten untergebracht„ so stellte er die schwer zu umgehende Frage. „Wohin reisen Sie?“

Sie nannte ihr Ziel, und der Musiker erwiderte lachend, daß er Massow auf seinen Künstlerfahrten noch nicht berührt habe; wo der Ort zu suchen sei.

Seine Reisegefährtin verstand sich zu näheren Angaben.

„Ah, dort liegt irgendwo in der Nähe die Besitzung meiner Freundin, der Gräfin Lindström. Die Dame ist Musikschwärmerin und hat mich wiederholt gebeten, meine Sommerferien auf ihrem Schloß zu verbringen, allein ich konnte mich nicht entschließen, die Rolle eines ‚Bratenbarden‘ zu spielen. Wissen Sie Neues von Ihrer Freundin Lisa Diaz?“

Bettina antwortete, daß sie persönlich seit Monaten keine Nachricht erhalten, wohl aber vom Vater Lisas erfahren habe, Diaz bewerbe sich in Madrid um eine Lehrerstelle am Konservatorium.

„Ihre Freundin hat ihr Lebensglück sehr unsicheren Händen anvertraut,“ bemerkte Rott, die Stirn runzelnd.

„Inwiefern?“

„Diaz ist ein liebenswürdiger Gesellschafter, ist voll Munterkeit, sobald er Anregung findet, empfänglich für alles Schöne und Gute und ein musikalisches Talent, allein diesen Vorzügen stehen nicht wenige Fehler gegenüber, die in seiner Nationalität wurzeln. Als echtes Kind des Südens ist er träge und nachlässig. Ich wohnte mit ihm in einer Zeit zusammen, da er sich um einen Preis bewarb. In den Stunden, wo er üben sollte, lag er auf dem Sofa und trieb Jongleurkünste oder andere Possen. Je heftiger ich in ihn drang, seine Zeit zu nützen, desto mehr scheute er vor der Arbeit zurück. Es schien mir – als ob der Gedanke an ein Müssen ihn unfähig mache, sich zu rühren. Wie alle Faulenzer aber wiegt sich Diaz in Glücksträumen, und wenn er – was freilich selten vorkommt – Ersparnisse macht, so legt er sie in der Lotterie an. Er ist in allen tieferen Fragen naiv wie ein Kind und abergläubisch – nun wie ein Spanier. Ich fürchte, Ihre Freundin hat jetzt schon die Entdeckung gemacht, daß man nicht ungestraft unter Palmen wandelt. Ein Mädchen, welches sein Vaterland oder seine Bildungssphäre verläßt, um dem Manne seiner Wahl zu folgen, muß viel über Bord werfen, ehe es auch nur die Zufriedenheit erreicht.“

„Sie fällen über Ihren Freund ein herbes und nicht eben kameradschaftliches Urtheil,“ versetzte Bettina unwillig.

„Diaz war niemals mein Freund, obgleich wir in Berlin häufig miteinander verkehrten. Beweis dafür ist der Umstand, daß er seit seiner Abreise keine Silbe an mich geschrieben hat, trotzdem er Verpflichtungen hatte, es zu thun. Ueberdies glaubte ich, daß unser gemeinsamer Antheil an dem Schicksal Lisas mir eine freimüthige Aussprache gestatten würde. Ich wünsche aufs innigste, daß meine Befürchtungen sich niemals erfüllen möchten.“

Es trat eine Pause ein, während der Zug sich in Bewegung setzte. Bettina war peinlich berührt, daß sie mit Rott in dem Wagen zweiter Klasse allein blieb. Seine Bemerkung über Lisas Wahl war ihr schwer aufs Herz gefallen, und der Satz: „Ein Mädchen, welches sein Vaterland oder seine Bildungssphäre verläßt, um dem Manne seiner Wahl zu folgen, muß viel über Bord werfen –“ grub sich ihrem Gedächtniß scharf ein. Sie hätte lieber von der Zukunft geträumt, statt eine Unterhaltung zu führen, die sich um Vergangenes drehte.

In der Hoffnung, daß der Reisegefährte vielleicht bald aussteigen werde, stellte sie nach einer Weile die Frage: „Wohin fahren Sie, Herr Rott?“

„Ich durchjage noch mit der Geige in der Hand Skandinavien,“ erwiderte dieser munter. „In Kopenhagen erwartet mich eine Sängerin, mit der ich mich zu einem sechswöchigen Musikattentat auf die Besitzer dänischen und schwedischen Goldes verbündet habe. Liegen diese Konzerte hinter mir, so ziehe ich mich mit dem Raub in die Felsenklüfte Tirols zurück, wo meine Sippe haust. Dort will ich zwei Monate rasten und in der Einsamkeit meine Nerven beruhigen.“

Bettina ergab sich in ihr Schicksal, seine Gesellschaft bis zur Hafenstadt ertragen zu müssen. Die Unterhaltung wurde fortgesetzt, und der Geiger plauderte in anregendster Weise über Musik, er gestand auch, daß er Bettina während des Winters wiederholt im Chor der Hochschule bei Schüleraufführungen gesehen habe. Von Station zu Station wuchs Bettinas Interesse an dem jungen Künstler, dessen rauhes Wesen und barsche Geradheit sie bisher abgestoßen hatten. Zu ihrer Ueberraschung erkannte sie jetzt, wie heiter und freundlich er lächeln, wie leicht und gefällig er unterhalten konnte. Er hatte viel erfahren in der Welt und legte ohne Zaudern seine Vergangenheit vor ihr bloß. Er war ein Bauernsohn; der Vater hatte ihn früh in die Klosterschule gesteckt, damit ein ‚geistlicher Herr‘ aus ihm werde. Der strengen Zucht entlief er aber als ein Vierzehnjähriger. Von der Mutter heimlich unterstützt, war er nach der Schweiz gewandert, um Naturwissenschaften zu studieren. Allein die Liebe zur Musik, die schon im Kloster geweckt worden war, hatte ihn langsam von der Wissenschaft abgedrängt. Vor sechs Jahren war er nach Berlin gekommen, um unter Joachims Leitung Geiger zu werden. Unter Hunger und Kummer, so schloß er seinen Bericht, habe er sich durchgerungen, nun sei er glücklich. Die Frühnebel, welche über dem Morgen seines Lebens lagen, seien zerstreut – er sehe die Sonne.

Bettina bemerkte ein seltsames Leuchten in den stahlgrauen Augen ihres Gefährten, ein Abglanz innerer Wärme verklärte seine Züge. Wie schön er sein kann, der Sohn des Tiroler Bauern, sagte sie sich im stillen; laut erwiderte sie: „So sind Sie also ein Priester der Kunst geworden und lehren die Völker, daß auch die Musik etwas Göttliches sei.“

„So weit bin ich noch nicht – mir fehlt die Weihe.“

„Die Weihe?“

„Ja, die Weihe der Liebe und des Schmerzes,“ entgegnete Rott. „Ein echter Künstler muß jene Höhen und Tiefen menschlichen Empfindens kennenlernen, welche die Liebe bringt. Ich bin ein nüchterner Alltagsmensch, der auf den Frühlingssturm wartet. Was ich jetzt als Geiger zu vergeben habe, ist schöner Ton, Technik, ein wenig Phantasie, aber das Beste fehlt – der Ausdruck tiefen Gefühls. Vielleicht stehe ich ihm nahe, dem holden Genius, welcher die höchste Lust in der einen, das tiefste Leid in der andern Hand trägt, vielleicht –“

Das Mädchen empfand mit einem Male unter Rotts Blicken eine Beklommenheit, die ihr alle Unbefangenheit raubte. Bei der [107] Klarheit und Offenheit seines Wesens war es kaum zu verkennen, von wem der Künstler die Weihe erwartete. Der Gedanke aber, daß er ihr seine Liebe erklären könne, rührte in ihr die widerstreitendsten Gefühle auf. Es überraschte und verwirrte sie, daß die rauhe Außenseite dieses Mannes einen so weichen Kern barg. Sie war erstaunt über sein Wissen, seine geistige Frische, seine Willenskraft und konnte sich nicht verhehlen, daß in seinem Lächeln, seiner freimüthigen Sprache, in der Ehrlichkeit seines Wesens ein eigener Zauber liege. Allein sie wollte diese Empfindung nicht in sich aufkommen lassen und wehrte sich gewaltsam gegen die Macht, welche der ernste Mann über sie zu erlangen drohte. Sie sprang plötzlich von ihrem Sitze auf, schaute durchs Wagenfenster und rief beim Anblick eines in der Ferne auftauchenden Thurmes erleichtert aus: „Dort liegt die Hafenstadt!“

Rott hatte die Gemüthsbewegung von ihrem Gesicht abgelesen und richtig gedeutet. Ein Schatten ging über sein Gesicht und seufzend antwortete er: „Wo wir uns trennen müssen.“

Er blieb schweigsam bis zur Ankunft des Zuges. Bettina wollte sich hier von ihm verabschieden, allein er unterbrach sie rasch mit den Worten: „Sie werden mir hoffentlich gestatten, daß ich Sie an Bord des Schiffes bringe und mich so ein klein wenig erkenntlich zeige für die Gastfreundschaft, welche mir einst Ihr Vater erwies.“

Sie lächelte und überreichte ihm den Gepäckschein; es that ihr wohl, daß er ihres Vaters gedachte, und als er mit der Sicherheit des vielgereistett Mannes einen Dienstmann mit der Besorgung ihrer Gepäckstücke betraut und ihr den Arm gereicht hatte, um sie aus dem Menschenhaufen hinaus zu führen, sagte sie in warmem Tone: „Da Sie mich an Vergangenes erinnern, so habe ich Ihnen noch Dank zu sagen – durch Ihr wundervolles Spiel beim Leichenbegängniß meines Vaters hielten Sie diesem die ergreifendste Nachrede.“

Rott wollte einen Wagen herbeirufen, Bettina aber meinte, daß der kurze Spaziergang bis zum Landungsplatz der Schiffe eine wohlthuende Abwechslung sei nach der mehrstündigen Eisenbahnfahrt. So schritten denn beide Arm in Arm zum Hafen hinunter. Das lärmende Treiben dort lenkte sie von wehmütigen Gedanken ab. Der Künstler hatte mit scharfem Blicke den kleinen Dampfer für Massow aus der Menge der Fahrzeuge herausgefunden; er begleitete seine Gefährtin aufs Verdeck, wählte ihr einen bequemen Platz aus und ging dann wieder ans Land, um die Ankunft des Gepäckträgers zu erwarten. Die kurze Zwischenzeit benutzte er, um einen Strauß Veilchen und Schneeglöckchen einzukaufen. Er reichte ihr die Blumen beim Abschied, sah ihr tief in die Augen und wünschte ihr glückliche Reise. Dann setzte er schüchtern hinzu: „Darf ich ‚Auf Wiedersehen!‘ sagen?“

Mit freundlichem Lächeln reichte sie ihm die Hand und antwortete: „Auf Wiedersehen!“ – Sie hatte nicht das Herz, ihm mit einem kalten Nein zu antworten.

Als sich der Dampfer nach einigen Minuten in Bewegung setzte, sah sie Rott an Bord des für Kopenhagen bestimmten Schiffes. Er schritt gedankenvoll über das Hinterdeck und blies von Zeit zu Zeit die blauen Rauchwolken einer Cigarette in die Luft. Durch das Rauschen des vorüberfahrenden Dampfers erst wurde er aus seinen Träumereien aufgeschreckt, und wie sein Blick Bettina streifte, welche grüßend seine Blumen in die Höhe hielt, ging ein heller Schein über sein Gesicht und er sprang zur Kommandobrücke hinauf, um sie nochmals sehen und einen letzten Gruß mit ihr austauschen zu können. Und so wie er dort oben stand, von der hellen Mittagssonne beleuchtet, im flatternden Mantel, mit dem wehenden Haar über der breiten Stirn, prägte sich sein Bild ihrer Seele ein. Nach einer Weile machte sie mit leisem Schrecken die Entdeckung, daß dadurch ein anderes, ähnliches aus ihrer Erinnerung verdrängt werde. Sie erhob sich und schritt auf dem Verdeck hin und her, um die Erinnerung an diese Zusammenkunft los zu werden, aber es gelang ihr nicht. Wider ihren Willen kehrten ihre Gedanken von dem, was vor ihr lag, immer wieder zu dem Gespräch mit Rott zurück. Nachdenklich lehnte sie sich gegen die Schanzverkleidung des Schiffes und schaute hinunter in das schäumende Wasser; da stieg ein lieblicher Duft zu ihr auf.

„Ah, seine Blumen!“ rief sie entschlossen. „Dieses Duften des Frühlings hat es mir angethan; fort damit!“

Sie schleuderte das Blumensträußchen ins wirbelnde Fahrwasser, und als es ihren Blicken entschwunden war, setzte sie mit einer kräftigen Bewegung hinzu: „Aus der Welt, in welcher eine Rosita ihr Glück sucht, will ich nichts in mein Naturparadies mit hinübertragen.“




9.

Während der Fahrt wurde Bettina sehr enttäuscht durch die Mittheilung des Kapitäns, daß sie nicht darauf rechnen dürfe, von den Leuten aus Massow abgeholt zu werden, diese kämen nur während der Sommerzeit mit dem Boote heraus. So mußte sie an einem der größeren Küstenorte landen, von wo sie mit einem gemietheten Leiterwagen nach vierstündiger Fahrt auf holperigen und sandigen Wegen matt und zerschlagen Massow erreichte. Sie stieg im Schulhause ab. Die Lehrersfrau konnte ihre Verwunderung darüber, daß das Fräulein so früh und ganz allein in Massow eintreffe, nicht verhehlen. Als Bettina am gemeinsamen Abendtisch Platz genommen hatte, um eine Tasse Thee nebst einem Pfannkuchen zu genießen, enthüllte sie den Wirthsleuten ihren Plan, sich dauernd im Dorfe niederzulassen.

Sie hatte erwartet, daß die guten Leute bei dieser Eröffnung in freudige Zustimmung ausbrechen würden, allein zu ihrer Ueberraschung schüttelten beide den Kopf und der Lehrer fragte nach einer Weile, ob sie sich das auch wirklich überlegt habe; es sei hier zu Lande nicht der Brauch, daß ein Mädchen für sich allein lebe, und Leute wie der Herr Pastor würden das wahrscheinlich für unschicklich erklären. Bettina antwortete, daß ihr Gewissen die Richtschnur ihrer Handlungen bilde. Der Lehrer meinte, mit diesem Grundsatz möge der auskommen, der seinen Nebenmenschen nicht brauche, in Dörfern aber begegne man dem Nachbar zu oft, um seiner Gefälligkeit entrathen zu können. Besser sei es schon, wenn sie sich in den Schutz einer Familie begebe. Wolle sie nicht im Schulhause bleibeu, so werde der Lotsenkommandant sie gewiß gern bei sich aufnehmen, wenn sie in ihren freien Stunden den Kindern Musikunterricht ertheile. Bettina schwieg – sie konnte ja doch nicht sagen, daß sie weder des Lehrers noch des Lotsenkommandanten bedürfe, daß ein anderer ihr bald seinen starken Schutz gewähren werde.

Am folgenden Morgen erkundigte sie sich nach Ewald Monk und erfuhr, daß er als Lotse ein Vollschiff nach der Hafenstadt führe. Sie schritt durch die Felder, am Landhaus des Kommandanten vorüber, wo an den Hecken und Bäumen eben das erste junge Grün hervorsproßte; sie wollte sich einen Platz auswählen für ihr künftiges Heim und entschied sich für eine Staffel am Abhang des Höwts. Dort lag, etwa vierzig Meter über dem Meere, ein flaches Gelände, welches sich vortrefflich zur Anlage einer Villa eignete. Man hatte von da einen schönen Ausblick über die Bucht und die Küsten des Festlandes. Seitwärts von der Staffel, etwa fünfundzwanzig Fuß tiefer und jenseit des Fahrwegs, lag ein Bauernhof mit bemoostem Strohdach, der dem alten Bräuning gehörte. Vor dem Acker senkte sich das Land nicht jäh, sondern in schräger Linie zum Meere hinab, und ein Pfad schlängelte sich von der Höhe zwischen silberweißen Sandhaufen zum Wasser hin. Bettina, deren geschäftige Phantasie schon Landhaus und Garten auf dem Feld entstehen sah, entwarf Pläne um Pläne. Ein Ziergärtchen mit Rosenbüschen, Bosketten und zwei Obstbäumen sollte vor dem Hause angelegt werden, dahinter ein Gemüsegarten. Sie war bald von ihrem Vorhaben derart erfüllt, daß sie den Flächenraum schrittweise abmaß und vertheilte.

Im Laufe des Tages führte sie den Lehrer zu der künftigen Baustelle hin und fragte ihn, wem der Acker gehöre. Sie erfuhr, daß Bräuning der Besitzer sei. Als sie nun die Absicht enthüllte, das Feld zu kaufen, ermahnte der Lehrer zur Vorsicht, denn „oll’ Bräuning“ sei ein schlauer Fuchs, der gern seinem Nebenmenschen Schlingen lege. Bettina meinte, die Warnung könne sich nur auf die Höhe der Kaufsumme beziehen, und erkundigte sich, was das Stück Land wohl werth sei. Der Lehrer schätzte es auf zweitausend Mark, fügte jedoch hinzu, daß Bräuning jedenfalls mehr fordern werde. Bettina war als Tochter eines Kaufmanns nicht ganz unerfahren in geschäftlichen Dingen, sie beauftragte den gefälligen Mann, mit Bräuning in Unterhandlung zu treten, ohne dem Bauern zu verrathen daß sie die Kauflustige sei.

Sie dachte sich die Ordnung der Angelegenheit unter diesen biederen Menschen unendlich leicht, allein zu ihrer Ueberraschung [108] erklärte Bräuning, der Acker sei ihm um keinen Preis feil. Als Bettina den Lehrer, der ihr diesen Bescheid brachte, erschrocken anschaute, beruhigte sie derselbe und meinte. „Oll’ Bräuning will zunächst den wahren Käufer ausspionieren, nach drei Tagen wird er schon seinen Preis stellen.“

Diese drei Tage waren für Bettina eine harte Geduldsprobe. Es regnete heftig, und so war sie ans Haus gefesselt; ihr Bechsteinscher Flügel, den sie am Tage vor der Abreise von Berlin nach Massow gesandt hatte, war noch nicht eingetroffen, und Ewald kehrte von seiner Lotsenfahrt nicht zurück. Eine geheime Scheu hatte sie bisher abgehalten, das Haus des Kommandanten aufzusuchen, am dritten Tage nach ihrer Ankunft aber veranlaßte sie die Langeweile, nach dem Landhaus hinüberzugehen. Ihr Erscheinen rief auch hier die größte Ueberraschung hervor.

„Wie, Fräulein Wesdonk, schon in Massow?“ rief der Hausherr. „Ei, das ist herrlich! Mit wem sind Sie gekommen? Mit Horsts natürlich? Ah, wie ich mich freue!“

Als Bettina erröthend und zögernd gestand, daß sie allein gekommen sei, in der Absicht, sich hier ein eigenes Heim zu gründen, sahen die Freunde sie so verwundert an, als zweifelten sie an ihrem Verstande. „Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst,“ sagte die Hausfrau. „Sie sind noch zu jung, um ein Einsiedlerleben zu führen. Auch würden Sie in manche Bedrängniß gerathen – indessen das können wir ja beim Abendbrot besprechen. Vor allen Dingen heißen wir Sie herzlich willkommen.“

Bettina blieb bis spät am Abend in dem gastlichen Hause, allein sie schied mit einer Verstimmung in der Seele. Sie hatte im Laufe der Unterhaltung die Ueberzeugung gewonnen, daß weder der Hausherr noch dessen Gattin ihren Plan billigten und daß beide den Verkehr mit ihr abbrechen würden, sobald sie Ewald Monk ihre Hand reichte. Grollend fragte sie sich, mit welchem Recht denn der Kommandant sich so hoch über diejenigen stelle, die doch seine Berufsgenossen waren! Ewald setzte weit öfter Leben und Gesundheit aufs Spiel als er. Sie fand, daß sie einem schmählichen Vorurtheil gegenüberstehe und daß es verdienstlich sei, demselben Trotz zu bieten.

Am andern Morgen hatte endlich der Regen aufgehört und die Sonne brach durch das zerflatternde Gewölk. Während Bettina beim Frühstück saß, trat der Lehrer in die Stube und berichtete ihr, daß Bräuning vorhin dagewesen und für seinen Acker den Preis von dreitausendfünfhundert Mark gefordert habe.

„Bieten Sie ihm morgen dreitausend,“ erwiderte Bettina in freudiger Erregung.

Dieser Tag schien sie für das bange Harren seit ihrer Ankunft entschädigen zu wollen, denn als sie um zehn Uhr zum „Utkiek“ hinaufstieg, um einen Blick über das Meer zu werfen, erkannte sie in dem Manne, der vor dem Wachthäuschen saß, Ewald Monk. Ein freudiges Erschrecken ging durch ihre Glieder und unwillkürlich rief sie laut seinen Namen. Ihr Ruf hatte eine überraschende Wirkung, beim Klang ihrer Stimme wandte sich Monk blitzschnell um, und als er Bettina lächelnd und rosig wie der Morgen selber vor sich sah, sprang er mit einem Freudenschrei auf und schloß sie stürmisch in seine Arme.

Sie duldete seine rauhe Zärtlichkeit, sein wildes Ungestüm gefiel ihr. So mußte er sein, der starke Sohn der Wildniß, und so mußte sich die Liebe äußern, die echte, von der es hieß: „Sie kommt und sie ist da.“

Ewalds Jubel hatte einen alten Lotsen aus dem Häuschen herausgelockt; es war derselbe, den Bettina an jenem ersten Abend auf dem Höwt gesprochen und der ihr die Kuriositäten gezeigt hatte. Lachend verbeugte sie sich, als Ewald sie dem Kameraden als seine „lewe Brut“ vorstellte. Der Alte schüttelte ihr kräftig die Hand, und sie erinnerte ihn an ihre erste Unterredung, bei welcher er ihres Bräutigams als eines der besten unter den „Seebefahrenen“ gedacht habe. Und Ewald fühlte sich so stolz, als sei das Höwt die erste Staffel zum Himmel.

Nach einer Weile schlug Bettina vor, er solle sie mit seinen Eltern bekannt machen. Ewald fuhr sich mit der Hand hinters Ohr, eine Bewegung, die er stets machte, wenn ihm etwas unbequem oder bedenklich erschien, dann schob er den Hut in den Nacken, ergriff ihre Hand, sagte: „Wat möt, dat möt!“ und schickte sich zum Gehen an, nachdem er noch die Wache dem Kameraden übergeben hatte.

Auf Bettinas Bitte schlugen sie die Richtung nach Bräunings Acker ein. Unterwegs gestand ihr Ewald zögernd, daß er armer Leute Kind und daß sein Vaterhaus nicht viel mehr als eine Baracke sei.

„Was liegt daran!“ erwiderte das Mädchen heiter. „Wir bauen uns ein besseres Haus, in dem es Dir hoffentlich gefallen wird.“ Sie zeigte ihm Bräunings Feld und sagte. „Das da habe ich zum Bauplatz gewählt, gefällt Dir der Ort?“

Und wieder kraute sich der Lotse bedenklich hinterm Ohr. Dies Land mit einem hübschen Haus darauf zu besitzen, gefiel ihm sehr wohl, aber die Nachbarschaft behagte ihm nicht. Indessen war er Kathrein zu nichts verpflichtet, denn noch hatte glücklicherweise kein „Verspruch“ stattgefunden. Und daß er der Tochter des Konsuls vor der Kathrein den Vorzug gegeben hatte – das konnte ihm am Ende niemand im Dorfe verübeln, selbst Bräuning nicht. So erklärte er sich denn mit Bettinas Plan einverstanden.

Diese gab ihm nun Aufschluß über ihre Vermögenslage und meinte, daß ihre Mitgift zwar bescheiden sei, doch immerhin für ein einfaches Leben ausreiche. Ewald aber erklärte, daß sie die reichste Frau in Massow sei, und insgeheim sagte er sich: „Nun soll mir einer kommen!“

Und gerade der Mann, an den er dabei gedacht hatte, tauchte in diesem Augenblick bei der Düne auf – der Lotsenkommandant. Er sah den Untergebenen streng an, und die Frage schwebte auf seinen Lippen, warum Ewald den Utkiek verlassen habe.

„Koch übernahm für mich die Wache,“ meldete der Lotse dem Vorgesetzten, erfaßte dann Bettinas Hand und sagte keck: „Ich wollte den Eltern eben meine Braut vorstellen, Fräulein Wesdonk.“

Der Kommandant stand einen Augenblick starr da vor Ueberraschung, dann griff er an die Mütze und erwiderte kühl: „Meinen Glückwunsch –“ Mit einer Verbeugung gegen Bettina entfernte er sich.

Bettina fühlte, daß ihre Wangen glühten, und sie schalt sich um ihrer Schwäche willen. Ewald aber lachte und meinte, der Alte habe sich nicht schlecht gewundert; der dünke sich ja seinen Leuten gegenüber ein Herrgott.

Als die Braut das Häuschen betrat, in welchem ihr künftiger Gatte geboren war und noch wohnte, wurde ihre frohe Stimmung stark herabgedrückt. Das war weit verwahrloster, als sie sich gedacht hatte, und sie nahm sich vor, den Eltern ihres Ewald eine menschenwürdige Behausung zu schaffen. Die Thüre, durch welche sie eintrat, hing schief in den Angeln, die Wohnstube, in die sie geführt wurde, war so niedrig, daß sie sich unwillkürlich bückte. Eine dumpfe Luft legte sich ihr beklemmend auf die Brust. Die Mutter Ewalds war eben in der Küche damit beschäftigt, Heringe zu braten, und als der Sohn sie hereinrief, kam sie in schmutzigen vertragenen Kleidern zum Vorschein, eine fettige Gabel in der Hand.

Bei der Erklärung des Sohnes, daß Fräulein Wesdonk sich mit ihm versprochen habe, kreischte die Alte vor Verwunderung auf und lief hinters Haus, um den Vater zu rufen. Ewald lachte über das Gebahren der Mutter, Bettina jedoch konnte sich nicht verhehlen, daß die Frau weder gutmüthig noch ehrwürdig aussehe. Auch Vater Monk, der jetzt hereingehinkt kam, gehörte nicht zu den angenehmen Erscheinungen. Die Gicht hatte ihm seit Jahren arg zugesetzt, und er führte eine Sprache, die sich sehr in Gegensätzen bewegte, in keinem Falle aber für ihn einnahm; entweder fluchte er wie ein Türke oder er schmeichelte wie ein Kind.

Als Bettina ihm mit einigen herzlichen Begrüßungsworten die Hand reichte, knickte er vor Höflichkeit fast zusammen, küßte ihr die Hände und nannte sie fast bei jedem Satz, den er sprach, „mein Herzchen, mein Engelchen, mein traut’stes Kindchen.“

Frau Monk wischte geschäftig mit der Küchenschürze den Stuhl ab, auf den sich ihre neue Schwiegertochter setzen sollte, und stopfte dabei eine graue Haarsträhne. die ihr über den sehnigen braunen Hals hing, unter die Haube.

Bettina wollte den Glückstag nicht vorübergehen lassen, ohne ein gutes Werk gethan zu haben. Sie äußerte, daß Ewalds Vaterhaus gar eng und gebrechlich sei, und als der alte Monk zur Antwort gab, daß er sich in dem feuchten Teufelsnest die gottverfluchte Gicht geholt habe, fragte sie, welche Summe wohl erforderlich sei, um ein nettes helles Häuschen an die Stelle des baufälligen zu setzen.

Der Alte rieb sich mit der schäbigen Mütze, die er in der Hand hielt die Kniee und meinte, für zweitausend Mark ließe sich schon ein hübsches Haus aus Fachwerk herstellen.

[110] „Nun, so wird mir Ewald wohl gestatten, daß ich seinen Eltern diese Summe anweise,“ sagte sie gütig lächelnd. „Wir wollen dann zu gleicher Zeit bauen.“

Die Alten erschöpften ihren ganzen Wortvorrath in Dankesbezeigungen und priesen Ewald glücklich, daß er solch einen Engel zur Frau bekomme. Diesem Engel aber wurde es bei den Alten allmählich bange. Dem Brodem des Häuschens entschlüpfend, gestand sich Bettina, daß allzuviel Honig von den Lippen ihrer künftigen Schwiegereltern geflossen sei. Indessen, wie Ewald so stolz und stattlich an ihrer Seite einherschritt, fühlte sie sich wieder ermuthigt. Ich werde mit ihm leben, nicht mit den Eltern, sagte sie sich beruhigt.

Ewald begleitete sie zum Schulhaus zurück und verkündete jedem, der ihnen begegnete, sein neues Glück. Der Lehrer war bei der Nachricht von Bettinas Verlobung ebenso sehr überrascht wie der Kommandant, und als Ewald sich entfernt hatte, sagte er kopfschüttelnd: „Sie wagen einen kühnen Schritt, Fräulein Wesdonk.“

„Ist Ewald nicht brav?“

„Gewiß, ich achte ihn als einen ehrlichen Mann und tüchtigen Lotsen; allein er steht an Bildung und Lebensart weit unter Ihnen, und hier zu Lande gilt das Sprichwort. ‚Gliek tau Gliek‘ – Sie beide aber sind weit von einander geschieden durch Erziehung, Familie und Bildung.“

„Und ich glaube an ein ausgleichendes Gefühl,“ versetzte Bettina, „und das heißt die Liebe.“

„Möge Ihnen der Ausgleich gelingen!“ entgegnete besorgt der wohlmeinende Mann.

Bettina reichte ihm mit einem sonnigen Lächeln die Hand. „Helfen Sie mir dazu und bleiben Sie mein Freund!“

Der nächste Tag brachte den Verkauf des Bräuningschen Grundstückes zum Abschluß. Für die Summe von dreitausendzweihundert Mark erwarb Bettina den schön gelegenen Bauplatz, dessen Grenzen der Geometer dann genau bestimmte. Sie entwickelte nun in der Verwirklichung ihres Planes eine ungewöhnliche Thatkraft. Sie segelte mit Ewald nach der Hafenstadt, wo Ziegel, Cement und Holz in Fülle zu haben waren, schloß mit einem tüchtigen Maurermeister Verträge ab behufs rascher Ausführung des Baues und einigte sich mit einem Landschaftsgärtner über die Gartenanlagen und Baumpflanzungen.

Als nun aber die Arbeit beginnen und eine Schleife über das abschüssige Vorland bis ans Wasser gelegt werden sollte, kam „oll’ Bräuning“, ein knorriger Bauer, dessen Augen listig unter den buschigen Brauen hervorblinzelten, und erhob Einspruch gegen die Anlage.

„Mit welchem Rechte?“ fragte Bettina, „das Land gehört mir.“

„Soweit es auf der Höhe liegt, ja,“ entgegnete der Bauer ruhig, „aber von der Kante des Ackers an bis zum Wasser liegt auch noch Erde und die gehört mir.“

Bettina war einen Augenblick sprachlos vor Ueberraschung. Sie hatte, gleich dem Geometer, diese schräge bis zum Wasser reichende Fläche für den Untergrund ihres Bodens angesehen, sie war auch überzeugt, daß die Gerichte zur gleichen Ansicht gelangen würden, da die Wassergrenze des Meeres keine fest bestimmbare war und die Brandung häufig bis an den Fuß des Berges reichte. Allein sie konnte die Arbeiten nicht bis zum Abschluß eines Prozesses verschieben.

Was nun thun? Ewald wußte keinen Rath, ihn brachte der Gedanke aus der Fassung, daß Bräuning sich für die eigenen und Kathreins zerstörte Hoffnungen schadlos halten wolle. Der Lehrer aber schlug Bettina einen Vergleich vor und versprach ihr dabei seine Unterstützung. Als diese zu persönlicher Unterhandlung den Hof Bräunings betrat, sprangen ihr zwei große Hunde mit wüthendem Gebell entgegen, und sie bemerkte, daß hinter der Hecke ein dralles Bauernmädchen stand, das sich an ihrem Erschrecken weidete. Bettina war jedoch nicht feig. Das plÖtzliche Anspringen der Hunde hatte sie erschreckt, nicht eingeschüchtert. Sie ging den Hunden furchtlos entgegen, worauf diese sie kläffend umkreisten, ohne aber einen Angriff zu wagen. Im Hause sah sie zwei Burschen, welche sie erst herausfordernd anstarrten und dann langsam hinausgingen, um Bräuning zu rufen.

„Oll’ Bräuning“ begrüßte Bettina mit höhnischer Unterwürfigkeit, und als sie sich zu einem friedlichen Vergleich erbot und nach der Höhe seines weiteren Anspruchs fragte, forderte er fünftausend Mark.

Diese Unverschämtheit wies sie entrüstet zurück durch die Bemerkung, daß eine solche Forderung für den Sandhaufen, auf dem kaum der Strandhafer gedeihe, einer Erpressung gleichkomme. Der Bauer antwortete mit pfiffigem Lachen, er habe so viel von der neumodischen Gartenkunst gehört, daß er glauben müsse, der Stadtmamsell werde es nicht schwer fallen, auf dem Sandhaufen einen Weinberg anzulegen. Weinberge von solcher Größe aber bezahle man in der Regel höher als mit fünftausend Mark.

Nun erklärte Bettina ernst und bestimmt, sie sei zu einer ernsthaften Auseinandersetzung gekommen, nicht um Proben seines Witzes zu hören. Sei er dazu nicht in der Laune, so möge das Gericht die Entscheidung treffen. Sie werde unterdessen Mittel finden, ihren Bau durchzusetzen. Damit verließ sie rasch den Hof.

Am Abend lungerte „oll’ Bräuning“ vor dem Schulhaus herum und nachdem er des Lehrers habhaft geworden war, sprach er vom Wetter, vom Kohlpflanzen und kam endlich auf seinen Handel mit „der Stadtmamsell“ zu sprechen. Ganz beiläufig erkundigte er sich, ob diese wohl dreitausend Mark für das Vorland zahlen werde.

Der Lehrer erwiderte lachend. „Ihr irrt Euch, Nachbar, die Stadtmamsell, wie Ihr das Fräulein nennt, ist wirklich nicht auf den Kopf gefallen. Sie steht schon mit Pischel in Unterhandlung und wird dessen Wiese an der Wolfsschlucht kaufen, falls Ihr Euch bis morgen Mittag zwölf Uhr nicht zu einem verständigen Ausgleich entschlossen habt.“

„Und das Kornfeld?“

„Nun, das verkauft sie an ihren Freund Schmidt, einen Berliner Advokaten, der sich ein Landhaus an der See erbauen will.“

Schon in der Frühe des anderen Tages stand „oll’ Bräuning“ im Schulhaus und gab seinen Rechtsanspruch auf das Vorland für achthundert Mark preis. Bettina zahlte die Summe, allein ihr Glaube an die Biederkeit der Landbewohner war etwas erschüttert. Doch tröstete sie sich damit, daß keine Regel ohne Ausnahme sei, und warf „oll’ Bräuning“ zu den Ausnahmen.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 5, S. 133–140

[133] Der Bau des Hauses begann in den ersten Tagen des Mai, und Bettinas Schaffensdrang fand während des Sommers einen willkommenen Wirkungskreis. Mit Sonnenaufgang schon war sie bei den Bauleuten draußen und freute sich des gedeihlichen Fortgangs der Arbeit. Sie besprach mit dem Werkmeister jede Einzelheit der Ausführung und wußte mit klugem Sinne die Hindernisse zu beseitigen, jede Stockung zu überwinden. Zu Anfang Juli war der Rohbau vollendet, und sie gab den Maurern und Zimmerleuten ein Richtfest, bei dem es lustig herging und der Lehrer einen artigen Trinkspruch auf die schöne Bauherrin ausbrachte.

Ewald konnte dem Feste nicht beiwohnen, denn er mußte zu seinem Verdruß den Dampfer eines reiselustigen Prinzen als Lotse begleiten. Bettina bekam ihren Verlobten während des Sommers überhaupt nur wenig zu sehen, denn wenn er nicht dienstlich beschäftigt war, so bedurften die Eltern seiner beim Einbringen der kleinen Ernte, beim Fischen oder bei der Aufführung des neuen Häuschens. Die Monate Juli und August waren heiß und regenlos, das kam dem Neubau Bettinas sehr zu statten; auf der luftigen Höhe trocknete er bald gründlich aus, so daß schon im September mit der inneren Ausstattung begonnen werden konnte. Die Gartenanlage erforderte bei diesem Wetter fortgesetzte Bewässerung, und Bettina war rastlos thätig, um dem jungen Rasen, den eingepflanzten Bäumen und Sträuchern die nöthige Erfrischung zu geben. Sie freute sich des fröhlichen Gedeihens, und wenn Ewald abends zu ihr kam, zeigte sie ihm stolz und glücklich die Fortschritte im Garten und entwarf mit ihm heitere Zukunftspläne.

Die Hochzeit sollte Mitte Oktober stattfinden, und Bettina begab sich vier Wochen vorher nach Berlin, um die für die innere Einrichtung des Hauses nöthigen Möbel, Gardinen und Geräthe einzukaufen.

Sie hatte sich anfangs vorgenommen, das Haus nett, doch mit größter Einfachheit auszustatten, als sie aber in den Kaufläden und Magazinen den farbenreichen Teppichen, den schöngeformten Schränken, den reichgemusterten Möbelstoffen gegenüberstand, konnte sie dem Verlangen nicht widerstehen, ihr Erkerzimmer wenigstens schön und geschmackvoll auszuschmücken. Hier mußte ihr Flügel stehen, ein Kaminofen mit farbigen Kacheln sollte während der langen Winterabende trauliche Plauderstunden beim offenen Feuer ermöglichen, weiche Portieren sollten den Raum vom Eßzimmer scheiden und schöne Bilder und Büsten die Wände beleben – die Naturschwärmerin konnte den Salon nicht entbehren. Alle übrigen Räume jedoch sollten mit einfachen hellen Möbeln und Gardinen ausgestattet werden. Als sie mit ihren Einkäufen zu Ende war und im Gasthof die Ausgaben überschlug, erkannte sie mit leisem Schrecken, daß sie weit über den Anschlag hinausgegangen war. Sie hatte für den Bau und die Einrichtung ihres Heims nun dreißigtausend Mark aufgewendet. „Aber was habe ich für diese Summe auch alles erworben!“ sagte sie sich zur Beruhigung ihrer eigenen Bedenken, „wir besitzen das schmuckste Landhaus mit herrlichem Ausblick aufs Meer, mit einem Garten, der uns Gemüse und später auch Obst in Fülle liefern wird.“ Sie überschlug ihr Einkommen aus den Zinsen des übrigen Kapitals und Ewalds Verdienst als Lotse und fand, daß beides zusammen für [134] zwei Personen mehr als ausreiche. Und sollte einmal das Geld wirklich knapp werden, nun so konnte man ja die hübsche Mansarde und das kleine Zimmer, welches jetzt zur Aufstellung der Schränke bestimmt war, während der Sommermonate an Badegäste vermiethen.

Beruhigt wandte sie sich am letzten Tage ihres Aufenthaltes der Wohnung ihrer Stiefmutter zu, erfuhr jedoch beim Portier, daß Frau Rosita drei Tage zuvor ihre Hochzeit mit dem Grafen Trachberg gefeiert und mit ihrem Gatten nach Italien gereist sei.

