Zum hundertjährigen Todestag Moses Mendelsohn’s

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Otto Sievers
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Zum hundertjährigen Todestag Moses Mendelsohn’s
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 38–39
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[38] Zum hundertjährigen Todestag Moses Mendelssohn’s († am 4. Januar 1786). Was Moses Mendelssohn, der jüdische Kaufmann und Weltweise, seinen wissenschaftlichen Fachgenossen, den Philosophen, war und ist, das ausführlicher darzulegen ist hier nicht der Ort. Aber den gebildeten Laien, insofern er sich für philosophische Betrachtungen interessirt, wollen wir am heutigen Tage an Mendelssohn's „Phädon“ erinnern, in welchem der scharfe Denker für den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele eintritt und die Lücken der Beweisführung in dem gleichnamigen und denselben Gegenstand behandelnden Dialog des Plato mit den Ergebnissen der neueren Philosophie auszufüllen unternimmt. Moses Mendelssohn war kein Philosoph in der strengsten Bedeutung des Wortes, sondern ein Popular-Philosoph, kein Denker von urwüchsiger Eigenart, sondern ein Eklektiker, der, hervorgegangen aus der Leibniz-Wolff’schen Schule, sich mit wichtigen Ueberzeugungen anderer Philosophen, wie Locke’s und Shaftesbury’s, in Einklang zu setzen suchte. Er gehört der Periode vor Kant an und mußte es mit vielen anderen Fachgenossen über sich ergehen lassen, durch jenen Riesen in den Hintergrund geschoben zu werden.

Weit interessanter ist uns Mendelssohn als Freund Lessing’s. Man hat die Beziehungen der beiden Männer zu einander mit denen Goethe’s und Schiller’s verglichen, und abgesehen davon, daß der letztere Freundschaftsbund von zwei vollkommen ebenbürtigen Geistern geschlossen wurde, während Mendelssohn an Lessing’s Höhe nicht hinanreicht, hat man auch Grund zu diesem Vergleiche. Wie wir der Freundschaft Goethe’s und Schiller’s einen Briefwechsel von unschätzbarem Werthe verdanken, so hat auch der Briefwechsel Lessing’s und Mendelssohn’s in Rücksicht auf bedeutenden Inhalt wenige seines Gleichen. Diese briefliche Unterhaltung dreht sich namentlich um Lessing’s und Mendelssohn’s Schriften, behandelt im Zusammmenhang damit wichtige Fragen der Philosophie und besonders der Aesthetik, z. B. Mendelssohn’s Lehre von den vermischten Empfindungen, giebt interessante Aufschlüsse über Fabel und Drama, Aristoteles und Spinoza etc. Die Verdienste der beiden Männer um einander sind der wichtigsten und mannigfaltigsten Art. So waren die Freunde einander die ersten Kritiker, die Kritiker vor dem Abschluß und Druck ihrer Werke, die zugleich mit liebendem und strengem Auge die geistigen Sprößlinge des Anderen aufwachsen sahen. Ferner hat Lessing Mendelssohn als Schriftsteller eingeführt, er hat seinen Bestrebungen Koncentration gegeben, er hat ihn zurückgehalten, an ein halbes poetisches Talent seine Zeit wegzuwerfen, er hat seine hervorragenden Geisteskräfte auch für die Kunstkritik fruchtbar gemacht.

Und andererseits hat Mendelssohn an verschiedenen Hauptwerken Lessing’s einen sehr erheblichen Antheil, wie z. B. am Laokoon, einen ganz eigenartigen Antheil aber am Nathan. Denn wenn man bei einer solchen Idealfigur überhaupt von einem Modell sprechen will, so war dieses Niemand anders als Moses Mendelssohn, der wie Nathan Kaufmann und Weltweiser zugleich war und wie Nathan, treu dem Glauben seiner Väter, doch durch Vernunft und Gemüth auf die Höhe vorurtheilsfreiester Duldsamkeit emporgehoben wurde. Wie hoch Lessing die Bedeutung dieses edlen und dabei durch und durch deutschen Juden anschlug, einen wie großen Werth er auf seine Freundschaft legte, lehren seine Briefe. „Möchte ich Ihrer Wahl so würdig sein, als Sie der meinigen sind.“ – „Werden Sie nicht müde, mich zu bessern, so werden Sie auch nicht müde werden, mich zu lieben.“ – „Schreiben Sie, mein lieber Moses, so viel, als Ihre [39] gesunde Hand nur immer vermag, und glauben Sie steif und fest, daß Sie nichts Mittelmäßiges schreiben können – denn ich habe es gesagt.“ – „Verlieren Sie mich ja nicht ganz aus den Augen; lassen Sie mich ja an allen Ihren Beschäftigungen noch ferner den Antheil nehmen, den ich zu meinem großen Nutzen bisher daran genommen habe. Das wird das einzige Mittel sein, wenn ich nicht ganz in Nichtswürdigkeiten versinken soll.“ Solches und Aehnliches schreibt Lessing zu verschiedenen Zeiten an seinen Freund – und Lessing liebte keine Phrasen.

Endlich verdient Mendelssohn unsere Anerkennung als wissenschaftlicher selfmade man. Aus den kümmerlichsten Verhältnissen hervorgegangen, Sohn eines israelitischen Lehrers und Thorarollen-Schreibers in Dessau, ließ er sich durch die Armuth nicht zu Boden drücken, sondern erlangte infolge eines außergewöhnlichen wissenschaftlichen Eifers und einer ebenso außergewöhnlichen Begabung, theils als Autodidakt, theils von intelligenten Männern privatim unterwiesen, ohne Gymnasium und Universität jene imponirende geistige Ausbildung. Und als es ihm dann später vergönnt war, seinen leiblichen Hunger vollauf zu stillen, als er in Berlin von Stufe zu Stufe als Buchhalter, Dirigent und Theilhaber einer Seidenwaarenfabrik sich eine mehr als auskömmliche kaufmännische Stellung eroberte, blieb doch sein geistiger Hunger ungestillt und bewirkte, daß Mendelssohn nach wie vor das seltene Beispiel einer glücklichen Vereinigung kaufmännischer

und philosophischer Spekulation gab.
Otto Sievers.