Zutraulich
[920] Zutraulich. (Mit Illustration auf S. 909.) Ein Rokoko-Idyll – sagen wir: aus der Werther-Zeit. Aus der Zeit des jungen Goethe, wo es so viele Lotten gab wie heut Elsen. Der Sommerhimmel blaut, das Korn duftet, und die bunten Falter fliegen: das ist der Hintergrund für das Idyll. Und auf diesem Grunde eine „Lotte“, höchstens achtzehnjährig, ein Körbchen voll Rosen am Arm – ein Geschöpf, welchem kein Schmetterling Bedenken tragen darf, völlig zu vertrauen. Da sitzt die schillernde Psyche auf dem lichten Mädchenfinger, der so fein glitzert in der Hitze des Sommertags und so warmduftig ausströmt: ein Sitz wie in einem Blumenkelche. Die Wahrheit zu sagen: ein Schmetterling hat immer Durst, und unsere Psyche nippt ein Perlchen Schweiß von diesem Finger so gut wie den Honigtropfen aus einer Rose. Aber man denkt nicht so prosaisch, wenn man ein achtzehnjähriges Mädchen ist, dem ein Schmetterling auf den Finger flog. Man sagt nur in Gedanken: „Wie reizend!“ und „Still!“ Lange währt die Freude nicht – man muß alles thun, um sie voll zu genießen; im Umsehen huscht sie davon – ein Schmetterling.