Zwei Affen-Menschen

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Autor: Dr. Louis Büchner
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Titel: Zwei Affen-Menschen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 696–698
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[696]
Zwei Affen-Menschen.
Von Dr. Louis Büchner.

Es wird in diesem Augenblicke in Darmstadt öffentlich ein lebendes Kind gezeigt, welches den Typus oder die allgemeine Bildung der neuerdings von Karl Vogt als „Affenmenschen“ bezeichneten menschlichen Mikrocephalen oder Kleinköpfe in einem außerordentlich hohen Grade an sich trägt. Daß die Verkümmerung oder mangelhafte Entwicklung des wichtigsten aller Organe, welche der Mensch besitzt, des Gehirns, den tiefgehendsten Einfluß auf dessen ganzes körperliches und geistiges Wesen ausüben könne und müsse, ist ein Satz, den uns wahrscheinlich die meisten Menschen, ob gelehrt oder ungelehrt, ohne langes Besinnen zugeben werden. Ist doch das Gehirn nicht blos ein für das Leben selbst so wichtiges Organ, daß Kinder, welche ohne dasselbe oder mit einem sogenannten Rudiment desselben zur Welt kommen (sogenannte Acephalen oder Kopflose), ihr Leben nach der Geburt gar nicht fortzusetzen im Stande sind – sondern ist es auch weiter gerade dasjenige Organ, welches durch seine verhältnißmäßig starke Entwicklung und hohe Ausbildung das eigentliche Uebergewicht des Menschen über das Thier (neben seinen übrigen Vorzügen) bedingt, oder welches den Menschen erst zu dem macht, was er in Wirklichkeit ist – zum gebornen Herrscher der Schöpfung! Es ist daher nicht sehr zu verwundern, daß man jene traurigen Geschöpfe, welchen das eigentliche Attribut oder [697] Erforderniß des Menschenthums mehr oder weniger fehlt, mit dem Namen der „Affenmenschen“ belegt hat, und zwar dieses um so mehr als sie nicht blos in der Bildung und Entwicklung ihres Schädels und dessen knöcherner Zuthaten, sondern auch in ihrem ganzen Wesen, in ihrem Benehmen, ihren Manieren etc. so Manches an sich haben, das an unsern nächsten Verwandten im Thierreich, an den Affen, erinnert.

Freilich darf man deshalb nicht, wie Herr Albrecht Schumann in Dresden (siehe dessen „Die Affenmenschen Karl Vogt’s“, Leipzig, 1868), glauben, daß diese Geschöpfe nun auch wirkliche Affen seien oder sein müßten; es sind, wie Herr Schumann ganz richtig bemerkt, kranke, mißbildete oder in ihrer natürlichen Entwicklung gehemmte Menschen, welche jedoch dadurch, daß sie auf einer solchen niedrigen Stufe menschlicher Entwicklung stehen bleiben, Charaktere entwickeln, welche in vielfacher Hinsicht an die thierische Abstammung des Menschengeschlechts, an unsere frühesten Ur- oder Eltern-Väter erinnern. Vogt hat diese merkwürdige Erscheinung aus dem sogenannten Atavismus (Ahnenbildung) oder aus der bekannten Erfahrung zu erklären gesucht, daß beinahe alle lebenden Wesen die merkwürdige Neigung zeigen, bisweilen in einzelnen der von ihnen erzeugten Nachkommen solche Kennzeichen oder Eigenthümlichkeiten zu entwickeln, welche ihren frühesten Eltern oder Urahnen, die vielleicht schon seit vielen Jahrtausenden in sogenanntem fossilem Zustande in den Tiefen der Erde begraben liegen, eigen waren. Es ist gewissermaßen ein Verrath, den die Natur an sich selbst begeht, oder auch ein Sichselbstvergessen in Erinnerung an vergangene Zeiten. Oder – um es mehr wissenschaftlich auszudrücken – die Lebensbewegung, welche einer bestimmten Form seit Jahrtausenden innewohnt und sie drängt, sich stets wieder in ihren Nachkommen in gleicher Weise zu wiederholen, ist so stark, daß selbst in solchen Fällen, wo jene Form durch den Einfluß der Zeit und geänderter Umstände längst eine andere geworden ist, sie sich mitunter in den entferntesten Nachkommen kraft ihrer ursprünglichen Zähigkeit geltend macht und gelegentlich einen sogenannten Rückschlag in die ursprüngliche Form oder Lebensbewegung bewirkt. In geringerem Grade sind wir im Stande, die Erscheinungen des Atavismus oder Rückschlags beinahe alltäglich bei uns und in unseren eigenen Familien zu beobachten. Denn wie häufig kommt es vor, daß einzelne Kinder einer Familie ohne irgend nachweisbare direkte Ursache körperliche oder geistige Eigenthümlichkeiten oder noch häufiger Krankheitsanlagen entwickeln, welche in der Familie selbst nicht heimisch sind, welche aber bei genauerer Nachforschung sich als solche herausstellen, die bei den Groß- oder Urgroßeltern oder aber bei einem älteren und entfernteren Seitenzweig der Familie vorhanden waren.[1]