Bei dieser überraschenden Neuigkeit empfand Bettina bloß Befriedigung darüber, daß sie erst jetzt zu dem Besuch sich entschlossen hatte und so einer unter solchen Umständen doppelt widrigen Begegnung entgangen war. Nun galt es nur noch, sich von den Horsts zu verabschieden.

Dort sollte ihr aber eine zweite Ueberraschung zu theil werden.

Lisa befand sich in Berlin und war wenige Tage zuvor eines Knäbleins genesen. Dieses freudige Ereigniß schien jedoch nicht nach Gebühr gewürdigt zu werden. Der Sanitätsrath sah bleich und verstört aus und gab auf Bettinas Erkundigungen zerstreute Antworten. Lotte schien vor lauter Geschäftigkeit nicht zu wissen, wo ihr der Kopf stand, und als Bettina fragte, ob sie Lisa sprechen könne, deutete das Mädchen kurzweg auf Lisas früheres Schlafzimmer und sagte, indem sie der Küche zuhastete. „Er ist bei ihr.“

Bettina klopfte schüchtern an die Thür, und da niemand „Herein“ rief, öffnete sie vorsichtig. Ein seltsamer Anblick bot sich ihr – vor dem Bette ihrer Freundin, welche verhärmt und bleich aussah, kniete Diaz; über seine Wangen rollten dicke Thränen, er hatte die Rechte erhoben und rief mit bebender Stimme: „Lisa, Lisa, ich gelobe Dir, ein ganz neues Leben anzufangen. O, glaube mir – und sei wieder gut!“

Die Besucherin zog erschreckt den Kopf zurück, ging zur Küche, plauderte mit Lotte und bat diese, sie bei der Schwester anzumelden. Als sie dann zum zweiten Male bei Lisa eintrat, schien das junge Paar versöhnt zu sein, und Diaz zeigte ihr mit großem Vaterstolz seinen Jungen, dann lief er fort und ließ die Freundinnen allein. Lisa war seltsam ernst geworden, und wie Bettina ihr anvertraute, daß sie sich mit Ewald Monk verheirathen wolle, blickte sie erschrocken auf und sagte leise:

„Wenn Dir der Rath einer Frenndin etwas gilt, so thu’ es nicht, mein Herz.^

„Warum?“ fragte Bettina und eine heimliche Angst sprach aus ihren Augen.

„Weil man die Charaktereigenschaften des Mannes genau prüfen soll, mit dem man sich fürs ganze Leben verbindet.“

„So bist Du nicht glücklich, Lisa?“

Diese schwieg einige Minuten still, in schmerzliches Sinnen verloren; noch stand sie unter dem Einfluß jener Scene, welche die Freundin unabsichtlich belauscht hatte. „O, es wird mir schwer, Dir meine Lage zu bekennen. Aber es gilt, Dich zu warnen – Dich, Betty, die ich liebe; darum muß ich Dir gestehen, daß meine Träume von Glück zerronnen sind, daß die heißeste Liebe die Kluft nicht zu überbrücken vermochte, welche innere und äußere Unterschiede zwischen mir und meinem Gatten aufgethan haben. Vielleicht, daß die gemeinsame Sorge um das kleine Wesen hier an meiner Seite dies dereinst zuwege bringt – der Himmel gebe es!“

„Aber Garcia ist doch so gut und liebenswürdig –“

„Gewiß, das ist er, und würden wir ein unerschöpfliches Vermögen besitzen, so wäre wohl manches anders, wenn auch nicht alles. Allein leider müssen wir um unser Auskommen ringen, und Garcia ist nicht für den Kampf ums Dasein erzogen. Ihm fehlt die Ausdauer, er ist leichtlebig und naiv wie ein Kind. Nichts haßt er so sehr als die Pflicht, und das Drohnendasein, welches wir im Schlosse des reichen spanischen Herzogs führten, war nur dazu angethan, ihn noch mehr zu verweichlichen. Hätten wir den Anfang unserer Ehe in Deutschland zugebracht, so würde sich Garcia vielleicht zur Arbeit bequemt haben, in Spanien machten sich die übelsten Einflüsse auf ihn geltend. In Madrid, wo wir bei jenen Tanten zu Gast waren, die ihn erzogen und verzärtelt haben, litt ich Folterqualen. Diese Damen haben Zeit ihres Lebens keine andere Beschäftigung gekannt, als den Fächer zu schwingen und die Kirche zu besuchen und fanden es ganz natürlich, daß ihr Neffe sich lieber auf irgend einen günstigen Zufall verließ, statt seine Zukunft auf ernste Arbeit zu gründen. Garcia vernachlässigte denn auch immer mehr die Musik und, da er meine Ermahnungen und Vorwürfe fürchtete, auch mich. Er trieb sich des Tags bei den Stiergefechten, bis spät in die Nacht hinein in den Theatern und Cafés herum, und seine einzige Beschäftigung bestand darin, Cigaretten zu rauchen und die Chancen des Lottospiels zu verfolgen. um diesem unheilvollen Zustande ein Ende zu machen, floh ich hierher. Garcias Liebe zu mir war, dem Himmel sei Dank, wenigstens so stark, daß er mir folgte und reuevoll gelobte, sich aufzuraffen. Leider fand ich den Vater in großen Sorgen – er hat um einer Schwester willen, die er zärtlich liebte, Bürgschaft für seinen Schwager geleistet und dadurch sein erspartes Vermögen verloren. Dieser Schlag wirft ihn völlig nieder, denn seine Gesundheit ist zu sehr geschwächt, als daß er hoffen dürfte, den Verlust auch nur theilweise wieder zu ersetzen. und jetzt quält er sich mit Vorwürfen und schweren Sorgen um seiner Kinder willen. Kurz, wir gehen trüben Tagen entgegen.“

„O, blicke nicht so trostlos drein, Lisa!“ Bettina schlang die Arme um die blasse Freundin und schaute sie mit feuchtschimmernden Augen an. „Ich habe mir in Massow ein freundliches Heim geschaffen, betrachte Du es als eine Zuflucht. So oft Du der Erholung oder des Trostes bedarfst, komm’ zu mir!“

„Du bist gut, Bettina, allein wenn Du Ewald Monk heirathest, hörst Du auf, Herrin Deiner Entschließungen zu sein. Unter Leuten seines Standes gilt der Wille des Mannes alles. Bedenke reiflich den Schritt, den Du vorhast! Vor einem Jahre, da ich noch gleich Dir in romantischen Träumen befangen war, hätte ich Dir freudig zugestimmt, heute weiß ich, daß Du ein gewagtes Spiel spielst – hüte Dich!“

„Deine Warnung ist wohlgemeint,“ antwortete Bettina, „allein sie kommt zu spät, ich halte mich für gebunden. Ich muß auf dem betretenen Wege vorwärtsschreiten und will es furchtlos thun, denn Ewald liebt mich. Mein Entschluß ist das Ergebniß reiflicher Erwägungen, und was ich beschlossen habe, führe ich aus. Aber davon kannst Du Dich im voraus überzeugt halten, wenn Du einer Zufluchtsstätte bedarfst, so wird Ewald Dir freudig unser Haus öffnen. Und nun leb’ wohl!“

Bettina küßte die Freundin zärtlieh auf die Stirn. Als sie sich eben entfernen wollte, kam Garcia mit einem Korb voll Blumen herein.

„Du sollst heiter sein, liebste Lisa,“ sagte er, indem er eine Fülle gelber und dunkelrother Rosen über ihr Bett streute, „und sollst wieder an Glück und frohe Hoffnung glauben; Du sollst überzeugt sein, das ich Dich liebe – seit Du mir einen Sohn geschenkt hast, noch viel, viel mehr.“

Dabei küßte er ihre weißen Hände und beugte sich über das Bettchen mit dem strahlenden Lächeln des beglückten Vaters.

Noch einmal trat Bettina zu der Freundin und flüsterte ihr ins Ohr:

„Und Du glaubst noch, daS eine Kluft bestehe? Dein Kind füllt sie aus, Du Zweiflerin. Laß uns leichten Herzens unsere Pflicht thun, aus den Wolken wird die Sonne des Glücks hervorbrechen. Gehab’ Dich wohl – auf fröhliches Wiedersehen!“




10.

Im jungen Garten Bettittas waren die Rosen und Astern verblüht, die wilden Reben an der Mauer ließen im Herbststurm ihre Blätter zur Erde fallen und die hellen goldigen Lichter der Spätsommertage wichen auf dem Meere dunklen Farben. Tiefe Wolkenschatten traten an Stelle der Sommerherrlichkeit, das Meer rauschte stärker gegen den Fuß des Höwts. Bettina war mit der Ausstattung ihres Hauses fertig geworden und rüstete die Hochzeit. Doch niemand, selbst Ewald nicht, durfte das Landhaus, welches sie die „Klause“ nannte, betreten; die Hochzeitsgäste sollten durch die Einrichtung überrascht werden.

[135] Ein Gefühl des Schmerzes überkam sie doch bei dem Gedanken, daß kein Verwandter, keine Freundin aus der Jugendzeit bei dem Feste gegenwärtig sein werde. Keines ihrer Angehörigen billigte ihre Wahl.

Von Mathilde, der sie ihren Entschluß während des Sommers brieflich mitgetheilt hatte, war die schroffe Antwort eingetroffen: „Wenn Du diesen wahnsinnigen Streich begehst, wenn Du um eines Schiffers willen diese Schmach über Deine Familie bringst, so habe ich keine Schwester mehr.“ Rosita hatte von Italien aus die Stieftochter beschworen, von der romantischen Schrulle abzustehen, und endlich ihre Einwilligung zu dem „unseligen Bündniß“ nur unter der Bedingung gegeben, daß Bettina sie niemals in die Verlegenheit bringe, den Lotsen sehen und „Schwiegersohn“ nennen zu müssen. Lisa war durch ihre Mutterpflichten verhindert, der Trauung beizuwohnen, und der Sanitätsrath hatte ebenfalls sein Erscheinen, freilich in schonender Form, abgelehnt.

Alle diese Zuschriften peinigten Bettina, ohne ihren Entschluß zu erschüttern. Im Gegentheil, sie steigerten nur jene Schwärmerei, mit welcher sie in der Natur die Alltrösterin sah für jeden Schmerz.

Sobald sie sich bedrückt fühlte, segelte sie ganz allein im kleinen Boote hinaus aufs Meer. Und flog sie nun dahin über die Wogen, im rauschenden Winde, so wich das unbestimmte Sehnen ihrer Brust einem Zustand der Selbstvergessenheit, der träumerischen Ruhe. Ihr war es dann, als sei das Meer lebendig, als müsse vor seiner gewaltigen Sprache ihr kleines Leid wie ein Nichts verstummen. Hier fand sie auch immer wieder den festen Entschluß, durchzuführen was sie begonnen hatte. Als die Mißbilligung ihrer Angehörigen und Freunde von allen Seiten an sie herantrat, hatte sie sich nochmals geprüft, ob sie Ewald liebe, und sonderbar schwer war ihr der Zweifel aufs Herz gefallen, ob sie mit freudigem Ja antworten könne. Aber war Ewald nicht der Sohn wahrer Natur, die sie suchte, liebte er nicht seine Braut innig und aufrichtig um ihrer selbst willen? War er nicht fern davon auf ihr Vermögen zu rechnen?

Gerade an diesem Punkte wollte stets eine räthselhafte Beklemmung das Mädchen beschleichen. Wohl hatte Ewald selbst keine Berechnung verrathen, aber seine Eltern. Diese belästigten Bettina mit Andeutungen, deren Absicht leicht zu durchschauen war. Sie sprachen vom guten alten Brauch der Brautleute, einen Ehevertrag aufzusetzen. Der Mann, welcher dafür zu sorgen habe, daß der Schornstein rauche, müsse wissen, wie er stehe für den Fall, daß ihm der liebe Gott den Engel von Frau, den er ihm gegeben, wieder nehme. Leichten Herzens trete man in das Haus des Reichthums, doch schwer sei das Verlassen ...

Bettina hatte diese versteckten Forderungen mit der Bemerkung abgewiesen, daß sie durch ihren letzten Willen Ewald vor dem Schmerze bewahren werde, die Klause jemals wieder verlassen zu müssen. Was ihr gehöre, sei auch sein Eigenthum und solle es bleiben. –

Es war ursprünglich ihre Absicht gewesen, die Hochzeit im engsten Kreise zu feiern, allein Ewald und seine Eltern hatten mit aller Bestimmtheit versichert, daß das unmöglich sei. Man erklärte ihr, daß die Größe und der Glanz eines Hochzeitsfestes dem Reichthum der Braut entsprechen müsse, und jeder Anverwandte, jeder Freund und Nachbar werde sich tief beleidigt fühlen, wenn man ihn bei der Einladung übergehe. Ewald besaß verheirathete Schwestern, von denen die beiden ältesten mit Kindern reich gesegnet waren. Der Mann der ältesten war Viehhändler in der nächsten Kreisstadt, derjenige der andern Kutscher bei der Gräfin Lindström; diese Familien mußten selbstverständlich sammt den Kindern eingeladen werden.

Bettina schlug Ewald nun vor, das Fest im Gasthaus zu veranstalten, allein wieder stand die Sitte dem im Wege. Bei der Hochzeit solle das junge Paar zeigen, was Küche und Keller in der neuen Wirthschaft zu leisten vermöchten. Bettina wäre gern still mit dem Manne ihrer Wahl in ihr neues Heim eingezogen, aber da sie sah, wie stolz es Ewald machte, seine Braut und seinen künftigen Wohnsitz allen zeigen zu können, so wollte sie ihm die Freude nicht verderben und gab nach.

Der Himmel war dem Festtag nicht günstig. Es hatte viel geregnet und der Weg nach dem Pfarrdorf war derart durchweicht, daß die Gesellschaft die Boote benutzen und mit großen Regenschirmen bewaffnet über die Bucht fahren mußte. Bettina hatte ein perlgraues schmuckloses Kleid angelegt, allein im Myrthenkranz und im zarten duftigen Schleier nahm sie sich unter den groben braunen Fischergestalten, die in ihren Sonntagskleidern noch steifer und eckiger als gewöhnlich aussahen, wie das Mädchen aus der Fremde aus. Ewald saß mit glückstrahlendem Gesicht neben ihr und hielt ihre Hand so fest in der seinen, als fürchte er, sie könne in Duft und Nebel zerfließen. Im Pfarrdorf war jung und alt herbeigelaufen um der Trauung des seltsamen Paares beizuwohnen. Ewald schritt stolz durch die gaffende Menge, Bettina mit brennender Röthe auf den Wangen. Die Trauung war bald vorüber, und still fuhr man nach Massow zurück. Bettina war noch ganz erfüllt von der Größe dessen, was sie zu vollführen unternommen hatte, Ewald genoß behaglich die allgemeine Bewunderung seines Glücks, die Gäste waren gespannt, die Klause zu betreten.

An der Küste waren übertriebene Gerüchte umgelaufen von der Pracht und Herrlichkeit, mit welcher Bettina ihr Landhaus ausgestattet habe. So erwarteten die Schwäger und Schwägerinnen, einen Feenpalast zu sehen. Als Bettina nun die lärmende Gesellschaft auf dem Flure willkommen hieß und sie bat, die nassen Mäntel und Schirme abzulegen, trat eine Pause feierlicher Erwartung ein. Die junge Hausfrau schmiegte sich an den Arm des Gatten und flüsterte ihm ins Ohr. „Nun bin ich neugierig, wie Dir unser Heim gefallen wird, Ewald.“

Arm in Arm schritten sie, den Gästen voraus, durch das helle freundliche Speisezimmer, dessen weit ausgezogene Tafel mit schneeweißem Linnen überdeckt und mit Delfter Geschirr besetzt war. Hier sollten die Erwachsenen, im Nebenzimmer aber die Kinder speisen.

Die schön geschmückte Tafel, das Büffet mit seinen Krystallschalen und Silbergeschirren, das alles wirkte so reich und einladend, daß Ewald in aufwallender Dankbarkeit seiner Frau einen derben Kuß auf die Wange drückte. Der Salon enttäuschte die Gesellschaft. Bettina hatte erzählt, daß sie manches schöne Stück aus ihres Vaters Besitz hier aufstellen und den Raum mit mehr Eleganz ausstatten werde, als sich für ländliche Lebensgewohnheiten gezieme. Infolgedessen erwartete man, ein buntschillerndes, von Sammet und Seide starrendes Gemach zu finden. Bettinas Salon aber hatte einen ernsten, gediegenen, fast feierlichen Charakter. Von den dunkelrothen Wänden hoben sich auf Ebenholz-Konsolen einige Marmorbüsten und Bronzestatuen ab. Die schweren Plüschportieren und Polstermöbel sahen durchaus nicht prunkvoll aus, und für die Harmonie der Farben, die Schönheit der Formen und die lauschige Anordnung der Möbel hatten die rauhen Küstenbewohner keinen Sinn.

„Je,“ sagte der gräfliche Kutscher und schob ein Priemchen Tabak in den Mund, „dat is ja allens recht schön und gaud, Frau Swägerin, äwer was unsre Madame, die Frau Gräfin is, gegen die kommen Sie doch nich an.“

„Ja,“ bestätigte der Viehhäudler mit einem verächtlichen Blick auf Bettinas Einrichtung, „wenn einer wat hellsch Steilisches sehn will, möt er aufs gräfliche Schloß gahn. In den groten Saal, Ewald, steckt mehr Werth in als in Din ganzen Krempel.“

Bettina blickte die beiden Schwäger überrascht an, dann brach sie in ein helles Lachen aus und sagte: „Es ist mir auch nie in den Sinn gekommen, mit der Gräfin Lindström wetteifern zu wollen, denn der Gatte dieser Dame war mehrfacher Millionär, der meinige aber ist Lotse.“

„Ja,“ versetzte der Lehrer, „wenn jeder Lotse sich in einem solchen Neste niederlassen könnte, brauchte keiner auf die Gräfin neidisch zu sein.“

Ewald, dessen Gesicht sich bei den kritischen Auslassungen seiner Schwäger verdüstert hatte, schlug jetzt dem wohlmeinenden Nachbar auf die Schulter und rief fröhlich: „Hast recht, Schulmeister, und wer gar eine solche Frau gefunden hat wie meine Betty, der mag mit keinem König tauschen. Und nun zu Tisch!“

Diese Aufforderung brachte die ganze Gesellschaft in Bewegung. Man war während der Fahrt nach Groß-Küstrow redlich hungrig geworden und sehnte sich nach den erwarteten Herrlichkeiten. [136] Der Gastwirth des Ortes hatte den Wein geliefert und mit seiner Frau und Tochter die Herstellung des Hochzeitsschmauses und die Aufwartung übernommen. Die Frau des Lehrers überwachte aus Freundschaft für Bettina den Kindertisch. So wurde denn das Festmahl in vergnüglicher Stimmung begonnen. Und doch – als Bettina ihre Blicke über die groben Züge der Tischgenossen gleiten ließ, zu denen sie nunmehr in ein verwandtschaftliches Verhältniß getreten war, schlich sich die Bangigkeit in ihr Herz und die Brust ward ihr so eng, daß sie nach Athem rang.

Die glänzende Hochzeitsfeier Lisas drängte sich ihrer Erinnerung auf. Wie war dies junge Paar, mit Liebe überschüttet, von Freunden umdrängt, wie feinsinnig war es gefeiert worden!

Hier aber – nur öde stumpfe Gesichter, Neugierde, doch keine Theilnahme, keine Menschenseele, der sie ihr Inneres hätte aufschließen mögen – außer Ewald. Außer Ewald? Sie erschrak fast, daß sie sich diese Frage stellte, daß das Gefühl sich nicht abweisen lassen wollte, als könne sie auch ihm nicht ihr geheimstes Leben enthüllen, weil er sie doch nicht verstehen würde. Mit schmerzlichem Bangen ruhte ihr Blick auf ihrem Gatten, der sich mit demselben Eifer wie seine Gäste den Genüssen der Tafel widmete. Lauter und lauter wurde die Unterhaltung, in welche Ewald hie und da einen plumpen Scherz hineinwarf, während Bettina mehr und mehr verstummte. Tiefstes Unbehagen prägte sich auf ihren Zügen aus, denn ihr gegenüber saß der Schwager Viehhändler und erzählte, behaglich in seinen Stuhl zurückgelegt, mit siegessicherer Miene allerlei Geschichten, die er auf seinen Geschäftsreisen zusammengelesen haben mochte. Endlich war ihre Kraft erschöpft, mit einer hastigen unwilligen Gebärde stand sie auf und rief: „Wir Frauen wollen einmal nach den Kindern sehen!“

Sie begriff es nicht, daß Ewald über die rohen Scherze seines Schwagers lachen konnte; der Viehhändler aber ärgerte sich, daß die junge Hausfrau die Tafel verließ. „Din Fru is ja hellsch hoffärtig,“ sagte er zu Ewald. „Die Nücken möt Du ihr all zeitig afgewöhnen.“

Eine Stunde später kehrte Bettina aus dem Nebenzimmer, wo sie mit den Kindern ein Spiel in Gang gebracht hatte, zu ihren Gästen zurück. Sie fand hier die Stimmung noch bewegter als vorhin, nahm sich aber vor, unbefangen zu scheinen und zu bleiben, um kein Aufsehen zu erregen. Als daher die Männer bei ihrem Wiedererscheinen die Gläser erhoben und ihr in übermüthigem Tone „Prost ooch, junge Fru!“ zuriefen, that sie ihnen ruhig Bescheid.

Bald darauf rückten die Dorfmusikanten von Groß-Küstrow an, um zum Tanze aufzuspielen. Nun wurde das Speisezimmer in Eile ausgeräumt, die Spielleute ließen sich im Salon nieder, und sobald die Musik ertönte, kam aus dem Dorfe eine Anzahl von Burschen und Mädchen herbei, die, obgleich zum Feste nicht geladen, von dem jungen Ehepaar herzlich willkommen geheißen und freigebig bewirthet wurden.

Bald hallte das neue Haus von den kreischenden Tönen schlechter Musik, vom Stampfen und Johlen der Tanzenden wieder. Bei der jungen Frau, die nur einmal mit Ewald tanzte und sich dann als Zuschauerin bei Seite stellte, weckte der wachsende Tumult ernste Besorgniß. Der starke Wein ließ die Gesichter der Männer immer heißer und röther werden, ihre Sprache immer lauter, ihr Benehmen immer freier und ungebärdiger. Auch Ewald hatte mehr getrunken, als ihm zuträglich war. Als ihn Bettina zaghaft auf das wüste Treiben aufmerksam machte, gab er ihr einen Kuß und schnitt alle Einwendungen mit den Worten ab: „Wir machen nur einmal im Leben Hochzeit, mein Schatz!“

Unter den Tänzerinnen befand sich auch Kathrein Bräuning, und mit dieser tanzte Ewald so oft, als wollte er sie für das Fehlschlagen ihrer Hoffnungen entschädigen. Die Dirne aber warf der jungen Frau während des Tanzes freche herausfordernde Blicke zu und mit ihrem kecken Lachen schien sie sagen zu wollen: Dich hat er um Deines Geldes willen geheirathet, mich aber liebt er.

Allmählich schwand vor dem lärmenden Gewühl jeder Schimmer von Festfreude aus Bettinas Seele, Scham und tiefe Niedergeschlagenheit traten an die Stelle. In jeder Tanzpause fast wurde gestritten und die Auslassungen der Lustigkeit selbst nahmen für Bettina einen unheimlichen und erschreckenden Charakter an. Und als nun Ewald, dem vom wilden Tanzen der Schweiß auf der Stirne stand, mit unsicheren Schritten auf sie zukam und die Hände ausstreckte, um sie zärtlich in seine Arme zu schließen, da ergriff sie Abscheu und Verzweiflung.

Mit einer raschen Bewegung bog sie aus und lief in ihr Zimmer, das sie hastig hinter sich abschloß. Kaum lag die Thür zwischen ihr und der lärmenden Gesellschaft, so faßte sie den Entschluß, dem häßlichen Feste ganz zu entfliehen. In zitternder Bewegung riß sie den Brautkranz und Schleier ab, dann warf sie einen Mantel über, öffnete das Fenster und sprang in den Garten. Noch war im Schulhaus ihre Stube frei, dort wollte sie für die Nacht eine Zuflucht suchen.

Unterdessen hatte Ewald wiederholt gegen die Thür geklopft und Bettina ersucht, herauszukommen; johlend umringte ihn die trunkene Schar, nachdem sie sich von ihrem Erstaunen über Bettinas Gebahren erholt hatte. Als Ewald wieder und wieder keine Antwort erhielt, stieß er einen grimmigen Fluch aus und warf sich mit solcher Gewalt gegen die Thür, daß diese krachend einbrach.

Mit zornigen Worten auf den Lippen trat er in das matt erleuchtete Zimmer, die neugierige Menge drängte nach – allein in der nächsten Minute standen alle sprachlos vor Ueberraschung, denn das Zimmer war leer.

Langsam ließ Ewald die Blicke durch den Raum gleiten, und als er das offene Fenster bemerkte, wurde es ihm klar, daß Bettina geflohen sei. Diese Erkenntniß machte ihn auf einmal nüchtern und ein Gefühl des Zornes stieg in ihm auf gegen [137] seine Verwandten, die ihn die ganze Zeit über gereizt und in seinem tollen Treiben bestärkt hatten.

„Ah,“ bemerkte jetzt der Viehhändler, dessen Blick gleichfalls auf das offene Fenster gefallen war, „die rothe Tine is durchbrennt. Ja, min Sähn, rothes Hoor un Ellernholt wachsen up keinen gauden Boden.“

Bei dieser höhnischen Bemerkung flammte Ewalds Zorn vollends auf. Mit festem Griffe packte er den Schwager an der Brust und schrie ihm zu: „Von wem sprichst Du, Halunke? Von meiner Frau? Da hast Du die Antwort!“

Von seinem kräftigen Arme geschleudert, flog der Viehhändler gegen die Thüreinfassung. Der Beleidigte stieß einen Wuthschrei aus und stürzte sich mit der geballten Faust auf seinen Gegner. In der nächsten Minute bewirkte dieser persönliche Zusammenstoß der beiden Schwäger einen allgemeinen Kampf unter den bis zum Uebermaß erhitzten Männern, die gar nicht recht wußten, um was es sich handle, und aus dem wilden Knäuel tönte das Krachen der Stühle, das Klirren niederfallender Tafelgeschirre, das Geheul der Kinder und Frauen, das Stampfen und Fluchen der Streitenden.

Zehn Minuten etwa wogte der Streit unentschieden durch die Klause, dann flogen beide Schwäger Ewalds durch die Thür und ihnen folgte mit blutigen Köpfen die kleine Schar derer, die für sie Partei genommen hatten.

Ewald war Herr geblieben in seinem Hause, aber um welchen Preis! Sein bleiches Gesicht war blutüberströmt, sein Anzug zerrissen und der Kampfplatz übersät mit Trümmern und Scherben. Nun trat bei dem jungen Ehemann die völlige Ernüchterung ein. Seine Mutter rang die Hände, keifte, jammerte und schob die Schuld an dem ganzen Streite „der rothen Tine“ in die Schuhe. Unwirsch unterbrach Ewald ihr Geschwätz mit der schroffen Bemerkung, er gestatte niemand, über seine Frau zu schimpfen, auch der Mutter nicht. Die Gäste, auch seine Eltern sollten heimgehen und ihn allein lassen.

Nun führte der alte Monk sein Weib mit einem kurzen „Gut’ Nacht ooch, min Jung’!“ hinaus. Als auf dem Heimweg Frau Monk sich nicht beruhigen wollte, schnitt der hinkende Gatte ihr Schelten durch einen Kernfluch ab und knüpfte an diesen die philosophische Bemerkung: „Is et up Din Hochtied anners west? Ohne Slägerei geiht so ’n Vergneugen nich af.“




11.

Bettina hatte im Schulhaus nur kurze Zeit und sehr unruhig geschlafen. Sie erhob sich, sobald der Morgen anbrach, und kleidete sich an. Ihre Wirthsleute lagen noch im tiefen Schlafe, als sie leise das Haus verließ. Draußen blies ihr der eiskalte Morgenwind entgegen, die Erde war stark bereift. Von der Küste drüben ertönte die Morgenglocke. Bei den langgezogenen Tönen erinnerte sich Bettina, daß ein Sonntag begonnen habe; andächtig faltete sie die Hände und sagte leise: „Der erste Tag meiner Ehe! O möge mir Kraft gegeben werden, klug zu sein und ihn zum Guten zu leiten! Er hat gehandelt, wie er es wußte, an mir ist es, ihm ein Höheres zu zeigen.“

Mit den besten Entschlüssen betrat sie die Klause; aber als sie die verwüsteten Zimmer erblickte, die Glas- und Porzellanscherben, die zerbrochenen Stühle und umgeworfenen Tische, den Trümmerhaufen, in den fast die ganze kostbare Einrichtung verwandelt war, als sie ihren Gatten angekleidet auf dem Bette liegen sah, mit blutigem Gesicht, entstellt und häßlich, da rang sie verzweifelt die Hände und schrie auf: „Alle, die dich warnten, hatten recht, du bist einem schrecklichen Irrthum zum Opfer gefallen!“

Allein in der nächsten Minute schon überwand ihre Willenskraft die Verzagtheit. Jedes Glück im Leben will erkämpft sein, sagte sie sich. Willst du beim ersten Hinderniß schon die Waffen strecken? Arbeite, diene ihm, sei ihm eine Führerin wie Parthenia, und die Liebe wird seine rohe Natur läutern …

Sie weckte die Bauerndirne, welche sie zur Hilfeleistung für die Zeit der Einrichtung gemiethet hatte, und begann eifrig aufzuräumen und die Spuren der Verwüstung so gut es ging zu verwischen.

Als Ewald zwei Stunden später erwachte, hörte er in der Stube nebenan Tassen und Kaffeelöffel klirren, das Feuer im Ofen knistern. Rasch erhob er sich; ein Blick in den Spiegel ließ ihn vor sich selber erschrecken, so konnte er sich vor seiner jungen Frau nicht sehen lassen!

Leise fluchend kleidete er sich um, wusch sich Hände und Gesicht und trat endlich mit der gestrengen Miene eines Gatten, der von seinem Weibe Rechenschaft fordern kann, in das behaglich durchwärmte Stübchen. Er sah Bettina, welche eben den dampfenden Kaffeetopf auf den Frühstückstisch stellte, finster an und sagte in grollendem Tone: „Wo hast Du die Nacht zugebracht?“

„Im Schulhaus, Ewald.“

„Dann geh wieder dahin zurück, wo Du hergekommen bist, verstanden?“

„Nein,“ entgegnete sie lächelnd, „das hab’ ich nicht verstanden. Du wirst mich nicht in derselben Stunde fortschicken, wo unser häusliches Leben beginnen soll.“

„Warum bist Du dann gestern davongelaufen? Warum hast Du mich dem Gespött der Leute ausgesetzt? Wärst Du hier geblieben, so hätt’ ich mich nicht mit meinen Schwägern geprügelt und hier im Hause wäre nicht das unterste zu oberst gekehrt worden –“ Aechzend griff er nach der Stirne.

Sie trat zu ihm hin, legte die Hand auf seinen Arm und sagte in weichem eindringlichen Tone: „Begreifst Du nicht, daß ich nicht bleiben konnte? Ihr waret fast alle von Sinnen, und wie mich die Ausgelassenheit unserer Gäste ängstigte, so flößte mir Dein Benehmen Scheu ein.“ Sie schlug die Augen nieder und ihre Wangen glühten, als sie nach kurzer Pause stockend und zagend fortfuhr: „ Sieh, in jeder Mädchenseele bilden sich rosige Träume vom Glück der Ehe, mit banger Erwartung und heiligem Schauer betreten wir die Schwelle dieses Glücks – in solcher Stimmung [138] dürfen wir nicht der Rohheit begegnen, Ewald, sonst bricht etwas in uns nieder, das sich in der Frauenseele nie wieder aufrichten läßt.“

Er schaute sie verständnißlos an, und da er bemerkte, daß ihre Augen sich mit Thränen füllten, machte er eine ungeschickte Bewegung, in der sich seine ganze Hilflosigkeit verrieth. „Geh, geh,“ versetzte er, „was das nun für Alfanzereien sind! Du thust gerade, als ob so ein tüchtiger Trunk ein Verbrechen wäre. Wann soll man lustig sein, wenn nicht an seinem Hochzeitstag? Bei solchen Gelegenheiten darf man kein Spielverderber sein!“

Ein leiser Seufzer drängte sich uber ihre Lippen – er verstand sie nicht. „Ich kann Dir nicht recht geben, Ewald – aber wir werden uns schon verstehen lernen; ich muß mich erst an Eure Lebensart gewöhnen. Im übrigen wäre es doch besser gewesen, wir hätten die Hochzeit im Gasthof gefeiert, noch ein solches Fest – und wir müssen eine neue Einrichtung kaufen.“

„Und Du kannst Dich dann nach einem neuen Manne umsehen, denn es ist ein wahres Wunder, daß ich mit dem Leben davongekommen bin. Einmat stand ich gegen vier –“

Während Bettina ihm einen Stuhl zum Tische hinrückte und seine Tasse füllte, verbreitete sich Ewald mit der stolzen Genugthuung des Siegers über den Verlauf des Streites, und dabei schwand sein Unmuth. Er empfand mit Behagen die Nähe der jungen Frau, die ihn mit Aufmerksamkeit bediente, die Traulichkeit des warmen Zimmers, aus dem die Spuren der Zerstörung entfernt waren, und nur sein Kopfschmerz erinnerte ihn noch an das unangenehme der verflossenen Nacht.

Als Bettina sich dann erhob, um den Frühstückstisch abzuräumen, kam ein Bewußtsein stolzen Glückes über ihn. Er durfte die Tochter eines Konsuls sein Weib und das schönste Haus in Massow sein eigen nennen. „Betty,“ sagte er in weichem Tone und preßte einen Kuß auf ihren Mund, „jetzt gehörst Du mir.“

Sie schaute ihm tief in die Augen; aber bei dem Gedanken, daß sie alle Verbindungen mit der Welt, in der sie bisher gelebt, abgebrochen habe und daß ihr Geschick unauflöslich mit diesem Manne verbunden sei, kam mit erneuter Gewalt ein Gefühl der Bangigkeit über sie, und sie antwortete zitternd: „Du bist jetzt meine Zuflucht, mein Halt, meine Stütze im Leben. Sei gut gegen mich, Ewald, damit ich heimisch werde hier in Massow! Willst Du?“

„Ja, mein Herz, das will ich.“

„Und laß uns, soweit es irgend thunlich, allein leben, Du wirst sehen, daß wir der Verwandten und Freunde nicht bedürfen, um glücklich zu sein.“

„Wie Du willst, mein Schatz. Aber“ – hier kraute er sich lächelnd den Kopf, „wenn Du Dich nur nicht langweilst. Die Winterabende sind höllisch lang, ich hab’ oft Dienst –“

„O, fürchte nichts! Die Abende sollen angenehm und traulich werden, recht traulich. Im Salon setzen wir uns zum flackernden Kaminfeuer, Du rauchst Deine Pfeife, ich lese Dir ein gutes Buch vor oder singe Dir ein Lied, und dann plaudern wir über Deine Erlebnisse oder machen Zukunftspläne – ach, das soll herrlich werden!“

„Und was thun wir jetzt?“ fragte Ewald.

„LaS uns eine Stunde segeln,“ schlug Bettina vor. „Der Wind bläst Dir Deine Kopfschmerzen fort und erfrischt uns beide.“

Gesagt, gethan! In der nächsten Viertelstunde flogen sie bei steifem Westwind im Boote der Küste zu. Dort landeten sie und wanderten durch den herbstlichen Wald bis zum Schloß der Gräfin Lindström. sie gedachten der Tage, da sie neben Lisa und Diaz denselben Weg gegangen waren, mit der Liebessehnsucht im Herzen. Nun war ihr Wunsch erfüllt, und wie Bettina am Abend mit dem Gatten nach der Klause zurückfuhr, schien es ihr, als habe das Meer ihrem Bunde erst die Weihe gegeben.

*      *      *

Der Winter setzte in diesem Jahre mit starken Schneefällen ein, und um die Mitte des November schon lag Massow in einer dicken weißen Hülle, welche nicht nur das Dorf von den Nachbarorten schied, sondern auch den Verkehr der Dorfbewohner von Gehöft zu Gehöft erschwerte. Da die Klause am weitesten ablag von der großen Häusergruppe und Bettina mit den Bräunings keinen Umgang hatte, so wurde das Landhaus für das junge Ehepaar in der That zur Klause. Bettina freute sich der aufgezwungenen Abschließung, denn nun wollte sie mit der Erziehung ihres Gatten beginnen. Da der Schiffsverkehr mit dem Eintritt der rauhen Jahreszeit an der Küste bedeutend nachgelassen hatte, so rief der Dienst Ewald selten aufs Wasser, allein der Kommandant nahm die Kraft der Lotsen für die Verkehrswege in Anspruch. Pfade zum Höwt und nach Groß-Küstrow mußten durch den Schnee gebahnt werden, und so war Ewald unter Tags häufig zu anstrengender Arbeit gezwungen. Aber dann gehörten die langen Abendstunden dem jungen Paare. Wenn Ewald in der Dämmerung mit geröthetem Gesicht heimkehrte, fand er Bettina auf der Schwelle; freundlich lächelnd bot sie ihm den Mund zum Kusse. Im Salon flackerte ein lustiges Feuer im Kamin; auf dem Tische brannte die Lampe, deren Licht durch einen rothen Schleier gedämpft wurde. Hatte sich Ewald dann im weichen Sessel niedergelassen, so trug seine junge Frau das einfache kräftige Mahl auf; während des Essens gab sie über ihre Beschäftigung Auskunft und fragte, wie er den Tag verbracht habe oder was im Dorfe Neues geschehen sei. Aber er wußte nur wenig zu berichten; immer einförmiger verlief das Leben. So waren die Bücher Bettinas einzige Zuflucht. Wenn der Tisch abgeräumt war und ihr Mann sich seine kurze Pfeife angesteckt hatte, holte sie einen ihrer Lieblinge aus der Bibliothek und fragte mit allen Zeichen freudiger Erwartung: „Darf ich Dir etwas vorlesen, Ewald?“ Und er antwortete, die breiten Schultern behaglich in die Polster vergrabend: „Ja, Schatz, aber was Schönes!“

Nun galt es, den Prometheusfunken in der Seele des Wilden zu wecken; die junge Frau hatte lange gegrübelt, mit welchem Buche sie ihn am leichtesten auf das geistige Gebiet locke. Sie sagte sich, daß sie mit Unterhaltungslektüre beginnen müsse, und wählte den „David Copperfield“ von Dickens. Sie las mit Eifer und las gut. Von Kapitel zu Kapitel hielt sie inne, um den Gatten auf die Vorzüge der Darstellung aufmerksam zu machen, um ihm eigenartige englische Verhältnisse zu erläutern und sie mit den deutschen zu vergleichen. Diese Randglossen spann sie geschickt zum Gelegenheitsunterricht aus, allein sie mußte zu ihrer tiefen Betrübniß erfahren, daß die Geistessaat auf unfruchtbaren Boden fiel. Ewald sah es gern, wenn Bettina las, er konnte dabei so verloren hinhorchen und zugleich doch seinen eigenen Gedanken nachhängen. Wus sie vortrug, kümmerte ihn wenig; für das, was außerhalb seines Berufes lag, hatte er kein Interesse, und so entlockte ihm denn seine Frau mit allen Darlegungen nur ein müdes: „Ganz recht, Betty“ oder durch die oft wiederkehrende Fragen „Ist Dir das klar?“ ein schläfriges Nicken. Beim zweiten, spätestens beim dritten Kapitel wurde die Vorlesung seitens des Hörers durch ein gelindes Schnarchen unterbrochen.

