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Wiedersehn mit der Justiz

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Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Wiedersehn mit der Justiz
Untertitel:
aus: Mit 5 PS Seite 109-115
Herausgeber:
Auflage: 10. – 14. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1928
Verlag: Ernst Rowohlt
Drucker: Herrosé & Ziemsen
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Aus dem Zyklus: KURVE
Erstdruck in: Weltbühne, 5. April 1927
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[109]
Wiedersehen mit der Justiz
Amnestie –! Amnestie –!

Es ist noch alles da.

Wenn man das drei Jahre lang nicht genossen hat: die Moabiter Justizfabrik und die unhöflichen Gerichtsdiener und diese Richterköpfe und die kleinen verschreckten Schöffen, Mikrozephalen oder Kolonialwarenhändler, und die artigen Verteidiger, die immer ein bißchen etwas vom Komplizen an sich haben, und die Angeklagten, die nicht wissen, wie ihnen geschieht – wenn man das drei Jahre lang nicht genossen hat, so darf man erfreut feststellen, daß noch alles da ist. Justitia … Ein Vormittag, und die Binde sitzt hinten.

Das letztemal stand ich vor den Talaren neben Siegfried Jacobsohn und bewunderte seine kluge Zurückhaltung und überlegene Kälte einem Geschöpf gegenüber, das einundeinehalbe Stunde, ohne Atem zu holen, sprach: da hatte das Abonnement des „Berliner Lokalanzeigers“ treffliche Früchte getragen, und die Stunde patriotischen Anschauungsunterrichts, die wir bekamen, war gratis. Und umsonst.

Was ich in letzter Zeit in Moabit und am Alexanderplatz vor den Gerichten zu sehen bekommen habe, zeigt wieder das alte Bild: die Strafen sind gar nicht einmal so grauslich, so drakonisch, so ganz und gar unsinnig, und vom Standpunkt eines Verteidigers, dem es lediglich auf das Resultat anzukommen hat, kann sich im allgemeinen der deutsche Angeklagte nicht mehr beschweren als irgendeiner seiner ausländischen Schicksalsgenossen. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die deutschen Richter gut richten. Sie richten schlecht.

[110] Da ist der redende Richter: jener Typus, der die Angeklagten, Zeugen und Verteidiger überhaupt nicht zu Worte kommen läßt, sondern der für sie alle spricht. Ganz abgesehen von den äußeren Ungehörigkeiten, die sich diese Richter dauernd zuschulden kommen lassen: (während der Aussagen und der Plädoyers nicht zuzuhören, Akten zu schmieren, ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herumzutrommeln, wenn der Verteidiger etwas zu sagen wagt), ganz abgesehen von solchen kleinen Äußerungen, die trefflich auf das Innere schließen lassen, ist der ganze Wahnwitz von Überheblichkeit, Folgen einseitiger Auswahl und Kastengeist immer noch da.

Vor allem wirkt der deutsche Richter wie einer, der seinen Beruf als Berufsstörung auffaßt. Man hat von diesen zweifellos zu schlecht bezahlten Beamten den Eindruck, daß sie ihre Arbeit unlustig tun und daß sie nichts als das eine und einzige Bestreben haben: möglichst rasch fertig zu werden. Es kommt nicht so sehr darauf an, in welcher Weise eine solche Sache erledigt wird, wie darauf, daß sie erledigt wird. Auf dem Wege zur „Erledigung“ von Prozessen und Personen liegen die Steine des Anstoßes, die da stören: ausführlicher Zeugenbericht, Plädoyers, unvorhergesehene Anträge … kurz, alles, was über die angesetzte Zeit hinausgeht. Daher mürrisches, eiliges Wesen, hochfahrende Handbewegungen, Wegräumung aller Schwierigkeiten, die Zeit kosten können.

Zweiter Wahnwitz: confessio regina probatorum. Was das Mittelalter mit Hängegewichten und Daumenschrauben erzielte: das Geständnis, dieses Kronjuwel aller Beweismittel, das erzwingt der deutsche Richter mit dem weder materiell-rechtlich noch prozessual zu begründenden Satz: „Ich mache Sie darauf aufmerksam, Angeklagter, daß Sie durch ein Geständnis Ihre Lage verbessern!“ Hinter dieser Fibelpsychologie steckt in erster Linie Bequemlichkeit. Einem geständigen [111] Angeklagten braucht nichts nachgewiesen zu werden, Zeugenaussagen fallen fort oder werden doch wesentlich vereinfacht, und die ganze Sache kann rasch zu Ende sein. Der rechtlich unzulässige Satz beruht ferner auf der kindlichen Annahme, daß Reue eine simple Empfindung sei, jederzeit herzustellen, jederzeit greifbar, und solche Annahme entspringt eben dem gottähnlichen Getue von Funktionären, die da glauben, sie hätten das Recht zu strafen, das heißt also: moralische Urteile zu fällen wie jenes imaginäre Wesen, das die Zeugen im Eid anrufen, weil sie – entgegen den Bestimmungen – meist niemand darauf aufmerksam macht, daß diese religiöse Formel durchaus vermeidbar ist. Der Richter hat aber lediglich die Aufgabe, die Gesellschaft, so wie sie heute ist, vor Menschen zu schützen, die die Sicherheit dieser Gesellschaft bedrohen. Davon ist in Moabit und am Alexanderplatz nichts zu merken. Dort wird gestraft. Wie wird gestraft –?