Von den Gesetzen dieses Atavismus oder Rückschlags ausgehend hat nun Vogt die Theorie aufgestellt, daß die menschlichen Mikrocephalen oder Kleinköpfe eine Art von Rückschlag nach dem Typus oder nach der Bildung jenes gemeinsamen und vorweltlichen, aber längst ausgestorbenen affenähnlichen Stammvaters darstellten, von welchem aller Wahrscheinlichkeit nach der heutige Affen- sowie der Menschentypus als zwei auseinandergehende Zweige desselben ursprünglichen Stammes in grauer Vorzeit sich entwickelt haben müssen. Dieser Theorie hat Karl Vogt auch in einem populären Aufsatz, der in Nr. 13 dieser Zeitschrift vom Jahre 1868 enthalten ist, Ausdruck gegeben und als Beispiel dafür eine Beschreibung und Abbildung des in einem Alexianerstift am Rhein befindlichen erwachsenen Mikrocephalen Emil N. gegeben. –

Ich will nun an dieser Stelle nicht untersuchen, ob jene Vogt’sche Theorie, welche Manches für, aber auch Manches gegen sich hat, richtig ist oder nicht, sondern überlasse es dem schon erwähnten Herrn Schumann, mit seinen geistreichen X-Y-Untersuchungen gegen Herrn Vogt und gegen die Materialisten überhaupt zu Felde zu ziehen und den Beweis zu führen, daß eigentlich Alles in der Welt Nichts ist und daß wir kein philosophisches Recht haben zu existiren, weder Herr Vogt, noch die Mikrocephaten, noch er selbst, noch ich, noch die Gartenlaube, noch Herr Keil, der sie gegründet und zum verbreitetsten literarischen Organ der Welt erhoben hat, noch die vielen Leser derselben etc. etc., sowie daß wir in Allem, was wir erkennen, eigentlich nur Täuschungen oder Vorspiegelungen unserer Sinne vor uns haben. Aber sollte auch die Vogt’sche Theorie unrichtig sein, so würde doch dadurch das Interesse an jenen beiden Kindern, welche ich hier beschreiben will, nicht im Mindesten beeinträchtigt werden, da sie auch ohne jede atavistische Bedeutung in ihrer thierischen Vernachlässigung und Hülflosigkeit einen wahrhaft niederschmetternden Beweis gegen alle nichtmaterialistischen oder – ich sage vorsichtiger – gegen alle nichtphysiologischen Betrachtungsweisen des menschlichen Seelenlebens bilden.