„Du hast die Zeit schlecht gewählt,“ sagte sich Bettina nach wiederholten vergeblichen Bemühungen, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. „Der Aermste kommt müde und erschöpft heim, da ist es kein Wunder, wenn ihn der Schlaf überwältigt. Versuch’s am Sonntag Morgen – aber mit was?“ Sie zerbrach sich den Kopf, um die Zauberworte zu finden, durch welche sie den dumpfen Bann von seinem Geiste nehmen könnte; endlich verfiel sie auf Edgar Poes „Raben“. Sie las das von erhabener Melancholie durchzogene Werk des amerikanischen Dichters mit einem seltenen Aufschwung der Seele und berauschte sich völlig am düstern Klange der Verse, an der geheimnißvollen schwermüthigen Stimmung, die sie beseelte. Sie vergaß es ganz, daß sie für Ewald las, der sie lautlos anstarrte und eine Rauchwolke nach der andern au der Pfeife blies.

Als Bettina geendet hatte, blickte sie mit feuchtschimmernden Augen ihren vom Rauch halb verhüllten Gatten an und sagte leise. „Ist das nicht groß und wundervoll?“

Ewald paffte noch eine starke Wolke in die Luft und entgegnete nach einigem Grübeln. „Der Vogel war wohl abgerichtet?“

Das Buch entsank Bettinas Hand, und sie murmelte bitter: „Es ist vergebens!“ Aber sie gab ihre Bemühungen noch nicht auf. Noch blieb ihr die Musik und mit dieser versuchte sie es, als der Abend kam. Ewald erklärte freudig, daß er sie lieber singen als vorlesen höre. Sie sang ihm ihre besten Lieder und erfuhr, daß die einschläfernde Wirkung der Musik für ihn noch ungleich stärker war als jene der Vorlesung. Sie hatte Chamissos „Frauenliebe und Leben“ in der Komposition von Schumann begonnen, aber noch bevor der Brautstand der besungenen Jungfrau zu Ende war, belehrten Ewalds tiefe Athemzüge seine Frau, daß sie den Rest vor tauben Ohren singen werde; aufseufzend brach sie ab und faltete verzweifelnd die Hände im Schoß.

[139] Das plötzliche Verstummen der Musik weckte Ewald aus dem Schlummer. Als er Bettinas Blicke auf sich gerichtet sah, sprang er auf und sagte lächelnd. „Bei Gott, da wäre ich beinahe eingenickt! Du singst wunderschön, Betty. Aber da fällt mir ein –“ hier blickte er auf die Uhr – „daß ich um acht Uhr mit dem Oberlotsen wegen des Wachtdienstes sprechen wollte, das darf ich nicht versäumen. Gute Nacht, Betty; falls ich ein wenig länger wegbleibe und Du müde wirst, so warte nicht auf mich, geh’ ruhig zu Bett!“

Er küßte sie, ließ sie allein in dem einsamen verschneiten Hause und wandte sich dem Gasthaus zu. Hier traf er einige Kameraden, die ihn zum Kartenspiel einluden, das für Ewald stets einen starken Reiz besessen hatte; denn das Spiel hielt wach und munter, man erfrischte sich dabei von Zeit zu Zeit durch einen Trunk Bier und rauchte behaglich seinen Tabak. Um Mitternacht erst verließ er die Gesellschaft mit dem angenehmen Gefühl, im ewigen Einerlei des Ehelebens eine recht hübsche Abwechslung genossen zu haben. So nahm er allmählich seine Junggesellengewohnheiten wieder auf, und Bettina sah, daß er ihr entschlüpfe. Ewald blieb offenbar ein Sohn der Wildniß, er war zu spät in die Schule der Parthenia gekommen.

Aber nicht genug damit, daß an seiner Gleichgültigkeit ihre edleren Bestrebungen scheiterten, allmählich mußte sie erfahren, daß Ewald und seine Mutter sie zu meistern anfingen. Als Ewald Abend für Abend im Wirthshaus Zerstreuung und Erheiterung suchte und von seiner Frau in zartester Weise darauf hingewiesen wurde, wie einsam sie sich während der langen Winterabende fühle, bemerkte er lachend. „Ja, mein Kind, wer einen Lotsen heirathet, muß auch wie eine Lotsenfrau leben. Schaff’ Dir ein Spinnrad an und geh’ am Abend zu den Nachbarfrauen, spinn’ und plaudere, dann vergeht die Zeit rasch und angenehm.“ Die Schwiegermutter aber fügte hinzu, daß Betty sich auch in anderen Dingen dem Landesbrauch anbequemen müsse. Sie trage noch immer nicht die enganschließende, dickwattierte Frauenhaube und die kurzen Röcke, wie es die Sitte erfordere. Eine ehrbare Lotsenfrau gehe in der üblichen Tracht und im selbstgesponnenen und selbstgewobenen Zeuge einher. Wer das Herkommen verachte, überhebe sich und werde zuletzt für eitel oder für etwas schlimmeres gehalten.

Bettina fühlte eine unbesiegbare Abneigung gegen die bäuerische Tracht, welche sie für ungesund und unkleidsam hielt. Sie entgegnete daher, daß ihr die enge dicke Haube Kopfschmerzen verursache und daß sie nicht einsehe, weshalb die Frauen ihren schönsten und natürlichsten Schmuck, das Haar, zerstören sollten. Die Schwiegermutter antwortete mit einer Grobheit; wer rothes Haar habe, meinte sie, der solle sich freuen, wenn er es verstecken könne.

Das Vorurtheil gegen die rothen Haare Bettinas wurde von allen Bewohnern Massows getheilt, man schloß von der Haarfarbe auf einen leichtfertigen und boshaften Charakter. Als Bettina sich endlich dazu bequemte, die Spinnstube der Lehrerin zu besuchen, begegneten ihr, die Hausfrau ausgenommen, alle Nachbarinnen mit Mißtrauen. Da Bettina nun außerdem bemerkte, daß ihre Gegenwart den Frauen Zwang auferlegte, und da sie weder am Spinnen noch am Stricken Gefallen fand und beides für höchst überflüssige Hantierungen hielt, so ließ sie es bei drei Abendbesuchen der Spinnstube bewenden und zog es vor, in der einsamen Klause zu musizieren und zu lesen.

Die Winterstürme, welche im Dezember schaurig ums Haus heulten, flößten ihr Furcht ein und weckten in ihr den Wunsch, ein lebendes Wesen um sich zu haben. Eines Tages sah sie im Hause eines lahmen Korbflechters, dem sie von Zeit zu Zeit eine Wohlthat erwies, junge Hunde und kaufte sich einen derselben. Es war ein weißer Pudel, den sie Pitt nannte. Das Thierchen machte ihr durch seine Munterkeit und treue Anhänglichkeit viel Freude, und wenn es sie abends knurrend und kläffend umspielte oder ruhig an ihrer Seite kauerte, so fühlte sie sich nicht mehr ganz verlassen, es war doch ein Lebenshauch in den einsamen Räumen. Ihre Freude sollte jedoch bald getrübt werden.

Die beiden Brüder Kathreins hielten zwei bissige Kettenhunde auf dem Hofe, welche auf Pitt Jagd machten, sobald sie seiner ansichtig wurden. Bettina wies daher dem kleinen Pudel den Garten zum Tummelplatz an. Eines Tages aber, als sie nach dem Schulhaus gehen wollte, schlüpfte Pitt aus der Thür und folgte ihr, ohne daß sie es merkte. Plötzlich vernahm sie ein klägliches Geheul und dumpfes Gebell. Erschrocken drehte sie sich um und sah, wie die großen Hunde des Nachbars unter den Augen ihrer Herren über Pitt hergefallen waren. Einen am Wege liegenden Feldstein aufraffend, stürzte sich Bettina auf die Gruppe, und es gelang ihr, mit einem Wurfe den größten der beiden Angreifer so zu treffen, daß er heulend entfloh. Darauf ließ der andre knurrend von Pitt ab, der kläglich wimmernd aufsprang und eine seiner Vorderpfoten beleckte. Bettina hob das Thierchen, dem ein Bein gebrochen war, auf den Arm, warf den höhnisch lachenden Burschen einen verächtlichen Blick zu und ging in die Klause zurück, wo sie dem verwundeten Thiere einen festen Verband um das gebrochene Bein legte und ein bequemes Lager zurecht machte. Als Ewald heimkam und das Attentat erfuhr, geriet er in heftigen Zorn gegen die Bräunings und drohte den beiden Burschen, er werde ihre Hunde niederschießen, wo sich dazu Gelegenheit finde. Als der verwundete Pitt aber in der Nacht durch einige Klagelaute seinen Schlaf störte, ängstigte er Bettina mit der Ankündigung: „Sobald es Tag geworden ist, fliegt das Biest ins Wasser.“

Nach dem Frühstück wollte er tatsächlich den unbequemen Gast aus dem Wege räumen, Bettina jedoch stellte sich mit zornsprühenden Augen vor ihren Schützling und rief: „Das wirst Du nicht thun, es wäre eine Rohheit, die ich Dir nie vergeben könnte. Einen Mann, der sich der gleichen Brutalität schuldig machte wie die Bräunings, müßte ich verachten.“

Ewald erschrak vor der Heftigkeit und wilden Energie Bettinas und ließ kopfschüttelnd von seinem Vorsatz ab. Er murmelte etwas von weiblicher Ueberspanntheit in den Bart, aber er hatte eine überlegene Kraft verspürt. Er merkte, daß der Ausübung seiner Gewalt eine Grenze gezogen sei, durch deren Ueberschreitung er seine Frau zu einer That der Verzweiflung bringen würde. In der Seele dieses Weibes lag offenbar eine Macht, die über allen Zwang emporschwebte. Von diesem Zwiste an spottete Ewald wohl über Bettinas Samariterthum, allein er duldete den vierfüßigen Patienten in seinem Hause.

Dieser erholte sich bald wieder, behielt jedoch als Erinnerung an den Vorfall ein steifes Bein. Fortan hinkte er hinter seiner Herrin her, die nun zu seinem Schutze einen Stock mit eiserner Zwinge trug, so oft sie die Klause verließ.

Schon durch dieses Vertheidigungsmittel rief sie die Spottlust der Dorfbewohner wach. Als sie sich aber gar durch eine spiegelglatte Eisdecke zum Eislauf verlocken ließ und sich an mondhellen Abenden der gesundeu Leibesübung mit Eifer hingab, da fand man ihre Aufführung unerhört, und Ewald mußte bald in der Schenke von seinen Kameraden spöttische Bemerkungen darüber hören. Er selber hatte Bettinas Uebungen mit Stolz beobachtet, welcher nur durch das Bedauern beeinträchtigt wurde, daß er selbst nicht Gewandtheit genug besaß, um das Schlittschuhlaufen noch zu erlernen. Er wies daher den Spott mit der barschen Bemerkung zurück: „Macht’s ihr doch nach, Ihr Tölpel!“ Besonders schmeichelte es seiner Eitelkeit, daß der Kommandant und dessen Gattin, die sich gleichfalls dem Vergnügen des Eislaufs hingaben, mit Bettinas Kuustfertigkeit sich auch nicht entfernt messen durften. Diese flog mit spielender Leichtigkeit über die weite Fläche, zeichnete mit den Eisenschuhen Spiralen in den Spiegel und jagte mit dem Wind um die Wette bis zum silbernen Eiskranz hitt, der die Wassergrenze bezeichnete.

Frau Monk urtheilte strenger als ihr Sohn und glaubte, der Aufführung ihrer Schwiegertochter ein Ziel setzen zu müssen; sie machte sich zum Sprachrohr all der Entrüstung, die in den Spinnstuben zusammengeflossen war. Als Bettina eines Abends spät vom Eise heimkehrte, fand sie die Schwiegereltern und Ewald vor dem Kaminfeuer. Ihr freundlicher Gruß wurde von Frau Monk mürrisch erwidert, und es dauerte nicht lange, so platzte die Alte mit der Bemerkung heraus: „Lewe Tina, dat Eislopen möt uphören, so wat schickt sich hier tau Lande nich for'ne respektable Fru.“

Bettina traute ihren Ohren nicht – wie, hatte sie sich darum aus dem Gewühl der Städte geflüchtet, damit man ihr hier einen harmlosen Naturgenuß verschließe? „Also die Gattin des Lotsenkommandanten ist keine respektable Frau?“ entgegnete sie gereizt.

Die Monks antworteten auf diesen Einwurf mit einer Fluth von unklaren Redensarten, aus denen Bettina zuletzt entnahm, daß einer Dame alles erlaubt sei, die Gattin eines Lotsen aber müsse das Ungewöhnliche meiden.

[140] „Ja, warum ist das Naturgemäße für Euch das Ungewöhnliche?“

Als die Monks, deren Verstand dieser Frage nicht gewachsen war, verstummten, fuhr Bettina eifrig fort: „Ihr habt dicht vor der Thür das herrlichste Waschbecken der Welt – das Meer. Es würde Euch an lauen Sommerabenden nach allen Mühen des Tages die beste Erquickung bieten, aber keiner von Euch denkt daran, davon Gebrauch zu machen. So kommt es auch, daß Eure jungen Männer, die ihr Beruf auf das Meer führt, sammt und sonders nicht schwimmen können. Ihr seht im Winter vor Euch eine weite Eisfläche, die jeden gesunden Menschen zur freien stärkenden Leibesübung herausfordert, und Ihr hockt in dumpfer Unthätigkeit um den rauchigen Küchenherd und verzichtet auf ein köstliches Vergnügen. Ihr seht, daß Fremde weit herkommen, um in Eurer Bucht zu baden, Ihr könntet im Winter in einer halben Stunde mühelos über die Eisdecke nach der Küste jagen, so lange Eure Wege verschneit sind, aber Ihr scheut sowohl vor dem Bad als vor dem Eislauf zurück. Heißt das verständig handeln?“

Die Monks schüttelten eine Weile bedächtig die Köpfe, dann meinten sie, Bettinas „neumodische Ideen“ paßten für Massow nicht. Wäre sie in ihrem Stande geblieben, so dürfte sie jetzt nach ihrem Gefallen leben, als Lotsenfrau jedoch müsse sie den Nachbarn zu gefallen suchen, denn in kleinen Gemeinden sei jeder auf den Nächsten angewiesen. Dem Brauche dürfe niemand widerstreben, sonst werde er für unsinnig und vogelfrei erklärt.

„Aber Euer Brauch gründet sich auf leidige Vorurtheile und diese sind unsinnig,“ rief Bettina empört.

Der alte Monk klopfte bedächtig am Feuerbecken des Kamins seine Pfeife aus und schloß die Erörterung mit der tiefsinnigen Bemerkung ab: „Min sötet Engelken, wat möt, dat möt! Stell dat Islopen in, süst fallen wi all tausammen.“

Nachdem die Schwiegereltern die Klause verlassen hatten, ließ sich Bettina vor dem verglimmenden Feuer nieder; ihr war so weh und bang ums Herz, daß sie Mühe hatte, der aufsteigenden Thränen Herr zu werden. Während Ewald gähnend dem Schlafzimmer zuschritt, faltete sie die Hände im Schoß und starrte mit trüben Gedanken in die Gluth. Vorurtheil überall, auch hier nicht die Freiheit, von der sie geträumt! Wohin war es mit ihr gekommen?

Bettina fühlte sich durch die Nachbarschaft der Bräunings beängstigt und durch die Bevormundung der Schwiegereltern bedrückt. In einer großen Stadt hätte sie sich diesen Leuten leicht entziehen können, hier war’s unmöglich. Sie hatte die Freiheit gesucht und fand Schranken auf all ihren Wegen. Um des lieben Friedens willen verzichtete sie auf den Eislauf und wandte sich mit erhöhtem Eifer der Musik zu – diese wenigstens verstieß nicht gegen den Gebrauch des Landes.

Es kam die fröhliche Weihnachtszeit und mit ihr für Bettina neue Freudigkeit. Sie hatte die Familie des Lehrers und einige verwaiste Kinder zur Bescherung am Weihnachtsabend eingeladen. Als die Dämmerung anbrach, führte sie die kleine Schar ins Musikzimmer, wo eine Tanne mit strahlenden Kerzen bis zur Decke reichte. Sie setzte sich an den Flügel und sang mit den Kindern ein Weihnachtslied. Das brachte eine seltsam feierliche und doch frohe Stimmung in die kleine Versammlung, zu der auch die Schwiegereltern gehörten: dann vertheilte Bettina ihre Gaben. Die Monks freilich meinten, sie treibe eine sündhafte Verschwendung mit den Bettelkindern, sie aber verlachte die Bedenken, umhalste Ewald und flüsterte ihm ins Ohr: „Sei gut und herzlich gegen die Kleinen, denn heute übers Jahr wird unser eigenes Kind zu den flimmernden Kerzen aufschauen.“

Ueber Ewalds Gesicht war bei diesen Worten ein heller Schein geglitten und er hatte Bettina auf beide Wangen geküßt. An diesem Abend verlieh das Glücksgefühl seinem Wesen eine größere Milde und verklärte selbst seine äußere Erscheinung. Er scherzte mit den Kindern, ermunterte sie bei Tisch zum Essen und Trinken, plauderte lebhaft mit dem Schulmeister und erwies Bettina eine wahrhaft zärtliche Aufmerksamkeit. So blieb die kleine Gesellschaft bis gegen elf Uhr in der Klause, und dieses schöne Fest erschien Bettina wie ein leuchtendes Gestirn, das eine bessere Zukunft verkünde.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 6, S. 166–175
[166]
12.

Lange behauptete der Winter seine eisige Herrschaft. Als Frühlingsstürme endlich die Eisdecke zertrümmert und die Schollen weit hinaus ins wogende Meer getrieben hatten, mußte Ewald wieder auf die See; aber Bettina fühlte sich in seiner Abwesenheit nicht mehr einsam. Der Garten prangte bald im Blüthenschnee der jungen Obstbäume, Schneeglöckchen und Veilchen dufteten von den Saumbeeten und Rainen. Nun beim Anblick des sonnigen Himmels und des blauen Meeres wurde ihr das Herz wieder weit, und aus dem leisen Rauschen der Brandung vernahm sie helle Stimmen des Glücks ...

Als Ewald zu Anfang des Juli von einer seiner Lotsenfahrten zurückkehrte, hielt man ihm ein kleines Wesen als sein Kind entgegen, Bettina aber lag totenbleich und bewußtlos in den Kissen. Bald stellte sich ein heftiges Fieber bei ihr ein, das von Stunde zu Stunde einen gefährlicheren Charakter annahm. Trotz der Abneigung seiner Mutter, einen Arzt zu Rathe zu ziehen, ließ sich Ewald nun nicht länger halten und segelte über die Bucht nach der Kreisstadt, um Hilfe zu holen. Als er endlich mit dem Doktor, einem alten erfahrenen Praktikus, zurückkehrte, da fand dieser fast eine Sterbende.

Mehrere Wochen rang Bettina mit dem Tode, bevor es dem wackeren Arzte gelang, die Gefahr zu beseitigen. In dieser schweren Zeit hatte sie nur selten und nur während einiger Minuten die Besinnung erlangt. Nachdem die furchtbare Krisis vorüber war, galt ihre erste Frage an den Doktor dem Befinden ihres Kindes, und sie erfuhr, daß auch dieses in schwerer Lebensgefahr geschwebt habe. Zugleich dämmerte eine unklare Erinnerung, ein verschwommenes Bild in ihr auf. Einmal mußte sich ihr Bewußtsein für ein paar Augenblicke aus den Fieberschauern emporgerungen haben. Sie erinnerte sich, daß ein altmodisch gekleideter Mann an einem Tischchen neben ihrem Bette gesessen und beim Lichte der Lampe einen Papierbogen durchgesehen hatte. Neben dem Fremden standen die Monks. Ewald verlangte eine Unterschrift von ihr, sie wußte nicht mehr, zu welchem Zwecke, aber sie wußte noch, daß sie große Anstrengungen gemacht hatte, um den Kopf zu erheben. Ewald stützte sie mit dem linken Arme und leitete ihr die Hand beim Schreiben. Als sie wieder in die Kissen zurückgesunken war, hatten die alten Monks ein „Gott sei Dank!“ und Ewald einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen. Zu welchem Ende hatte ihre Umgebung so große Anstrengungen gemacht, um jene Unterschrift zu erhalten? Sie fragte den Arzt, mit dem sie in diesem Augenblick allein war, ob er ihr den Schlüssel zu dem Vorgang geben könne, der aber meinte, es sei fraglich, ob sie das erlebt oder in ihren wilden Fieberphantasien nur geträumt habe, und sie solle sich jetzt nicht mit solchen Gedanken beschweren.

Es war am Abend eines heißen Augusttages, als der Arzt die Genesende aus der dumpfen Krankenstube auf die Veranda tragen ließ. Bettina hatte ihre weißen magern Hände über die Stirn ihres Kindes gleiten lassen und es dann mit der Amme ins Haus gesandt. Eine Stunde später, mit Sonnenuntergang, kam Ewald im Boote dahergesegelt. Er war mit den Fischern auf dem Flunderfang gewesen und schien erfreut, bei der Rückkehr Bettina wieder im Freien zu sehen. Lachend küßte er sie auf die Stirn und sagte. „Du bist noch höllisch blaß, lieber Schatz, aber an der Luft werden sich die Backen bald wieder färben.“

Er ließ sich das Abendbrot auf die Veranda bringen, und da er einen guten Fang gethan hatte, so leerte er ein Glas Wein auf Bettinas Wohl. Während des Essens erzählte er im breiten Tone und langsamen Tempo der Küstenbewohner von den Sorgen, Mühen und Unkosten, welche die Krankheit gebracht habe; aber das sei nun verwunden, versicherte er, sobald seine Betty wieder auf dem Posten wäre, müsse alles ins gute gewohnte Geleise kommen.

Die Genesende hatte das Gefühl, als sei sie aus Todesnacht gerettet worden, um mit Ewald und dem Kinde ein neues Leben zu beginnen. Doch die frische Luft, die heitere Sommerpracht des Abends, der Duft, welcher dem Garten entströmte – das alles wirkte so stark auf ihre Sinne, daß sie sich in die Kissen zurücklehnen mußte, weil ein Schwindel sie überkam. Eine Weile saß sie mit geschlossenen Augen da, und plötzlich glitt wie ein flackerndes Licht das Bild jener nächtlichen Scene an ihr vorüber, von der sie nicht wußte, ob sie erträumt oder erlebt sei.

„Du hast mich während meiner Krankheit ein Schriftstück unterzeichnen lassen?“ sagte Bettina in halb zweifelndem Tone. „War die Angelegenheit so dringend? Was enthielt das Dokument?“

Ewald gerieth in Verlegenheit, und bevor er die Frage beantwortete, schenkte er sich noch ein Glas Wein ein. „Ja, siehst Du, Schatz, es stand höllisch schlimm um Dich an dem Tage ... Da meinte Mudding denn ... und Vadding auch ... man müsse sich doch ’mal bei einem Advokaten erkundigen, wie es um die Erbschaft stehe. Das that ich denn auch, und der Advokat erklärte mir, nach dem Erbrecht, das hier zu Lande gilt, gehe Dein Vermögen im Fall Deines Ablebens auf das Kind und auf mich uber. Es sei aber auch möglich, daß Du bereits ein Testament gemacht und bei Freunden oder bei Deinem Bankier hinterlegt habest und daß ein Vermächtniß zu gunsten Deiner Schwester oder einer Freundin darin enthalten sei. In dem Falle lege sich das Gericht in die Sache und ich könnte viel Schererei haben, wenn nicht eine neue letztwillige Verfügung von Deiner Seite die erste aufhebe. Auch für den Fall, daß Du leben bliebest – so meinte der Advokat – sei eine Vermögensregelung immer gut. Na, so hat er denn ein Dokument aufgesetzt – der Advokat, und wir ließen Dich unterschreiben, das Kind – Du verstehst doch – das Kind durfte nicht benachteiligt werden.“

Er verstummte unter Bettinas forschenden Blicken; es war ihm, als schaue sie auf den Grund seiner Seele. In ihr aber regte sich das Gefühl der Bitterkeit bei der Erkenntniß, daß Ewald in der Stunde, da er sein Weib zu verlieren glaubte, habgierig die Hände nach ihrem Erbe ausgestreckt hatte. Eine Weile saß sie wie betäubt da und starrte mit brennenden Augen in die Purpurgluthen des Sonnenballs, dann erwiderte sie seufzend: „Ja, ich verstehe alles. Wenn ich indessen meiner Schwester oder einer Freundin einen Theil meines Nachlasses hätte zuwenden wollen, so wäre es Deine Pflicht gewesen, den Willen einer Verstorbenen zu ehren. Allein ich hatte diese Absicht nicht, und das Geld, das Du dem Advokaten zahltest, ist weggeworfen.“

Ewald rückte unruhig auf dem Sitze hin und her und entfernte sich dann unter dem Vorwande, daß er nach den Netzen sehen müsse. Bettina sah ihm nach und murmelte: „Mir ahnt – er und ich, wir werden immer in verschiedenen Welten leben.“

*      *      *

Der Spätsommer wurde so mild, das Bettina den ganzen Tag mit dem Kinde im Garten sein konnte. In der würzigen Luft erholte sich die junge Mutter rasch von der schweren Krankheit, und auch das kleine Mädchen an ihrer Seite gedieh. Mit der Genesung aber vollzog sich leise eine Wandlung bei Bettina, welche ihren Gatten mehr beunruhigte als erfreute. Der Klang ihrer Stimme war tiefer, ihre Sprache ruhiger und bestimmter als zuvor; eine edle Harmonie sprach aus ihren Bewegungen. Sie begegnete dem Gatten mit Freundlichkeit, jedoch auch mit jener Zurückhaltung, die jeden innigeren Verkehr ausschließt. Nie wieder strahlte sie Ewald mit ihren blauen Augen an, wie sie das als Braut gethan hatte. Dem Kinde aber wandte sie alle Zärtlichkeit ihres warmfühlenden Herzens zu. Wenn sie die Kleine durch den Garten oder die schattige Wolfsschlucht trug, lag der milde Schein der Freude auf ihrem Gesicht, dann sang sie mit weicher melodischer Stimme Kinderlieder, dann konnte sie lachen, daß man glaubte, in ihr wohne ein volles Glück.

Ewald beobachtete sie einst heimlich, als sie sich mit dem Kinde allein glaubte, und vor ihrer Mutterseligkeit erwachte in ihm das Gefühl der Eifersucht. Hinter dem Busche hervortretend, der ihn verdeckt hatte, schritt er auf das Kind zu, betrachtete es eine Weile und sagte dann kopfschüttelnd: „Wie kann man sich nur um eines solch kleinen zappelnden Geschöpfes willen so närrisch anstellen! Das ist doch noch kein Mensch!“

Bettina nahm das Mädchen in ihre Arme und entgegnete: „Das begreifst Du nicht? Das ist mir ein neuer Beweis, daß [167] wir verschieden geartet sind.“ Damit schritt sie an ihm vorüber, und ihre Haltung verstärkte noch den Eindruck ihrer Worte. Von ihrer Schönheit angezogen, fühlte Ewald das heiße Verlangen, sie in seine Arme zu schließen, allein es war etwas in ihrem Blicke, das ihn zurückschreckte. Er konnte sich keine Rechenschaft darüber geben, was es sei, aber eher hätte er sich gegen die stolze Gräfin auf Schloß Lindström eine Vertraulichkeit erlauben mögen als gegen die eigene Frau. Er blickte ihr nach, bis sie, begleitet von dem hinkenden Pitt, im Hause verschwand, und sagte sich dann seufzend, daß seine Betty „höllisch“ vornehm geworden sei.

Bettina selbst wollte sich nicht klar werden über den Umschlag ihrer Gefühle – sie fürchtete sich vor der vollen Erkenntniß. Ihr Herz klammerte sich mit jeder Faser an das Kind, und sie war glücklich, wenn sie mit ihm allein sein konnte. Im vorigen Jahre hatte sie sich einsam und elend gefühlt, als Ewald zur Zeit der Herbststürme längere Lotsenfahrten unternehmen mußte, jetzt sah sie ihn ruhig scheiden. Sie fürchtete sich nicht mehr, wenn der Wind um die Klause heulte – war doch das Kind bei ihr, zu dessen Schutz sie sich berufen fühlte. Und für Hilflose einzutreten, dazu fehlte ihr nie der Muth.

Ihre Unerschrockenheit sollte in einer Novembernacht auf die Probe gestellt werden, in der Ewald die Wache auf dem „Utkiek“ hatte. Bettina war lange aufgeblieben, weil das Kind sich unruhig gezeigt hatte. Jetzt saß sie gegen Mitternacht an seinem Bettchen und las. Plötzlich richtete sich Pitt, der zu ihren Füßen lag, auf, sprang mit allen Zeichen der Aufregung zum Fenster hin und stieß ein wüthendes Gebell aus.

Bettina erhob sich und lauschte, ob draußen irgend ein Geräusch zu dem auffallenden Benehmen des Hundes Anlaß gebe. Und trotz des sausenden Windes vernahm sie dumpfe Schläge, die im Garten geführt wurden. Es zuckte ihr der Gedanke durch den Kopf, daß irgend ein Frevel begangen werde; sie dachte zunächst an Einbrecher, welche Scheune oder Vorrathskammer ausplündern wollten. Rasch entschlossen sprang sie in das Schlafzimmer, bemächtigte sich mit einem Griffe der über Ewalds Bette hängenden doppelläufigen Flinte, die stets mit Schrot geladen war. Ohne Zagen trat sie auf die Veranda des Hauses. Draußen war es nicht ganz finster, ihr scharfes Auge konnte zwei dunkle Gestalten unterscheiden, die eben dabei waren, die jungen Bäumchen ihres Gartens mit der Axt zu fällen. Sie vernahm das Knacken eines niederbrechenden Stammes, und helle Entrüstung flammte in ihrem Innern auf. Sie machte das Gewehr zum Schuß bereit und befahl den Männern, ihre Aexte niederzuwerfen, allein ihr Ruf mußte vom Winde verweht worden sein, denn die Eindringlinge setzten ihr Zerstörungswerk ruhig fort. Nun sprang Bettina furchtlos in den Garten hinab und schrie so laut, daß ihre Stimme den Wind übertönte: „Noch einen Schlag – und ich schieße!“

Im nächsten Augenblick sah sie etwas Schimmerndes durch die Luft und an ihrem Kopfe vorbeifliegen. Sie begriff, daß einer der Strolche seine Axt nach ihr geschleudert habe, und nun drückte sie los. Zwei Schüsse hallten durch die Nacht, dann folgte ein Aufschrei und die beiden Gestalten verschwanden im Dunkel.

Die junge Frau schritt nach einer Weile vorsichtig durch den Garten und sah, daß drei Obstbäumchen gekttickt an der Erde lagen und daß die Frevler durch eine Lücke im Zaune entwichen waren.

Als Ewald früh am Morgen heimkehrte, meldete ihm Bettina das Erlebniß. Beide hielten im Garten Umschau und fanden etwa vierzig Schritte von dem Standort der Thäter eine Axt an der Erde liegen, auf deren Stiel die Buchstaben K. B. eingekerbt waren.

„Karl Bräuning“, rief Ewald beim Anblick der Axt in grimmigem Jubel aus. „Na warte, Bürschchen, das soll Dir eingetränkt werden!“

Er wandte sich sofort behufs der einzuleitenden Untersuchung an den Kommandanten, der im Orte die Stelle der Behörde vertrat. Dieser verfolgte in dem lehmigen Boden die frischen Fußspuren und sah, daß sie zu Bräunings Hof hinüberführten. Mit der Axt in der Hand betrat er in Begleitung Monks das Haus Bräunings und verlangte dessen Söhne zu sprechen. Der Alte schob seine Mütze aufs linke Ohr und antwortete, seine Jungen seien über Land gegangen, um ein Kalb zu kaufen. Unterdessen aber hatte Ewald auf der Diele eine Blutspur bemerkt und machte jetzt den Kommandanten darauf aufmerksam. Nun kehrte sich dieser nicht weiter an die verwirrten Ausflüchte des alten Bauern, sondern folgte der Spur und kam zu einer Schlafkammer. Die Thüre derselben wurde von innen zugehalten, allein Ewald überwand das Hinderniß, und als er eindrang, versuchte der jüngere der beiden Söhne Bräunings durchs Fenster zu entfliehen, was ihm jedoch nicht gelang; der ältere lag im Bette und litt augenscheinlich am Wundfieber. Die Uebelthäter waren somit gefunden.

Der alte Bräuning, welcher gleichfalls in die Schlafstube getreten war, sah ein, daß weiteres Leugnen die Lage seiner Söhne nur verschlimmern könne, und verlegte sich aufs Bitten. Nach langen Verhandlungen kam ein Ausgleich zustande. Der Bauer verpflichtete sich, funfhundert Mark Entschädigung zu zahlen, und gelobte, fortan Frieden zu halten.

Die That der beiden Bräunings erregte in Massow so großen Unwillen, daß der Verwundete, sobald er wieder zu gehen vermochte, den Ort verließ und in der nächsten Hafenstadt Beschäftigung suchte. Bettinas entschlossenes Vorgehen aber imponierte den Dorfbewohnern, und man begegnete ihr fortan mit mehr Respekt.

Um die Weihnachtszeit war starker Frost eingetreten, und die mit Eis bedeckte Bucht breitete sich wie ein funkelnder Silberschild vor der Klause aus. Die Freude am Weihnachtsfest wurde Bettina jedoch durch die Erkrankung ihres Kindes getrübt, bei dem nach einem längeren Aufenthalt im Schulhaus die Halsbräune ausbrach. Der Anfall schien zunächst ein leichter zu sein, allein am Abend des zweiten Tages nahm die Krankheit wider Erwarten eine schlimme Wendung. Der Husten wurde hohl und heftig, die Kräfte nahmen zusehends ab. Die Besorgniß der jungen Mutter wuchs im Laufe einer Stunde zur furchtbaren Angst; sie sandte die Amme nach dem Gasthaus, wo Ewald beim Kartenspiel saß, und ließ ihm sagen, daß der Zustand des Kindes ein rasches Eingreifen des Arztes erheische; er müsse sofort jemand nach der Kreisstadt senden. Ewald aber war, als die Amme ihre Botschaft ausrichtete, gerade leidenschaftlich in sein Spiel versenkt. Ihm schien es, daß Bettinas Sorge übertrieben sei, und da er gerade ausgezeichnete Karten in der Hand hatte, so murrte er darüber, daß die Belästigungen durch das Kind kein Ende nehmen wollten, und sandte die Amme unwirsch zu seiner Frau zurück.

Bettina hatte mit zitternder Ungeduld auf ihren Mann gewartet; mit pochendem Herzen lauschte sie auf jedes Geräusch im Vorgarten. Endlich nahten Schritte. Sie erhob sich, lief zur Thür und prallte enttäuscht zurück, als sie nur die Amme sah und erfuhr, daß Ewald die Nachricht zornig aufgenommen habe und sagen lasse, es werde nicht so gefährlich sein und morgen sei auch noch ein Tag und Zeit genug, um nach dem Arzte zu schicken.

Bettina kam der Verzweiflung nahe – was nun beginnen? Die Empörung über Ewalds Gleichgültigkeit und die Sorge um das junge Leben gaben ihr endlich den Gedanken ein, selber den Arzt aus der Kreisstadt herbeizuholen. Rasch ans Fenster tretend, bemerkte sie, daß der Vollmond die Bucht hell erleuchtete; dies sehen und entschlossen sein war eins. Sie schrieb der Amme eindringlich vor, wie sie die Kleine in ihrer Abwesenheit zu behandeln habe, dann holte sie die Schlittschuhe vom Boden herunter und nahm unter Thränen von ihrem Liebling Abschied.

Als der Amme klar wurde, daß ihre Frau beabsichtige, in der Nacht über die Bucht zu laufen, wollte sie dieselbe zurückhalten. Bettina aber schob die Besorgte sanft bei Seite und bat nur: „Wachen Sie über mein armes Kind, Lene, und fürchten Sie nichts für mich! Ich werde es schon durchführen!“ Dann lief sie hastig ans Ufer hinab und betrat die weite, leicht mit Schnee bedeckte Eisfläche. Wie sie niederkniete, um ihre Schlittschuhe anzuschnallen, bebten ihre Hände. Allmählich jedoch legte sich der Sturm in ihrem Innern, und als sie aufspringend das glatte Eisen unter ihren Füßen verspürte, kam eine ruhige Entschlossenheit über sie. Wohl war sie sich der Gefahr ihres Unternehmens bewußt, denn es waren fast immer Risse und weitklaffende Sprünge vorhanden, aber der Gedanke an ihr leidendes Kind erhob sie über jedes Bedenken.

Es war bitterkalt. Der scharfe Ostwind blies ihr entgegen, und wo er die nackte Haut traf, rief er einen brennenden Schmerz hervor. Sie setzte sich langsam in Bewegung, bis ihr Auge sich an das Mondlicht und die verschwommenen Färbungen der Eisfläche [170] gewöhnt hatte. Dann steigerte sie die Schnelligkeit und zuletzt setzte sie ihre ganze Kraft ein und jagte mit Windeseile durch die lautlose Nacht. Mit der Zeit beruhigte die kalte Luft ihre Nerven, kühn uberwand sie die Hindernisse. plötzlich sah sie einen weiten Spalt vor sich und ein jähes Erschrecken zuckte durch ihre Glieder. Aber mit Blitzesschnelle schoß auch der Gedanke durch ihr Hirn: zu spät zum Anhalten, also weiter! und mit einem mächtigen Satze flog sie über die Kluft und jagte weiter. An manchen Stellen weckte ihr Fuß ein hohltönendes Rollen unter der Eisfläche, das sich unheimlich bis zur offenen See fortpflanzte. Einmal stieß sie mit dem Schlittschuh gegen eine auf der Eisdecke gelagerte Scholle, und da sie sich in vollem Laufe befand, wurde sie mit Wucht zu Boden geschleudert und schlug sich im Sturze Hände und Knie blutig; sie achtete nicht des Schmerzes, sprang auf und raste weiter durch die Nacht. Endlich erreichte sie das jenseitige Ufer von Groß-Küstrow; eben tönten von der Kirchuhr zwölf dumpfe Schläge herab.

