Eine Eisenbahn über ein zugefrorenes Meer

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Textdaten
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Autor: Leon Alexandrowitsch
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Titel: Eine Eisenbahn über ein zugefrorenes Meer
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 183
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[183] Eine Eisenbahn über ein zugefrorenes Meer. Aus St. Petersburg schreibt man uns soeben (Ende Februar): „Was bisher hier Niemand für möglich gehalten, ist vor einigen Tagen in’s Werk gesetzt worden, eine Eisenbahnverbindung zwischen dem mitten im Meere gelegenen Kronstadt und dem Festlande über die zugefrorene Ostsee hinweg. Ueber den Zweck dieser anscheinend so gefährlichen Bahn in Kürze Folgendes. Da der Hafen von Petersburg, das heißt die Newa, bedeutend früher zufriert, als die Ostsee um Kronstadt herum, so bleibt an letzterem Orte alljährlich eine bedeutende Menge Waaren zurück, in diesem Jahre z. B. über 1,6 Millionen metrische Centner, die nicht mehr bis Petersburg gelangen können und entweder die Ankunft des Frühjahrs abwarten, oder auf Schlitten über das Meer nach der Hauptstadt geschafft werden müssen, ein weiter, kostspieliger, mitunter gefährlicher Weg, wie wir später sehen werden.

Um diesem Uebelstande zu begegnen, hatte sich bereits vor längerer Zeit ein Consortium unter dem Vorsitz eines Grafen Rottermund und eines Herrn Virchaux gebildet, um, sobald die Ostsee genügend stark zugefroren sein würde, die sechseinhalb Kilometer lange Strecke Kronstadt–Oranienbaum mit einer Eisenbahn zu versehen, sodaß dadurch eine directe Verbindung des Kronstädter Hafens mit Petersburg erzielt würde. Die Regierung weigerte sich anfangs, der anscheinenden Gefahr wegen, die Genehmigung zu ertheilen, bis eine von ihr eingesetzte Commission erklärte, daß eine Gefahr absolut nicht vorhanden sei. Die Bahn wurde daher erst vor wenigen Tagen, am 13. Februar n. St. eröffnet und kostete ihre Herstellung 30,000 Rubel, doch hofft die Gesellschaft, bereits in diesem Jahre, in welchem ihr doch höchstens sechs Wochen Fahrzeit bleiben, das heißt bis Ende März, auf ihre Kosten zu kommen.

Die Herstellung der Bahn erforderte nur kurze Zeit. Gleich bei der Station Oranienbaum zweigt sie sich ab, läuft erst eine Strecke über das Festland hin und steigt dann über Brücken zum Meere hinab. Auf dem Lande sind die Schwellen wie gewöhnlich beim Eisenbahnbau gelegt, auf dem Eise jedoch einige Veränderungen vorgenommen worden: sie sind hier direct in den Schnee gelegt, der durch Ueberschwemmungswasser zu Eis geworden ist, und vertritt dieser den Sand, die Erde und die Steine, in denen auf dem Festlande die Schwellen ihre Festigkeit finden. Letztere sind meist von der Länge und Stärke gewöhnlicher Eisenbahnschwellen, an manchen Stellen aber und zwar da, wo das Eis dünner ist oder sich Spalten gebildet haben, bis zu vier Meter lang. In einiger Entfernung sind zu beiden Seiten der Bahn durch Tannenbäumchen Schutzwälle gegen Schneewehen hergestellt, und auf der, wie bereits erwähnt, fast eine deutsche Meile langen Strecke fünf Anhaltspunkte, an denen Wärterhäuschen erbaut sind, angelegt worden.

Die Bahn führt bis zum Kronstädter Hafen, vor dessen Damm in einer Entfernung von 10 Meter sie endet, nachdem sie vorher einen Zweig in der Richtung nach Kronstadt, woselbst sich die hauptsächlichsten Waarenmagazine befinden, hinausgeschickt hat. An diesem Zweige sind vier Plattformen, am Ende der Hauptbahn fünf erbaut, die in der Höhe der Waggondiele liegen und es ermöglichen, die auf Schlitten herangeführten Waaren ohne weitere Hindernisse zu verladen. An jeder der Plattformen haben zwei Waggons Platz. Hart am Hafen ist ein größeres Häuschen erbaut, welches als Comptoir dient, während im Hafen ein ähnliches errichtet ist für die Zollbeamten, welche die direct aus den Schiffen in die Waggons überzuladenden Waaren zu verzollen haben. An einigen Stellen des Bahnkörpers, da, wo größere Eisspalten vorkamen oder das Eis tiefe Ausbuchtungen zeigte, sind Holzunterbaue hergestellt, auf denen die Schwellen befestigt sind. Die Waggons werden von einer Locomotive gezogen, und vier bis fünf Waggons bilden einen Zug.

Außer den Güterzügen fahren aber noch sehr viele Personenzüge auf dieser Strecke; denn die Zahl der Neugierigen, welche diese merkwürdige Bahn kennen lernen wollen, ist sehr groß. Gar Mancher aber, der besonders zu diesem Zwecke nach Oranienbaum fuhr, wird in seinem Entschlusse wankend, wenn er die breite Meeresfläche vor sich liegen sieht, über welche er herüber muß, und besonders wenn er die in das starke Eis gehauenen Löcher betrachtet, welche in einiger Entfernung zu beiden Seiten der Bahn angebracht sind und an deren Munde die Fluthen der Ostsee donnernd anschlagen. Es zieht dann wohl Einer oder der andere vor, nach denn sicheren Petersburg zurückzukehren; auch ist es nicht selten, daß einen Passagier, der bereits eingestiegen ist, in dem Augenblicke der Muth verläßt, wenn der Zug langsam sich vom Festlande auf das Meer begiebt, und er dann eilig, zum Amüsement der übrigen Mitreisenden, zum Coupé herausspringt. Meiner Ansicht nach hat auch die Fahrt nichts besonders Furchterweckendes, namentlich wenn die Coupéfenster geschlossen sind; sind letztere geöffnet, so hört man, zumal wenn man den Kopf herausstreckt, das fortwährende Krachen und Knistern des Eises und unter sich das dumpfe Geräusch, welches ein Zug verursacht, der über eine Brücke fährt. Das klingt für mit schwachen Nerven Begabte nicht angenehm.

Viel gefährlicher ist meines Erachtens die bisherige Verbindung zwischen der Hauptstadt und Kronstadt, die Fahrt zu Schlitten über das Meer, eine Strecke von fast vier deutschen Meilen. Am Tage oder bei hellen, ruhigen Nächten ist auch hier nichts zu fürchten; geradezu schaurig ist dagegen die Fahrt bei Dunkelheit und starkem Sturm. Letzterer fegt dann mit aller Gewalt über die ungeheure Ebene hinüber; die an den zahlreichen Wärterhäuschen, welche die Fahrstraße bezeichnen, angebrachten Laternen halten ihm natürlich nicht Stand, und es werden dann fortwährend hängende, sehr scharf tönende Glocken geläutet, um den Reisenden den Weg zu zeigen. Oefters aber kommt es vor, daß dieser vollständig vom Schnee verweht und der Sturm so stark ist, daß man die Glocken nicht mehr hört; dann ist die Fahrt sehr gefährlich; denn der Kutscher kann sich leicht verirren und an eine offene Stelle kommen. So mancher Reisende hat auf solcher Fahrt seinen Tod gefunden.

Leon Alexandrowitsch.