Wer einmal jene traurigen Geschöpfe gesehen und beobachtet hat, kann, auch wenn er sonst gar keine physiologischen Kenntnisse besitzen sollte, unmöglich mehr an die Versicherungen der sogenannten Spiritualisten unter den Philosophen glauben, daß der Geist oder die Seele des Menschen etwas für sich Bestehendes, vom Körper mehr oder weniger unabhängiges oder gar demselben Entgegengesetztes sein solle. Zwar bedarf die Wissenschaft selbst solcher gewissermaßen roher oder handgreiflicher Hülfen oder Beweise nicht, da ihr zahllose anderweitige Erfahrungen und Beweismittel zu Gebote stehen, welche die Wahrheit längst bei ihr so festgestellt haben, daß sie in derartigen Vorkommnissen nur gelegentliche und erneute oder gar nicht anders zu erwartende Bestätigungen ihrer längst aufgestellten Sätze erblickt. Dagegen für den Laien ist die Unmittelbarkeit eines solchen Beweismittels um so werthvoller, weil bei ihm keine noch so treffliche theoretische Begründung oder Auseinandersetzung jenen unverlöschlichen Eindruck zu erzeugen vermag, den der eigene Augenschein oder auch nur die Erzählung eines solchen hervorzurufen pflegt; darum diese Mittheilung.

Helene Becker von Offenbach (eine Stunde von Frankfurt am Main) ist ein Kind im Alter von nunmehr sechseinhalb Jahren und von dreieinhalb Fuß Größe. Ihr Kopf oder Köpfchen, dessen eigentlicher Schädeltheil ungefähr die Größe einer starken Mannesfaust hat, besitzt (über den Haaren gemessen) einen Umfang von dreizehneinhalb Zoll (rheinisch), während eine quer über den Kopf herüber von einem Ohr zum andern gezogene Schnur eine Länge von sechseinhalb Zoll, und eine desgleichen der Länge nach von der Nasenwurzel zum Rande der Hinterhauptsschuppe über den Scheitel hinweg angelegte eine Länge von achtdreiviertel Zoll zeigt. Zum Vergleiche damit führe ich an, daß mein jüngstes, geistesgesundes Söhnchen Wilhelm, welches nur drei Jahre alt ist, einen Kopfumfang von zwanzigeinviertel Zoll hat und daß das Quermaß bei ihm eine Länge von zwölfeinhalb, das Längenmaß aber eine solche von vierzehn Zoll besitzt – also beinahe das doppelte in allen Verhältnissen. Am stärksten überwiegt das Quermaß; und dem entspricht auch die flache, von den Seiten zusammengedrückte, etwas dachförmige Gestalt des Schädels des Idiotenkindes. Von einer Stirne ist so gut wie gar nichts vorhanden, sie ist so flach, schmal und zurückfliehend, daß man ihrer unter den Haaren kaum gewahr wird. Dagegen ist der obere Augenhöhlenrand in thierischer Art und Weise etwas hervortretend, und sogleich unter demselben schließt sich die lange, gebogene und spitz zulaufende Nase an, in einer Linie mit der Stirnoberfläche verlaufend. Dieses, sowie das fehlende oder sehr zurücktretende Kinn und die schiefstehenden Zähne, giebt dem ganzen Gesicht einen eigenthümlichen, vogelartigen Ausdruck und erinnert sehr lebhaft an die vor Jahren in Europa gezeigten und auch in der Gartenlaube abgebildeten Aztekenkinder. Der ganze Typus pflegt daher auch als Aztekentypus bezeichnet zu werden. Uebrigens ist das Gehirn selbst wahrscheinlich noch kleiner, als es sich nach den obigen Maßen voraussehen läßt, da man allen Grund hat anzunehmen, daß die knöchernen Schädelwände ansehnlich verdickt sind.