Beim Eintritt ins Dorf bemerkte sie noch einen Lichtschimmer im Hause des Krugwirths. Dieser wollte eben seine Thür verschließen, als ein starkes Klopfen ihn veranlaßte, auf die Schwelle zu treten. Er erschrak beim Anblick der einsamen Frau und rief stotternd: „Jungfru Monk? Is denn dat die Menschenmöglichkeit! Sie sind äwer die Bucht loopen bei die grimmige Kälte?“

Nachdem sich der biedere Alte von seinem Erstaunen erholt und den Zweck der nächtlichen Reise erfahren hatte, weckte er dienstfertig seinen ältesten Sohn und hieß ihn rasch den Gaul vor den Schlitten spannen. Nach kurzer Rast konnte Bettina ihre Fahrt fortsetzen. Sie langte – viel zu spät für ihre Ungeduld – zwei Stunden später vor dem Hause des Arztes an. Es dauerte eine Weile, bis der im besten Schlafe befindliche alte Herr sich aufgerafft und zu der Nachtfahrt gerüstet hatte. Kaum hatte der Schlitten auf der Rückfahrt Groß-Küstrow erreicht, so wollte Bettina, um einen Vorsprung zu gewinnen, von neuem den Eislauf über die Bucht wagen, der Arzt aber hielt sie im Schlitten fest. „Danken Sie Ihrem Schöpfer, daß die Tollkühnheit einmal gut vorüber gegangen ist,“ sagte er. „Ueberdies muß ich doch selbst erst da sein, ehe Sie etwas Ernstliches unternehmen konnen, um die Leiden des Kindes zu erleichtern. Seien Sie also geduldig!“

Bettina rang nervös die Hände, aber sie fügte sich. Sie meinte vor Angst vergehen zu müssen – mit peinigender Langsamkeit kamen sie vorwärts. Durch Geldversprechungen feuerte sie den Fuhrmann an, die Kräfte des schwerfälligen Gaules mehr anzuspornen, allein das Thier war nicht aus seinem bequemen Trott herauszubringen, und erst beim Morgengrauen langte der Schlitten vor der Klause an.

Bettina lief dem Arzte voraus ins Haus. Sie erwartete, Ewald am Bette des Kindes zu finden, der aber schlief. Er war, wie die Amme erzählte, um zwei Uhr des Nachts heimgekehrt und hatte sich, wahrscheinlich weil er jede Störung vermeiden wollte, ohne weiteres zu Bett gelegt. Die junge Mutter preßte die Hand gegen die Brust, denn während die Amme ihr berichtete, hatte sie mit der flackernden Kerze ihrem Kinde ins Gesicht geleuchtet, und das Herz wollte ihr fast brechen beim Anblick der verzerrten Züge. Die Kleine hatte sich schrecklich verändert und lag völlig theilnahmlos da.

Der Arzt, welcher unterdessen ans Bett getreten war, erkannte bald, daß er zu spät gekommen sei, um zu helfen.

Die Mutter las auf seinem Gesicht, wie es um die Kleine stehe, sie stieß einen wilden Schrei aus und warf sich dann bitter schluchzend über ihren Liebling.

Und dieser Aufschrei der Verzweifelnden rüttelte noch einmal die Lebensgeister des Kindes auf. Es öffnete mühsam die Augen, starrte in das thränenüberströmte Gesicht Bettinas und sprach mit zitternder Stimme das einzige Wort aus, das es in seinem kurzen Dasein gelernt hatte: „Mama.“

Als Ewald, durch den Aufschrei seiner Frau aus dem Schlafe geschreckt, einige Minuten später die Krankenstube betrat und in verschlafenem Tone fragte, ob denn bei der Kleinen noch immer keine Besserung eingetreten sei, erhob sich Bettina, trocknete ihre Thränen und gab die schroffe Antwort: „O doch, sie ist genesen – genesen von den Schmerzen des Lebens. Wir haben unser Kind verloren; das bedeutet wenig für Dich – für mich alles.“




13.

Es schien, als habe das kleine Wesen bei seinem Scheiden den letzten Schimmer von Freude und Hoffnung aus der Klause fortgetragen. Bettina versank in eine trostlose Gleichgültigkeit und beachtete kaum, was um sie her geschah. Ewald hatte vergeblich den Versuch gemacht, sie zu versöhnen und zu trösten. Bei Tisch saßen sich die Gatten kalt und stumm gegenüber, und Bettinas bleiches Gesicht, ihre traurigen Blicke wirkten so bedrückend auf den Lotsen, daß er fast nur zu den Mahlzeiten in der Klause erschien und während der übrigen Zeit im Wirthshaus bei den Karten Zerstreuung suchte. Dieses Leben blieb nicht ohne schwere Folgen. Von Jugend auf hatte er zur Unmäßigkeit im Trinken Neigung verspürt; heim Kartenspiel gewöhnte er sich bald, große Mengen von Bier und Branntwein zu genießen. Allmählich wurde seine Gestalt voller und schwerfälliger, sein Gesicht aufgedunsen. Er vernachlässigte seinen Dienst in so gröblicher Weise, daß er sich wiederholt scharfe Rügen zuzog. Da er zu wenig Einsicht besaß, um die Berechtigung des Tadels anzuerkennen, so erwachte sein Trotz, und er forderte seine Entlassung. Diese erhielt er im Frühjahr, und nun faßte er den Plan, sich ein eigenes Fahrzeug zu kaufen, um Frachten zu übernehmen oder Fischhandel zu treiben. Er fand auch bald eine schwedische Barke, welche gerade zu verkaufen war. Als er Bettina seine Absichten mittheilte und zum Ankauf der Barke sechstausend Mark von ihr verlangte, seufzte sie schwer auf und vertiefte sich, zum ersten Male seit dem Tode ihres Kindes, in ihr Wirthschaftsbuch. Sie rechnete eine Weile und kam zu der niederschlagenden Erkenntniß, daß ihr Barvermogen fast auf die Hälfte herabgeschmolzen war. Aus den Eintragungen ersah sie, daß zwar durch ihre und des Kindes Krankheit größere Summen nöthig geworden waren, allein trotzdem fehlten mehrere hundert Mark, über deren Verbleib sie sich keine Rechenschaft zu geben vermochte. Sie ahnte, daß Ewald das Geld im Gasthaus und in der Hafenstadt vergeudet hatte, aber sie war großmüthig genug, ihm keinen Vorwurf zu machen; sie legte das Buch ruhig fort und sagte kurz: „Wir müssen unser Leben ändern, wenn wir nicht verarmen wollen.“

Ewald, der dem Tage mit Grauen entgegengesehen hatte, war seelenfroh, ohne Vorwurf und Zank davongekommen zu sein, und gelobte, all seine Kräfte aufbieten zu wollen, um das Verlorene wieder einzubringen. Er wurde ganz beredt und malte eine rosige Zukunft aus, sah die Barke schon den Mittelpunkt einer kleinen Handelsflotte bilden. Bettina theilte seine Hoffnungen keineswegs, dennoch that sie ihm den Willen; sie war müde und das Geld schien ihr nicht der Mühe werth, um deshalb einen Streit mit ihrem Manne auszukämpfen. Mochte er thun, was ihm gut dünkte! Nur die Bitte fügte sie noch hinzu, er möge die Barke gleich nach dem Ankauf gegen See- und Feuersgefahr versichern lassen. Ewald versprach es in freudiger Erregung und begab sich sofort nach der Hafenstadt, weil er bei der Eröffnung der Schiffahrt gleich eine Ladung zu erhalten hoffte. Als jedoch der Schiffskauf abgeschlossen war, entdeckte er bedenkliche Schäden an der Barke, und diese mußte erst zur Ausbesserung auf die Werfte gebracht werden. Bis zur Vollendung der nothwendigen Arbeiten konnten Wochen vergehen, denn die Docks waren überfüllt. Ewald trieb sich einige Zeit in den Hafenkneipen herum, dann, als seine Barschaft zusammenschmolz, kehrte er nach Massow zurück in der Absicht, seine Börse wieder zu füllen.

Während seiner Abwesenheit hatte Bettina die Tage in jener stumpfen Unthätigkeit verbracht, wie sie Schiffbrüchige ergreift, wenn die Wogen langsam das Wrack unter ihren Füßen zertrümmern. Sie hatte versucht, durch Gartenarbeit ihrer verzweifelten Stimmung Herr zu werden, es gelang ihr nicht. Ihre Willenskraft war gebrochen. Sie that nur, was gerade nöthig war, um einer Verwilderung der Anlagen vorzubeugen, aber sie erweiterte dieselben nicht, wie sie sich vorgesetzt hatte. Das Knospen und Blühen in der Natur freute sie so wenig wie der warme Schein der Frühlingssonne; nur das Grab ihres Kindes überdeckte sie mit einem duftigen Blumenflor.

Eines Abends war sie in den Vorgarten getreten, um den Rasen zu begießen; da sah sie Ewald an der Hecke des Bräuningschen Hofes stehen und vertraulich mit Kathrein schäkern. Er hatte die Jacke über die Schulter gehängt und die Mütze in den Nacken geschoben. Allem Anschein nach befand er sich in sehr lustiger Stimmung, denn die Dirne lachte aus vollem Halse und rief [171] dann mit halberstickter Stimme: „Geh doch, Ewald, Du bist’n Filou!“

Die überraschende Wahrnehmung rief in Bettina zunächst ein Gefühl tiefer Verachtung hervor. Wie konnte sich ihr Gatte den Bräunings auf diese Weise wieder nähern; wo blieb sein Stolz, seine Selbstachtung? Als aber ihr Blick die schwankende Haltung, das geröthete Gesicht und die nachlässige Kleidung Ewalds überflog und zu Kathreins roher Gestalt hinüberglitt, da kam ihr der Gedanke, daß das Paar drüben an der Hecke vortrefflich zusammenpasse. „Vögel vom gleichen Gefieder fliegen zusammen,“ sagte sie sich. „Warum habe ich mich in dem thörichten Glauben zwischen die beiden gestellt, diesen Mann in eine höhere Sphäre heben zu können. Er ist so nur seinem Beruf, seiner natürlichen Bestimmung, seiner Lebensweise entfremdet worden. Ich habe mich und ihn elend gemacht, nun muß ich diesen großen Irrthum meines Lebens büßen!“

Ewald ging täglich zum Gasthof hinunter, wo sich die kleine Postanstalt des Ortes befand, weil er auf eine Botschaft aus der Hafenstadt betreffs seiner Barke wartete. Allein Tag für Tag verging, ohne daß ein Brief kam, und da er in der Zeit ungeduldigen Harrens doch nicht zum Arbeiten aufgelegt war, so blieb er meist gleich in der Wirthsstube sitzen, um sich durch Kartenspiel, Rauchen und Trinken die Zeit zu vertreiben. Eines Morgens aber fand er wirklich einen Brief vor, allein die Adresse lautete nicht auf seinen Namen, sondern auf den seiner Frau. Enttäuscht schob er das Schreiben in die Tasche und ließ sich mit dem Wirthe zu einem Spiele im Vorgärtchen des Gasthofs nieder. Spät am Abend erst, als er heimkam und Bettina ihn fragte, ob noch keine Nachricht wegen der Barke eingetroffen sei, zuckte durch seinen schweren Kopf die Erinnerung an den empfangenen Brief und er händigte ihn seiner Frau ein. Sie ließ verwundert ihre Blicke über die Aufschrift gleiten dann erhellten sich ihre Züge und sie sagte leise und zögernd: „Von Lisa!“

Hastig und mit wachsender Erregung überflog sie den Inhalt; dieser war ganz dazu angethan, sie aus ihrer Niedergeschlagenheit aufzurütteln. Die Freundin schrieb, daß Diaz auf zwei Monate nach London gegangen und ihr Kind des Landaufenthalts dringend bedürftig sei. Bei der Ueberlegung, wohin sie sich wenden solle, sei ihr die Freundin in Massow eingefallen und wenn Bettina ein Stübchen für sie und ihr Kind übrig habe, so werde sie mit Vergnügen der früheren Einladung folgen und den stillen Küstenort aufsuchen, wo sie beide als Mädchen so unvergeßlich schöne Tage verlebt hätten.

Bettina reichte ihrem Manne den Brief.

Der Lotse legte die kurze Pfeife aus der Hand und las ihn langsam, dann gab er ihn mit verdrießlicher Miene zurück und setzte seine Pfeife wieder in Brand.

„Lisa wird in der Mansarde wohnen,“ sagte Bettina, mehr zu sich selber als zu dem Gatten, der sein Haupt mit Rauchwolken verhüllte. „Ich will ihr ein behagliches Nest zurecht machen!“ – In ihrer freudigen Erregung achtete sie kaum auf Ewald, der etwas Unverständliches in den Bart brummte und dann sein Schlafzimmer aufsuchte.

Am nächsten Morgen stand Bettina früh auf und in wenigen Stunden hatte sie die beiden Stübchen der Mansarde zur Aufnahme des Besuchs in stand gesetzt. Nachdem dies geschehen war, beantwortete sie Lisas Brief durch einige herzliche Zeilen. Eben wollte sie zur Post gehen, da sah sie, daß Ewalf mit seiner Mutter im Garten eine eifrige Unterhaltung führte. Bei ihrem Erscheinen verstummten die beiden, und Ewald trat ihr mit der Frage entgegen, was sie Frau Diaz geschrieben habe.

„Nun, daß sie uns sehr willkommen sei, selbstverständlich.“

Ewald, aus dessen Mienen ebensoviel Verlegenheit wie Mißmuth sprach, kraute sich im Haar und meinte. „So – und Du hast noch gar nicht gefragt, wie ich darüber denke. Ich aber bin der Herr im Hause und hab’ am Ende doch auch ein Wort mitzusprechen.“

„Dein Hausherrnrecht hab’ ich niemals angetastet, und wenn ich nicht ausdrücklich um Deine Zustimmung bat, so kam das daher, weil ich Dein volles Einverständniß voraussetzen mußte. Du hast gestern abend nichts eingewendet und zudem – die Einladung stammt noch aus unserer Verlobungszeit, Du wirst es selbstverständlich billigen, daß ich als Frau ein Wort einlöse, das ich als Mädchen gegeben habe.“

Ewald schielte unschlüssig zu seiner Mutter hinüber, diese aber feuerte ihn zum Widerspruch an durch die Bemerkung: „Du hettst mi ja noch gar nich seggt, Ewald, wie lang die Gnädge. mit den sbanischen Namen hier bliewen und wat sie betalen will.“

„Ja, ganz recht, Mudding. – Hast Du Deiner Freundin wegen des Preises geschrieben, Betty? Die zwei Stuben können wir im Sommer an Badegäste ganz gut für dreißig Mark monatlich vermiethen, so viel mußt Du Frau Diaz schon abverlangen.“

Ewald hatte, um der Mutter seinen Muth zu beweisen, dieses Ansinnen in so herausforderndem, grobem Tone gestellt, daß Bettina sich tief verletzt fühlte. Heiß stieg ihr das Blut zu Kopf und in zorniger Empörung antwortete sie: „Frau Diaz ist bei mir zu Gast. Damit Dir aber die langersehnte Gelegenheit, ein Geschäft zu machen, nicht entgeht, werde ich den geforderten Preis von meinem Vermögen zahlen.“

Sie wollte stolz an den beiden vorübergehen, allein Ewald, den die alte Monk durch einen Puff in die Seite angespornt hatte, vertrat ihr den Weg und sagte. „Von Deinem Vermögen? Du hast kein Vermögen mehr, daß Du’s nur weißt.“

„Was soll das heißen?“ rief Bettina erbleichend. „Ein großer Theil meines Erbes ist freilich verloren, aber es bleibt mir doch –“

„Ueber das, was Dir geblieben ist, hab’ ich fortan zu bestimmen,“ unterbrach Ewald sie heftig. „Ich hab’s satt, mir von Dir Gnadengeschenke in die Hand drücken zu lassen. Ich bin der Mann und habe mit dem gemeinsamen Gute zu wirthschaften. So ist’s Brauch hier zu Lande, und so soll’s fortan gehalten werden, auf Grund des Schriftstücks, das Du während Deiner Krankheit unterzeichnet hast.“

„Auf Grund – –“ Bettina konnte die Frage nicht aussprechen, die furchtbare Erregung erstickte ihre Stimme. Und sie bedurfte auch keiner weiteren Aufklärung. Der Mann, in dem sie einst das Ideal der Selbstlosigkeit und des sittlichen Muthes erblickte, hatte die Schwäche einer Todkranken benutzt, um sich ihres Vermögens zu bemächtigen.

Mit tiefster Verachtung blitzten ihre Augen Ewald an, und ihre Stimme klang rauh, als sie erwiderte. „So weit wären wir also! Ganz unverhohlen gestehst Du ein, daß Dich, als Du mich sterbend glaubtest, nur der Gedanke an das Geld beherrschte. Ich könnte Euch den Raub streitig machen, denn die mir abgelistete Unterschrift ist schwerlich bindend, da ich ja vom Inhalt des Dokuments keine Kenntniß hatte; aber der Stolz verbietet mir, den Mann, den ich einst geliebt habe, an den Pranger zu stellen. Nimm denn, wonach Du bei Deiner Werbung allein getrachtet hast, es besitzt heute für mich so wenig Werth wie – mein Leben.“

Sie zerriß den Brief an Lisa mit nervös zuckenden Händen und schritt ins Haus zurück.

Ewald blieb bestürzt im Garten stehen, die Scham rang in seiner Brust mit dem Trotze. Vielleicht hätte die bessere Regung gesiegt, denn das Feuer der Liebe glimmte noch in seinem Innern, allein neben ihm stand die Mutter und rief ihm zu. „Wat möt, dat möt! Kriegst Du nich den Kassenslötel rut, dann bliwt sie der Herr und Du – der Döskopp. Resolut, min Jong! In der Srift steiht gesriewen ‚Und er soll Din Herr sein‘.“

*      *      *

Bettina fand erst am Tage nach diesem Streite die Kraft, an Lisa zu schreiben und ihr das beschämende Geständniß ihrer unglücklichen Lage zu machen. Diese Beichte, verbunden mit der Nothwendigkeit, den Besuch abzulehnen, erschien ihr als die größte Demüthigung ihres Lebens – als eine unauslöschliche Schmach. Nachdem sie das Schreiben vollendet und in den Postkasten geschoben hatte, glaubte sie, die letzte Verbindung mit der Welt, in der sie ihre Jugend verlebt hatte, sei nunmehr abgebrochen; keine Menschenseele wußte sie mehr, der sie ihr Leid hätte anvertrauen mögen. Das trostlose Gefühl gänzlicher Verlassenheit trieb sie hinaus auf die einsame Düne; stundenlang irrte sie dort umher.

Müde und zerschlagen kam sie gegen Abend in die Klause zurück und fand Ewald in sehr aufgeräumter Stimmung. „Na, Betty,“ rief er ihr vom Gartenthor aus entgegen, „hast Du ’n Spaziergang gemacht? Das ist recht, das bringt den Menschen auf andere Gedanken. Ich hab’ unterdessen eine Nachricht erhalten. Die Barke ist endlich vom Dock herunter und schwimmt seetüchtig im Hafen sie trägt Deinen Namen am Stern. Nun kann’s losgehen! Morgen reise ich ab.“

[172] Bettina athmete auf, das war Erlösung wenigstens auf einige Zeit. Kein Wort des Bedauerns wegen seiner Abreise kam über ihre Lippen.

„Und wie sich das manchmal glücklich trifft,“ fuhr er lächelnd, aber mit einem scheuen Seitenblick fort, „denk’ Dir, die Mansarde, um derentwillen wir uns heute morgen ein wenig gezankt haben, ist schon vermietet. Was meinst Du wohl, wieviel ich dafür bekommen habe?“

„Das ist mir gleichgültig,“ antwortete sie tonlos.

„Vierzig Mark monatlich. Ein Herr aus Berlin hat sie gemiethet und gleich im voraus bezahlt. Das ging so zu! Ich hatte eben im Gasthaus meinen Brief gelesen und wollte heim gehen, da tritt ein Fremder in den Vorgarten, der deutet nach unserer Klause und fragt den Wirth: ‚Wem gehört die kleine Villa dort oben?‘ Der Wirth weist auf mich und sagt: ‚Meinem Freunde Monk.‘ Der Fremde lüftet den Hut gegen mich. ‚Ihr Haus ist hübsch gelegen,‘ sagt er, ‚dort möchte ich wohl ein paar Wochen – vielleicht auch den ganzen Sommer über wohnen. Sie haben wohl kein Zimmer zu vermiethen?‘ Auf diese Anfrage hin wurde ich neugierig, was wohl unsere Mansarde einbringen könne, und antwortete, wir machten zwar aus dem Vermiethen kein Geschäft, indessen hätten wir just zwei Stuben leer stehen. Der Fremde ging mit mir herauf, sah sich die Wohnung an und bat mich, ihm einen Preis zu nennen. Mehr zum Spaße als im Ernste forderte ich vierzig Mark. Ohne weiteres griff er in die Tasche und legte mir das Geld auf den Tisch. Eben hat er seinen Koffer und einen Kasten heraufschaffen lassen. Nun bist Du in meiner Abwesenheit doch nicht gar so einsam, Betty.“

Sie lächelte bitter, denn sie hatte seine Absicht, durch das rasche Vermiethen der Mansarde den Besuch Lisas unmöglich zu machen, wohl durchschaut. Als sie ins Haus getreten war, fand sie auf dem Tische des Salons eine Visitenkarte; gleichgültig nahm sie dieselbe, um sie in eine Bronzeschale zu werfen. Dabei streifte ihr Blick die Aufschrift und ein leiser Schrei der Ueberraschung entfuhr ihren Lippen. „Franz Rott“ stand auf der Karte.

Eine Weile starrte sie wie gebannt auf den Namen, dann lief sie dem eintretenden Ewald entgegen und fragte hastig. „Wie kommt diese Karte in unser Haus?“

„Die hat mir unser neuer Miether gegeben, damit ich ihn als Gast anmelde.“

„Das Geschäft – diese Vermiethung muß rückgängig gemacht werden, gieb dem Fremden das Geld zurück und sage – sage ihm irgend etwas zur Entschuldigung!“

Ewald erblickte in ihren Worten nichts anderes als den Versuch, die Zimmer für ihre Freundin freizuhalten, und beschloß, in dieser Sache seinen Willen durchzusetzen und seine Herrschaft zu bekunden. Er fragte daher barsch, welchen vernünftigen Grund sie gegen die Aufnahme des Fremden haben könne; Bettina erwiderte in hastiger Weise, daß es für sie nicht schicklich sei, mit einem Herrn allein in dem einsamen Hause zu leben, daß dieser der Bedienung benöthige und daß man recht gut warten könne, bis ein weiblicher Badegast Wohnung suche.

Diese Bedenken schlug Ewald mit der Bemerkung nieder, seine Mutter habe sich schon erboten, dem Gaste jeden Morgen die Kleider zu reinigen und das Frühstück zu besorgen und eine zweite Gelegenheit, die beiden Stuben zu so hohem Preise zu vermiethen, werde wohl nicht wieder kommen.

Nun wandte Bettina ein, daß der neue Miether in ihres Vaters Hause verkehrt habe und daß es ihr peinlich sei, ihm so wieder zu begegnen.

„Wie?“ rief Ewald in ausbrechendem Zorne, „hast Du etwa einen Grund, Dich Deines Mannes oder Deines Hauses zu schämen? Die Sache ist und bleibt abgemacht. Der Gast hat bezahlt und wird in unserm Hause wohnen – für das weitere laß die Mutter sorgen. Wenn Dir der Fremde nicht gefällt, dann kannst Du ihm aus dem Wege gehen. In Haus und Garten ist Raum genug für zwei Menschen, die sich nicht begegnen wollen. Abgemacht!“

Ohne Bettina noch einmal anzusehen, verließ er mit dröhnenden Schritten das Zimmer.

Am nächsten Morgen nahm Ewald einige Hundertmarkscheine aus Bettinas Schreibtisch, sagte ihr flüchtig Lebewohl und segelte dann mit seinem Vater über die Bucht. Als Bettina in die Küche trat, um sich das Frühstück zu bereiten, fand sie ihre Schwiegermutter schon bei der Arbeit. Diese eröffnete ihr, daß der alte Monk sich entschlossen habe, Ewald bei der Bedienung der Barke zur Hand zu gehen und den Sommer über auf See zu bleiben. Da es sich nun für sie selber nicht lohne, eine besondere Wirthschaft zu führen, so habe sie ihr Häuschen zugeschlossen und werde, auf Ewalds Anordnung, in dessen Zimmer schlafen und Bettina in der Wirthschaft helfen.

Die halb unterwürfige, halb spöttische Art, mit welcher die Alte von Ewalds Anordnung sprach, hätte die junge Frau früher zu heftigem Widerspruch gereizt, jetzt war ihre Willenskraft gelähmt, und sie ließ auch diese neue Bevormundung schweigend über sich ergehen. Sie begab sich in ihr Zimmer zurück und trat ans Fenster. Müde schweifte ihr Blick über die von der Morgensonne bestrahlte Bucht. In weiter Ferne zog ein Segel vorüber, gleich einem Schwanenflügel hob es sich ab vom tiefen Blau der See. Das zog hinaus in die weite Welt, frei vom Zwange, nur dem eigenen Steuer gehorchend – o könnte auch sie ihm folgen, in die Ferne ziehen, weit fort von hier! Die bange Sehnsucht übermannte sie, ein Drang überkam sie, ihre Gefühle in Tönen auszuströmen. Rasch ging sie zum Flügel und begann Rubinsteins schwungvolles Lied: „Gebt mir gold’ne Tageshelle –“

War es der strahlenfrohe Tag oder die würzige, durchs offene Fenster strömende Morgenluft oder der Zauber der Musik, welcher ihre Seele aus der langen Gebundenheit erlöste – sie wußte es nicht. Aber mit einem Male kam es über sie wie Befreiung, ihre Stimme schwoll mächtig an, und das Lied wurde zu einem aus tiefster Brust hervorquellenden Rufe der Sehnsucht, zu einem brausenden Aufschäumen innerer Kraft.

Und das Lied fand ein Echo.

Als die letzten Töne verklungen waren, ertönte vom Garten her ein lautes Bravo. Sie glaubte erst an ein Spiel ihrer erregten Einbildungskraft und ging arglos ans Fenster. Hier aber wurde ihr ein überraschender Anblick zu theil. Vor der grünen Wand der Schlehdornhecke stand Franz Rott und schaute mit freudigem Staunen zum Fenster auf. Er trug den Hut in der Hand und die Sonne umleuchtete seinen edel geformten Kopf. Erglühend und verschämt wollte Bettina zurücktreten, da blitzte über sein Gesicht der Ausdruck des Erkennens, und „Fräulein Bettina!“ kam es freudig über seine Lippen.

Im nächsten Augenblick sah die junge Frau, wie der Künstler mit einigen Sprüngen zur Treppe eilte. Sie wollte rasch das Zimmer verlassen, allein es lag wie Blei in ihren Füßen, eine seltsame Beklemmung schnürte ihr die Brust zusammen und raubte ihr den Athem. Sie hatte ein Grauen vor dieser Begegnung, und doch fehlte ihr die Kraft zur Flucht. Jetzt vernahm sie eilige Schritte, gleich darauf eine wallende Bewegung der Portiere – und Franz Rott stand ihr gegenüber. Sie vermochte sich nicht zu rühren, geschweige denn zu sprechen, es war ihr, als töne eine Stimme durch den Raum und spreche: „Nun erfüllt sich Dein Schicksal, Bettina!“




14.

Der Bann, den das Wiedersehen auf Bettina übte, währte nur wenige Sekunden, er schwand bei Rotts Begrüßung.

„Hier also finde ich Sie wieder? So hat mich meine Ahnung doch nicht irre geführt! Auf dieser einsamen Halbinsel hielten Sie sich versteckt, Sie Weltflüchtige?“ Er streckte ihr in herzlicher Bewegung die Hand entgegen, und sie legte zögernd die ihrige hinein, doch nur, um sie hastig wieder zurückzuziehen.

„Diese Begegnung, Herr Rott, überrascht mich nicht weniger als Sie –“

„Aber gewiß nicht so freudig wie mich,“ unterbrach er sie. „Seit unserm letzten kurzen Zusammensein vor zwei Jahren hab’ ich oft an Sie denken müssen, und ich sagte mir jedesmal: Hättest Du damals frisch und unverzagt gesprochen, wie Dir’s ums Herz war, dann –“

„Dann hätten Sie wahrscheinlich das doch nicht hindern können, was sich unterdessen ereignet hat.“ Sie schlug bei diesen Worten die gesenkten Augen auf, und ihre Stimme klang umflort, als sie fortfuhr. „Sie finden Bettina Wesdonk nicht mehr, Herr Rott. Ich bin die Frau eines Schiffers und heiße Monk.“

Ein düsterer Schatten legte sich auf sein Gesicht, und erst nach einer Weile raffte er sich zu der Bemerkung auf: „So ist es also doch wahr, was ich vor Jahr und Tag als Gerücht [174] vernommen habe. Ich konnte es nicht glauben, und als ich Sie eben am Fenster erblickte, verklärt vom Zauber der Musik – oder war’s der Glanz der Morgensonne? – da glaubte ich, es erfülle sich mein schönster Traum … aber zerronnen – dahin!“ Er athmete tief auf und sah schweigend vor sich nieder.

Bettina fühlte, daß sie sprechen müsse, um das Gespräch über die leidenschaftlichen Tiefen hinweg in stillere Bahn zu lenken. Leise erwiderte sie:

„Das ist das Schicksal, das uralte Schicksal der Träume, daß sie verrauschen, wenn sie beginnen zu beglücken.“

„So haben auch Sie schwere Enttäuschungen erfahren?“

„Ich habe mein Kind verloren,“ entgegnete sie ablenkend und fragte dann, welcher Zufall Rott nach Massow geführt habe.

„Das will ich Ihnen draußen im Garten erzählen, wenn Sie mir als freundliche Wirthin eine Tasse Kaffee bescheren wollen. Ich habe in aller Frühe schon ein Bad genommen, das Meer war wunderbar erfrischend. Dann lief ich über den sonnigen Bergrand hierher zurück und – fand Sie. Nun liegt mir etwas wie Sonnentrunkenheit im Blute. Ich glaube, Ihr Lied hat es mir vollends angethan! O, noch hat Ihre Seele nicht verlernt, die Schwingen zu regen in brausenden Accorden ...“

„Sie phantasieren – aber das kommt von der Sonnentrunkenheit. Wollen Sie auf der Veranda oder im Garten Ihr Frühstück verzehren?“

„Am liebsteu da, wo man den weitesten Ausblick hat.“

„So treten Sie auf die Veranda!“

Bettina holte das für ihren Gast in der Küche bereitstehende Frühstück herbei, deckte den Tisch und ließ sich dem Künstler gegenüber plaudernd nieder. Rott erzählte, daß er sich während des letzten Winters auf einer Konzertreise durch Rußland übermäßig angestrengt habe und jetzt an einer leichten Lähmung des Armes leide. Man habe ihn mit Massage und Elektricität behandelt und ihm dann gerathen, sich womöglich am Meere noch eine Weile auszuruhen. Zufällig sei er während der letzten Tage seines Berliner Aufenthaltes im Salon eines ihm befreundeten Malers wieder mit der Gräfin Lindström zusammengetroffen, und diese habe die alte Einladung auf ihr Schloß dringend erneuert. So sei er wieder an Massow erinnert worden und habe nun beschlossen, sich hier für den Sommer einzunisten.

„Warum aber bereiteten Sie der Gräfin eine Enttäuschung?“

„Ich habe der Dame keine bestimmte Zusage gegeben und liebe es, frei zu sein. Die Gastfreundschaft würde mir nach der Seite der Musik Verbindlichkeiten auferlegen, die ich nur ungern erfülle. Die Gräfin ist nämlich eine Musikschwärmerin der gefährlichsten Sorte.“

„Hat Ihnen der Arzt das Musizieren streng verboten?“

„Das nicht, aber er hat mir gerathen, im Anfang noch vorsichtig zu sein. Wenn aber Sie jemals Lust verspüren sollten, mit mir Musik zu machen, so stehe ich gern zu Ihrer Verfügung.“

Bettina gestand erröthend, daß sie sein Anerbieten gleich jetzt annehmen möchte. Oft hatte sie sich gesehnt, mit einer gleichgestimmten Seele sich in die Welt der Töne zu versenken – den Monks war Musik stets nur ein aufdringliches Geräusch gewesen – nun sah sie ihren Wuusch erfüllt. Rott holte seine Geige aus der Mansarde herunter und Bettina suchte aus ihrem reichen Notenvorrath Stücke für Klavier und Violine heraus.

Als Rott sein Instrument mit fast zärtlichen Griffen enthüllt und gestimmt hatte, legte er es auf den Flügel und bat, Bettina möge ihm erst durch ein Lied die rechte Stimmung geben. Sie willfahrte gern seiner Bitte und sang in der Komposition von Schumann ein Lied aus dem Heineschen Cyklus „Dichterliebe“.

Franz lauschte mit Andacht. Zuerst überraschte ihn die edle Aussprache der Worte und der Wohllaut ihrer Stimme, dann fesselte ihn die Wärme der Empfindung, die Stärke des Gefühls. Das war mehr als ein Lied, das war zugleich die persönliche Offenbarung eines großen Schmerzes.

Als die Sängerin geendet hatte, ließ sie die Hände in den Schoß sinken. Nach einer Weile erhob sie schüchtern die Blicke zu Rott, welcher stumm und regungslos beim Kamin stand. Er sagte auch jetzt nichts, allein in seinen Augen war ein seltsames Leuchten – sie las Bewunderung darin und Mitgefühl. Schweigend verharrten sie so – endlich deutete Bettina auf die Geige, und Rott trat ans Klavier.

„Was können wir gemeinsam in Angriff nehmen? Da, diese Elegie ist mir zuerst in die Hand gefallen!“

„Sie paßt wenig zu der morgenhellen Stimmung der Natur,“ meinte Rott, indem er dennoch willig die Geige zur Schulter erhob.

„Aber ganz zu meiner Trauer,“ setzte Bettina in Gedanken hinzu und griff in die Tasten. Das Zusammenspiel mit dem Künstler gewährte ihr einen langentbehrten Genuß. So verträumt und verschüchtert ihr Wesen dem oberflächlichen Beschauer erschien, so lebte doch in ihrem Innern eine stete Lernbegierde, eine nachhaltige Energie. Nun fand sie in Rott den rechten Mann, ihrem musikalischen Können die Wege zu ebnen; er war nicht nur ein hervorragender Künstler, sondern auch ein ausgezeichneter Lehrer; während er mit Bettina die Elegie einübte, wies er in freundlichster Weise auf begangene Fehler hin, erklärte ihr manche Regel und zeigte, wie sich die Wirkung verstärken lasse. So gingen für Bettina die Morgenstunden im Fluge dahin, und als die alte Monk von einem längern Streifzug durchs Dorf, wo sie Neuigkeiten eingesammelt hatte, in die Klause zurückkehrte, um zu sehen, was ihre Schwiegertochter gekocht habe, da fand sie diese nicht in der Küche, sondern im Salon vor dem Flügel sitzen. Neben Bettina aber stand der Badegast, gegen dessen Aufnahme die junge Frau sich so heftig gesträubt hatte, und spielte die Geige. Als die Alte erfuhr, daß der Miether ein Musikant sei, sank er tief in ihrer Achtung, und sie ermahnte ihre Schwiegertochter, sich mit einem solchen Menschen ja nicht gemein zu machen, denn es könne ihrer Reputation schaden.

Bettina achtete nicht auf das Geschwätz der Alten, die ihre Neuigkeiten auskramte und erzählte, daß sich der Pastorssohn mit der reichen Witwe eines Gutsbesitzers verlobt habe. Sie blieb still und in sich gekehrt, solange ihre Schwiegermutter in der Klause herumwirthschaftete; erst als diese endlich zum Weststrand hinuntergüig, um mit den Fischern dort zu schwatzen, lief sie aufs neue ans Klavier und spielte noch einmal die Elegie durch. Dabei war es ihr, als höre sie den tiefen klagenden Ton der Geige über ihre Begleitung hinschweben, und unwillkürlich wandte sie den Kopf rückwärts, nachdem sie geendet, denn sie erwartete – sein Urtheil. Ein Seufzer hob ihre Brust, sie war ja allein.

In der Nacht, die diesem ersten Zusammentreffen folgte, schlief Bettina wenig. Sie mußte immer an zwei leuchtende Augen denken, sie hörte wieder und wieder die schwermüthigen Klänge der Elegie. Mit lähmendem Erschrecken erkannte sie, welchen Einfluß der Künstler auf sie gewonnen habe; endlich nahm sie sich vor, dem Gaste von nun an auszuweichen, bis sie ihre Ruhe zurückgewonnen hätte.

Am nächsten Tage erhielt Rott sein Frühstück durch die alte Monk, von Bettina war nichts zu erblicken. Ihn aber beherrschte die gleiche Unruhe wie die junge Frau, und je hartnäckiger sie ihm auswich, desto stärker wurde in ihm der Wunsch, sie zu sehen, einzudringen in die Tiefen ihrer Seele und dort die Wahrheit zu lesen.

Zehn Tage waren so hingegangen, ohne daß er mehr erreichte als eine einzige flüchtige Begegnung, bei der Bettina auf seine bittende Frage: „Werden wir nicht wieder zusammen musizieren?“ ihm mit einem hastigen: „Sie müssen Ihren Arm schonen“ ausgewichen war.

Auch der elfte Tag drohte nach qualvollen Stunden des Harrens für Rott mit einer neuen Enttäuschung zu enden, da sah er beim Beginn der Dämmerung die schlanke Gestalt durch den Garten schreiten. Die Rosenknospen hatten sich dem warmen Sonnenstrahl erschlossen, und von einem der Büsche senkten sich drei voll erblühte Purpurrosen nieder. Bettina brach den schwer belasteten Stiel und befestigte die Rosen an ihrer Brust. In Träumereien verloren, ging sie vom Garten aus zum Höwt hinan. Sie hatte den schmalen Pfad durch die Kornfelder genommen und dieser endete nicht beim „Utkiek“, sondern auf der gegenüberliegenden Kuppe, die mit Ginsterbüschen und wildem Gestrüpp bewachsen war. Auf einem bemoosten Steine ließ sie sich nieder und schaute in die Tiefe. Die Oberfläche des Meeres glänzte matt durch die Dämmerung, von Zeit zu Zeit sah man eine brechende Woge weiß aufschäumen und hörte dann das Gurgeln der durch die verstreuten Basaltblöcke zurückströmenden Wasser. Der Himmel war mit Wolkengebilden bedeckt, durch die sich der aufgehende Mond drängte …

„Eine solche Nacht war’s, als ich mit Lisa zum ersten Male [175] den ‚Utkiek‘ betrat,“ sagte Bettina leise. „In einer solchen Nacht vernahm ich zuerst Ewalds Namen und sein Lob. Ach, was für überschwängliche Träume zogen damals durch meine Seele, und in welches Elend haben sie mich verstrickt!“ Sie schaute zum Himmel auf, wo der Mond eben leuchtend hinter einer dunklen Wolke hervortrat, und ihre Augen füllten sich mit Thränen; flüsternd setzte sie nach einer Weile hinzu: „Wenn eine gütige Vorsehung über jenen Welten thront, warum läßt sie denn für eine Mädchenthorheit eine so grausame Strafe zu?“

Die Hände um die Knie geschlungen, saß sie regungslos da, ohne zu ahnen, daß sie beobachtet wurde. Rott war ihr gefolgt und stand nun mit verhaltenem Athem im Dunkel der Büsche; wie gebannt hing sein Blick an der vom Mondlicht überstrahlten Gestalt.

Endlich erhob sich Bettina und wandte sich seitwärts zur hohen Kante des Berges. Es war ein schmaler Pfad, der dicht an der abschüssigen Düne hinführte; zu ihrer Linken fiel die Wand steil zum Meere ab. Rott hatte am Morgen den Weg begangen und erinnerte sich, wie gefährlich einzelne Stellen des Weges waren. Die Furcht überkam ihn, Bettina könnte straucheln und hinabstürzen. Mit einigen Sätzen durchbrach er die Büsche und rief ihren Namen. Sie aber, durch den Ruf aus ihren Träumereien aufgestört, wandte sich seitwärts und sah, wie eine dunkle Gestalt ihr hastig folgte. Sie hatte weder Rotts Stimme noch seine Figur erkannt, und plötzlich befiel sie die Angst vor einer Rache, welche die Bräunings hier an ihr üben könnten. In raschem Laufe sprang sie, der Gefahr nicht achtend, an dem schmalen Rande hin, um dem Verfolger einen Vorsprung abzugewinnen.

