Zur Literatur- und Culturgeschichte der Menschheit
[183] Zur Literatur- und Culturgeschichte der Menschheit. Es ist keine leichte Aufgabe, ein anschauliches Bild von dem gesammten Entwickelungsgange des menschlichen Geistes zu entrollen, weil dazu ein hoher Grad geschichtlicher, philosophischer und literarischer Kenntnisse erforderlich ist. Wem es aber gelingt, diese Aufgabe auch nur annähernd zu losen, der hat schon damit ein schönes und lohnendes Werk vollbracht. Dr. Gustav Diercks hat es nun kürzlich unternommen, in einem im Verlage von Theodor Hofmann (Berlin, 1881) erschienenen Buche, „Entwickelungsgeschichte des Geistes der Menschheit“ betitelt, die intellectuellen Beziehungen der Völker zu einander darzustellen und die Literatur- und Culturgeschichte zu einer vergleichenden Wissenschaft zu erheben. Von der gewiß richtigen Ansicht ausgehend, daß die Gesetze der Bewegung, des Fortschritts, der Entwickelung die Wurzeln sind, aus denen, wie alles Andere auf unserer Erde, so auch der Baum des Geistes der Menschheit entsprossen ist, der nun eine Riesengröße erlangt hat, betrachtet er die Cultur schaffender Rassen und Völker in historischer Reihenfolge, zeigt die Richtungen, welche sie einschlugen, forscht nach den hierbei maßgebenden Ursachen und faßt am Schlusse eines jeden Abschnittes die Ergebnisse desselben kurz und klar zusammen. Nach der Annahme des Verfassers lebten vor dem Beginn der geschichtlichen Zeit Hamiten, Mongolen, Semiten und Arier auf der Hochebene zwischen dem Caspischen Meere und dem Quelllande des Indus, wahrscheinlich in Folge großer Umgestaltungen der Erdoberfläche längere Zeit dicht an einander gedrängt, als aber Uebervölkerung eintrat, wanderten jene Volksstämme nach verschiedenen Himmelsgegenden aus. Diercks begleitet sie nun in ihre neuen Niederlassungen und behandelt seinen reichhaltigen Stoff in acht besonderen Capiteln: Aegypten, die mongolische Rasse, Indogermanen und Inder, der Buddhismus, die Eranier, die Semiten, bei denen er Chaldäer, Babylonier, Assyrer, Phönicier und Israeliten unterscheidet, die Griechen, die Römer.
Mit Recht schenkt er überall der religiösen Entwickelung besondere Aufmerksamkeit. Mit dem Zerfall des Römerreiches endet das höchst anregende Buch, welches allen Freunden einer den Geist befruchtenden Lectüre eine gewiß willkommene Gabe sein wird; der zweite Band, der das Mittelalter und die Neuzeit umfassen und das Werk abschließen wird, soll in Kürze nachfolgen.
Die vorhistorische Zeit des Entwickelungsganges der Menschheit, an Dauer die historische um mehr als das Zehnfache übertreffend, ist in ein nahezu undurchdringliches Dunkel gehüllt, selbst die Anfänge der Geschichte sind vielfach durch dichte Nebel bedeckt, deren Entfernung nicht leicht, oft ganz unmöglich ist, und wo endlich sichtbare Geschichtsspuren zu Tage treten, da sind sie in sehr vielen Fällen so undeutlich und lückenhaft, daß eine gewissenhafte Forschung selten über bloße Wahrscheinlichkeit hinaus gelangt ist.
Trotzdem weiß unser Autor die vereinzelten Lichtstrahlen in Brennpunkte zu sammeln, die eine gewisse Helligkeit verbreiten, und je zuverlässiger der Boden wird, auf dem er sich bewegt, desto werthvoller und reifer sind die Früchte seiner Arbeit. Die Form, in welcher Diercks die gewonnenen Resultate darbietet, ist eine gemeinverständliche und klare; seine Sprache ist leicht fließend und unterhaltend, und wenn der sachkundige Leser auch nicht überall mit den Ansichten des Verfassers übereinstimmen kann, so muß er doch überall den sittlichen Ernst und die gewissenhafte Prüfung anerkennen, womit letzterer seinen Gegenstand [184] behandelt hat. Nichtige Erkenntniß der Naturgesetze und Pflege und Stärkung des sittlichen Bewußtseins sind das Hauptziel, nach welchem Diercks in seiner Arbeit mit Erfolg gestrebt hat, und schon aus diesem Grunde, wenn aus keinem andern, war es angezeigt, an dieser Stelle auf sein Buch hinzuweisen.