Zuruf (Lenau)

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Autor: Nikolaus Lenau
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Titel: Zuruf
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aus: Nicolaus Lenau’s dichterischer Nachlaß, Seite 98–100
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Erscheinungsdatum: 1858
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Erscheinungsort: Stuttgart und Augsburg
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[98]

Zuruf.

Die Keuschen, Sittigstrengen, Tugendfrommen
Sind lahm und lau, wenn’s gilt den Strauß zu fechten,
Wenn ihr Panier ins Blutgedräng gekommen;
Doch Helden sind die sogenannten Schlechten.

5
Der Fromme mit dem steifen Gottvertrauen

Verwächst und seine Klinge mit der Scheide:
„Der starke Gott wird selber durch sich hauen,
Er will es, daß sein Knecht hienieden leide.“

„Laßt nur die Taumler ins Verderben rennen;

10
Ihr seht sie heut frohlocken, morgen modern;

Wie Branntweintrunkne schmählich selbstverbrennen,
Muß jede Schuld in ihrem Rausch verlodern.“

[99]

Doch solchem Ruf gebührt zur Antwort solches:
O feige Gottesknechtschaft! Kettenhunde!

15
Ein stumpfes Amen statt des scharfen Dolches?

Spürt euer kalter Brand nicht mehr die Wunde?

Der Römler wird am Sacrament nicht irre,
Wenn sündhaft lebt der Priester der Gemeine,
Weil Gnade nicht gerinnt im Schmutzgeschirre,

20
Die Hostie schmutzt ja nicht, die ewig reine!


O lernt vom Römler Weisheit, fromme Zager!
Ist mancher Streiter auch nicht rein des Schmutzes,
Ist rein doch das Panier im Freiheitslager,
Und wahr das Herz des ungeschlachten Trutzes.

25
Im Strauchgewirr von Glauben, Recht und Sitte

Ein Ungeheuer liegt in Schlangenringen;
Trat Mancher drauf mit unversehnem Tritte,
Und schrie entsetzt, kann das melodisch klingen?

Ein kaltes, plumpes, blödes Ungeheuer,

30
Das Herzen frißt und saugt Gehirne trocken,

Das ewig wälzt, ein träger Wiederkäuer,
Des Elends mittelalterliche Brocken.

[100]

Harpunen in die Schuppen starrer Satzung!
Und Dolche nach, die Menschheit zu erlösen!

35
Kein blutend Herz dem Unthier mehr zur Atzung!

Messias Zorn! o komm, erschlag den Bösen!

Dein Tod am Kreuz, o Christus, ist verloren,
Wenn du nicht wieder kommst für unsre Nöthen,
Prophet, hat uns das Völkerleid geschworen,

40
Messias, daß du diesmal kommst zu tödten.


Sie fingen auf das Blut von deinen Hüften,
Die Welt zu tränken mit gefälschter Schale,
Die Welt damit zur Feigheit zu vergiften,
Sie krankt vom Opium in deinem Grale.

45
Darum ans Kreuz dir jetzt die Knaben rücken,

Sie klettern drauf, um deine Dornenkrone
Wie’s Vogelnest im Lenz vom Baum zu pflücken,
Und wer das Kreuz verehrt, verfällt dem Hohne.

Drum Männer scharf dein Kreuz beschossen haben

50
Mit eisigen Verstandes Hagelwettern;

Und Grübler nach des Kreuzes Wurzel graben,
Daß sie es schier umwerfen, schier zerschmettern.