Aus einer einzigen Sitzung:

Ein Schupomann nimmt einen Betrunkenen auf die Wache mit; der Betrunkene fühlt sich, ob zu recht oder unrecht, zu hart angefaßt und bittet während der Sistierung die Umstehenden, ihm Zeugenadressen aufzuschreiben. Der Richter: „Das wäre ja noch schöner, wenn jeder Sistierte unterwegs auf dem Wege zur Wache Anträge stellen könnte!“ Falsch: Abgesehen von der Papierredensart, die einen Besoffenen im Rinnstein Anträge stellen läßt, hat natürlich jeder das Recht, sich Zeugenaussagen zu erbitten. Der Richter zum Angeklagten: „Erst betrinken Sie sich, und dann benehmen Sie sich dem Beamten gegenüber disziplinwidrig!“ Falsch: Der Mann ist dem Beamten überhaupt keine Disziplin schuldig. Wir leben nicht in einer Reichswehrkaserne, und das einzige, was ein Polizeibeamter bei einer Sistierung verlangen kann, ist etwas Negatives: nämlich das Fehlen von Widerstand [112] gegen die Staatsgewalt. Hier wird nicht befohlen; hier wird nicht gehorcht. Der Richter zu dem Zeugen: „Haben Sie mit dem Angeklagten etwas getrunken?“ Der Zeuge: „Ich ja, er nicht.“ Der Richter: „Er hat überhaupt nicht getrunken?“ Der Zeuge besinnt sich: „Doch, der Angeklagte hat zwei Glas Bier getrunken.“ Der Richter zum Angeklagten: „Also Sie haben auch getrunken!“ Falsch: Der Konsum von zwei Glas Bier hat nichts mit Trinken zu tun; der betreffende Richter würde sich mit Recht beleidigt fühlen, wenn ihm jemand sagte, er „tränke“ vor der Sitzung, und diese Behauptung mit dem Konsum von zwei Glas Bier begründen wollte.

Aus einer einzigen Sitzung: „Das ist also dieselbe Geschichte, die wir eben gehabt haben – wieder Widerstand gegen die Staatsgewalt!“ Der Angeklagte kann für die Reihenfolge der angesetzten Termine nichts, und es ist eine Willkür, ihn die vorige Sache entgelten zu lassen.

„Nach den jüngsten Vorkommnissen auf den Berliner Straßen sind wir Richter zu der Überzeugung gekommen, daß es unsre Pflicht ist, die Beamten besonders zu schützen; das sind wir den Beamten schuldig.“ Grober Unfug: Der Richter sieht die letzten politischen Vorkommnisse, die mit der kleinen Polizeiübertretung eben dieses Angeklagten überhaupt nichts zu tun haben, so an, wie es eben ein Leser der Täglichen Rundschau tut, und läßt den Angeklagten einen politischen Meinungskampf entgelten.

Dritter Wahnwitz: Anrechnung der natürlichen Begleitumstände eines Delikts als strafverschärfend. Beispiel: Ein Straßenhändler stiehlt seinem Freunde eine Summe von 42 Mark. „Als strafverschärfend kommt hinzu, daß der Angeklagte einen Mann bestohlen hat, der selber nicht in günstigen Vermögensumständen lebt und sich sein Brot sauer verdienen muß.“ Wahrscheinlich glaubt der Richter, daß sich Straßenhändler [113] bei Diebstählen an ein Vorstandsmitglied der Dresdner Bank zu halten haben oder doch zum mindesten an einen gut verdienenden Filmschauspieler. Steigt ein Einbrecher nachts heimlich in eine Wohnung, so donnert nicht nur der § 250 Ziffer 4 auf ihn herunter, sondern seine Heimtücke, seine Tätigkeit zur Nacht, seine Hinterlist werden ihm außerdem noch als strafverschärfend angekreidet. Er wird also bestraft, weil er sich zur Nachtzeit zur Begehung eines Raubes in ein bewohntes Gebäude eingeschlichen hat, und dann noch einmal besonders dafür, daß er sich zur Nachtzeit zur Begehung eines Raubes in ein bewohntes Gebäude eingeschlichen hat. Nichts dümmer als die Begründung dieser Urteile.

Was in Moabit an Moral gelehrt wird, gehört auf den Kehrichthaufen.