Rott kam eilig hinter ihr drein, vorwärts getrieben von der Hoffnung, sie von dem gefährlichen Pfade abzulenken; näher und näher erblickte er die helle Gestalt, da versank sie plötzlich vor seinen Augen, und als er zu der Stelle gelangte, wo sie verschwunden war, hörte er nur noch einen halberstickten Schrei aus der Tiefe.

(Fortsetzung folgt.)




Unser Brot.

Das wichtigste Nahrungsmittel der civilisierten Menschheit ist das Brot. Es bildet die Grundlage jeder Ernährungsweise, und es war ihm darum in dem Plane der Leipziger internationalen Ausstellung für das Rothe Kreuz, welche in der kurzen Zeit vom 4. bis 12. Februar d. J. geöffnet war, ein gebührender Platz eingeräumt. In der That begegnete uns in den Ausstellungshallen das Brot in den mannigfaltigsten Gestalten. Man konnte verschiedene Sorten von Brot kosten, konnte ihre Herstellung in gewöhnlichen wie in Feldbäckereien beobachten, man sah besondere Enthülsungsmaschinen für Getreide – kurz, es war nach allen Richtungen hin für Belehrung gesorgt.

Aber nicht bloß diese Ausstellung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die wichtige Brotfrage. Das tägliche Leben drängt sie uns fortwährend auf, und heute, da die Preise für Lebensmittel gestiegen sind und unser russischer Kornlieferant im eigenen Lande mit der Hungersnoth zu ringen hat, noch mehr als sonst.

Die Kulturgeschichte belehrt uns, daß die Menschen ursprünglich das Brot derart bereiteten, daß sie das Korn im Wasser aufweichten, es in Kuchen preßten und dann an der Sonne trockneten. Das Zermahlen des Getreides zwischen Steinen, die Gewinnung eines groben Mehles bildete eine weitere Stufe des Fortschrittes. Aus diesem Mehle formte man Kuchen und ersetzte, um sie zu trocknen, die Sonnenwärme durch künstliche Hitze. So wurde das Brot zur Backware, zu einem Handelsartikel, der sich längere Zeit hielt. Es war das ungesäuerte Brot, wie es noch heute in Afrika, bei den Juden und in Schottland vielfach genossen wird. Wie hoch es auch über den rohen Getreidekörnern steht, es ist doch schwer verdaulich. Wie man vermuthet, ist es den Aegyptern zuerst gelungen, die wesentlichste Verbesserung des Brotes zu erfinden, indem sie es säuerten. Der Sauerteig, welcher dem frischen Brotteig beigemengt wird, enthält ein Ferment, welches in dem frischen Teige eine Gährung einleitet. Ein Theil der Mehlstärke wird zunächst in zuckerartige Substanzen verwandelt, welche alsbald wiederum in Kohlensäure und Alkohol zerlegt werden. Durch die freiwerdende Kohlensäure wird der Brotteig aufgetrieben, es entsteht in ihm eine große Zahl von Höhlungen, welche beim Backen durch die Hitze noch mehr ausgedehnt werden. Das Brot wird durch und durch porös, zum Kauen geeigneter und leichter verdaulich. An Stelle des Sauerteiges wurde später die Hefe verwendet, die in gleicher Weise auf die Beschaffenheit des Brotes einwirkt.

Jahrtausendelang begnügte sich die Kulturmenschheit mit diesen Bereitungsarten, und erst die Wissenschaft der Neuzeit hatte an ihnen etwas auszusetzen. Die Chemiker stellten fest, daß bei der Gährung ein Theil der nahrhaften Stoffe des Mehles verloren geht; denn der Alkohol verflüchtigt sich in der Backhitze und die Kohlensäure ist kein Nährstoff. Wenn auch dieser Verlust an und für sich klein ist und nur 1 bis 2 Prozent beträgt, so gewinnt er doch Bedeutung, wenn wir die Gesammtheit des Brotverbrauches ins Auge fassen. Man hat herausgerechnet, daß durch diese Gährung in Deutschland allein eine Masse Mehl verloren geht, mit der man täglich gegen 40000 Menschen mit Brot versorgen könnte. Man versuchte darum, die Auflockerung des Brotteiges auf eine andere Weise herbeizuführen.

Der berühmte Chemiker Justus Liebig trat mit besonderem Eifer für die Verwendung von Backpulvern ein. Es sind dies Brausepulver, die, wenn sie in den Teig gemengt werden, Kohlensäure erzeugen und das Brot auflockern.

Der Engländer Danglish erfand dagegen ein Verfahren, das in dem Großbetrieb vielfach angewandt wird; das nach seiner Anweisung erzeugte Brot wird „Luftbrot“ (aërated bread) genannt. In einem starkwandigen Kessel wird Wasser unter einem Drucke von 150 bis 180 Pfund auf den Quadratzoll mit Kohlensäure beladen. In einen andern gleichfalls sehr starken verschließbaren Kessel, der mit einer Knetvorrichtung versehen ist, wird das Mehl mit der erforderlichen Menge Salz gebracht. Das mit dem Gase übersättigte Wasser wird darauf mittels eines engen Rohres zu dem Mehle geleitet und das Durchkneten in dem Apparat unter starkem Drucke bewirkt. Nach vollendeter Mischung wird der Druck aufgehoben und das eingeschlossene Gas veranlaßt darauf unmittelbar ein gleichmäßiges Aufgehen des Teiges. Es ist in England festgestellt worden, daß auf diese Weise 118 sogenannte Viertelbrote aus einer Menge Mehl hergestellt werden können, welche nach dem Gährungsverfahren nur 105 bis 106 solcher Laibe ergeben hätte.

Wir lernen aus diesem kurzen Ueberblick, daß die Fortschritte in der Brotbereitung sich nur äußerst langsam vollziehen. Bei einem täglichen Nahrungsmittel spielt die Gewohnheit eine große Rolle. Mitteleuropa hat die Kunst, gesäuertes Brot zu bereiten, von den Römern gelernt, aber in Schweden und Norwegen waren noch um die Mitte des 16. Jahrhunderts die ungesäuerten Kuchen die einzige bekannte Art von Gebäck. Trotz allen maschinellen Fortschrittes ist unsere Brotbäckerei in ihrem Wesen der altrömischen gleich.

Die soeben erwähnten Bereitungsarten stehen jedoch gegenwärtig nicht im Vordergrunde des Interesses. Die Neuerungen, die auf der Ausstellung zu sehen waren, betrafen vor allem die Erhöhung der Nahrhaftigkeit des Brotes.

Das Brot ist kein vollkommenes Nahrungsmittel; von den drei Hauptnährstoffen des Menschen, Eiweiß, Kohlehydrate und Fett, fehlt ihm der letztere fast ganz; Kohlehydrate, das heißt Stärke und ähnliche Stoffe, sind in sehr reichlichem Maße vorhanden, der Gehalt an Eiweiß aber schwankt und beträgt je nach Beschaffenheit des Mehles und dem Wassergehalt des Brotes 5 bis 12 Prozent. Um nun den Eiweißbedarf seines Körpers zu decken müßte der Mensch, wenn er von Brot allein leben wollte, etwa drei bis vier Pfund täglich verzehren. Das sind jedoch Mengen, welche von den Verdauungsorganen nur in seltenen Fällen auf die Dauer vertragen werden. Wir helfen uns darum auf die Weise, daß wir weniger Brot essen und den Restbedarf an Eiweiß durch andere Nahrungsmittel wie Fleisch, Käse, Eier, Erbsen, Linsen u. dgl. beschaffen, in denen das Eiweiß in größeren Mengen vorhanden ist.

Würde man das Brot eiweißreicher machen, so würde man

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 7, S. 197–204

[197] Zum Unglück tauchte in dem Augenblick, in welchem Bettinas Gestalt verschwand, der Mond in eine Wolkenschicht hinein und völliges Dunkel umhüllte das Höwt. Weiter zu schreiten wäre für Rott Tollkühnheit gewesen, denn jeder Schritt konnte auch ihn in den Abgrund stürzen. Es blieb ihm nichts übrig, als laut ihren Namen zu rufen. Da – aus der Tiefe kam eine deutliche Antwort:

„Sind Sie es, Herr Rott, der ruft?“

„Ja, aber um Gotteswillen, wo befinden Sie sich?“

„Ich hänge über der Brandung. Schreiten Sie ja nicht weiter, Sie stehen am Abgrund!“

Kaum hatte Bettina geendet, so zitterte ein furchtbares Erschrecken durch Rotts Herz. Der Mond war wieder zum Vorschein gekommen und ließ ihn mit einem Male die ganze Gefahr für Bettina erkennen. Diese hing senkrecht über der leise rauschenden Brandung an einer Baumwurzel, die vom Bergrand etwa zwanzig Fuß tief abgerutscht und in einer Wasserrinne stecken geblieben war; diese Stütze konnte jeden Augenblick nachgeben. Als er endlich die Sprache wiederfand, rief er Bettina verzweifelt zu: „Sie schweben in einer furchtbaren Gefahr — und ich bin rathlos — können Sie sich halten?“

„So lange die eingeklemmte Baumwurzel festhält, bin ich sicher. Sie könnten mich retten, wenn Sie eines der langen Seile, mit welchen die in der Mulde weidenden Schafe an den Pflock befestigt sind, herbeischaffen und mir zuwerfen. Ganz in unserer Nähe blökt eins der Thiere. Gehen Sie ruhig zu Werke — ich fürchte den Tod nicht.“

In rasendem Laufe sprang Rott zu der Stelle, wo er mehrere Schafe an langen Seilen angebunden sah, die sie am Entlaufen verhinderten. Er riß den Pflock aus der Erde, an den eines der Schafe gefesselt war, und zog das widerstrebende Thier an sich, um ihm das Seil abzunehmen. Dann eilte er mit der Beute zurück. Ihm schien es, als seien Stunden vergangen, seit er sich von Bettina entfernt hatte.

„Sind Sie noch da?“ rief er von der Höhe aus und vernahm ein lautes Ja. Hastig warf er das mit der Schlinge versehene Ende des Seils Bettina zu, mit der Anweisung, sie möge die Schlinge über die Schultern zu bringen suchen damit das Seil unter ihren Armen einen Halt gewinne. Das auszuführen, war für Bettina fast unmöglich, denn sie mußte sich mit einer Hand festklammern, um nicht abzustürzen. Da sie jedoch ruhig und stark war, so gelang es ihr endlich, die Schlinge wenigstens über den Kopf und unter die linke Schulter zu bekommen, mit der rechten Hand umklammerte sie das Seil.

Rott, welcher in seiner Heimath Tirol wiederholt beobachtet hatte, wie Abgestürzte aus Felsklüften heraufgezogen wurden, prüfte [198] erst die Stärke des Seils, rief Bettina zu, sie solle den Körper von der Wand abhalten, und nun warf er sich der Länge nach zu Boden und zog, vorwärts kriechend, die theure Last empor. Er hatte das Ende des Seils mit dem Querholz unter die linke Schulter genommen und verschaffte sich einen Halt an den Büschen, die mit ihren Dornen ihm die Hände zerrissen. Die Angst, daß das Seil reißen oder der Knoten sich lösen könne, die ungeheure Anstrengung machte ihn zittern; die Minuten dehnten sich zu Ewigkeiten. Endlich ertönte der Ruf: „Lassen Sie los, ich stehe auf festem Boden!“ Mit einem Jubelschrei sprang er auf die Füße und schloß die Gerettete in seine Arme. Und Bettina, welche bis zur vollendeten Rettung mit Anspannung aller seelischen und körperlichen Kräfte der furchtbaren Gefahr getrotzt hatte, fühlte sich jetzt einer Ohnmacht nahe, ein müdes Vergessen befiel sie. Der süßen Mattigkeit nachgebend, ließ sie den Kopf gegen Rotts Schulter sinken, und wie im Traume vernahm sie das Geständniß seiner Liebe. Sie wehrte seine Liebkosungen nicht ab und hatte doch keinen Laut der Erwiderung auf sein Bekenntniß; sie duldete es auch, daß er sie zuletzt auf seine Arme hob und zu einer alleinstehenden Buche trug. Dort setzte er die süße Last nieder, sank in die Knie und rief mit erschütternder Klage: „Rede, Bettina, rede! Ich liebe Dich, liebe Dich unaussprechlich und müßte verzweifeln, wolltest Du mich verstoßen. Sag’ ein Wort, ein einziges Wort, das den Zweifel verscheucht! Es wäre unmenschlich, wenn Du in dieser Stunde das heiligste Gefühl niederdrücken würdest um äußerer Bedenken willen.“

„Ich kann’s auch nicht,“ erwiderte sie leise, und ihre Hände glitten über sein volles Haar. „Alle Willenskraft ist in mir gelähmt, und ich muß es Dir sagen. Dein Geständniß macht mich glücklich, Franz!“ Sie beugte lächelnd den Kopf zu ihm nieder und drückte einen Kuß auf seine Stirne.

„Bettina! O, Bettina!“ Mehr konnte er nicht erwidern.

Eng aneindergeschmiegt, saßen sie wortlos da und sahen hinaus in die träumerische Nacht. Versunken war mit einem Male die irdische Noth, jeder Gedanke an Vergangenes und Zukünftiges schwand aus ihren Seelen, und als der laue Nachtwind ihre Wangen kühlte, als der Mond seine flimmernde Lichtstraße auf das dunkle Meer warf, da war es ihnen, als trage sie ein guter Genius zu fernen Welten.

„Welch’ eine Nacht ist dies!“

Bettina sprach es; sie versuchte ihrer Bewegung Herr zu werden und wollte sich erheben. Ein brennender Schmerz am Knie erschwerte ihr das Aufstehen. Sie hatte sich offenbar beim Niederstürzen verletzt und konnte ohne Rotts Beihilfe die Klause nicht erreichen. So nahm sie denn den Arm des Geliebten, der sie sicher geleitete.

Auf der dunklen Veranda tauschten sie die letzte Umarmung, den letzten Kuß, und wie sie dann noch einmal zum sternbesäten Himmel aufschauten, da klang es wie aus einem Munde:

„Welch eine Nacht!“




15.

Die Mondnacht hatte den Liebenden die Freiheit des Traumes gegeben, der Tag trieb sie zurück in die Enge der starren Wirklichkeit. Bettina konnte sich am Morgen nur schwer bewegen; ihr Gesicht war blaß und ihre Haltung so gebeugt, als werde sie von unsichtbaren Fesseln gehalten. Auf die mißtrauische Frage der Schwiegermutter, was ihr sei, gab sie den Aufschluß, sie sei bei einem Gange zum Höwt ausgerutscht und gefallen.

Die bevorstehende Wiederbegegnung mit Rott machte sie unruhig. Sie fühlte ihr Gewissen nicht belastet, aber die Frage, was nun geschehen werde, erfüllte sie mit Bangigkeit.

Rott hatte seiner Gewohnheit gemäß in der Morgenfrühe gebadet und bei der Rückkehr vom Strand den Weg übers Höwt genommen. Als er zur Buche kam, fand er daselbst den Schullehrer, welcher kopfschüttelnd das an der Erde liegende Rettungsseil betrachtete.

„Gehört Ihnen das Seil?“ fragte Rott unbefangen.

„Nein, aber ich zerbreche mir mit der Frage den Kopf, wie der Strick hierher gelangt sein kann, denn gestern abend saß der Pflock noch in der Wiese und diese Schlinge war am Halse von Bräunings schwarzem Hammel befestigt. Jetzt vergnügt sich besagter Hammel in meinem Kleefeld, wollte mir jemand einen Schabernack spielen, so soll den Kerl – –“

„Schleudern Sie keinen Fluch und Bannstrahl,“ unterbrach ihn Rott lachend, „denn ich bin der Urheber des Unglücks und will gern dafür aufkommen. Genügen fünf Mark Entschädigung dafür, daß sich der befreite Hammel über Ihren Klee hergemacht hat?“

„O, bitte, das ist weit mehr, als ich annehmen darf,“ wehrte der Lehrer, allein da Rott ihm das Geld ohne weiteres in die Rocktasche schob, so nahm er es dankend an. Dann hob er das Seil auf und bemerkte mit pfiffigem Lächeln. „Nun weiß ich aber noch nicht, wie ich dem alten Bräuning erklären soll, daß sein Hammel in mein Kleefeld gerathen ist.“

„Ich überlasse es Ihnen, die Erklärung zu geben. Vielleicht nehmen Sie an, ich hätte mich in einer Anwandlung von Lebensüberdruß an einem Ast der Buche aufknüpfen wollen und zur Ausführung den Muth nicht gefunden.“

Rott grüßte lachend und schritt der Klause zu. Er fand Bettina im Salon. Sie streckte ihm vom Sofa aus, auf dem sie lag, die Hand entgegen und eine zarte Röthe breitete sich über ihr blasses Gesicht. Er küßte ihre schlanke Hand und sah sie mit glückstrahlenden Augen an.

„Guten Morgen, Franz,“ sagte sie leise und lächelte. „Bei Deinem Anblick fühle ich wieder Muth.“

„Warst Du verzagt?“

„Ja! Als ich heute morgen erwachte, da erschienen mir die Vorgänge dieser Nacht wie ein böser Traum, und mit erdrückender Gewalt beherrschte mich das Bewußtsein meiner verzweifelten Lage. Wie lassen sich die Fesseln lösen, wie gelange ich aus dem Wirrsal heraus? Mit dieser Frage peinigte ich mein armes Gehirn. Dazu kam der körperliche Schmerz infolge des gestrigen Falls. Ich werde einige Tage lang das Zimmer hüten müssen, fürchte ich. Ach, Franz, wie bangt mir vor der Zukunft!“

Er sah sie ernst und forschend an. „Machen wir uns eines klar, Liebste! Hat der Tag wirklich an unsern Gefühlen nichts geändert, oder war das, was uns gestern bewegte, nur der Ausfluß einer augenblicklichen Aufwallung?“

„Auch ich habe diese Frage erwogen, denn ich bin im Laufe der letzten Jahre recht zweifelsüchtig geworden. Aber ich kann nicht anders fühlen als gestern – ich müßte sehr unglücklich werden, könnte ich Dir nicht angehören, Franz!“

„Nun, so sind wir einig, und der alte Spruch von der allesbesiegenden Liebe wird sich hoffentlich auch hier bewähren. Laß uns berathen, was wir nach Monks Rückkehr zu thun haben.“

„Das scheint mir sehr einfach zu sein. Ich muß Ewald so schonend, aber auch so offen wie möglich die Wahrheit bekennen und ihn bitten, mich freizugeben. Was ich an Geld und Gut besitze, mag er behalten!“

„Aber wenn er sich weigert, Dich gehen zu lassen?“

„Welchen verständigen Grund könnte er haben, mich elend zu machen und sich selber? Er liebt mich nicht mehr – wenn er es überhaupt je gethan hat!“

„Das Menschenherz ist wunderlich. Oft wirkt der Gedanke an den Nebenbuhler wie ein starker Wind, der das verglimmende Feuer der Liebe zur lodernden Flamme anfacht. Und wenn nun Monk sich weigerte, Dich freizugeben, hättest Du dann den Muth, ihn zu verlassen und zu versuchen, Deine Ehe mit ihm zu lösen?“

„Ich will alles thun, was unsre Liebe fordert.“

Nach dieser Entschließung sehnten die Liebenden eine rasche Entscheidung herbei, allein ihre Geduld wurde einer harten Prüfung unterworfen, denn von Ewald traf am folgenden Tage ein Brief ein, daß er mit der Barke in See gegangen sei, um in Kopenhagen eine Ladung für Danzig einzunehmen. Ob er von dort nach Massow zurückkehren werde, hänge von den Aufträgen der Kaufleute ab.

Als Bettina das mit den plumpen Schriftzügen ihres Mannes bedeckte Papier weglegte, sagte sie schwermüthig: „Unser Geschick wird schwerlich vor Ablauf des Sommers entschieden werden.“

„Nun, was liegt daran! Mich macht es schon unsagbar glücklich, nur in Deiner Nähe leben zu können.“

„Auch mich! Allein der Gedanke an die Zukunft liegt über unserem Glücke wie eine gewitterschwere Wolke.“

„Warum das Unglück fürchten, ehe es uns trifft? Betrachte Du jeden Tag als ein gütiges Geschenk und genieße ihn froh und harmlos! Der Sommer gehört uns, seien wir dem Geschick dafür dankbar!“

„Du drehst den Spruch um: ‚Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst‘, Du nimmst Deine Kunst sehr ernst und suchst dem Leben die heiterste Seite abzugewinnen.“

„Vielleicht doch nicht, ich habe mich nur gewöhnt, von den [199] sonnigen Gefilden der Kunst etwas Glanz und Licht ins dunkle Leben hineinzutragen, weil ich – dankbar bin. Schau, mein Herz, mich hat in früher Jugend das Leben rauh angefaßt, und ich mußte mir’s sauer werden lassen, bis ich meinen Weg sicher hatte. Damals habe ich gelernt, immer des Erreichbaren mich zu freuen, aus meiner Kunst die Kraft zu nehmen, die mich aufrecht hält, auch wenn Wolken den heiteren Himmel verdunkeln.“

Sie standen während dieses Gesprächs am offenen Fenster; die Sonne strahlte aus lichtblauem Himmel, sie ließ das Meer aufleuchten und flimmern, sie gab den Blumen und Büschen im Garten so heiterbunte Farben wie jenen Faltern welche um die Blüthen gaukelten. Die Sonne verlieh auch Rotts Augen einen seltsamen Glanz. Bettina, welche hineinschaute, war es, als spiegle sich alle Herrlichkeit des Himmels und der Erde in ihnen, und seine Stimme rührte alle guten Gefühle ihres Herzens auf. „Ich werde mich Deiner Worte erinnern,“ sagte sie sanft, „sobald der Unmuth in mir aufsteigt, und will gleich Dir fortan dankbarer sein.“

Er zog sie an sich und küßte ihre Stirne.

Von dieser Stunde an waren sie oft beisammen; besonders häufig unternahmen sie weite Segelfahrten zu den umliegenden Inseln und Küstenorten, und Bettina lehrte Rott, wie man das Segel handhabe.

Auf einem Streifzug durch die Lindströmschen Forsten begegneten sie eines Tages der Schloßherrin, welche in Begleitung einiger Gäste das Wild im Parke bei den Futtertrögen beobachtete. Die Liebenden befanden sich in so eifriger Unterhaltung, daß sie die Gräfin erst bemerkten, als jedes Ausweichen unmöglich geworden war. Diese, eine Blondine von zierlicher Gestalt und lebhaften Bewegungen, redete Rott an und überhäufte ihn mit Vorwürfen, daß er nicht im Schlosse abgestiegen sei. Sie sprach in nervöser Hast, stellte Fragen, ohne die Antwort abzuwarten und sprang von einem Thema zum andern. Die Freunde ihres Hauses behaupteten, nur das unzerstörbare Phlegma ihres verstorbenen Gatten habe diese Unruhe in ihr hervorgerufen. Begabt mit einem lebhaften feurigen Wesen sei die Gräfin fünfzehn Jahre lang an einen schwerfälligen Mann gekettet gewesen, der keine andere Lebensaufgabe gekannt habe, als seine Einkünfte in Werthpapieren und Grundbesitz anzulegen oder auf Tafelgenüsse zu verwenden. Das vergebliche Bemühen, diesen Gatten aus dem Schlaraffenleben aufzurütteln, habe ihre Nerven zerrüttet. Sie war die Tochter eines deutschen Musikers und hatte sich in ihrer Jugend der Künstlerlaufbahn zugewendet. Man erzählte sich, daß sie als junge Opernsängerin nach Stockholm gekommen sei und von der Bühne aus den Grafett bezaubert habe. Die fünfzehnjährige Trennung von der Kunst hatte jedenfalls ihr Interesse daran noch gesteigert, sie behauptete, gute Musik beruhige und erquicke sie mehr als jede Arznei.

Rott stellte seine Begleiterin der Gräfin vor, welche die erröthende und befangene Bettina mit dem Ausdruck der Ueberraschung und Neugierde betrachtete.

„Man beschäftigt sich hier zu Lande viel mit Ihnen,“ sagte sie lächelnd, „und die verschiedenartige Beurtheilung, welche Ihre Weltabgeschiedessheit erfährt, hat mich neugierig gemacht, Sie kenenzulernen. Leute, welche den Muth besitzen, ihren eigenen Weg zu gehen, sind mir stets sympathisch; der Herdentrieb, der in der sogenannten guten Gesellschaft besonders stark ausgebildet ist, widert mich an. Ich heiße Sie auf meinem Grund und Boden willkommen, Frau –?“

„Monk.“

„Darf ich Sie mit meinen Gästen bekannt machen? Ah, da ist gleich Herr Lieutenant von Ellernbrück, der vor wenigen Tagen die Ansicht aussprach, Sie müßten eine begeisterte Anhängerin von Rousseau sein, denn Sie hätten die ‚Rückkehr zur Natur‘ praktisch ausgeführt.“

„Ihre Offenheit, meine Gnädige, streift fast die Grenzen der Bosheit,“ versetzte der Schwager des Lotsenkommandanten scherzend und begrüßte Bettina mit großer Artigkeit als eine alte Bekannte und doch mit einer Zurückhaltung, die deutlich sagte: zwischen mir und dir gähnt eine tiefe gesellschaftliche Kluft. Auch die Töchter eines grimmig aussehenden adligen Gutsnachbars der Gräfin begegneten Bettina mit jener herablassenden Höflichkeit, welche als Demüthigung empfunden wird. Die Gräfin hatte noch einen schwedischen Landschaftsmaler und einen Berliner Cellisten in ihrem Gefolge. Der letztere war wiederholt Gast in Bettinas Vaterhaus gewesen und begrüßte sie nun mit der Freudigkeit eines Mannes, der unerwartet eine interessante Entdeckung gemacht hat. Er stürmte derart mit Fragen auf sie ein, daß Rott sich mit der abwehrenden Bemerkung ins Mittel legte: „Sie wollen dies Interview doch nicht heute noch der Berliner Presse telegraphisch mittheilen, Herr Kollege?“

Die Schloßherrin lud Rott und Bettina so dringend zum Bleiben ein, daß diese, wollten sie nicht unhöflich erscheinen, ihr aufs Schloß folgen mußten. Dieses lag auf einer Anhöhe und gewährte eine weite Rundsicht übers Meer^ der schöne Batt, im Stile der Frührenaiffanee gehalten bot einen stolzen Anblick. In einer offenen Säulenhalle war bereits die Mittagstafel für die Gäste gedeckt. Die Gräfin nahm ihren Platz neben Rott und wußte die Unterhaaung bei Tisch mit so viel Munterkeit und Geschick einzu.eiten, daß bald die ganze Tafelrttude in die fröhlichste Stimmung kam. Selbst Bettina, welche nur mit innerem Widerstreben und in peinlicher Verlegenheit gefolgt war, athmete allmählich freier auf; ihr schien es mit einem Male, als sei sie durch eine wunderbare Fügung des Schicksals in die Lebenssphäre ihrer Jugend zurückversetzt worden.

Der Cellist, ein witziger Gesellschafter, zeigte seine Gaben im hellsten Lichte und forderte zuletzt Rott heraus, Abenteuer aus seinen Künstlerfahrten zu erzählen. Bettina lernte dabei den geliebten Mann von einer neuen Seite kennen. Seine Sprache war knapp und klar, er verstand es meisterlich, in seinen Schilderungen das Charakteristische fremdartiger Erscheinungen herauszuheben und die heiteren Erlebnisse mit köstlicher Laune wiederzugeben. Das Lachen der Zuschauer steigerte seinen Humor. Bettina vermochte kaum die Blicke abzuwenden von seinem glücklichen Gesicht, seinen leuchtenden Augen – wie freute sie sich, daß man ihn so unverhohlen bewunderte!

Die Gesellschaft saß bei Tisch, bis die Sonne sank. Bettina genoß den Ausblick aufs Meer, das ganz in Gluth getaucht war, und mit dem herrlichen Naturbilde, mit dem süßen Duft der Rosen, den der Abendwind aus dem Garten herauftrug, mit dem fröhlichen Lachen der Nachbarn verschmolz sich das innere Glücksgefühl, das ihr die Liebe gab, zu einer Lebensfluth, die ihr so wohlig und wonnig einging wie der goldklare Wein, den sie schlürfte. Es war doch eine Lust, an des Lebens festlicher Tafel zu sitzen, wo sich die Seele aus der Gebundenheit zur Freiheit erhob. Sie fühlte sich als Gleichberechtigte in diesem Kreise, nahm lebhaften Antheil an der Unterhaltung und bewies der Gesellschaft durch ihre treffenden Bemerkungen über die neuen Strömungen auf künstlerischem und litterarischem Gebiete, daß sie an Bildung und Urtheilskraft den anderen Damen zum mindesten gleich stehe.

Als man sich endlich vom Tische erhob und Rott Miene machte, sich zu verabschieden, erfaßte die Gräfin seinen Arm und rief scherzend: „Sie wissen, daß meinem Hause kein Musiker ohne Tribut entschlüpft. Bitte, bitte, lassen Sie uns etwas hören!“

Rott erwiderte ablehnend, daß er seine Geige nicht zur Hand habe, allein die Gräfin schnitt seinen Widerstand durch die Entgegnung ab: „Sie finden im Musiksaal drei Cremoneser Geigen, die Ihnen sicher gefallen werden.“

So begab man sich denn in den Musiksaal, dessen Wände mit farbigen Mosaikbildern und dessen Nischen mit Büsten geschmückt waren. Ein herrlicher Flügel stand auf einer Erhöhung im Hintergrund des Saals. In mehreren schön geschnitzten Schränken befand sich eine ganze Bibliothek von Musikwerken und daneben eine reiche Auswahl von Instrumenten. Rott wählte sich eine der Geigen aus und bat Bettina, die Klavierbegleitung zu einem Stücke zu übernehmen, das sie miteinander eingeübt hatten. So war der Vortrag desselben wie aus einem Gusse und rief bei allen in dem kleinen Kreise Bewunderung hervor. Als Rott die Geige aus der Hand legte, wurde er mit Bitten um weitere Gaben bestürmt, er aber wies auf den Cellisten, der sich auch bereit finden ließ. Nun war die Gesellschaft im Zuge, und die Lust, ihr musikalisches Können zu offenbaren, erfaßte auch die Damen. Die Gräfin bestimmte die Töchter ihres Gutsnachbars, ein Duett zu singen, dann gab sie selbst eine Arie aus dem „Figaro“ zum besten. Wieder hatte Bettina die Begleitung übernommen und führte sie mit soviel Geschmack und Sicherheit durch, daß die Gräfin ihr in überschwänglicher Weise dankte.

„Was ist aus Ihrer Stimme geworden, Frau Monk?“ fragte der Cellist. „Ich erinnere mich noch mit Vergnügen an die Abende, da ich Sie in Berlin singen hörte.“

[202] „Ah, Sie singen auch? Dacht’ ich mir’s doch gleich, als ich Ihre melodische Sprache hörte! Bitte, bitte, ein Lied!“

Die Gräfin ließ nicht nach, bis sich Bettina vor den Flügel setzte und zwei Lieder von Franz vortrug. Ihre Stimme war leicht umflort und besaß keinen großen Umfang, aber es lag ein eigener Zauber in ihrer Klangfarbe; jeder Ton war von echter weicher Empfindung durchhaucht.

Als Bettina sich mit bescheidener Miene vom Flügel erhob, war es ganz still um sie her. Dann plotzlich fühlte sie sich von den Armen der Gräfin umschlossen, die sie herzlich küßte und sagte: „Die Stille mag Ihnen bezeugen, welche Wirkung Ihr Gesang auf den Hörer hervorbringt. Sie reden die Sprache eines tiefempfindenden edlen Herzens.“

Von diesem Augenblick an ließ sie Bettina nicht von ihrer Seite, und diese athmete auf. Vergessen und versunken waren alle Demüthigungen, Kränkungen und Entbehrungen; sie fühlte sich emporgehoben und las in Rotts glänzenden Augen die Verheißung einer schönen Zukunft.

Bevor die Gäste aufbrachen, zeigte die Gräfin Bettina und Rott ihr anmuthig ausgestattetes Boudoir. Dabei fiel der Blick Bettinas auf das Bild eines Offiziers, der ihr bekannt vorkam und die gleiche Uniform trug wie einst Graf Trachberg.

„Ist dies nicht Baron Leblanc?“ fragte sie.

„Gewiß, kennen Sie ihn?“

„Nur flüchtig; er wurde mir einst von einem seiner Kameraden vorgestellt.“

„Darf ich den Namen desselben wissen?“

„Graf Trachberg.“

„Ah, das ist sein Freund, der unserer Trauung beiwohnen wird. Sie sehen mich beide überrascht an,“ fuhr die Gräfin lachend fort. „Nun denn, Baron Leblanc ist mein Verlobter; ich bin waghalsig genug, mich im Spätherbst dieses Jahres zum zweiten Male in das Joch der Ehe zu fügen. Die Hochzeit soll hier gefeiert werden und ich wünsche das Fest durch künstlerische Genüsse zu verschönen. Darf ich auch auf Sie rechnen?“

„Wenn Sie mir den Tag der Hochzeit rechtzeitig mittheilen, stelle ich mich ganz zu Ihrer Verfügung,“ entgegnete Rott zuvorkommend.

„Und Sie, Frau Monk?“

Bettina gerieth bei der unerwarteten Frage in große Verlegenheit. Um keinen Preis mochte sie mit dem Grafen Trachberg zusammentreffen, sie sagte daher in ängstlich abwehrendem Tone, daß sie nicht Herrin ihrer Entschlüsse sei und als Lotsenfrau wohl auch nicht in aristokratische Kreise passe.

Gräfin Lindström lachte hell auf. „Seien wir doch nicht zimperlich,“ rief sie. Die Kunst giebt jedem Sterblichen einen Geleitsbrief, den auch Fürsten anerkennen. Nun, ich will Ihnen Zeit zur Ueberlegung lassen, aber wenn Sie mich erst näher kennen, werden Sie erfahren, wie wenig von dem Staube aristokratischer Vorurtheile auf mich gefallen ist.“

„Das weiß ich schon jetzt,“ versetzte Bettina herzlich. „Ich weiß, daß Sie hochherzig sind. Haben Sie Dank, innigen Dank für so viel Freundlichkeit ... das war ein Tag, den ich nie vergessen werde.“

Die Gräfin küßte Bettina auf beide Wangen und geleitete sie bis zum Schloßportal, wo für sie, Rott und den Lieutenant von Ellernbrück der Wagen bereitstand. Da Bettina mit Rott im Boote über die Bucht gekommen war, so machte sie schüchtern den Vorschlag, ob sie nicht lieber übers Wasser segeln wollten, dem Wagen bleibe dann die weite Fahrt über die sandige Landenge erspart. Dem Offizier kam der Vorschlag sehr erwünscht, und auch Rott erklärte sich bereit.

Die Fahrt gestaltete sich zu einem schönen Nachspiel des ereignißreichen Tages. Eine träumerische Stille lag über den kühlen Fluthen, die geheimnißvoll unter dem Kiele aufrauschten und sich murmelnd verloren. Noch einmal konnte Bettina alles überdenken, und die Lobsprüche, welche der Schwager des Lotsenkommandanten ihrem Gesang und Spiel nachträglich spendete, schmeichelten sich in ihr Ohr und thaten ihrem Herzen wohl. Als das Fahrzeug vor der Klause endlich auf den Sand lief und der Offizier sich verabschiedete, schreckte sie auf; die harte Wirklichkeit stand wieder vor ihr.

Sie fand die Thür des Hauses verschlossen. Auf ihr Klingeln erschien nach einiger Zeit die alte Monk und leuchtete murrend den beiden ins Gesicht; in ihren Augen war ein flackerndes Licht, das den Ausbruch verhaltener Wuth ankündigte.

Kaum hatte sich Rott entfernt, so machte die Alte ihrer Schwiegertochter heftige Vorwürfe darüber, daß sie zu „nachtschlafender“ Zeit mit einem leichtfertigen Musikanten auf dem Wasser herumfahre; das möchten sich die Stadtdamen erlauben, in Massow aber sei es nicht der Brauch.

Bettina erwiderte kühl, daß auch der Schwager des Lotsenkommandanten mit ihnen über die Bucht gefahren sei und daß sie über ihr Betragen Ewald allein Rechenschaft schuldig sei.

Der Grimm der Alten wurde durch die ruhige Abwehr eher angeschürt als besänftigt. Unter heftigen Drohungen faßte sie Bettina, die sich zum Gehen anschickte, am Arm und wollte sie zwingen, ihre Anschuldigungen noch länger anzuhören.

Nun aber wallte auch in der jungen Frau die Entrüstung heiß auf. Mit einer heftigen Bewegung schüttelte sie die Hand ab und rief in flammendem Zorne: „Hüten Sie sich, mich wieder zu berühren! Und wenn Sie den Tag verfluchen, an dem ich in Ihr Haus gekommen bin, so mögen Sie wissen: ich verwünsche ihn auch und bin entschlossen, Sie in Kürze von meiner Person zu befreien. Hoffentlich kommt Ihr Sohn bald zurück, damit diese unerträgliche Lage zu ihrem Ende kommt.“




16.

Der Wunsch Bettinas erfüllte sich rascher, als sie erwartet hatte. Am nächsten Abend schon, als sie mit Rott von einem Spaziergang über das Wiesengelände heimkehrte, sah sie Ewald mit den beiden Alten auf der Veranda beim Abendbrot sitzen. Sie erschrak so heftig bei seinem Anblick, daß ihr der Feldblumenstrauß, den sie in der Hand trug, zu Boden fiel. Ewald, von seiner Mutter auf Bettina aufmerksam gemacht, sprang vom Stuhle auf, und es lag eine solche Kampfbereitschaft in seiner Haltung, seinen Mienen, daß die junge Frau ihrem Begleiter bebend zuflüsterte: „Er weiß alles. Bitte, laß uns allein – die entscheidende Stunde ist gekommen!“

„Soll ich nicht zu Deinem Schutze –“

„Nein, das würde meine Lage nur verschlimmern.

Bleich und nach Athem ringend stieg sie allein die Treppe hinan.

„Na,“ rief ihr Ewald drohend entgegen, „ich komme der Madame wohl ungelegen? Freilich, wenn man einen Musikanten im Hause hat – –“

„Nicht weiter, Ewald! Ueber das, was in Deiner Abwesenheit geschehen ist, will ich Dir ehrlich Rede stehen, sobald wir ohne Zeugen sind. Vor Deiner Mutter gebe ich auf keine Deiner Fragen Antwort.“

„Man wird Dich zwingen –“

„Wodurch? Glaubst Du, Deine geballte Faust schrecke mich? Ich habe mich noch niemals der rohen Gewalt gebeugt und Du weißt recht gut, daß ich nicht feig bin. Was ich fürchte, ist etwas ganz anderes. Verzehre Dein Abendbrot, Du wirst nach der Reise hungrig sein, und dann laß uns allein miteinander fertig werden!“

Bettina war mit einem Male ruhig geworden. Ewalds Drohung hatte ihren Muth aufgerüttelt, sie fühlte dem zornigen Mann gegenüber ihre innere Ueberlegenheit. Der Lotse brummte etwas in den Bart, setzte sich aber auf den Stuhl nieder und füllte sein Glas mit Branntwein.

