Wien vor hundertundzwanzig Jahren

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Titel: Wien vor hundertundzwanzig Jahren
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 412
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[412] Wien vor hundertundzwanzig Jahren. An Gottsched schrieb einer von dessen Verehrern am 1. März 1738 aus Wien:

„Die hiesige Sprache ist zwar nicht die beste, doch finde ich sie so schlecht nicht, als ich glaubte. Mich deucht, daß sie zuweilen der niedersächsischen nahe kommt, und mehr als in Sachsen so geredet wird, als man schreibt. Ich habe von gebornen Wienern die Redensarten gehört, woran man sonst die Niedersachsen erkennt, z. B. ich bin lange, schämen Sie sich was. Die Geschlechter der Wörter sind zuweilen ganz verschieden. Man sagt hier z. B. der Butter, der Bier. Zu manchen Wörtern setzt man ein n: man sagt hier nicht die Suppe, sondern die Suppen. Die Doppelbuchstaben redet man ganz vernehmlich aus und man macht z. B. aus dem Worte Wien zwei Sylben. Die Wörter, welche eine Sache als klein beschreiben sollen, haben hier am Ende weder das sächsische chen, noch das schwäbische l, sondern erl, und man sagt nicht Tischchen, nicht Tischl, sondern Tischerl. Von Provinzialredensarten habe ich folgende angemerkt: die Accise heißt hier Mauth, ein Fächer ein Waderl, der Mund Goschen, die Mücken nennt man Gäseln, Gurken Omürken, Hahnbutten Hietschbietsch. Anstatt befehlen spricht man schaffen: was schaffen Sie? Wie man in Sachsen das hören Sie einschaltet, so bringt man hier das schauen Sie immer an. Nirgends habe ich die Sprache schlimmer gefunden, als im Bambergischen und Bayerschen, woselbst ich alle Mühe gehabt habe, die Leute zu verstehen.

Der Geschmack ist hier, zum wenigsten unter den Evangelischen, nicht so gar verderbt. Man hält Günthers und Opitzens Gedichte hoch; ich habe hier Leute von beiderlei Geschlecht gefunden, die ganze Stücke aus den Schweizer-Gedichten auswendig wußten, und sich das schöne Gedicht des Herrn Dr. Haller auf den Tod seiner Liebsten als ein Meisterstück aus den Zeitungen abgeschrieben hatten.

Die Musik ist hier in ganz ungemeinem Flore; man liebt dasjenige am meisten, was melodisch und singbar ist; daher weder Bach noch Gadebusch Beifall finden. Die Faustina, welche sich noch bei ihrer letzten Durchreise hat hören lassen, gilt hier wenig, weil man glaubt, daß sie ihre Stimme schon verloren habe und anitzo mehr belle als singe. Am Donnerstage war am Hofe zum ersten Male ein Oratorium, das ich auch gehört. Die kais. Castraten sangen unvergleichlich, aber die Musik war gar zu traurig und tragisch, und so muß sie sein, wenn sie dem Kaiser gefallen soll.

Die hiesige Lebensart gefällt mir ungemein, sie ist so ungezwungen und vertraulich, als an irgend einem andern Orte. Die spanischen Complimente und Ceremonien sind nur am Hofe und bei feierlichen Begebenheiten gewöhnlich, aber im gemeinen Umgange, auch mit den Vornehmsten, kann man sich dadurch lächerlich machen.“