Werther-Erinnerungen aus Wetzlar

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Titel: Werther-Erinnerungen aus Wetzlar
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 280-281
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Werther-Erinnerungen aus Wetzlar.
(Mit Abbildung.)

Dreiundachtzig Jahre sind vergangen, seit in Leipzig bei dem Buchhändler Weygand in einem dünnen Bändchen eine Erzählung erschien, kaum umfangreicher als die „Auf der Eisenbahn,“ welche kürzlich die Gartenlaube mittheilte. Die Leiden des jungen Werther’s stand auf dem Titelblatte, sonst nichts, auch nicht der Name des Verfassers. Doch war man über diesen gar nicht lange in Zweifel, denn alsbald nannte man einstimmig den Verfasser des „Götz von Berlichingen,“ den „Dr. Goethe, einen jungen Advocaten in Frankfurt.“

Das kleine Buch, ein Hoheslied auf die Liebe, war eine poetische große That. Wie geblendet stand das deutsche Volk anfangs vor der ganz ungewöhnlichen glänzenden Erscheinung, dann drängte es sich herzu, las und las und begeisterte sich und weinte Ströme von Thränen. In vielen Tausenden von Exemplaren verbreitete sich das Buch über alle Theile des Vaterlandes; in Berlin, in Carlsruhe, in Reutlingen, in Freistatt und an andern Orten erschienen Nachdrucke davon; mehr als zwanzig Nachahmungen, eine schlechter als die andere, drängten sich dem erregten Publicum auf; man malte die Geschichte und Bänkelsänger sangen sie auf Messen und Jahrmärkten nach einem noch heute bekannten Liede unter allgemeiner Rührung ab; die Kleidung Werther’s wurde auf mehrere Jahre durch ganz Deutschland Modetracht:

Gelb war des Todten Weste
Und blau sein Rock von Tuch,

wie es in dem ebenerwähnten Bänkelsängerliede heißt; in allen Häusern sang man:

„Ausgelitten hast Du, ausgerungen etc.“

und heute noch singt man hier und da dies Lied, wenn auch die Allerwenigsten wissen, daß „Werther“ damit gemeint ist. In alle Sprachen Europa’s, selbst zu wiederholten Malen, wurden „Werther’s Leiden“ übersetzt; die einfache traurige Geschichte, die darin erzählt ist, drang bis nach China und dort malte man Werthern und Lotten auf Tassen und Vasen von Porzellan; ja Napoleon selbst, der personificirte Verstand, führte das Büchlein auf allen seinen Feldzügen mit sich umher und er hatte es so oft und so aufmerksam, „wie ein Criminalrichter,“ gelesen, daß er noch 1809 den Verfasser auf eine schwache Seite desselben aufmerksam machen konnte. Und besitzt nicht heute noch der den Jahren nach alte Roman jugendfrisch alle Reize der Poesie, die Jeden, der ihr naht, erquickend und verklärend überstrahlt?

Ja – große Dichter sind Schöpfer. Sie vervollständigen gleichsam die Welt und rufen Wesen in das Dasein, die, wenn ich mich so ausdrücken darf, der liebe Gott ihnen zu schaffen überlassen hat und die vor den gewöhnlichen Menschen sogar den Vorzug voraushaben, daß sie nie sterben. Man denke, um nur einige solche von Dichtern Erschaffene zu erwähnen, an Shakespeare’s Fallstaff, Hamlet, Richard III. u. s. w., an Molière’s Tartüffe, [281] an den Don Quixote des Cervantes. Zu ihnen gehört auch Goethe’s Werther. Darum scheut sich das Volk noch heute wie vom Anfange an, diesen blos für eine Romanfigur zu halten, es fühlt ahnend, daß es in ihm weit mehr vor sich hat. Es steht ja immer mit Staunen vor der Schöpfermacht und den Geschöpfen des Genies, weil es dieselben so wenig begreift als die Weltschöpfung selbst.

Kein Wunder also, daß man auch nach Spuren Werther’s suchte und sucht, wie nach denen eines seltenen Menschen, der wirklich einmal unter den Lebendigen gewesen. Bei uns ist das altehrwürdige Wetzlar wohlbekannt als ehemaliger Sitz des Kammergerichtes im heiligen römischen Reiche, aber weit über die Grenzen Deutschlands hinaus ist es berühmt als Schauplatz der Liebe und der Leiden Werther’s. Jahr aus Jahr ein erscheinen in seinen steilen Gassen deutsche und fremde Verehrer des Goethe-Werther, die das deutsche Haus aufsuchen, in dem die liebliche Lotte waltete, wie das Haus, in dem Jerusalem-Werther sich erschoß. Dieses letztere zeigt, wie es noch jetzt, wohlbehalten und vielbetrachtet aussieht, unser Bild.

Das Wertherhaus in Wetzlar.

Dann wandern sie in der Gegend umher, die im Werther so anschaulich geschildert ist: zu dem Wildbacher Brunnen, der in einer gemauerten Grotte entspringt, von einer majestätischen Linde überwölbt, und bekanntlich im Anfange des Romans beschrieben ist, wie nach dem Dörfchen Garbenheim, das unter dem Namen Walheim eine Rolle spielt, und in dem die alte Linde noch steht, die wie die Brunnenlinde den Reisenden Blätter und Zweige als Andenken spenden muß. Ein Hauptziel der Wanderungen aber ist das Werthergrab. Nun weiß man zwar, daß der junge Jerusalem, dessen Leben und Tod bekanntlich das Vorbild zu der zweiten Hälfte Werther’s war, an einer abgelegenen Stelle des Kirchhofs zu Wetzlar bestattet wurde, wo sich keine Spur mehr von dem Grabe findet; aber dieses wirkliche Grab sucht man auch gar nicht. Man wollte durchaus ein Werthergrab haben, und so gibt’s denn eines in dem Garten des Wirthshauses zu Garbenheim, einen grünen Erdhügel unter schönen Linden. Ein Mann nämlich, dem früher die Besitzung gehörte, ließ in dem Garten einen Hügel aufwerfen und darauf eine Urne setzen zum Andenken Werther’s. Im Jahre 1813 wurde diese ursprüngliche Urne von einem russischen General als höchst merkwürdige Werther-Reliquie entführt. Vor einigen Jahren erschien in Garbenheim ein anderer Russe, der das angebliche Werthergrab und dessen Umgebung maß und genau abzeichnete, um in seiner Heimath eine ähnliche, dem Andenken Werther’s gewidmete Anlage einrichten zu lassen. Studenten halten Commers an dem Grabe; schwärmerische Engländerinnen weinen noch heute dabei über die Liebe und das traurige Geschick Werther’s u. s. w.; wir aber sehen in Allem nur Zeugnisse von der unzerstörbaren Zaubermacht der Schöpfung eines wahrhaft großen Dichtergeistes.