„Ist Deine Fahrt unterbrochen worden?“ fragte Bettina und stützte sich auf das Geländer der Veranda.

Ewald antwortete nicht, sondern leerte bedächtig sein Glas. Statt seiner gab der alte Monk Auskunft. „Ja, ja, min Engelken,“ sagte er mit grimmigem Lachen, „uns’ Bark hett all der Düwel holt.“

„Was soll das heißen? Habt Ihr Schiffbruch gelitten? Ich hörte doch nichts von Stürmen in dieser Zeit?“

„Nee, nee, min Düweken, sie is afbrennt.“

„Wie, verbrannt? Mit der Ladung? Wie konnte das geschehen?“

Jetzt schlug Ewald mit der Faust auf den Tisch, daß die Teller klirrten. „Wenn ich den Hund erwische, der mir das gethan hat,“ rief er und schüttelte die Faust gegen Bräunings Gehöft, „dann zerbrech’ ich ihm alle Knochen im Leibe.“

„Willst Du mir nicht ruhig erzählen, wie alles gekommen ist?“

„Was giebt’s da viel zu erklären,“ antwortete Ewald mit einem finstern aber unsichern Blick auf Bettina. „Wir lagen in Danzig vor Anker, und als die Ladung gelöscht war, gingen Vadding und ich abends ins Wirthshaus, um zu Nacht zu essen [203] und einen Schluck Bier zu trinken. An Bord blieb Gust Henning zurück. Auf dem Quai begegnete uns Karl Bräuning, der sich unten bei den Ausladestellen herumtrieb. Der Kerl drückte sich, wie er uns sah, scheu beiseite. Gegen Mitternacht hörten wir auf der Gasse Feuerlärm. Vadding und ich brachen auf und sahen, daß ein Schiff im Hafen brannte. Es war unsere Barke. Als wir zum Quai kamen, hatten die Matrosen der umliegenden Schiffe das brennende Fahrzeug schon hinausgeschleppt, damit die anderen Schiffe nicht in Gefahr kämen. Ans Löschen dachte niemand, dazu war’s auch wohl schon zu spät, und so ist die Barke bis auf den Kiel niedergebrannt.

„Und wo war Henning unterdessen?“

„Dem Schlingel war die Zeit lang geworden, und er hatte das Schiff verlassen, um ebenfalls einen hinter die Binde zu gießen. Dem hab’ ich’s eingetränkt. Wenn mir aber der Halunke, der Bräuning, in den Wurf kommt, dann schlag’ ich ihn tot, denn er hat das Feuer angelegt – kein andrer.“

„Hast Du Beweise?“

„Daß der Galgenvogel um mein Schiff herumstrich, ist mir Beweis genug.“

„Auf diese zufällige Begegnung hin kannst Du niemand eines schweren Verbrechens zeihen. Es war nicht wohlgethan, das Schiff solange in der Obhut eines jungen Burschen zu lassen. Gust Henning zählt erst sechzehn Jahre, bei ihm konntest Du ein Gefühl seiner Verantwortlichkeit nicht voraussetzen. Wie hoch war die Barke versichert?“

Bei dieser Frage Bettinas schlug Ewald verlegen die Augen nieder. „Da sitzt ja der Haken,“ platzte er endlich heraus, „die Barke war gar nicht versichert!“

Wenn Ewald erwartet hatte, daß Bettina auf das Geständniß hin, die Bark sei nicht versichert gewesen, aufschreien und jammern werde, so irrte er sich. Sie ließ stumm ihre Blicke über die Gruppe der Monks gleiten und sagte dann leise: „Ich hätte mir’s denken können! Meine Ermahnung wurde also wieder einmal in den Wind geschlagen. Das ist eine schwere Einbuße.“

„Vadding meinte, das Versicherungsgeld könnten wir selber verdienen –“ bemerkte Ewald in unsicherem, entschuldigendem Tone.

Um die Lippen der jungen Frau zuckte ein spöttisches Lächeln. „Und Ihr habt’s in der Kneipe verdient, wo Ihr vermuthlich bis Mitternacht hinter den Karten saßet. O, man kann sein Gut nicht gewissenhafter behüten!“

Die beiden Männer schwiegen betreten, aber Mutter Monk übernahm ihre Vertheidigung und bemerkte giftig, ihr Sohn habe sich jedenfalls weniger vorzuwerfen als Bettina, die in ihres Mannes Abwesenheit den ganzen Tag vor dem Klimperkasten verbracht oder sich mit dem hergelaufenen Musikanten herumgetrieben habe.

Die Verklagte biß sich auf die Lippen und schaute aufs Meer hinaus. Als die Alte endlich schwieg, sah Bettina Ewald fest an und sagte mit leisem Beben in der Stimme: „Willst Du jetzt mit mir durch den Garten gehen? Es muß klar werden zwischen uns.“

Sie ging voraus. Langsam senkte sich die Abenddämmerung über Meer und Land, am Himmel flimmerten die ersten Sterne. Bettina blickte zu ihnen auf, preßte die Hände gegen das ungestüm pochende Herz und flüsterte. „O laß mich jetzt die rechten Worte finden, gütige Vorsehung, damit ich ihn überzeuge und nicht verletze; ich möchte in Frieden von ihm scheiden. Frei werden laß mich, sonst geh’ ich elend zu Grunde!“

Hinter ihr wurden schwere Tritte hörbar. Sie wandte sich gegen den Gatten um, ihr Gesicht war weiß wie Marmor.

„Ewald,“ sagte sie mit todestrauriger Stimme, „Du wirst wissen, um was es sich handelt, Du mußt die Wandlung bemerkt haben, die sich seit dem Tode unseres Kindes in mir vollzogen hat. Dein und mein Verhängniß – ich habe es erkannt. Wir glaubten uns zu lieben – wir haben uns getäuscht; es waren falsche Sterne, denen wir vertrauten und folgten.“

Ewald hatte ihr mit soviel Spannung zugehört, daß die Pfeife, welche er kurz vorher in Brand gesteckt hatte, wieder verlöschte. Bettinas feierliches Wesen ließ ihn ahnen, daß ein großer Entschluß ihr Inneres bewege und daß sie beide vor einem Wendepunkt ihres Lebens stünden. Jetzt, da sie aus beklommener Brust tief Athem schöpfte, warf er grollend ein. „Ich hatte Dich gern.“

„Du magst mich gern gehabt haben, so wie ich Dich, Ewald,“ sagte sie sanft, „aber wir liebten uns nicht. Muß ich Dir die Beweise dafür erst aufzählen? Komm, laß uns auf und abgehen und höre mich ruhig an! Das Unabänderliche ist ja doch stärker denn wir.“

Sie wanderten durch den breiten Mittelgang des Gartens, während die Johanniskäfer leuchtend von Busch zu Busch flogen, während die Blumen mit ihrem Dufte die laue Abendluft würzten und im Geäst der jungen Obstbäume ein Vogel von Zeit zu Zeit sein leises Gezwitscher vernehmen ließ. Und Bettina enthüllte dem schweigenden Manne an ihrer Seite jede Falte ihrer Seele. Wie im Selbstgespräch entwarf sie ein Bild ihrer Lage nach dem Tode des Vaters, forschte der eigenen Thorheit nach und den Mitteln, durch welche Ewald ihre Hand gewonnen hatte. Ohne Bitterkeit, aber klar und bestimmt wies sie die Gründe nach, durch welche das Freundschaftsgefühl ihrem Gatten gegenüber – nur diese und keine andre Empfindung habe sie mit ihm verbunden, wie sie jetzt erkenne – zerstört worden sei. In dem Wahne, unter Naturmenschen freier und glücklicher leben zu können als in den gewohnten Verhältnissen, sei sie nach Massow gekommen, hier aber habe man sie der Willensfreiheit beraubt, ihre geistige Natur in einen unerträglichen Zustand der Knechtung und Stumpfheit herabzudrücken versucht. Da sei in dem Augenblick, in welchem die Verzweiflung sie zu überwältigen gedroht, Franz Rott erschienen und mit ihm – die Liebe. Ewald müsse sich erinnern, wie heftig sie sich gegen die Aufnahme dieses Mannes in ihr Haus gesträubt habe, eine seltsame Ahnung dessen, was kommen werde, sei schattengleich in ihr Inneres gefallen. Nun habe sich ihr Schicksal doch erfüllt, sie sei fortgerissen worden von jenem höchsten Gefühl, das göttlich und unzerstörbar sei. Nun müsse geschehen, was nothwendig sei, um die unselige Scheinehe zwischen ihnen zu lösen. Nicht bloß an sich selbst denke sie dabei, auch für Ewald gebe es keinen andern Weg zum Frieden. So wenig es ihr persönlich gelungen sei, ihn zu beglücken und zu veredeln, so wenig habe ihn ihr Geld zufriedener gemacht. Wenn er in die Scheidung willige, so wolle sie ihm alles lassen, was sie an Geld und Gut besitze, er werde eine Lebensgefährtin finden, die ihm sein könne, was ihr, der so ganz anders Gearteten, verwehrt gewesen, die ihn dauernd beglücke. Sie aber werde ihm bis ans Ende ihres Lebens dafür danken, daß er ihr die verlorene Freiheit wiedergegeben habe.

Sie sprach in zitternder Erregung, und als sie beide auf dem Hügel am Ende des Gartens anlangten, wandte sie ihm voll das Gesicht zu, erhob bittend die Hände und schloß mit den Worten „Wir haben uns getäuscht, Ewald; laß uns ohne Groll scheiden und auf neuen Wegen den Frieden suchen!“

Der Schein des Mondes fiel auf ihre leidvollen Züge, der Lotse sah, daß zwei heiße Thränen sich von ihren Wimpern lösten. Und wie aus den feuchtschimmernden Augen flehende Blicke zu ihm herüberdrangen, so sprach aus ihrer Stimme die ganze Sehnsucht nach Erlösung von unerträglichen Fesseln. Aber Ewald verschloß sich der Gewalt dieses Eindrucks mit einer unwilligen Bewegung. Ihr Bekenntniß hatte seine Eigenliebe verwundet, aus ihrer beweglichen Rede hörte er nur das eine heraus, daß sie den „Musikanten“ ihm vorziehe. Und wie mußte sie den Fremden lieben, daß sie – die Stolze – Thränen vergoß! Der Gedanke rührte alle bösen Leidenschaften in Ewald auf und machte ihn unzugänglich für ihre Bitten. Und nie zuvor war ihm Bettina so schön und begehrenswerth erschienen als jetzt, da er sie verlieren sollte. Lange sah er ihr in das thränenfeuchte Gesicht, und als sie nochmals die Hände zu ihm erhob und fast schluchzend seinen Namen rief, antwortete er rauh und barsch: „Du hältst mich wohl für einen Narren?“

„Ewald!“

„Ja, ‚Ewald!‘ Du kannst mich lange anrufen und angucken als wär’ Dir der Himmel eingefallen, ehe ich auf Deinen unsinnigen Vorschlag eingehe. Ewald Monk ist kein Tropf, der in jede Grube springt, wenn Du nur den Wunsch danach aussprichst. Wir beide sind Mann und Frau, das scheinst Du in meiner Abwesenheit vergessen zu haben. Hier zu Lande läuft man nicht zusammen, um sich wieder zü trennen, wenn eins von beiden verdrießlich wird oder wenn ein Dritter ins Haus kommt, der eine glatte Larve hat und ein wenig gebildeter schwatzen kann als der eigene Mann. Hier zu Lande hat die Frau bei dem angeheiratheten Manne in allen Lagen des Lebens auszuhalten, und wenn sie das nicht thut, so erkennt man dem Manne das Recht zu, sie zur Pflicht zu zwingen. Das könnte Dir gefallen, jetzt, wo es mir ohne mein Verschulden schlecht geht, Dich davon zu stehlen und es einmal mit dem Musikanten zu versuchen! [204] Der Kerl hat Dir wahrscheinlich goldene Berge versprochen, und ich könnte hier sitzen bleiben und all den Hohn und Spott über mich ergehen lassen, den die Lästermäuler schon lange für mich in Bereitschaft haben – nein, mein Schatz, daraus wird nichts. Ich hab’ Dich nicht zur Ehe gezwungen, aber jetzt, da Du meine Frau bist, sollst Du es auch bleiben“

Er wollte sich abwenden und ins Haus zurückkehren, allein Bettina erfaßte seinen Arm und sagte ruhig: „Ich begreife, daß der Gedanke an eine Trennung Dich erschrecken muß, doch wenn Du heute nacht über das Vergangene nachdenkst, so wirst Du zu der Einsicht gelangen, daß es besser für uns beide ist, wenn jedes wieder seinen eigenen Weg geht. Ich habe viel gelitten an Deiner Seite und nicht darüber geklagt, denn ich wußte, daß Du mir nicht aus böser Absicht Leid zufügtest. Der Mensch ist das, was Erziehung und Verhältnisse aus ihm machen, und Du handeltest Deiner Natur gemäß. Die Rauheit und Härte Deines Wesens aber mußte mich verletzen. Wir paßten eben nicht zueinander. Wir haben beide gefehlt, so laß uns ohne Groll die Vergangenheit begraben!“

„Gut, das ist ein verständiges Wort. Es soll alles vergeben und vergessen sein, wenn Du Dir den Menschen da droben aus dem Kopfe schlägst." Er streckte ihr die Hand entgegen sie aber wich hastig abwehrend weit zurück.

„Dazu ist’s zu spät“ sagte sie mit zitternden Lippen. „Die Liebe läßt sich so wenig auslöschen wie das Sonnenlicht. Ewald, sei nicht grausam! Ich flehe Dich an, gieb mich frei!“

Sie hatten seinen Arm umklammert und die Thränen strömten ihr über das bleiche Gesicht. Er aber stieß sie rauh von sich. „Nein und tausendmal nein,“ rief er erregt, „Du bist ein Weib, das seine Pflicht vergißt; so lange ich lebe, sollst Du keinem andern angehören. Ich ermorde den, der Dich zu berühren wagt.“

Bettinas Geduld war erschöpft, die rohe Art der Zurückweisung brachte auch ihr Blut in Wallung. „Wenn Du von Pflichten sprichst, so vergiß nicht, daß Du die Deinigen sehr schlecht erfüllt hast – doch, wozu mit Dir streiten! Da Du fühllos gegen meine Bitten bist, so werden auch gerechte Vorwürfe an Dir abprallen. Ich will Dir Zeit geben zu ruhiger Ueberlegung. Sage mir morgen, wozu Du erschlossen bist!“

Sie entfernte sich mit eiligen Schritten, und als Ewald ihr nachrief. „Du wirst morgen keinen andern Bescheid erhalten wie heute,“ wandte sie den Kopf nicht, sondern trat lautlos ins Haus.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 8, S. 244–252
[244]
17.

Bevor Bettina am folgenden Morgen Rott über das Ergebniß der Unterredung mit ihrem Manne unterrichten konnte, traf derselbe bereits mit Ewald an der Gartenpforte zusammen. Rott, der, den Hut lüftend, am Hausherrn vorübergehen wollte, wurde von diesem in barschem Tone angeredet: „Wenn Sie heute frühstücken wollen, so müssen Sie sich ins Gasthaus bemühen; in meinem Hause erhalten Sie nichts mehr als die Wohnung. Verstanden?“

Der Künstler erwiderte höflich: „Sie waren deutlich genug, und ich habe selbst das verstanden, was Sie nicht ausgesprochen haben: es wäre Ihnen lieb, wenn ich Ihr Haus recht bald verließe. Das soll so rasch als irgend thunlich geschehen. Doch da Sie die Feindseligkeiten begonnen haben, so lassen Sie uns wie ehrliche Gegner handeln und offen bekennen, was einer von dem andern zu erwarten hat.“

„Was Sie von mir zu erwarten haben, das will ich Ihnen gleich sagen. Wenn Sie es noch einmal wagen, meiner Frau von Liebe zu reden, dann fliegen Sie zur Thür hinaus – Sie sammt Ihrem Geigenkasten, aber nicht so heil, wie Sie hereingekommen sind!“

Ueber Rotts Gesicht ging eine jähe Gluth. Er nahm den breitrandigen Hut ab und ließ sich den Morgenwind durchs Haar streichen, dann sah er Monk furchtlos mit den stahlgrauen Augen an und erwiderte: „Sie wollen also rücksichtslos auf das Recht des Stärkeren pochen und mit Gewalt eine Frau unglücklich machen, die Ihnen ihr Leben anvertraut hat?“

Der Lotse geriet bei dieser Frage in Verlegenheit. Er zog seine kurze Pfeife aus der Tasche, klopfte die Asche aus, stotterte einige unverständliche Worte und fuhr zuletzt grob heraus:

[245] „Was zum Henker geht Sie meine Frau an?“

„Sehr viel, denn ich achte Bettina; das ist etwas, was Sie nie gethan haben.“

„Wer sagt Ihnen das?“

„Sie selber, Herr Monk. Wer eine Frau achtet, macht sie nicht zur Sklavin, die alle Launen und Mißhandlungen des Mannes schweigend ertragen muß. Hat die Frau die gleichen Pflichten, so hat sie auch das gleiche Recht mit dem Manne.“

„Das mag bei Euch Großstädtern gelten, die Ihr weder nach Brauch und Sitte noch nach Gott und Teufel fragt, auf dem Lande aber ist die Frau dem Manne unterthan und hat ihm zu gehorchen – denn so steht es in der Schrift.“

„So wollen Sie uns zum Aeußersten treiben? Bettina liebt mich und wird mir folgen.“

Ewald nahm hastig die Pfeife aus dem Munde, sein Gesicht wurde dunkelroth und seine Augen funkelten vor Zorn. „Hüte Dich,“ rief er mit geballter Faust, „hüte Dich, Musikant, mein Weib zu einem leichtsinnigen Schritte zu verleiten, das könntest Du mit Deinem Leben bezahlen müssen!“

Rott erschrak beim Anbltck der entstellten Züge und der wüthenden Gebärde des Mannes. Er zitterte nicht für sein, sondern für Bettinas Leben. In Ewalds ungezügelter Natur lag etwas Gefährliches; gewiß, der Lotse scheute im Nothfall auch nicht vor einem Verbrechen zurück. Es galt also, sehr klug zu handeln, um Bettina seiner Wuth zu entziehen.

Ruhig und schweigend wandte sich Rott daher von seinem Gegner ab und schritt dem Gasthof zu. Hier schrieb er sofort an die Gräfin Lindström und fragte an, ob er nun doch im Laufe der nächsten Tage ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehmen dürfe. Den Brief sandte er durch einen besondern Boten ab. –

Am Nachmittag desselben Tages, während sich Ewald mit seinem Vater auf dem Felde befand, um Roggen zu schneiden, sammelte sich die Jugend des Dorfes um die gräfliche Kutsche, welche von der Klause zum Gehöft des Lotsenkommandanten hinüberfuhr. Mutter Monk hatte gerade mit der Lehrersfrau ihre Ansichten über die Kartoffelernte ausgetauscht, als der Wagen in Sicht kam. – Beim Anblick ihres Schwiegersohnes, welcher stolz die Kutsche lenkte, gerieth sie ist neugierige Aufregung. „Na, Jehann,“ rief sie und lief zu dem Wagen hin, „wo geiht et? Wo hast Du Dine Gnädige?“

„Afladen – vor Ewalds Klause.“

Die Alte schlug vor Verwunderung die Hände zusammen, dann forschte sie nach, was wohl die Frau Gräfin im Hause ihres Sohnes zu suchen habe.

Ueber das dicke Gesicht des Kutschers breitete sich ein überlegenes Lächeln. Er brachte sein Gespann stolzer Apfelschimmel zum Stehen und antwortete dann in gespreiztem Tone: „So’ne hochen Heschaften hebben absonderliche Kapriolen.“ Er erklärte sich außer stande, über die wahren Absichten seiner Herrin Aufschluß zu geben, neigte indessen der Ansicht zu, daß es sich um einen Besuch beim Musikanten handle. Wahrscheinlich wolle ihn die Gräfin mit sich aufs Schloß nehmen, damit er ihr etwas vorspiele.

Frau Monk schüttelte den Kopf und murmelte: „Dat is ja ganz unmäuglich, dat uns’ gnä’ge Gräfin mit so’n Fiedler Umständ’ mackt.“

„Je, je, hoche Heschaften sünd tauweilen wunnerlick.“

Nach diesem Ausspruch erhob der Kutscher die Peitsche und fuhr dem Wagenschuppen zu, der sich ans Landhaus des Kommandanten anschloß. Frau Monk aber eilte zur Klause, sie mußte sofort ergründen, was die Gräfin, welche als Besitzerin einer großen Herrschaft und mehrerer Millionen ein wahrhaft fürstliches Ansehen in Massow genoß, unter dem Dache ihres Sohnes zu schaffen habe. Eine Begegnung mit Kathrein Bräuning, der sie in aller Eile über die wunderbare Begebenheit Bericht erstatten mußte, verzögerte die Erreichung ihres Ziels. Die Nachbarin legte ein ebenso großes Interesse für den hohen Besuch an den Tag wie Frau Monk und schloß sich dieser an, um das Neueste gleich aus erster Quelle zu erfahren.

Der Respekt vor der Gräfin verbot den beiden Weibern mit der Thür ins Haus zu fallen; sie umschlichen daher vom Garten her die Klause, und als sie nach einer Weile Musik vernahmen, zogen sie die Holzschuhe von den Füßen und stiegen leise und vorsichtig zur Veranda hinauf, von der sie durchs offene Fenster vorsichtig ins Innere des Salons blicken konnten.

Das Bild, welches sich ihnen bot, war überraschend freundlich und anmuthig. Bettina saß am Flügel und spielte die Begleitung zu einem Stücke, welches Rott auf der Geige vortrug. [246] Die Gräfin saß in einem Lehnsessel, auf dessen Rand ihr hübscher Kopf ruhte. Sie schaute mit einer Miene zur Zimmerdecke auf, als schlürfe sie die Musik gleich einem wonnigen Trank. Nachdem die letzten Töne verhallt waren, sagte sie, ohne ihre Lage zu verändern: „O, wie schön! Wissen Sie, Rott, daß ich nicht mehr an Ihre Armlähmung glaube? Sie haben Ihrem Instrument nie zuvor Töne von solcher Weichheit und soviel Reiz entlockt wie jetzt. Es liegt eine seltsame Weihe in Ihrem Spiele.“

Rotts Blicke suchten bei diesem Lobe Bettinas erglühendes Gesicht und er sagte leise: „Diese Weihe hat mein Spiel erst in jüngster Zeit empfangen.“

Die lauschenden Weiber auf der Veranda verstanden nicht die Bedeutung der Worte, aber sie bemerkten wohl, daß Rott und Bettina sich voll Zärtlichkeit anschauten und einander mit glücklichem Lächeln zunickten. „Wie twee Liebeslüt,“ bemerkte Kathrein lakonisch.

Die Gräfin erhob sich jetzt, warf einen Blick auf die Wanduhr und sagte: „Mich freut’s, daß Sie mich begleiten werden, und ich wünschte nur, ich könnte auch Sie entführen, liebe Frau Monk. Nun muß ich aber noch beim Kommandanten vorsprechen. In einer halben Stunde fährt mein Wagen vor, also halten Sie sich bereit, mein Freund!“

Die Lauscherinnen glitten von der Veranda herab und schlüpften hinter eine Laube. Von diesem Versteck aus sahen sie nach einer Weile, daß Rott und Bettina die Gräfin bis zur Gartenthür begleiteten. Da sich hier aber ein lebhafter Streit über ein musikalisches Thema entspann, so folgten die beiden dem Gaste bis zum Landhaus des Kommandanten, wo sie durch Lieutenant von Ellernbrück, welcher die Gräfin erwartet hatte, noch eine halbe Stunde im Garten festgehalten wurden.

Unterdessen waren die alte Monk und Kathrein nach lebhaftem Gedankenaustausch zu der Ueberzeugung gelangt, daß vor dem Flügel ein Frevel begangen worden sei, zu dessen Sühne man sofort Ewald herbeirufen müsse. Schnurstracks liefen sie durch die Niederung zum Kornfeld hin, wo die Schnitter ihre Arbeit beendigt hatten und nun bei einem tüchtigen Trunke Branntwein zusammensaßen. Ewald hörte den Bericht der beiden Weiber, die sich gegenseitig zu Uebertreibungen anfeuerten, mit grimmigem Lächeln an, und als beide endlich schwiegen und erwartungsvoll zu ihm aufschauten, sagte er in entschlossenem Tone: „Dem Musikswindel möten wi wohl ’n End maken.“

Zehn Minuten später vertauschte er in der Scheune der Klause seine Sense mit der Holzaxt, eilte ins Musikzimmer und zertrümmerte den herrlichen Flügel Bettinas mit wüthenden Hieben. Die beiden Anstifterinnen hatten an dieser That das innigste Vergnügen und begleiteten jeden Streich mit hellem Auflachen. Der Lärm lockte einige Fischer, die vorbeigingen, auf die Veranda; diese riefen dem alten Monk, der mit seinem Sohne heimgegangen war, erschreckt zu, ob Ewald verrückt geworden sei.

„Nee,“ erwiderte der Alte hohnlachend, „he will Ordnung maken in sin Hus.“

„Na, dat is ’ne ganz nimodsche Art.“

Krachend sank der Flügel endlich in Trümmer. Zum Glück war Rotts Geige im starken Lederkasten verschlossen. Ewald hatte auf diesen, als er bereits zu ermüden anfing, zwei Streiche geführt, die aber die schützende Hülle nicht zersplitterten. Als dann die Axt seinen Händen entsank, glaubte er, aus einem wüsten Rausche zu erwachen. Seine Mutter hatte durch ihre Anklagen gegen Bettina das Gefühl der Eifersucht in seinem Innern zur wildesten Leidenschaft angefacht. Mit pochenden Schläfen und glühender Rachlust war er hergestürmt, ohne Besinnung. Wären ihm in diesem Zustand der Raserei Bettina und Rott begegnet, er hätte sie erschlagen. Jetzt, da die That vollbracht war, folgte die Ernüchterung.

Und eben in diesem Augenblick trat Bettina ins Zimmer, begleitet von Rott. Beim Anblick des zertrümmerten Instruments hielt sie entsetzt an und rief. „Wer hat das gethan?“

„Ich,“ entgegnete Ewald trotzig, wich aber Bettinas Blicken aus.

„Warum?“

„Weil ich nicht will, daß Du mit dem da Musik machst.“ Er deutete dabei auf Rott.

„Ihre Frau gab nur den dringenden Bitten der Gräfin Lindström nach, welche gekommen ist, um mich abzuholen,“ sagte dieser und nahm seinen Geigenkasten auf. Er war so bleich geworden wie Bettina und seine Hände bebten, als er den Kasten öffnete, um sein Instrument herauszunehmen. Ein Blick überzeugte ihn, daß es unversehrt war. Erleichtert athmete er auf. „Sie können von Glück sagen,“ rief er Ewald zu, „daß es Ihnen nicht gelungen ist, den Geigenkasten zu durchhauen.“

„Na, an Ihrer Fiedel wäre auch nicht viel verloren gewesen,“ bemerkte Ewald grob.

„Vielleicht mehr, als Sie in diesem Augenblick hätten bezahlen können. Die ‚Fiedel‘ ist gegen eine Summe von neuntausend Mark versichert, und die Versicherungsgesellschaft hätte diesen Betrag rücksichtslos eingetrieben, wenn Ihre Absicht, das Instrument zu zerstören, gelungen wäre.“

„Nindusend Mark – so’n lütt Ding?“ schrie die alte Monk und schlug vor Verwunderung die Hände zusammen. „Wie is denn dat minschenmänglich? So viel kost’ ja nich mal en grotes Schip.“

„Und soviel kostet selbst der Flügel nicht, den Ihr Sohn zertrümmert hat; gleichwohl muß der, welcher einen Werthgegenstand von fünftausend Mark vernichtet, entweder sehr reich oder sehr verblendet sein.“

„Fivedusend Mark?“ Dieser Ausruf des Erschreckens kam von den Lippen der gespannt horchenden Dorfbewohner; Ewald stierte den Sprecher fassungslos an. Nach einer Weile erst stotterte er: „Das ist ja Unsinn; kein vernünftiger Mensch wlrd einen Klimperkasten so hoch bezahlen.“

„Mag der ‚Klimperkasten‘ kosten, was er will,“ rief nun Bettina in höchster Entrüstung, „ein Mann, der in so sinnloser Wuth zerstört, was die Freude anderer ist, verdient nur Verachtung.“

Ihre Mienen drückten die tiefste Empörung aus; ohne Ewald noch eines Blickes zu würdigen, wandte sie sich ab und verließ an Rotts Seite das Zimmer.

Ewald blieb in einem Zustand geistiger Ohnmacht zurück. Eines nur war ihm klar, daß er wie ein wildes Thier gehandelt und vor Bettina eine häßliche Rolle gespielt habe. In diesem dumpfen Gefühl der Beschämung war es ihm, als verfinstere sich die Welt, als lege sich auf seine Seele ein lähmendes Dunkel. Er war unfähig zu denken und tastete sich nach einem Stuhle hin, auf den er niedersank.

Von draußen wurde ein Geräusch vernehmbar. „Die gräfliche Kutsche!“ rief einer der Fischer auf der Veranda. Nun kam Bewegung in die erstarrte Gruppe. Kathrein und die alten Monks liefen zum Fenster hin, um zu beobachten, was sich ereigne.

Ewald vermochte sich nicht aus der Betäubung aufzuraffen, die Stimmen der am Fenster Stehenden trafen sein Ohr nur wie ein wirres Geräusch. Plötzlich aber wurde laut Bettinas Name genannt, und der Gedanke blitzte durch sein Hirn: sie verläßt mit ihm das Haus, um niemals zurückzukehren. Nun schnellte er in die Höhe und lief zum Fenster; mit einer kräftigen Armbewegung schob er Kathrein und die Mutter zur Seite, daß beide taumelten, und blickte hinaus. Eben setzte sich der Wagen in Bewegung. Auf dem hinteren Sitz saß die Gräfin mit Rott, auf dem schmalen Vordersitz aber stand der Geigenkasten. Den Reisekoffer des Gastes hatte der Kutscher neben sich auf das Trittbrett gestellt. Ewalds Blicke glitten vom Wagen zur Gartenpforte. Dort stand Bettina; ihr Haar flimmerte in der Abendsonne wie rothes Gold. Sie bewegte die Hand zum Abschiedsgruß, und ihre Blicke mußten wohl denen Rotts begegnet sein, denn in den Augen und Mienen des Künstlers leuchtete ein helles Licht und der Ruf „Auf Wiedersehen!“ kam von seinen Lippen.

In wenigen Augenblicken verschwand der Wagen in der Niederung hinter einer Staubwolke, Bettina aber kehrte langsam in den Garten zurück.

Nun trat auch Ewald vom Fenster weg, seiner Brust entrang sich ein Stöhnen.

„Na, een wahres Glück, dat wi den Schnorranten los sind,“ bemerkte die alte Monk. „Nu möt Du awer Dine Tine den Dumen gehörig up dat Auge drücken, Ewald.“

„Zuerst will ich Dir was sagen, Mutter,“ antwortete ihr Sohn und seine Augen funkelten. „Wer sich untersteht, noch ein Wort in unsere häuslichen Angelegenheiten hineinzureden, den werfe ich zum Hause hinaus, gleichviel ob er zur Familie gehört oder nicht. Merkt Euch das!“ – – –

[247] Zu Anfang des Monats September traf Bettina heimlich Anstalten, um Massow für immer zu verlassen. Sie gedachte, nichts mit sich zu nehmen, als Kleider und Wäsche und einige Andenken an die glückliche Zeit ihrer Jugend. Diese Dinge fanden in einem Koffer Platze, ihre ganze übrige Habe wollte sie Ewald zurücklassen. An dem Morgen, an welchem sie ein Billet von Rott empfangen hatte mit der Aufforderung, sich für den nächsten Tag zur Flucht bereit zu halten, brütete die Sonne heiß über Land und Meer. Die Luft war schwül und unbewegt, am Himmel zeigte sich kein Wölkchen. Bettina rang nach Athem, als sie aus ihrem Zimmer trat, um Ewald aufzusuchen Sie hatte während der letzten Zeit kein Wort mit ihm gewechselt. Nun pochte ihr das Herz, als sie seinen kurzgeschorenen Kopf auf der Veranda sah. Er saß vor einem Bogen Papier und schrieb. Die ungewohnte Arbeit mochte ihm wohl sauer geworden sein, denn als er Bettinas ansichtig wurde, legte er seufzend die Feder nieder und wischte sich mit dem Handrücken die Schweißtropfen von der Stirne.

„Ewald,“ sagte Bettina, und ihre Stimme klang mild und flehend, „ich komme noch einmal zu Dir mit der Bitte: gieb mich frei! Laß uns in Frieden scheiden!“

Er blickte in ihr edles, blasses Gesicht, und bei dem Gedanken, daß dies Weib ihn verlassen wolle, krampfte sich sein Herz zusammen. Es dauerte eine Weile, bevor er sich zur Antwort aufraffte. „Laß uns ins Zimmer treten,“ sagte er endlich und erhob sich, „es braucht niemand zu erfahren, was zwischen uns vorgeht.“

Als sie sich in dem schattigen Raume gegenüberstanden, deutete Ewald auf die Stelle, die einst der Flügel eingenommen hatte, und bemerkte: „Ich wollte Dir das da ersetzen – der Schulmeister meinte, man könne in Berlin billige Klaviere auf Abzahlung erhalten, und er verschaffte mir die Adresse eines Fabrikanten. Ich wollte eben an den Mann schreiben ...“

„Bemühe Dich nicht, Ewald! Es freut mich, daß Du in versöhnlicher Stimmung bist, allein Dein Entschluß, die letzte der mir zugefügten Kränkungen zu sühnen, kommt zu spät. Wie ich Dir schon einmal sagte, gehöre ich nicht mehr mir selber an und ich maß elend zu Grunde gehen, wenn Du mich zwingst, hier in Massow auszuharren.“

„In Massow auszuharren?“ wiederholte der Lotse, und seine Hoffnung flackerte neu auf, „dazu will ich Dich nicht zwingen. Wenn Dir der Ort zu einsam oder meine Verwandtschaft zu unbequem ist, so verkaufen wir das Haus und ziehen weg, um anderswo ein neues Leben zu beginnen.“

„Auch dazu ist es leider zu spät,“ entgegnete sie unsicher; sie gehörte zu den weichen Naturen, welche einer Bitte schwer widerstehen können und ihre volle Kraft nur ungerechter Kränkung gegenüber finden. „Sieh, Ewald,“ fuhr sie in gepreßtem Tone fort, „Du hättest es leicht gehabt, mich mit unzerreißbaren Banden an Dich zu fesseln – ein wenig Güte, nur halb soviel Rücksicht auf meine Wünsche und Neigungen, als ich den Deinigen erwies, und was ich während unsrer Verlobungszeit für Dich empfand, hätte zur unbesieglichen Liebe werden müssen. Du hast auf meine Gefühle nicht geachtet, hast mir gezeigt, daß Du Deine Befriedigung außer dem Hause finden könnest, hast mich um leidiger Vorurtheile willen Eltern und Nachbarn gegenüber preisgegeben. Ich sage das ohne jeden Groll, Ewald, sage es nur, weil ich gezwungen bin, mich zu vertheidigen. Ich will Dich nicht kränken ...“

„Ich weiß das,“ entgegnete Ewald, und ein Abglanz jener Treuherzigkeit, welche Bettina während der ersten Begegnungen mit ihm so sehr bestochen hatte, lag wieder auf seinen Zügen. „Du bist gut, das hab’ ich stets gewußt; ich sehe auch ein, daß Deine Klagen berechtigt sind. Und doch hatte ich den redlichen Willen, Dich glücklich zu machen – weiß der Henker, was alles dazwischen kam, um es zu hindern. Jetzt, wo ich zurückblicke, scheint es mir fast, als hätten böse Geister ihren Spuk mit uns getrieben. Denn wenn zwei Menschen sich gut sind und sie kommen trotzdem nicht zu Fried’ und Eintracht, so muß man wohl annehmen, die Geschichte geht nicht mit rechten Dingen zu.“

Ueber Bettinas Gesicht flog ein mattes Lächeln, dann erwiderte sie herzlicher: „Die Hindernisse lagen in der Verschiedenheit unsres Charakters, unsrer Bildung und unsrer Lebensanschauung. Ich beging den schweren Fehler, das zu übersehen.“

„Mag sein, mag sein!“ entgegnete Ewald und rieb sich die Stirne, als wollte er die wirren Gedanken ordnen. „Aber jetzt, da wir das alles wissen und einsehen, könnten wir ...“ das Wort erstarb ihm auf der Lippe und er warf im Gefühl seiner Hilflosigkeit einen bittenden Blick auf Bettina.

Diese rang in peinlicher Erregung die Hände. „Zu spät, zu spät! Ich bin nicht mehr mein eigen,“ rief sie. „Du weißt es, wie heftig ich mich gegen die Aufnahme von Rott sträubte, denn die Ahnung von dem, was kommen würde, fiel in meine Seele. Du hörtest nicht auf mich, hattest nur den Vortheil im Auge. Da glaubte ich mich von Dir aufgegeben und in mir erwachte die brennende Sehnsucht nach geistigem Leben, nach einem warmfühlenden Menschenherzen. Und Rott verstand meine Wünsche, errieth meine Gedanken, als ob er mein Inneres durchschauen könne ... Dazu kam die Musik – Du ahnst nicht, Ewald, welche Gewalt in den Tönen liegt. So überraschte uns die Liebe wie die Frühlingssonne die schlafende Erde, sie war da, bevor mein Gewissen sich regte, sie verwandelte diesen öden Fleck Erde in einen Zaubergarten, sie durchglühte und entflammte mein ganzes Wesen. Vergebens sträubte sich meine Vernunft gegen ihre Gewalt, vergebens klammerte ich mich an die Pflicht – das Gefühl in meinem Herzen war übermächtig. Und so kam’s, daß – –“

„Daß die Leute im Dorfe heute von mir wie von einem Gebrandmarkten reden,“ warf Ewald mit großer Bitterkeit ein. „Daß Euer Glück meine Schande werden müsse, daran habt Ihr nicht gedacht. Was ist Euch feinen Leuten auch an einem armen Teufel von Seemann gelegen!“

„Ewald, Du hast kein Recht, so niedrig von mir zu denken!“ rief Bettina und ihre blassen Wangen rötheten sich, ihre Augen flammten. „Ich kann Dir frei in die Augen sehen, meine Ehre ist rein. Boshafter Verläumdung kann freilich niemand entgehen. Noch einmal bitte ich Dich, laß mich meines Weges ziehen!“

Des Lotsen Blicke hafteten auf ihrer rührenden Gestalt und ein wilder Aufruhr durchtobte sein Inneres, daß er sie einem andern lassen sollte. Mit rauher Stimme und heftig abwehrender Gebärde antwortete er: „Ich kann es nicht – kann es nicht!“

„So zwingst Du mich, Dich heimlich zu verlassen?“

„Wenn Du das wagst, dann mag er sich in acht nehmen, Dein Musikant! Ich verfolge und finde ihn, und dann – geht einer von uns beiden aus der Welt, er oder ich.“

Bettina starrte den Gatten mit großen, erschrockenen Augen an, dann wandte sie sich von ihm ab und schritt langsam dem Ausgang zu. Noch hatte sie die Schwelle nicht erreicht, da rang sich ein Schrei der Verzweiflung aus ihrer Brust. Hastig umkehrend, warf sie sich vor Ewald nieder und umfaßte dessen Knie. Die Thränen, welche sie bisher gewaltsam zurückgehalten hatte, flutheten jetzt heiß über ihre Wangen. „O, sei nicht so wild, so grausam! Ich habe an Dich geglaubt, Ewald, an Dein gutes Herz, habe Dir jahrelang gedient mit der ganzen Hingebung des Weibes ... Du kannst mich nicht vernichten wollen! Und ich müßte verzweifeln, wenn einer von Euch beiden den andern mordete um meinetwillen. – Ewald, sieh, ich hatte die redliche Absicht, Dich zu beglücken, aber das Glück floh unsre Schwelle – es war nicht meine Schuld. So sei menschlich um der Liebe willen, die Du einst zu mir empfunden hast, treibe mich nicht zum Wahnsinn und laß mich frei!“

Ihre Klagen verstummten, aber ihre Thränen versiegten nicht und ihr Körper bebte wie im Fieber. Und in Ewalds Brust verwandelte sich der Zorn in Mitleid. Dem Gefühl des Erbarmens nachgebend, beugte er sich zu ihr nieder und stotterte: „Nicht so ... steh’ auf, Betty! Ich bin kein Unmensch, wahrhaftig nicht. Unglücklich sollst Du bei mir nicht werden – geh’, wohin Dein Herz Dich treibt! Ich will Dir’s nicht nachtragen, daß Du mich verlassen hast. Geh’!“

Er half ihr in einen Sessel, und als sie die thränenfeuchten Blicke auf ihn richtete und einige Worte des Dankes stammelte, drohte ihn die innere Bewegung zu übermannen; rasch verließ er das Haus und ging zum Strande hinunter.