*

Es ist noch alles da. Eines sogar ist hinzugekommen, das habe ich noch nie gesehn und sah es zum erstenmal: den Schnellrichter. Der verfährt nach § 212 StPO.

Der Mann sitzt, um auch äußerlich darzutun, was er ist, gleich im Berliner Polizeipräsidium, in einem Zimmerchen, an dem die Stadtbahnzüge vorbeidonnern. Die Angeklagten werden ihm unmittelbar aus der Haft vorgeführt. Nachteile: Der Richter kennt die Aktenzeichen der Kommissare, weiß also, daß dieser Angeklagte von der Polizei als ein gewerbsmäßiger Ladendieb angesehn wird und jene Frau als eine gewohnheitsmäßige Kupplerin, und er richtet sich, hopp-hopp-hopp, darauf ein. Der Schnellrichter ist ein Herr Krönker, ein Mann von der Wasserkante, und es ist nicht unlehrreich, zu sehen, was dieser Landgerichtsrat treibt.

Seine Urteile sind, soweit ich das gesehn habe, nicht gar so schlimm wie etwa die des Herrn Siegert. Krönker steht in [114] dem Ruf, „noch nicht einer der Schlimmsten“ zu sein. Aber wie der Mann Recht spricht: das als Opfer zu erleben, gönne ich keinem seiner Kinder, wenn er welche hat.

Erste Ungehörigkeit: Ton und Haltung des Richters. Ein solches Benehmen würde etwa einem Geschäftsmann alle Viertelstunde ein paar schallende Ohrfeigen eintragen. Der Mann hat eine Art, mit den Angeklagten, die er kaum ansieht, herrisch, hochfahrend und ungezogen zu sprechen, die jedem Menschen auch noch den letzten Rest von Ehrgefühl aus dem Leibe treibt. Es ist mir kein Paragraph der Strafprozeßordnung bekannt, wonach ein Angeklagter verurteilt ist, solche menschliche Erniedrigung zu erdulden.

Zweite Ungehörigkeit: Der Schnellrichter weist nicht jeden Angeklagten darauf hin, daß er nach § 26 GVG. das Verfahren ablehnen kann. Nun stelle man sich die Lage solcher Proletarier, immer ohne Verteidiger, vor: entweder macht der Richter den Angeklagten überhaupt nicht auf die immerhin eigenartige strafprozessuale Lage aufmerksam, oder er tuts in unzulänglicher Weise. „Wollen Sie lieber eine Schöffengerichtsverhandlung?“ Der Angeklagte, der in Haft ist, befürchtet nun, weiter in Haft zu bleiben, wenn er die Schöffen verlangt, er wird auch so und so oft weiter in Haft belassen und ist auf alle Fälle der Dumme.

Dritte Ungehörigkeit, und dies ist die schlimmste: Nach Verkündung des Urteils pflegt Herr Krönker die Leute im Ton eines gereizten Feldwebelleutnants zu fragen: „Nehmen Sie das Urteil an, ja oder nein?“ Der Justizminister Doktor Schmidt wird in seinem Leben eine Menge verwickelter juristischer Situationen gesehn haben, und es geht ihm der Ruf eines anständigen Menschen voraus. Ich frage ihn, ob er es für loyal hält, wenn ein Richter wie dieser die Angeklagten nicht darauf aufmerksam macht, daß sie das Recht [115] auf Berufung haben, daß meist nach einer solchen Verhandlung Verdunkelungsgefahr nicht mehr besteht und daß mithin Haftentlassung zu erfolgen hat. Es ist vollständig gleichgültig, ob Herr Krönker durch Bestimmungen verpflichtet ist, die Angeklagten in dieser Weise zu belehren oder nicht: die einfachste richterliche Gewissenspflicht gebietet, Wehrlose über ihre Rechte aufzuklären.

Das Schöffengericht taugt schon nicht viel, weil die Siebung der Schöffen ganzen Volksschichten die bürgerlichen Ehrenrechte abspricht; du und ich, wir werden niemals Laienrichter werden. Was aber in diesem „Schnellgericht“ getrieben wird, geht denn doch noch über alles hinaus, was Moabit wagt. Es ist natürlich gleichgültig, ob ein von der kapitalistischen Gesellschaft zermürbter lungenkranker Mensch wegen Bettelns drei Wochen oder vier Wochen in Haft kommt: der Richter kann von sich aus die soziale Frage nicht lösen, auch er ist nur ein Vollstrecker. Aber es muß wohl verlangt werden, daß dieser Schnellrichter, daß die langsamen Richter in Moabit vor allem einmal die einfachsten Menschenrechte respektieren.

Auf keiner Tagung des Deutschen Richtervereins ist von den Schmerzen des Volkes etwas zu hören. Jedes Volk hat die Richter, die es verdient.