Meer und Luft waren unbewegt, die fernen Ufer des Festlands umsäumte ein bläulicher Dunst. Die Schwüle des Tages lastete schwer auf Ewald; er wußte nicht, was in ihm vorging, er fühlte nur das Bedürfniß, in heulendem Sturme und tosender Brandung allein zu sein auf dem Meere und sein Leben in die [250] Schanze zu schlagen. Lange wanderte er planlos am flimmernden Strande hin, endlich thaten ihm die Augen weh von dem Glitzern des Sandes, seine Füße ermüdeten und mechanisch wandte er sich dem Dorfe und den schattigen Lauben des Gasthauses zu. Er fand dort seinen Vater und Pischel beim Kartenspiel sitzen, der Wirth schlummerte in einer Ecke der Laube. Von der Kegelbahn her ließ sich von Zeit zu Zeit ein dumpfes Rollen hören.

„He, hollah!“. rief Ewald und schlug mit der Faust auf den Tisch, „heut’ scheint ja ganz Massow im Schlafe zu liegen, das Nest ist wie ausgestorben. Zum Henker, Wirth, ist zum Schlafen die Nacht da oder der Tag? Hol’ ne Flasche Rothen, ich verdurste!“

Der Wirth rieb sich gähnend die Augen und sagte: „Ah, Du bist’s, Ewald? Gleich, gleich!“ Er reckte die Arme und gähnte nochmals. „Wir armen Gastwirthe müssen am Tage nachholen, was wir des Nachts versäumen – und dann – die Hitze! Mir liegt’s wie Blei in den Gliedern.“

„Je, je, min Söhneken,“ meinte der alte Monk über die Karten hin zu Ewald, „wie kreg hüt noch ’n Gewitter – dat liegt mi so in die Knaken.“

„Und mir im Blute!“ murmelte Ewald, warf die Mütze auf die Bank und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eine Weile starrte er wie geistesabwesend in die dunkelste Ecke der Laube, dann, als der Wirth den Wein gebracht hatte, rief er seinem Vater und Pischel zu: „Laßt das verdammte Kartenspiel und trinkt ein Glas Wein mit mir!“

„Gliek, min Sohn, gliek sünd wie tau End mit die Partie,“ entgegnete der alte Monk, und fünf Minuten später strich er den Gewinn ein und rückte lachend zu Ewald hin, während Pischel, gelinde fluchend, das gefüllte Glas ergriff.

„Hm, so ’n feinen Stoff läßt Du upfahren, Ewald, wat is denn hüt los?“ Der alte Monk blickte bei dieser Frage forschend von der Flasche zu seinem Sohne hinüber; der goß, ohne zu antworten, den Rest des Weins in sein Glas und bestellte eine zweite Flasche. Er fühlte, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, wo er dem Vater und den Freunden das Geständniß von der Lösung seiner Ehe machen müsse, und doch verschloß ihm der Stolz den Mund.

Daß eine Frau den Gatten verließ, war in Massow unerhört. So lange auf dieser Halbinsel ein Haus gestanden, hatte das Schicksal des Weibes in der Hand des Hausherrn gelegen, hatte die Frau dem Manne angehört, bis der Tod sie von ihm trennte. Und nun sollte er der erste sein, den seine Frau verließ, nun sollte gerade ihm, dem Gefürchteten und Beneideten, das Unerhörte, das Schmachvolle geschehen!

Der Wirth entkorkte die zweite Flasche. Ewald füllte die Gläser und sagte mit erzwungenem Gleichmuth: „Heut’ hab’ ich einen großen Entschluß gefaßt, ich trenne mich von meiner Frau.“

„I, da sei Gott vor!“ riefen Pischel und der Wirth wie aus einem Munde, der alte Monk aber schielte mißtrauisch zu seinem Sohne hinüber und stellte die Frage: „Is sie mit dem Kirl, dem Musikanten, davonloopen?“

„Vater!“ schrie Ewald zornig auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß Flaschen und Gläser tanzten. „Du solltest wahrhaftig der allerletzte sein, der Betty Schlechtes nachsagt, denn Dir hat sie hundertmal bewiesen, wie gut und brav sie ist. Wir haben uns ruhig und friedlich besprochen und sind zu der Einsicht gekommen, daß wir nicht zu einander passen und daß jedes von uns beiden glücklicher wird, wenn es seine eigenen Wege einschlägt.“

Die drei Männer schüttelten nachdenklich den Kopf. Pischel meinte, er habe es gleich geahnt, daß die Sache schief gehen werde; der Wirth bemerkte, wer über seinen Stand hinausgehe, riskiere einen tiefen Fall; der alte Monk aber murmelte: „Is dat erhört, is dat erhört! Was wird min Olle dortan seggen!“

Ewalds Gesicht glühte vor Zorn und Scham. In hastig hervorgesprudelten abgerissenen Sätzen suchte er darzuthun, daß jeder verständige Mensch seinen Entschluß billigen müsse. Er rühmte Bettinas Verhalten in der Ehe und ihre Großmuth. Sie wolle das Haus verlassen, wie sie gehe und stehe, ihren ganzen Besitz lasse sie ihm zurück. Warum ihre Ehe keine zufriedene geworden sei, könne er sich nicht erklären; es müsse wohl ein Fluch darauf gelastet haben. Was er unternommen, sei fehlgeschlagen. Und darum sei es besser, daß sie sich trennten.

„Nee, min Sohn, dat geiht nich, dat is gegen den Bruk. Sall dat ganze Dorf mit Fingern up Di wiesen? Een Kirl, dem die Fru wegloopen is, wird in Massow nich mehr als Mann ästimiert.“

„So hol’ der Henker den Brauch und ganz Massow dazu!“ schrie Ewald. „Für mich ist dies Nest nicht die Welt. Noch eh’ der Winter kommt, verklopf’ ich Haus und Hof und geh’ wieder zur See. Hier, Wirth, mach’ Dich bezahlt!“ – Er warf ein Goldstück auf den Tisch, daß es klirrte, und trat vor die Laube. Ein starker Luftzug kühlte ihm die heiße Stirn; der Himmel hatte sich mit Wolken bedeckt, ein heftiger Wind wühlte die See auf. Offenbar war Sturm im Anzug.

Der Wirth, welcher Ewald einige Silbermünzen herausgab, und der alte Monk suchten den Wüthenden zu besänftigen, aber er schüttelte beide mit einem Rucke von sich ab und lief zum Höwt hinauf. Er wollte die Natur im Aufruhr sehen. Nur der Sturmwind konnte sein heißes Blut kühlen, nur das Rauschen der Wogen und das Grollen des Donners die wirren Stimmen in seinem Innern übertönen. Er umging den „Utkiek“, weil er nicht von dem wachthabenden Kameraden bemerkt sein wollte, drang jenseit der Mulde durch die Brombeer- und Ginsterbüsche und stellte sich an den Rand des steil abfallenden Berges. Vom Schloß Lindström her zog das Gewitter herauf. Die dunklen Wolkenmassen schienen auf dem Thurme und der flatternden Fahne zu ruhen, bei jedem Aufleuchten des Blitzes glitt ein greller Feuerschein über die Mauern des breit hingelagerten Gebäudes. Dort wohnte jetzt der Mann, welcher ihm Bettinas Herz geraubt hatte – o, wenn doch ein Blitzstrahl ihn zermalmte, ihn, den er haßte und fürchtete! Aber würde mit dem Untergang des Verhaßten auch Bettinas Liebe zu Ende sein? Sie hatte jenem ihr Bestes zugewendet, und kein Sturm, keine Macht dieser Erde war imstande, sie in Ewalds Arme zurück zuführen; sie war für ihn verloren, unwiederbringlich verloren.

Mit diesem Bewußtsein zog ein Wehegefühl durch sein Inneres, das ihn völlig niederwarf; in rauhen Stammellauten verfluchte er sein Schicksal, um im nächsten Augenblick wieder weicheren Regungen nachzugeben. Der Tumult in den Lüften rüttelte ihn endlich auf. Das Gewitter stand jetzt über dem Höwt, die dunklen Wolken ballten sich unheilschwanger zusammen, der Wind heulte und peitschte die Wogen; von Zeit zu Zeit erschütterte mächtiger Donnerhall die Luft. Vor dieser majestätischen Sprache der Natur schämte sich Ewald seiner kindischen Verzweiflung. Ein wilder Gedanke zuckte durch sein Gehirn, das der Wein umnebelt hatte: da ich ohne sie nicht leben mag, so werde ich aus der Welt gehen – über Ewald Monk soll keiner spotten in diesem gottverfluchten Neste. Und Betty soll sehen, daß mit mir nicht zu spaßen ist, mein Tod wird ihr den Liebestrank verbittern …

Noch einen Blick warf er über das schäumende Meer, dann war sein Plan fertig. Im Segelboot wollte er hinaussteuern – mochten dann Wind und Wellen das schwache Fahrzeug zum Kentern bringen. Ihn verlangte danach, in den Wogen, die er so lange beherrscht hatte, unterzugehen. Da draußen auf der einsamen See, wo er nichts unter den Füßen hatte als das schwanke Brett, wo tobender Sturm und Gischt ihn einhüllten, da konnte er noch einmal all den Zorn, all die Empörung und all den Jammer, die sein Herz erfüllten, zum Himmel hinaufschreien. Und dann mochten ihn die Elemente verschlingen, was war daran gelegen! Seine Rache hatte er dann genommen, das Glück der Treulosen vergällt.

Mit wilder Hast schritt er zur Ausführung; je näher er der Klause kam, desto mehr beschleunigte er seine Schritte; der volle Ausbruch des Gewitters sollte ihn auf hoher See finden. – – Bettina stand eben im Begriff, das Mansardenfenster an der Hinterseite der Klause vor dem Gewitter zu verschließen, als sie Ewald durch die kleine Gartenpforte treten und auf die Scheune zueilen sah. Der Wind hatte ihm den Hut entführt, und es war etwas in seiner Erscheinung und seinem hastigen Gebahren, das sie erschreckte. In banger Erwartung blieb sie am Fenster stehen und bemerkte, daß ihr Gatte mit dem Segel über dem Arme die Scheune schon wieder verließ und mit raschen Schritten den Abhang hinunterlief zu der Stelle, wo eben die Brandung mit dem angeketteten Boot ein wildes Spiel trieb.

Die Frage durchzuckte Bettina: will er aufs Meer? und ein kalter Schauer ging ihr über den Rücken; einige Sekunden lang war sie wie gelähmt. Dann jedoch raffte sie sich gewaltsam auf – sie mußte Ewalds Absicht erfahren. Von schrecklichen Vorstellungen gepeinigt, sprang sie die Treppe hinab und trat vors Haus. Sie [251] sah, daß er das Boot auf den Sand gezogen hatte, und athmete auf. Gleich darauf aber bemerkte sie auch, daß er den Mast aufrichtete und das Segel hißte. Nun hielt sie sich nicht länger, wie ein gescheuchtes Reh flog sie den Abhang hinunter. Eben wollte Ewald das Boot in die Brandung schieben, da stellte sich ihm Bettina in den Weg.

„Was hast Du vor?“ fragte sie hochaufathmend.

„Geh’ ins Haus, vor dem Höwt kann’s Arbeit geben für beherzte Männer,“ antwortete er dumpf.

„Es ist kein Schiff in Sicht, sonst würde die Nothglocke läuten. Was also suchst Du jetzt auf dem Meer?“

„Wenn Du es denn wissen willst – den Tod. Ich bin Dir im Wege, und hier ist eine Gelegenheit, Dir ohne Aufsehen Platz zu machen. Man wird glauben, ich sei draußen vom Wetter überrascht worden, und Du hast als ehrbare Witwe keinerlei Nachrede zu befürchten. Leb’ wohl!“

Mit einer raschen Bewegung schob er die zitternde Frau zur Seite und gab dem Boote einen Stoß, daß es mit den gerade zurückfluthenden Wellen ins Wasser glitt. Mit einem Sprunge wollte er sich in das Fahrzeug schwingen – da umklammerten ihn Bettinas Arme; vergebens suchte er sich aus der Umschlingung frei zu machen, die Verzweiflung erhöhte ihre Kraft. Keuchend rief sie: „Du darfst nicht sterben, Ewald, komm zu Dir! Laß mit Dir reden, ich –“

Sie konnte nicht enden. Ein Schwall von Wasser rauschte über sie hin.

„Laß mich frei!“ rief Ewald in rauhem Tone. „Wann ich sterbe, kann Dir doch gleich sein, denn fort muß ich! Die Schmach, die Du mir anthun willst, überleb’ ich nicht.“

Er machte neue, aber vergebliche Anstrengungen, Bettina von sich abzuschütteln.

Krachend fuhren die Blitze nieder und beleuchteten mit fahlem Lichte das ringende Paar. Endlich ließ Bettina ermattet die Arme sinken; Ewald, freigeworden, schwang sich ins Boot und machte sich fertig, abzustoßen.

Und da, in diesem Augenblick, der über Leben und Tod ihres Gatten entscheiden mußte, schwiegen in Bettina mit einem Male alle Wünsche nach eigenem Glücke. War Ewald nicht der Hochherzigere? Sie wollte ihrer Liebe nicht entsagen und er gab sein Leben hin, um sie frei zu machen; um ihre leidenschaftlichen Wünsche zu befriedigen, ging er in den Tod! Daß er sterbend zugleich seine Rache an ihrer Zukunft nehmen wollte, machte sie sich nicht klar. Sie fühlte nur, daß er ihretwegen gehen wollte – das sollte, das durfte nicht sein – Opfer gegen Opfer!

Eine eisige Kälte ging ihr durchs Blut, ihre Zähne schlugen wie im Fieber aufeinander, aber mit verzweifelter Entschlossenheit bezwang sie sich und rief durch den brausenden Sturm: „Halt ein, Ewald – ich bleibe.“

„Wie?“ schrie er auf, und seine Augen starrten sie zweifelnd an. „Du – Du willst -“

„Ja – ja!“

„Betty!“ – er sprang aus dem Boote und eilte auf sie zu mit ausgestreckter Hand. „Du sollst sehen, Betty, daß ich von dieser Stunde an ein anderer bin, ein Besserer, und es wird noch alles ins rechte Geleise kommen.“ Er wollte sie an seine Brust ziehen, sie aber wich scheu zurück. „Laß uns das Boot bergen, die Brandung zerschlägt es sonst!“

„Hast recht, mein Herz, hast recht, aber das kann ich allein. Geh’ Du voraus ins Haus und wechsle die Kleider – Du wirst Dich sonst erkälten.“

Sie stieg langsam mit zitternden Knieen zum Hause hinauf. Oben angelangt, wandte sie sich mit gerungenen Händen Schloß Lindström zu. „Liebster,“ flüsterte sie, und heiße Thränen quollen unter ihren Wimpern hervor, „vergieb mir, ich konnte nicht anders. Mit dem Gefühl, den Gatten in den Tod getrieben zu haben, hätte ich nicht weiter leben können – mögest Du das Glück finden auch ohne mich! Leb’ wohl!“




18.

In der Nacht fand Bettina trotz ihrer Erschöpfung keinen Schlaf. Der Gedanke: was wirst du Rott sagen? ließ sie nicht zur Ruhe kommen, fiebernd erwartete sie den Morgen. Sobald der erste Schimmer dämmerte, erhob sie sich und verließ leise die Klause. Sie wandte sich zu jener Stelle am Rande des Höwts, wo sie einst in Todesgefahr geschwebt hatte. Unter der Buche, vor der ihr Rott seine Liebe gestanden, sollte sie in der Frühe mit ihm zusammentreffen; dort ließ sie sich nieder.

Bleich, mit starrem Blicke, saß sie da; über ihr rauschte der Wipfel im Morgenwind; das Meer, von leichtem Duft überzogen, dehnte sich endlos vor ihren Augen. Müde lehnte sie sich zurück an den Stamm des Baumes und versank in dumpfes Brüten; als sie sich endlich gewaltsam aufrüttelte, erstrahlte schon die Sonne im Osten, und unten in der Mulde erblickte sie die Gestalt Rotts, der rasch zur Höhe stieg. Er kam, um sie zur Freiheit zu führen, und sie durfte ihm nicht folgen!

Mit raschen Schritten näherte sich Rott und von weitem schon rief er ihr fröhlich entgegen: „Bettina, Liebste, bist Du bereit?“ Als er aber vor ihr stand, verflog der heitere Glanz seines Gesichts.

„Mein Gott, wie siehst Du aus? Bist Du krank geworden?“ Er erfaßte ihre Hände und sah ihr mit zärtlicher Besorgniß in das bleiche regungslose Gesicht.

„Mir ist so wirr,“ entgegnete sie matt, „ich habe in der Nacht nicht geschlafen. Meine Kraft ist wie gelähmt.“

„Aber was ist geschehen? Hat er Dich durch Drohungen eingeschüchtert, oder hat sich der Elende soweit vergessen – – ?“

„Nein, nein, Franz! Nicht gegen mich hat er die Hand erhoben, aber gegen sich. Ich könnte mein Glück nur mit Ewalds Leben erkaufen und das – vermag ich nicht. Um diesen Preis könnten wir beide nur elend werden; darum laß uns verzichten!“

„Verzichten? Da wolltest verzichten? Ich will nicht mein zerstörtes Glück, nicht mein künftiges Elend in die Wagschale werfen – aber denk’ an Dich selbst, an Deine Zukunft. Deine Lage hier muß entsetzlich werden. Wie kannst Du weiter leben an der Seite eines Mannes, der Deiner unwürdig ist, dessen Drohung, sich töten zu wollen doch nur eine feige List war.“

Er hatte die Worte in größter Erregung, mit leidenschaftlicher Ueberzeugung hervorgestoßen, nun hing sein Blick erwartend an Bettinas Angesicht. Diese aber schüttelte nur stumm den Kopf. „Es war sein Ernst,“ erwiderte sie dann dumpf und schilderte den Vorgang während des Gewitters. „Sieh, Franz,“ schloß sie bewegt, „in jener entsetzlichen Stunde gestern habe ich mir gelobt, meinem Mann, der sein Leben in meine Hand gelegt hat, eine feste Stütze, ein guter Kamerad zu sein. Mein Gewissen zwingt mich, das Gelöbniß zu halten, wie es mich zwang, dasselbe auszusprechen. Oder wolltest Du wirklich, daß ich anders gehandelt hätte, daß ich ihn hätte in den Tod gehen lassen? Könntest Du mir Dein ganzes Herz, Dein volles Vertrauen entgegenbringen, wenn ich mit diesem Verbrechen auf der Seele zu Dir gekommen wäre? – Du schweigst, Du antwortest nicht, aber in Deinen Augen lese ich einen stummen Vorwurf, einen Zweifel an meiner Liebe zu Dir. Muß ich Dir versichern, daß sie hoch über allem steht, was uns trennt, rein und unvergänglich, daß meine Gefühle für Dich so fest sind wie mein Glaube an Deinen Edelmuth? Eben darum aber kannst Du das Unwürdige nicht von mir verlangen, mußt Du meinen Entschluß billigen.“

„Ich meine, das Unwürdige sei für Dich, an diesen Mann gefesselt zu sein, den Du nicht liebst, der gestern in kindischem Trotze gedroht hat, sich das Leben zu nehmen, und heute wahrscheinlich ganz kühl denkt über einen Verlust, der für ihn im Grunde keiner ist.“

„Du sprichst gegen Dein besseres Wissen, Franz, vertheidigst die Selbstsucht, die doch Deinem innersten Wesen fremd ist. Wollte ich so egoistisch handeln, wie Du jetzt im ersten Schmerze verlangst, ich hätte vor Dir, vor mir selbst keinen Anspruch auf Achtung mehr. Und darum laß uns scheiden, nicht – vergessen!“

Sie erhob sich mit einer hastigen Bewegung, schlang die Arme um seinen Hals und preßte einen Kuß auf seinen Mund. „Leb’ wohl, Liebster,“ sagte sie mit bebender Stimme, und ihre Augen füllten sich mit Thränen. „Dir wird der Weg durchs Leben leichter werden als mir, denn eine wunderbare Trösterin begleitet Dich, Deine Kunst. Ich aber muß einsam ausharren auf dem Posten, auf den ich mich in freier Entschließung gestellt habe. Und nun, leb’ wohl für immer, leb’ wohl!“

Ehe Rott antworten konnte, hatte sie sich losgerissen und eilte, als fürchte sie, ihre Willenskraft könnte erliegen, den Weg uach der Klause hinab. Noch einmal stand sie still und sandte, [252] rückwärts gewendet, einen stummen Gruß herüber, dann war sie verschwunden.

Mit feuchten Augen hatte Rott ihr nachgeblickt, ohne einen Versuch zu machen, sie zu halten oder zurückzurufen; jetzt, als ihre Gestalt seinen Augen entschwunden war, schickte er sich an, den Ort zu verlassen, wo seine Träume von Glück begonnen und geendet hatten. Langsam schritt er den Hügel hinab, ein trostloser Mann. Das Einzige, was er klar empfand, war der Gedanke, daß er fort müsse, hinaus in die Welt, gleichviel wohin!

*      *      *

Ewald fand seine Frau an diesem Tage erfreulich verwandelt. Zwar war ihr Gesicht bleich, aber es lag ein freundliches Lächeln darauf; während des Frühstücks sprach sie in herzlichem Tone mit ihm. „Nun mag alles, was hinter uns liegt, vergeben und vergessen sein,“ sagte sie, als sie sich vom Tische erhoben, „wir wollen fortan als gute Kameraden durchs Leben wandern.“

Und Bettina berieth mit ihrem Manne, was zu geschehen habe, um ihr Leben in eine andre Bahn zu lenken. Sie war der Ansicht, daß es für Ewald das Beste sei, wenn er seine frühere Stellung als Lotse wieder einnehme. Er stimmte ihr lebhaft bei, bezweifelte jedoch, ob der Kommandant ihn jemals wieder anstellen werde.

„So will ich den Versuch wagen, ihn milder zu stimmen,“ rief Bettina und erhob sich.

„O, wenn Du das wolltest, Betty!" Ewald sprang auf, erfaßte ihre Hand und schüttelte sie kräftig. „Seit ich den Dienst verlassen habe, war mir wie dem Fische zu Muthe, den die Welle auf den Strand geworfen hat. Und darum habe ich lauter Dummheiten gemacht.“

Bettina mußte über sein eifriges Bekenntniß unwillkürlich lächeln. „Gut also,“ sagte sie dann, „ich will gleich zur Frau des Kommandanten gehen und ihr meine Dienste als Musiklehrerin anbieten. Wie ich höre, möchte sie ihre beiden Töchterchen im Klavierspiel unterrichten lassen. Vielleicht nimmt man mich drüben gut auf und ich kann gelegentlich für Dich sprechen.“

Das Glück war Bettina günstig. Der Kommandant befand sich vor einer leidigen Entscheidung: entweder mußte er eine Erzieherin für seine beiden jüngsten Kinder nach Massow kommen lassen oder diese zu den Großeltern senden. Eben besprach er, im Garten auf und ab gehend, mit seiner Frau, welcher von beiden Fällen noch der erträglichere sei, als Bettina in bescheidener Haltung eintrat. Der Kommandant zog die Stirn kraus und flüsterte seiner Frau zu: „Was sucht denn die hier? Wenn sie hofft, daß ich mich in ihre zerfahrenen häuslichen Angelegenheiten mische, dann irrt sie sich; sie war gewarnt – –“

Bettinas Gruß fand eine höfliche aber kühle Erwiderung: „Sie wünschen, Frau Monk?“

„Ihnen einen Vorschlag zu machen, Herr Kommandant. Vom Schullehrer hörte ich, daß Sie eine Erzieherin für Ihre jüngsten Kinder suchen, um diese vorzugsweise im Klavierspiel unterrichten zu lassen. Ich traue mir die Fähigkeit zu, Kinder in der Musik zu unterweisen, auch in anderen Fächern. Wollten Sie es mit mir versuchen – gewiß, ich würde mir redlich Mühe geben, Ihr Vertrauen zu rechtfertigen.“

Die Gesichter des Ehepaars hellten sich bei diesem Vorschlag merklich auf und ihre Zurückhaltung machte einem freundlichen Entgegenkommen Platz. „Das trifft sich gut,“ versetzte die Hausfrau, „das ist ein Vorschlag, der uns aus einer gewissen Verlegenheit befreien könnte, nicht wahr, lieber Mann? Wir besprachen soeben diese Sache und waren allerdings halb und halb entschlossen, uns nach einer Erzieherin umzusehen ... Aber wie ist mir denn? Es kamen uns Gerüchte zu Ohren, als hätten Sie die Absicht, Massow zu verlassen? Herr Rott – – “

Bettina schlug die Augen nieder und sagte: „Ich bleibe hier. Herr Rott verläßt Schloß Lindstrom oder hat es schon verlassen.“

„Verzeihen Sie,“ fiel der Kommandant mit einem verweisenden Blicke auf seine Gattin ein, „daß wir Dinge beruhrten, welche im Grunde nichts mit unsrer Angelegenheit zu thun haben.“

„O doch, Herr Kommandant; ich begreife, daß eine Mutter genau wissen will, wem sie ihre Kleinen anvertraut. Aber hätte ich mein Gewissen mit einer Schuld belastet, so würde ich nie gewagt haben, Ihre Schwelle zu überschreiten, um Ihnen mein Anerbieten zu machen.“

„Das wir mit Freuden annehmen,“ sagte die Hausfrau und streckte Bettina beide Hände entgegen. Man verabredete nun die näheren Bedingungen, unter welchen der Unterricht stattfinden sollte, und ließ die Kinder kommen, um die Lehrerin zu begrüßen. Schon am nächsten Tage sollte für Bettina die neue Thätigkeit beginnen.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 9, S. 281–287

[281] Die Frau des Kommandanten überwachte eine Zeitlang den Unterricht, den Bettina ihren Kindern gab, nach acht Tagen aber sagte sie zu ihrem Manne: „Frau Monk ist nicht nur eine ausgezeichnete Lehrerin, die genau weiß, was sie will, und die den Lerneifer der Kinder erstaunlich anzuregen versteht, sie wirkt auch durch ihr ganzes Wesen, durch ihre sanfte, edle Art im besten Sinne auf den Charakter unserer Kleinen ein. Glaub’ mir, Schatz, wenn ich in meiner Jugend eine solche Erzieherin gehabt hätte, dann würdest Du heute eine viel bessere Frau besitzen – als Du verdienst.“

Der Kommandant lachte und nahm sich vor, Bettina das aus freien Stücken anzubieten, um was sie ihn hatte bitten wollen. Er lenkte eines Abends das Gespräch auf Ewald und dessen Zukunftspläne, und als Bettina ihm gestand, daß ihr Mann seine Fehler bereue und sich glücklich schätzen würde, wieder in das alte Dienstverhältniß eintreten zu können, nickte er ihr freundlich zu und antwortete: „Wenn Monk mit guten Vorsätzen kommt, soll er mir willkommen sein. Bitte, senden Sie ihn morgen zu mir.“

Ewald leistete dieser Aufforderung pünktlich Folge, fand seinen ehemaligen Vorgesetzten sehr wohlwollend gestimmt und nahm, nach kurzer Verständigung, mit Eifer die altgewohnte Beschäftigung wieder auf. Als drei Wochen später bei stürmischem Wetter ein hoher Regierungsbeamter die maritimen Einrichtungen an den Küstenorten besichtigte und sich einen besonders zuverlässigen Lotsen für die Fahrt erbat, gab ihm der Kommandant Ewald mit. Dieser rechtfertigte die getroffene Wahl so gut, daß ihm die Beförderung zum Oberlotsen in nahe Aussicht gestellt wurde.

Da ihm nun auch Bettina stets mit gleichmäßiger Freundlichkeit begegnete, so hätte sich Ewald der glücklichen Wendung der Dinge ungetrübt freuen können, wenn nur das Aussehen seiner Frau ihm nicht Sorgen gemacht hätte. Ihr Gesicht wurde schmal, unter den Augen zeigten sich tiefe Schatten. Auch der Frau des Kommandanten fiel diese Wandlung auf und sie bewog Ewald, den Arzt um Rath zu fragen. Dieser kam zur Klause, beobachtete die junge Frau und erkundigte sich in väterlicher Weise nach ihrem Ergehen.

„Ich bin wohlauf, lieber Doktor,“ versicherte sie lächelnd.

Der aber schüttelte den Kopf und entgegnete: „Ihr Aussehen straft Sie Lügen.“

Der theilnehmende Mann sprach wiederholt in der Klause vor, und als Ewald endlich wissen wollte, was seiner Frau fehle, sagte er offen: „Ein körperliches Leiden kann ich nicht entdecken, es muß ein tiefer Kummer auf ihr lasten und ihre Kraft verzehren. Aber darüber sollten Sie besser unterrichtet sein als ich!“

Ewald sah den Doktor mit starren Augen an und murmelte nach einer Weile: „Also das ist’s, das –“

„Beobachten Sie Ihre Frau und versuchen Sie, ihr möglichst viel Zerstreuung zu verschaffen. Ich habe so das Gefühl, als müsse die Leidende erst wieder lernen, aus vollem Herzen zu lachen bevor an Genesung zu denken ist. Ihre Arznei heißt Frohsinn, und die ist leider in keiner Apotheke zu haben.“

Ewald blieb in großer Bestürzung zurück; ihm dämmerte langsam das Bewußtsein auf, daß Bettina sich verzehren werde in dem Bestreben, ihrer Liebe zu entsagen. Er begann, sie genau zu beobachten, und erkannte, daß sie im Hause kaum einen Blick hatte für die Außenwelt. Es lag etwas Träumerisches in ihrem Wesen; wenn jemand sie plötzlich anredete, schrak sie zusammen und erst allmählich belebten sich dann ihre Augen. Abends machte sie in der Regel einen längeren Spaziergang und wählte stets den Pfad, der zum Höwt hinausführte. Ewald, der ihr in der Dämmerung wiederholt heimlich folgte, bemerkte, daß sie stundenlang bei der Buche verweilen konnte, den Blick regungslos nach dem Schlosse Lindström hinübergerichtet. Einmal hatte er sich in ihre Nähe geschlichen. Sie kauerte am Fuße des Baumstammes auf der Erde, die Hände um die Knie geschlungen, den Kopf gegen die rauhe Baumrinde gelehnt. So starrte sie hinaus ins Weite. Als sie sich endlich erhob, kam ein Laut des Schmerzes von ihren Lippen: sie streckte beide Arme aus gegen das Schloß, mit einer Bewegung, als erwarte sie von dorther die Erlösung.

Bei dieser Beobachtung ging Ewald ein Schauer durchs Herz. Er wagte es nicht, sie anzureden, und kehrte erst spät ins Haus zurück. Unheimliche Vorstellungen bedrückten ihn; zum ersten Male seit langer Zeit floh ihn der Schlaf. Nach Mitternacht schlich er sich zum Stübchen seiner Frau hin und legte das Ohr an die Thür. Und in der Stille der Nacht vernahm er Laute, die ihn erbeben machten – Bettina weinte da drinnen, als breche ihr das Herz.

Eine mitleidige Wallung bewegte sein Inneres, schon erhob er die Hand, um gegen die Thür zu pochen, sie zu versichern, daß er nicht ihr Unglück wolle, sie ziehen lasse, da gab ihm die Selbstsucht den Gedanken ein: laß ihr Zeit, sie wird’s schließlich doch verwinden!

In dieser leisen Hoffnung bestärkte ihn am nächsten Morgen Bettinas Wesen. Sie kam lächelnd aus der Küche, sprach freundlich mit ihm über Wirthschaftsangelegenheiten und nahm anscheinend in heiterer Stimmung ihre gewohnten Arbeiten auf.

Aber auf die Dauer gelang es ihr nicht, ihrer selbst Herr zu bleiben. Vielleicht wäre ihr das möglich gewesen im zerstreuenden Getriebe einer Weltstadt – in dem einsamen Küstenort verzehrte sie sich in Sehnsncht nach dem Geliebten. Ihre Noth stieg, als ihr eines Tages eine Zeitung in die Hände fiel, in welcher von London aus ein Bericht stand über die großen Erfolge, welche Rott mit seinem hinreißenden Spiele dort davongetragen hatte. Warum, schrie es in ihrem Herzen auf, warum kann ich nicht an seiner Seite sein! Mit fiebernder Leidenschaft klagte sie ihr Schicksal an, raste gegen sich selbst, die in thörichter Ueberspanntheit geglaubt hatte, in der Flucht heraus aus der Welt, in der sie aufgewachsen war, ihr Glück, ihre Befriedigung zu finden. Nächtelang saß sie auf ihrem Lager und suchte die nagenden Gedanken zu verscheuchen – umsonst! Sie kehrten wieder und bohrten sich in ihr Gehirn, bis sie der Kopf schmerzte und tolle, wahnsinnige Pläne vor ihr auftauchten. Mit Grauen sah sie dem Winter entgegen. War es schon unerträglich, die langen Nächte, gefoltert vom Elend, schlummerlos verbringen zu müssen, so [282] verzweifelte sie völlig beim Gedanken an die endlosen Abende in dem frostigen Hause, wo der ungeliebte Mann an ihrer Seite sitzen würde und sie ihr müdes Gehirn anstrengen müßte, um irgend eine Unterhaltung zu ersinnen.

*      *      *

In den ersten Tagen des November sollte die Vermählung der Gräfin Lindström mit dem Baron Leblanc stattfinden. Ende Oktober war Bettina eines Morgens nach Groß-Küstrow hinübergesegelt, um allerlei Vorräthe einzukaufen. Schwer bepackt schritt sie gerade über die Fahrstraße zu ihrem Boote zurück, als dicht hinter ihr Pferdegetrappel vernehmbar wurde. Zur Seite tretend, wandte sie sich nach dem herankommenden Wagen um und bemerkte zu ihrem Schrecken, daß ihre Stiefmutter und Graf Trachberg die Insassen waren. Die Blicke der ersteren waren achtlos über die Fußgängerin hingeglitten, im Gesicht des Grafen aber blitzte es auf. Bettina sah, daß er sie erkannte, und scheu kehrte sie sich ab, bis die Kutsche vorbeigerollt war.

Zwei Tage später, als Bettina eben den Kindern des Lotsenkommandanten Klavierunterricht ertheilte, wurde die Thür zum Salon weit aufgerissen und die Hausfrau führte Gäste herein. Bettina erhob sich rasch, aber beim Anblick der Eintretenden erschrak sie so heftig, daß sie sich auf das Klavier stützen mußte, welches sie hatte verlassen wollen. Die Gräfin Lindström war gekommen, um dem Kommandanten und dessen Gattin ihren Verlobten sowie ihre Gäste, den Grafen und die Gräfin Trachberg, vorzustellen. Die Schloßherrin begrüßte Bettina sehr herzlich, theilte ihr mit, daß auch Rott am nächsten Tage eintreffen werde, um an der Hochzeit theilzunehmen, und stellte ihr den Baron Leblanc vor. Ehe die Ueberraschte sich von ihrer Bestürzung erholt hatte, stand sie schon den Trachbergs gegenüber. Graf Guido stotterte erröthend einige unverständliche Worte zur Begrüßung, Rosita aber ergriff Bettinas Arm und führte sie zu einer Fensternische.

„Fürchte nicht, daß ich hierher gekommen bin, um Dir Vorwürfe zu machen,“ sagte sie flüsternd. „Dein Aussehen beweist mir, wie schwer Du die Verblendung hast büßen müssen. Ich bin nicht unversöhnlich und begreife das bittere Gefühl, welches Dich in diesem Augenblick beherrscht. Du hast die schwere Kränkung, welche mein Gatte Dir bereitete, noch nicht verwunden. Vielleicht wird es Dir eine kleine Genugthuung gewähren, wenn ich Dir gestehe. auch ich bin an seiner Seite nicht so glücklich geworden, wie ich es erwarten durfte. Ach, der Gatte ist immer ein ganz andrer als der Verlobte. Aber ein Verlangen ist mir wenigstens an Guidos Seite erfüllt worden. In den Kreisen seiner Standesgenossen habe ich mir eine Stellung errungen, auf die ich stolz sein darf. Um so mehr bedauere ich Dich, daß Du von alledem abgeschlossen bist, alles entbehren mußt, was das Leben schön und begehrenswerth macht. Giebt es denn kein Mittel, Dich wieder zu befreien? Habe Vertrauen und offenbare mir Deine Lage! Du weißt, wie gern ich Dir immer beistand, wenn es in meiner Macht lag. Sprich, mein Herz!“ Sie bot ihr freundlich die Hand, allein ihre Erwartung, daß die blasse, junge Frau nun in Klagen ausbrechen und rasch die dargebotene Hilfe annehmen werde, erfüllte sich nicht.

„Ich danke Dir,“ entgegnete Bettina ruhig, „danke Dir herzlich, liebe Mama – Du gestattest doch, daß ich Dich noch so nenne? Aber was mir das Schicksal auferlegt hat, das muß ich allein tragen. Du kannst mir so wenig helfen wie irgend ein andrer Mensch auf dieser Welt. Auch entbehre ich das nicht, was Dich beglückt.“

Sie kehrten beide zur Gesellschaft zurück, wo die Hausfrau eben Bettinas Vorzuge als Lehrerin gerühmt hatte.

„Zu meiner Freude erfahre ich, daß Sie Ihr musikalisches Talent nicht verkümmern lassen,“ rief Gräfin Lindström, sich Bettina zuwendend. „Ich wünschte, mein Verlobter könnte Sie singen hören – der Verwöhnte würde erkennen, daß wir hier an der See nicht ganz in Wildniß leben. Bitte, bitte, ein Lied!“

Der Gräfin schlossen sich so viele Stimmen an, daß Bettina dem Drängen Folge leisten mußte, obgleich sie am liebsten geflohen wäre. Sie wollte nicht schwach ober launenhaft scheinen, und so setzte sie sich ans Klavier und begann ein Lied von Brahms. Aber sie vermochte ihre Aufregung nicht zu bezwingen, nur ein Zerrbild dessen kam zum Vorschein, was sie geben wollte.

Mit einer Dissonanz brach sie ab und rief erregt: „Ich kann nicht mehr singen, Frau Gräfin. Auf der Düne von Massow erstirbt jede Blume, vor allem die der Poesie.“

Der letzte Satz sollte scherzhaft klingen, allein die Bitterkeit des Tones brach dennoch durch.

Als sie sich verabschieden wollte, erhoben sich auch die Gäste, um sich zur Landungsstelle des Boots zu begeben. Unterwegs wußte es Graf Guido so einzurichten, daß er an Bettinas Seite kam, während die Damen und der Baron in lebhafter Unterhaltung voranschritten. Er legte seine Hand auf den Arm der Begleiterin und flüsterte ihr zu: „Sie sind unglücklich geworden, Bettina; Ihr abgehärmtes Gesicht, Ihr Gesang ließ mich ahnen, was Sie gelitten haben. Ich beklage Ihr verfehltes Leben und würde viel darum geben, wenn sich das wieder gut machen ließe, was ich, unter dem Drucke widriger Verhältnisse, an Ihrem Herzen gefrevelt habe. Wenn Sie je meiner Hilfe bedürfen –“

„So werde ich mich selbstverständlich an meinen Stiefpapa wenden,“ erwiderte sie mit leichtem Spotte und entzog ihm ihren Arm. „Ihre väterliche Güte thut mir wohl, aber halten Sie sich versichert, daß Sie sich über die Quelle meines Unglücks täuschen. Das, was Sie an meinem Herzen frevelten, ist längst vergeben und vergessen.“

Sie war am Seitenweg zur Klause angekommen und verabschiedete sich von ihren Begleitern. Hastig legte sie die kurze Strecke bis zu ihrem Hause zurück; von den Erlebnissen der letzten Stunde im Innersten erregt, trat sie auf die Veranda; müde ließ sie ihren Blick über die Küste schweifen – sie sah, wie Gräfin Lindström mit ihren Gästen ihr Boot bestieg, das sich langsam in Bewegung setzte. Die sinkende Herbstsonne vergoldete das Fahrzeug, als es mit geschwellten Segeln über die leuchtende Fluth glitt. Bettina bemerkte, wie Frau Rosita noch zu dem einsamen Landhaus herüberblickte und den Kopf schüttelte.

„Ja, ja,“ sagte sie mit bitterem Lächeln und faltete die Hände, „die Gräfin Trachberg kann freilich das Räthsel meines Daseins nicht fassen. Sie weiß die Segel klug zu stellen und wähnt sich auf glücklicher Fahrt. Aber wir treiben alle dem uferlosen Meere des Vergessens entgegen, das ist ihre Furcht und – mein Trost.“




19.

Die Hochzeitsfeierlichkeiten auf Schloß Lindström waren verrauscht, die Neuvermählten nach dem Süden abgereist; auch die Mehrzahl der Gäste war zugleich mit ihnen aufgebrochen. Nur einige Jagdliebhaber blieben zurück, welchen der alte Baron Leblanc, der Schwiegervater der Gräfin, allerlei Sport in Aussicht gestellt hatte, und – Franz Rott. Ihn hielten Erinnerung und Sehnsucht wie mit Zauberfesseln an der einsamen Küste fest.

Weder die Künstlerfahrt nach England noch der Jubel des Hochzeitsfestes hatte seine Gefühle für die geliebte Frau zum Schweigen bringen können. Einsam streifte er durch die herbstlichen Wälder, er suchte die Stellen wieder auf, wo er mit Bettina geträumt und geplaudert hatte. Aber wie verwandelt war alles – dahin der Sommer, fahles Laub raschelte unter seinen Füßen, kein warmer Sonnenschein, nur düsterer Nebel und rauher Herbststurm! Das Leben erstorben, erstorben auch sein Glück! – –

Am letzten Tage, den er auf Schloß Lindström zu verweilen gedachte, wurde er früh durch den Lärm der aufbrechenden Jagdgesellschaft aus dem Schlafe geweckt. In der Nacht hatte ein wilder Sturm gerast, und obgleich es noch heftig stürmte, so begaben sich die Herren doch mehrere Stunden landeinwärts, wo in den wildreichen Forsten ein Kesseltreiben stattfinden sollte. Als Rott das Speisezimmer betrat, war es leer, und er mußte sein Frühstück allein verzehren. Der Diener, welcher ihm aufwartete, trat ans Fenster und sagte. „Das war ein grausiger Sturm heute nacht. Haben der Herr Rott das Brausen gehört? Vor Massow soll ein Vollschiff gestrandet sein – so behauptet wenigstens der Gärtner Jakob – ich kann aber nichts sehen, es ist noch nicht hell genug. Wenn das Schiff auf die verflixte Seehundsbank gerathen ist, dann Gnade Gott der Bemannung! Bei dem Sturme können die Lotsen mit dem Rettungsboot nicht hinaus, und die Wogen schlagen alles in Stücke, denn der Wind steht just auf dem Höwt.“

[283] „Bitte, holen Sie mir das Fernrohr, Friedrich.“ Rott beendete rasch sein Frühstück, und als ihm der Diener das Instrument überreichte, trat er auf die Terrasse und blickte nach Massow hinüber. Trotz des heftigen Windes und der trüben Beleuchtung erkannte er über dem Gischte der Wogen einen dunklen Körper, welcher dicht vor dem Hbwt zu liegen schien. „Ist noch ein Pferd im Stalle?“ fragte er den Diener, welcher ihm gefolgt war.

„Gewiß, Herr Rott, der Goldfuchs steht immer zu Ihrer Verfügung.“

„So lassen Sie ihn satteln! Ich möchte nach Massow hinüberreiten.“

Rasch holte er Hut und Ueberrock, steckte das Fernrohr ein und schwang sich in den Sattel. Der Fuchs, ein muthiges englisches Jagdpferd, wieherte dem Sturme entgegen, und kaum gab der Reiter die Zügel frei, so jagte das feurige Thier im Galopp die Landstraße hinab.

Der scharfe Ritt brachte den Künstler rasch ans Ziel. Er sprengte durch Massow bis zum Fuße des Höwts, wo er die ganze Bevölkerung des Lotsendorfes am Strande versammelt fand. Sein dampfendes Pferd zügelnd, überblickte er die aufgeregte Menge und sah, daß Ewald und Pischel sich an der Spitze der Lotsen befanden. Auch Bettina war anwesend, sie stand etwas abseits von der Menge auf einer Felsstufe, ein schwarzes Kopftuch umschlang ihr bleiches Gesicht. Als sie den Reiter erkannte, flog es wie ein Freudenschimmer über ihre Züge; ihre Blicke begegneten denen des Geliebten in einem stummen Gruße. Aber im nächsten Augenblick schon hatte sie sich gefaßt, mit einem raschen Entschluß wandte sie sich ab und wieder dem Meere zu, als bereue sie, ihr Gefühl verrathen zu haben.

Rott sprang aus dem Sattel und ersuchte einen halbwüchsigen Fischerjungen, dem er ein Geldstück in die Hand drückte, den Gaul nach dem Gasthof zu führen und ihn dort in den Stall zu stellen; dann trat er auf die Düne und richtete sein Fernrohr auf das gestrandete Schiff.

Es war ein schwer befrachteter Schoner, der richtig auf der Seehundsbank festsaß und in der stürmischen See bereits arge Beschädigungen erlitten hatte. Ein Boot, mit dem die Bemannung Rettungsversuche hätte wagen können, schien nicht mehr vorhanden zu sein. Wahrscheinlich hatten die Wogen den Schiffbrüchigen das Fahrzeug beim Niederlassen gleich aus den Händen gerissen. Hier bedurfte es keiner Nothsignale mehr, um zu erkennen, daß der Schoner mit Mann und Maus untergehen mußte, wenn nicht sofort Hilfe kam. Rott trat auf die von Seewasser triefenden Lotsen zu mit der Frage, warum nichts zur Rettung der Bedrohten gethan werde. Man lachte ihm höhnisch ins Gesicht. „Weil wir nicht hexen können! Wollen Sie das Boot durch die Brandung tragen?“ rief ihm einer entgegen.

Nur Pischel ließ sich auf eine weitere Erörterung ein und erklärte, die Seehundsbank liege zu fern, um dem Schiffe mit dem Raketenapparat beikommen zu können, während die wilde Brandung das Auslaufen völlig unmöglich mache. Sechsmal habe man schon den Versuch wiederholt, und jedesmal sei das Rettungsboot wie eine Nußschale auf den Strand zurückgeworfen worden.

„Hat man dem Lotsenkommandanten noch keine Anzeige gemacht?“ fragte Rott, und Pischel erwiderte, daß der Vorgesetzte gestern nach der Hafenstadt gefahren und noch nicht zurückgekehrt sei.

„So müssen die Unglücklichen dort drüben vor unseren Augen zu Grunde gehen?“

„Wenn de leiwe Gott keen Wunner nich dauht, Herr Rott - -“ entgegnete Pischel achselzuckend und trat zu der Gruppe seiner Kameraden zurück.

Wieder richtete Rott sein Glas auf das Schiff und sah, daß dort im Gischt der Wogen, die über das Verdeck schlugen, einige Männer die Arme emporwarfen, als wollten sie in höchster Noth um Rettung flehen. Er ließ das Glas sinken und stand einen Augenblick schwankend da, dann flammte ein fester Entschluß in seinem Innern auf. Mit raschen Schritten und blitzenden Augen trat er mitten in die Lotsengruppe und rieft „Es ist eine Schmach, daß wir hier müßig stehen, während vor unseren Augen Mitmenschen dem Verderben anheimfallen. Ihr sagt, daß Ihr sechsmal vergeblich versucht habt, das Rettungsboot flott zu machen. Versucht es noch einmal – wir alle wollen Euch unterstützen.“

Ewald schielte von dem Sprecher zu Bettina hinüber, die ihren Standort verlassen und sich der Gruppe genähert hatte. „Ihr kennt die See nicht,“ murrte er, „sonst wüßtet Ihr, daß jeder, der ins Boot springt, sein Leben aufs Spiel setzt, und, wohlgemerkt, nutzlos, ohne Rettung zu bringen.“

„Wissen Sie so gewiß, daß an kein Gelingen zu denken ist?“ Rotts Stimme klang rauh vor Erregung. „Nun wohl, ich will sehen, ob Ihr Lotsen zurückbleibt, wenn ich, ein Unkundiger, mich zur Fahrt bereit erkläre. Und daß Ihr’s wißt: wenn einer von Euch heute in seinem Beruf stirbt, so zahle ich seinen Hinterbliebenen tausend Mark. Gehe ich aber unter, so soll alles, was ich besitze, den Genossen dieser Fahrt oder deren Verwandten zufallen. Noch einmal bitt’ ich Euch, helft!“

Die Lotsen sahen bald auf das erregte Gesicht des Künstlers, bald auf die brüllenden Wogen und konnten trotz Rotts Versprechungen zu keinem Entschluß kommen. „Es steiht ’n Hagelstorm in Aussicht,“ meinte der grauhaarige Gehring, „den möten wi erst afwarten.“

„Nein,“ rief Rott, „Ihr dürft hier nicht erst abwarten. Was geschehen soll, muß sofort geschehen, sonst ist’s zu spät!“

In Ewalds Brust hatte vorhin der Groll gegen Rott den Widerspruch erregt, unter Bettinas Blicken aber mochte er nicht für feige gelten und sein Stolz schlug alle weiteren Bedenken nieder. „Er hat recht,“ rief er in barschem Tone den Genossen zu. „Wir müssen das Aeußerste wagen, eh’ es zu spät wird.“

„Ewald, Ewald!“ schrie die alte Monk und erfaßte des Sohnes Arm, „wat gehen Dir die fremden Lüt an! Hör’ nich up den Musikanten!“

„Zurück, Mutter! Der Musikant hat recht. ’s ist unser Beruf, in Seegefahr das Leben zu riskieren. Vorwärts! Greift an!“

Und jetzt streckten sich fünfzig kräftige Hände nach dem schweren Rettungsboot aus. Einen Augenblick wartete man auf das Rückschlagen der Woge, dann gab Ewald das Kommando, und knirschend flog der Bug in die hochaufspritzende See. Bevor die muthigsten unter den Lotsen sich ins Boot schwingen konnten, ging eine Sturzwelle über alle Köpfe weg und das Fahrzeug wurde hoch emporgeschnellt. Aber mit der Kraft der Verzweiflung klammerten sich die Leute an die Kante, und als der Kiel wieder sank, sprangen fünf beherzte Männer ins Boot, unter ihnen Ewald, der das Steuer, und Rott, der eines der Ruder erfaßte. Wieder gaben die in der Brandung stehenden Fischer dem Fahrzeug unter lautem Zuruf einen Stoß, dann setzten die Ruder ein. Glücklich schoß das Boot durch einen Wogenkamm und ließ die Brandung hinter sich.

Die am Strande Zurückgebliebenen liefen auf den Dünenwall und verfolgten mit ängstlicher Spannung den Lauf des Boots. Bettina wählte abseits von den übrigen ihren Standpunkt auf einem von der Brandung umtosten Vorsprung. Der Sturmwind hatte ihr Kopftuch gelockert und die losen Haarsträhnen umflatterten ihr bleiches, angstvoll erregtes Gesicht. Sie hatte sich ein Fernglas geben lassen und konnte so den Kampf der beherzten Männer mit den Wogen genau verfolgen; aber die Hände zitterten ihr vor Erregung – sie mußte das Glas absetzen. Was mochte das Ende des kühnen Unternehmens sein? Diese Frage stürmte durch ihre Seele. Sie ahnte, daß diese Stunde ihr Schicksal entscheide.

Es schien, als werde das Boot gar nicht oder zu spät ans Ziel gelangen; nur langsam rückte es vorwärts, und bei dem hohen Seegang schlug Woge um Woge über Bord. Ging das so weiter, so mußte sich der Kielraum bald mit Wasser füllen und das Fahrzeug sinken. So oft es hinter einem der Wellenberge verschwand, ging ein Beben durch Bettinas Gestalt; reglos stand sie da, kaum daß sie zu athmen wagte. Erst wenn das Boot wieder auftauchte, holte sie tief Athem und flüsterte ein „Gott sei Dank!“

Minute um Minute verging und immer noch hielt sich das Rettungsboot flott, immer näher und näher kam es den Gestrandeten. Nach einer halben Stunde, die den Zuschauern eine Ewigkeit dünkte, schien es dem Ziele ganz nahe zu sein, denn Bettina bemerkte, wie Ewald aufstand, um das Steuer sicherer führen zu können. Sie begriff, daß durch eine falsche Bewegung im Beilegen das Rettungsboot an der Schiffswand zerschmettert werden konnte. Nur ein Steuermann von großer [284] Erfahrung und Kraft vermochte den Zusammenprall zu vermeiden oder zu mildern. Schon sah Bettina, wie die Gestrandeten sich alle auf einem Punkte des Verdecks zusammendrängten, da ertonte auf der Düne der Schreckensruf des wetterkundigen Gehring: „De Hagelstorm geiht los![“]

Ein Aufschrei der Umstehenden folgte dieser Ankündigung. Bettina blickte entsetzt zum Himmel auf und merkte an der fast schwarzen Wolke, welche von Südost heraufkam, und an den knatternden Windstößen, die ihr voraufgingen, daß etwas Schreckliches im Anzug sei. In der nächsten Minute brauste ein Wirbelsturm daher, der das Schiff in Trümmer schlagen mußte. All ihre Kraft zusammennehmend, setzte Bettina das Glas nochmals an die Augen und suchte die über die See sich breitende Verfinsterung zu durchdringen. Sie erblickte zunächst nur eine hoch aufwirbelnde Schaummasse bei dem Schoner – es war, als ob das Wasser zischend einem Vulkan entsteige; dann schien es ihr, als wenn die Männer im Boote sich an das Fallreep des Schiffes klammerten, und dann fuhr etwas Weißes durchs Dunkel – im nächsten Augenblick peitschte der Sturm das Gesicht der Erschöpften mit einem Schauer von Hagelkörnern, daß sie betäubt in die Knie sank und Schutz suchend die Stirn zur Erde senkte.

Auf die heulenden Windstöße und den Hagel folgte ein Gewitterregen, der das Lotsendorf zu ertränken drohte. Mühsam erhob sich Bettina; der Kopf schmerzte sie, schwer hingen die triefenden Kleider an ihrem Körper. Obgleich sie sich kaum aufrecht erhalten konnte, zwang sie sich doch, alle Vorgänge auf dem Meere genau zu beobachten. Aber bei dem niederfluthenden Regen- gusse war es unmoglich, etwas Genaueres zu sehen, ein grauer Vorhang lag über dem Schauplatz der Katastrophe.

Eine Viertelstunde verzehrender Erwartung verging – endlich ließ der Regen nach; die Wolken lichteten sich und es wurde hell über der See. Kreischend verkündeten die jungen Massower, daß das Boot noch schwimme und auf der Rückfahrt begriffen sei.

Bettina trocknete hastig die Gläser ihres Fernrohrs und suchte das Boot; dabei fielen ihre Blicke zuerst auf die Seehundsbank. Von dem stolzen Schoner war nichts mehr übrig als ein Wrack. Nur das Heck ragte noch über die Wogen, die jetzt die Schiffstrümmer dem Strande zutrugen. So hatte Rott doch recht gehabt, als er vor dem Abwarten des Hagelsturms warnte! Aber wie mochte sich die Entscheidung vollzogen haben? Wer war gerettet, wer vom Meere verschlungen worden? – Bei diesen Fragen überlief Bettina ein kalter Schauer – sie zitterte vor der Möglichkeit, daß ihr Gatte das Opfer seiner kühnen Rettungsthat geworden sein könnte. Mochte er immerhin schwer gegen sie gefehlt haben – in dieser Stunde, in der er sein Leben einsetzte für die Bedrohten, erschien ihr alles, was er ihr zugefügt hatte, so nichtig und klein. Das leidenschaftliche Verlangen nach Freiheit, in dem sie sich zu verzehren drohte, verstummte; nur noch die Angst, ob Ewald nicht draußen sein Grab gefunden, hatte Raum in ihrer Seele. Und nun übermannte sie die Erregung – ein dunkler Schleier legte sich über ihre Augen, sie vermochte nichts mehr zu sehen. Mit einer unsichern Bewegung tastete sie sich zu einem Felsblock und ließ sich darauf nieder. Dann schloß sie die Augen. So saß sie einer Ohnmacht nahe da, mit geschlossenen Lidern, den Kopf auf die Hände gestützt, als plötzlich vom Walle her der bange Aufschrei der alten Monk ertönte: „Min Gott, min Gott, wo is denn uns’ Ewald?“

Unfähig, sich zu erheben, schaute sie zitternd auf das Boot, welches sich dem Strande schon bedeutend genähert hatte, und sah, daß ein andrer Lotse als Ewald das Steuer führte; ein zweiter Blick überzeugte sie, daß sich ihr Mann auch nicht unter den übrigen Insassen des Bootes befand. Mit einem gellen Schrei sprang sie auf und brach sich Bahn durch die lärmende Menschenmenge, welche sich dicht um die Landungsstelle herdrängte. Als sie endlich die vorderste Reihe erreicht hatte, ward das Boot eben auf den Strand gezogen; die Insassen sprangen heraus, nur Rott blieb zurück, knieend über einen regungslosen Körper gebeugt, der lang ausgestreckt mitten im Boote lag. Bettina beugte sich hastig über den Rand des Fahrzeugs und prallte in wortlosem Entsetzen zurück. Sie hatte in das blutüberströmte Antlitz ihres Mannes gesehen – es war das eines Sterbenden. Mit starren, gläsernen Augen lag er da, ohne ein Lebenszeichen zu geben, und erst, als ein halbes Dutzend starker Männer ins Boot sprang und ihn emporhob, kam ein dumpfes Stöhnen aus seiner Brust. Man trug ihn zur Düne hinauf, breitete Segel über die Erde und legte ihn auf dies Sterbebett nieder. Während das geschah, trat Rott zu der wankenden Bettina, und indem er ihr den Arm zur Stütze bot, flüsterte er ihr leise zu: „Fassung, mein Herz, Fassung!“

Sie raffte sich gewaltsam auf; wie das Unglück geschehen sei, fragte sie tonlos. Rott berichtete in fliegender Hast, Ewald habe mit bewundernswerthem Geschick das Rettungsboot so beigedreht, daß zwei von den Ruderern das vom Schoner ausgeworfene Seil hätten erhaschen können. „Während wir nun mit dem Aufgebot unsrer ganzen Kraft das Boot durch Taue an das Schiff fesselten, schwang sich Ewald als erster aufs Verdeck. Hier drängten sich die Matrosen, welche jeden Augenblick den Untergang erwarteten, mit wildem Ungestüm an ihm vorüber und sprangen ins Boot; zwei stürzten ins Meer und ertranken. Zurück blieb nur der Kapitän des Schiffs mit Kind und Frau. Ewald nahm das Kind auf den linken Arm und half dem Kapitän die ohnmächtig gewordene Frau nach der Schiffstreppe schleppen. Doch noch ehe sie diese erreicht hatten, brach der Orkan los – ein furchtbarer Schlag, ein Krach, und Ewald fiel über Deck, schlug mit dem Rücken auf die Kante des Rettungsbootes und sank mit dem Kinde, das er krampfhaft umschlungen hielt, ins Meer. Es gelang uns, ihn zu erhaschen und sammt dem Kinde ins Boot zu ziehen. Droben war der Mast gebrochen, hatte im Sturze den Kapitän und sein Weib erschlagen und Ewald so wuchtig am Hinterkopf und an der rechten Schulter getroffen, daß er betäubt über Bord geschleudert worden war. Seltsamerweise blieb das Kind in seinem Arme unversehrt. Nun hingen wir angstvoll an der Leeseite des sinkenden Schiffes, bis die erste Gewalt des Hagelsturms gebrochen war; dann wagten wir die Rückfahrt, und sie gelang; elf Menschen sind gerettet worden –“

„Erkauft mit Ewalds Blut!“ rief Bettina schaudernd. Sie trat an die Seite des Sterbenden und kniete, in Thränen ausbrechend, neben ihm nieder. Rott wollte ihr folgen, aber die alte Monk sprang mit wüthender Gebärde auf und kreischte ihm zu: „He hätt min Sahn up sin Gewissen!“

Bei diesem Aufschrei der verzweifelten Alten kehrte ein matter Strahl des Lebens in Ewalds Augen zurück. Erwachend sah er erst in das erregte Gesicht der Mutter, dann zu Rott hinüber und flüsterte. „Lat man, Mudding, he is ’n braven Kirl!“

Sein Blick fiel auf die schluchzende Bettina, und wie ein letzter Schimmer der Freude ging es über sein fahles, verwüstetes Antlitz. „Wo ist das Kind?“ fragte er. Pischel brachte den blondhaarigen, blauäugigen Buben. Er betrachtete den Kleinen lange und fragte dann leise, ob des Kindes Eltern gerettet seien. Man berichtete ihm, daß der fallende Mast beide erschlagen habe.

„Betty,“ sagte er, und seine Stimme war wie ein letzter Hauch, „nimm Du ihn zu Dir ... für unser Kind ...“

Er kam nicht weiter; sein Auge wurde starr, ein Zucken ging durch den athletischen Körper – Ewald Monk war verschieden.

Seine Eltern brachen in laute Klagen aus; Bettina wollte sich erheben, um ihnen ein Wort des Trostes zu sagen, allein plötzlich verwischte sich alles um sie her, sie schwankte und wäre zur Erde gestürzt, wenn Rott nicht seine Arme um sie geschlungen hätte. Mit Hilfe des Lehrers brachte er die Bewußtlose nach der Klause, wohin auch das verwaiste Kind geführt wurde; der Zustand Bettinas, die kein Lebenszeichen von sich gab, erfüllte ihn mit qualvoller Sorge; trotz seiner Ermattung warf er sich daher aufs Pferd, um den Kreisphysikus herbeizuholen.

Als dieser am Abend mit Rott die Klause betrat, hatte sich bei Bettina bereits hohes Fieber eingestellt. Der Arzt beobachtete die Kranke eine Weile, strich ihr über das glühende Gesicht, prüfte ihren Puls und sagte dann zu dem Künstler, welcher in ängstlicher Spannung jede seiner Bewegungen verfolgt hatte: „Nervenfieber in der heftigsten Form. Es muß alles für eine gute Pflege der Kranken geschehen, sonst stehe ich für nichts. Der Obhut der alten Monks können wir sie unmöglich überlassen.“

„Wissen Sie nicht in der Nähe eine beständige Krankenpflegerin, Doktor? Ich würde jeden Preis zahlen.“

[286] „Gewiß, ich kann eine Frau Braun aus der Kreisstadt herübersenden, der wir die Wartung getrost anvertrauen dürfen. Aber ich hätte gern noch jemand, welcher der Kranken nahestünde und für all das sorgte, was nur warme persönliche Antheilnahme bemerkt –“

„Das soll meine Aufgabe sein, lieber Doktor," unterbrach ihn Rott erröthend. „Ich verlasse das Haus nicht eher, als bis ich dem Tod diese Beute abgejagt habe.“




20.

Rott, der dem Sturme so kühn getrotzt hatte, sah am Krankenlager der Geliebten ein, daß es schwerer ist, sich selber zu bezwingen als die entfesselten Elemente. Oft glaubte er, an Bettinas Rettung verzweifeln zu müssen, und dann bedurfte er aller Kraft, um ruhig auszuharren, nicht in wilden Groll auszubrechen. Eine treffliche Stütze fand er glücklicherweise an der Pflegerin, welche ihm der Doktor geschickt hatte. Frau Braun sorgte nicht nur für die Leidende, sondern versah auch den Haushalt, so daß Rott das verwaiste Kind, welches er im Schulhaus untergebracht hatte, zu sich in die Klause nehmen konnte. Er forschte nach den Verwandten des verunglückten Kapitäns und erfuhr, daß nur ein Bruder der Frau in Stettin lebe; der aber war selber so reichlich mit Kindern gesegnet, daß er gern auf Rotts Bitte einging, ihm den kleinen Fritz zur Erziehung zu überlassen.

Den Monks hatte Rott sein Versprechen gehalten und ihnen gleich nach Ewalds Bestattung durch den Lotsenkommandanten tausend Mark einhändigen lassen mit dem Bemerken, daß sie in jeder Nothlage auf ihn zählen dürften. Diese That gewann ihm vollends das Herz der Dorfbewohner, überall bezeigte man ihm aufrichtige Theilnahme und hilfreiches Entgegenkommen, und sogar Kathrein Bräuning erbot sich zu kleinen Dienstleistungen in der Klause.

Zum Glück hatte Rott Ersparnisse gemacht; so konnte er nicht allein die Kosten des Haushalts bestreiten, sondern sich auch als Künstler von allen Vertragspflichten lösen, die er für den Rest des Jahres eingegangen hatte. Er hatte gehofft, Bettina werde vor Ablauf dieser Zeit wieder genesen sein, aber seine heißen Wünsche erfüllten sich nicht. Nach Tagen banger Erwartung ging zwar die Krisis glücklich vorüber, allein der Körper der Kranken war so geschwächt, daß wochenlang die gesunkenen Kräfte sich nicht wieder heben wollten. Endlich, als schon der ewige Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung auch Rotts Gesundheit zu untergraben drohte, begann die Besserung, und während des Weihnachtsfestes konnte Bettina zum ersten Male ihr Lager verlassen. Von Rott und dem Arzte wurde sie in den Salon getragen, wo man sie sanft auf einen Sessel niederließ. Die beiden nahmen ihr gegenüber Platz, und nachdem der Arzt die Genesende, die sich mit sichtlichem Behagen an der Unterhaltung betheiligte, eine Weile beobachtet hatte, erklärte er in munterem Tone jede Gefahr für überwunden. Rott sprang stürmisch auf, umarmte den Ueberraschten und sank dann vor Bettina nieder. „Nun hab’ ich ein Anrecht auf Deinen Besitz, nun bist Du mein für immer!" rief er bewegt.

Und Bettina beugte sich mit verklärtem Lächeln zu ihm nieder. „Dir verdanke ich meine Rettung – wem sollte ich dies neugewonnene Leben lieber schenken als Dir, Franz!“ flüsterte sie und küßte ihn auf die Stirne.

In diesem Augenblick rief eine Kinderstimme von der Schwelle zum Nebenzimmer her. „Papa, Papa!“ und Fritz machte sich von der Hand der Wärterin los, um in Rotts Arme zu eilen. Dieser küßte den kleinen Blondkopf und stellte ihn vor Bettina hin. „Ewalds Erbe und unser Sohn, nicht wahr, Liebste?“ sagte er mit einem hellen Leuchten in seinen männlichen Zügen.

Bettina umschlang den Hals des Kindes und sah es schweigend mit feuchtschimmernden Augen an; der Friede war eingezogen in ihre Seele, jener Friede, der das Herz so übervoll und dennoch den Mund verstummen macht.

Und mit dem Frieden zog das Glück in die Klause ein. Die zärtliche Sorgfalt Rotts, das muntere Lachen des Kindes, die freundlichen Bemühungen der Wärterin, das Haus behaglich zu machen – alles das erquickte Bettina aus tiefstem Grunde und förderte zugleich ihre Genesung. Die Erinnerung an Ewalds Tod trat mehr und mehr zurück und bedrückte ihr Herz nicht mehr, sie gab ihrem ganzen Weseu nur einen ernsteren Halt.

Als sie eines Abends mit Rott vor dem Kaminfeuer saß und ihm gestand, wie schwer sie in Massow gerade die künstlerische Anregung entbehrt habe, kam das Gespräch nochmals auf die inneren Kämpfe, die sie zur Flucht aus den gewohnten Verhältnissen getrieben hatten. Bettina erinnerte sich dabei an das Tagebuch ihres Vaters, sie ließ es sich vom Schreibtisch holen und händigte es Rott ein. „Lies diese Schilderungen,“ sprach sie erröthend, „und Du wirst es nicht verwunderlich finden, daß sie mich gefangen nehmen mußten in einem Augenblick, wo die gesellschaftliche Welt, in der ich lebte, mir nichts als Enttäuschung und Lüge bot. So bin ich geflohen, um hier das Glück zu suchen in der Natur, bei einfachen ursprünglichen Menschen – ich weiß jetzt, daß es ein Irrthum, aber – urtheile selbst, ob es nicht ein sehr begreiflicher war."

Am nächsten Abend schon legte Rott das Tagebnch in Bettinas Hand zurück, und als sie ihn erwartungsvoll anblickte, strich er ihr sanft über das weiche Haar und sagte: „Das Glück ließ Deinen Vater im schönsten Lebensalter eine verlockende Idylle mitten im Weltmeer finden, aber Du hast eines dabei übersehen, Bettina: es war nicht das verlorene Naturparadies, nach welchem sich Dein Vater im Alter zurücksehnte, sondern der Zauber der Jugend und der Liebe. Wir finden die Bedingungen des Glückes nur in uns selbst, allein wir sind so oft geneigt, sie draußen zu suchen, und der Erfolg ist, daß wir Enttäuschung auf Enttäuschung erleben und dann verbittert in die Einsamkeit fliehen. Und gerade dadurch steigern wir nur unser Elend, denn ‚wer sich der Einsamkeit ergiebt, ist bald allein‘.“

„Nun,“ sagte sie lächelnd und ergriff seine Hand, „ich bin in der Einsamkeit doch nicht ganz vereinsamt – das Beste ist mir geblieben.“

Sie sahen sich mit glückstrahlenden Augen an und begannen, mit fast kindlichem Eifer Pläne für die Zukunft zu entwerfen. Anfangs Januar wollte Rott Massow auf mehrere Monate verlassen, um gemeinsam mit Diaz und einer berühmten Pianistin eine Konzertreise durch Spanien auszuführen. „Aber dies wird die letzte Trennung sein, die wir zu überwinden haben,“ sagte er tröstend, „im Herbst schon hat mein Vagabundenleben ein Ende. In Berlin bauen wir unser Nest, dort will ich in ehrbarster Seßhaftigkeit, wie sie einem Ehemann ansteht, als Lehrer thätig sein; und wenn ich Konzertreisen unternehme, dann thu’ ich’s nur gemeinschaftlich mit Dir, mein Herz.“

„Ach, wenn nur dieser Winter erst hinter uns liegen würde!"

„Damit Du Dich nicht gar so einsam fühlst, habe ich Dir eine Überraschung bereitet.“

„Und welche, Franz?“

„Ich werde mich hüten, es Dir zu verrathen! Aber morgen sollst Du eine kleine Freude erleben.“

Es wurde eine große daraus, denn am nächsten Tage kam ein hochbepackter Schlitten aus Groß-Küstrow herüber und hielt vor der Klause. Bettina, welche eben am Erkerfenster saß und dem kleinen Fritz Papierpuppen ausschnitt, sah zu ihrer Verwunderung, daß Rott sofort auf den Schlitten zulief und einer durch Pelze und Shawls völlig unkenntlichen Frau sowie zwei Kindern aus dem Gefährt half. Auch Frau Braun eilte durch den Schnee und war um die Fremde geschäftig.

Bettina wollte sich aus dem Sessel erheben, allein noch reichte ihre Kraft dazu nicht aus. Hilflos starrte sie auf die Thür, vor der sie rasche Tritte vernahm. In der nächsten Minute sprang diese weit auf und mit dem Ausruf: „Bettina, liebste Bettina!" flog Lisa ihr entgegen.

Es war die alte Freundin mit all ihrer früheren Munterkeit. Sie küßte Bettina unter Lachen und Weinen immer und immer wieder. „Ich weiß, was Du gelitten hast,“ sagte sie, „Rott hat mir alles geschrieben. Du siehst noch bleich aus, mein Kind, schrecklich bleich, aber das soll anders werden. Lachen mußt Du mir, fröhlich sein, bis Deine Backen kirschrot werden.“

„O, Du siehst, Lisa, ich lache schon jetzt, so froh macht mich Dein Anblick. Und das sind Deine Kinder? Ach, das ist herrlich, nun hat unser Junge Gespielen!“

[287] Sie streckte Rott, der eben eintrat, mit dankbarem Lächeln die Hand entgegen. „Das hast Du gut gemacht, eine schönere Ueberraschung hättest Du mir nicht bereiten können. – Du bleibst doch bis zum Frühjahr bei mir, Lisa?“

„Wenn Du uns behältst, mit Freuden! Da die ruhelosen Künstler ins romantische Spanien ziehen, so wollen wir hier in Geduld ihre Rückkehr erwarten. Zu zweien wollen wir der Einsamkeit schon trotzen, wir können auch ohne die Männer fröhlich sein. Sie sollen uns nicht als abgehärmte Wesen wiederfinden, denen beständig die Klage auf den Lippen schwebte: ‚Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide.‘“ Und mit silberhellem Lachen wandte sie sich ihren Kindern zu.

Leichten Herzens blickte Rott ihr nach: mit ihr war der Frohsinn in die stille Klause gekommen, nun konnte er beruhigt scheiden.

*       *       *

In den ersten Tagen des Mai kehrten Franz Rott und Garcia Diaz von ihrer spanischen Künstlerfahrt nach Massow zurück. Sie waren nicht erwartet worden und überraschten die beiden Frauen im aufblühenden Garten, wo sie mit den Kindern spielten. Bettina wurde eben von den Kleinen, zu denen sich auch die Töchterchen des Lotsenkommandanten gesellt hatten, über den Rasenplatz verfolgt und rannte gerade auf Rott los – jubelnd flog sie in seine Arme.

Der Heimgekehrte küßte sie beglückt auf beide Wangen und sagte mit einem zärtlichen Blicke in ihr erglühendes Gesicht: „Du hast Deine Jugend wiedergefunden.“

„Kein Wunder, Schatz! Liebe und Freundschaft schaffen ein fröhliches Herz. Ach, wie verändert erscheint mir die Welt in diesem Frühling!“

Auch Diaz begrüßte die Seinen mit überströmender Freude und fand, daß sie alle von Gesundheit förmlich strahlten.

„Uns ist’s auch über Verdienst gut gegangen, lieber Garcia. – Aber was ist das?“ rief Lisa, plötzlich ernst werdend, „Du bist ganz in Schwarz gekleidet und trägst einen Flor am Arme?“

„Verzeih, das habe ich in der Freude des Wiedersehens ganz vergessen. Bei der Rückreise über Madrid fand ich Tante Dolores in den letzten Zügen. Sie starb, nachdem sie mir zwanzigtausend Pesetas vermacht hatte.“

Lisa konnte nicht verhehlen, daß ihre Freude über die Erbschaft größer sei als die Trauer um den Verlust der Tante.

„Ach, Garcia“ sagte sie, „diese Summe könnte uns später über manche schwere Zeit hinweghelfen, wenn wir nur verstehen würden, das Geld zusammenzuhalten. Aber in der Ehe findet nun einmal eine Anpassung der Charaktere statt, und da Du von Rechts wegen mein Herr bist, so habe ich mir leider allmählich auch den Leichtsinn meines Herrn und Gebieters zu eigen gemacht.“

„Aber Lisa, warum sich das Leben schwer machen! Wir haben noch eine Tante und außerdem werden wir in der Lotterie gewinnen, denn ich habe zwei ganze und zehn halbe Lose gekauft.“

„Nun,“ meinte Rott spottend, „das muß ich sagen, Du bist freigebig, Garcia, Du zahlst dem Staate eine hohe Erbschaftssteuer, ohne dazu verpflichtet zu sein.“

„Nicht wahr?“ pflichtete Lisa schmollend bei. „Er verzettelt sein Geld wieder an eitle Hoffnungen. O, dieses unselige Lotteriespiel – wie ich es hasse!“

„Aber Lisa,“ versetzte Garcia schelmisch lächelnd, „Du schiltst immer auf die Lotterie, und was ist das ganze Leben anderes als eine Lotterie? Was regiert die Welt anders als der Zufall?“

„Du hast bei diesem Vergleich nur eines vergessen, Garcia,“ rief Rott, „nämlich den kleinen und doch nicht ganz unwichtigen Umstand, daß in dieser auf Zufall gegründeten Welt dem Menschen der Verstand gegeben ist, um den Zufall hie und da ein bißchen zu korrigieren. Fleiß und Charakter sind zwei Einsätze in dieser Lotterie des Lebens, die recht viel Aussicht auf Gewinn bieten und jedenfalls mehr als Deine verteufeltet Lose. Werde vernünftig, Garcia, sonst wirft der Sturm Dein Schifflein einmal unversehens um!“

„Sei kein Unglücksprophet, Franz,“ unterbrach ihn Bettina einlenkend. „Vorläufig liegen wir alle glücklich hier vor Anker und wollen uns dessen freuen, was uns beschieden ist.“

Mit aufwallender Dankbarkeit lehnte sie sich an Rotts Schulter. Er aber küßte sie auf die Stirne und erwiderte frohgemuth: „Du hast recht, Geliebte. Laßt uns heiteren Blickes der Zukunft entgegengehen, laßt uns so leben und wirken, daß wir mit uns selbst auch andere beglücken! Nicht die Welt zu fliehen sondern ihr zu nützen, ist das rechte Ziel.“

„Andere beglücken – ja, das ist’s,“ sagte Bettina leise. „Wir wollen theilnehmen an fremdem Schicksal – nur indem wir so leben, leben wir in Wahrheit!“