Diesem enormen Gehirnmangel entsprechend steht das armselige Geschöpf nicht auf der Stufe des Thieres, sondern noch weit unter dem Thiere, welches Letztere trotz seiner verhaltnißmäßig ebenfalls geringen Gehirnentwickelung doch diejenigen Bedürfnisse und Fähigkeiten, welche ihm vermöge seiner ganzen Organisation und seiner besonderen Stellung in der Gesammtnatur zukommen, oft bis zu einem erstaunlichen Grade zu entwickeln und zu befriedigen lernt. Dem gegenüber ist das mikrocephale Menschenkind nicht im Stande, auch nur für das kleinste seiner Bedürfnisse zu sorgen, und ein vollständig unnützes Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Es kann nicht gehen, nicht stehen, nicht sprechen, nichts erfassen, nichts festhalten; und seine fortwährenden unruhigen und affenartigen Bewegungen, sein stetes Hin- und Herschleudern des Kopfes und Körpers beruhen nur auf einer krankhaften Steigerung der sogenannten Reflex- oder unwillkürlichen Muskelthätigkeit, [698] welche sich überall da in übermäßig gesteigerter Weise geltend macht, wo der beherrschende und beruhigende Einfluß des Gehirns aufgehoben oder beeinträchtigt ist. In ähnlicher Weise ist die Reflexthätigkeit in den Muskeln eines decapitirten oder enthirnten Frosches derart gesteigert, daß schon eine mäßige Erschütterung des Tisches, auf dem er liegt, ihn zu Zuckungen veranlaßt.

Die stete Unruhe und Ungeberdigkeit der Helene Becker und ihre Empfindlichkeit gegen jedes Anfassen sind so bedeutend, daß es mir sehr schwierig wurde, die Maße ihres Kopfes zu nehmen, und diese Unruhe drückt sich auch in dem auffallenden Mangel an Schlaf aus. Das Kind schläft fast gar nicht, wenigstens nie in dauernder Weise, und das geringste Geräusch weckt es wieder auf. Dieses, sowie der Umstand, daß es Alles unter sich gehen läßt, und daß es künstlich ebenso gefüttert werden muß, wie ein einjähriges Kind, macht die Pflege für ihre Elteru zu einer sehr schwierigen. Trotz dieser Pflege jedoch ernährt sich der Körper schlecht, die Eigenwärme ist gering, Arme und Beine sind mager, fühlen sich kalt an und haben ein blaurothes Ansehen. Die beiden Handwurzelgelenke zeigen überdem sogenannte rhachitische Auftreibung, die Fußgelenke dagegen nicht.

Die geistige Thätigkeit der Helene Becker kann fast gleich Null angesehen werden. Die Sinne sind zwar thätig, mit Ausnahme des einen erkrankten Auges, aber sie wecken keine Vorstellungen. Der Blick ist stier, geist- und ausdruckslos und kann Nichts fixiren. Nur der Anblick glänzender Gegenstände und das Hören von Musik, für welche letztere die Helene Becker sehr empfindlich ist, wecken ihre Aufmerksamkeit. Sie lacht nicht, schreit aber und stößt statt der Sprachlaute unarticulirte, thierische Töne hervor.

Da die Helene Becker in größeren Städten öffentlich gezeigt wird (wobei nur zu bedauern ist, daß durch marktschreierische Ankündigungen bei vielen Menschen der Glaube erweckt wird, es handle sich um ordinären Schwindel), so werden die meisten Leser der Gartenlaube Gelegenheit haben, sich durch Augenschein von ihrem Zustande zu überzeugen. Anders verhält es sich mit einem zweiten Kinde ähnlicher Art, welches vor drei Jahren in einer hiesigen Familie geboren wurde, und welches ich Gelegenheit hatte, vom Tage seiner Geburt an bis heute fortdauernd zu beobachten. Zwar ist Sophie L… nicht in so eminentem Grade mikrocephal oder kleinköpfig, wie Helene Becker. Der Umfang ihres Kopfes beträgt sechszehn drei Viertel Zoll, das Längsmaß zehn und einen halben Zoll, das Quermaß zehn Zoll – und sie nimmt daher bezüglich ihrer Kopfgröße beinahe die Mitte zwischen der Helene Becker und meinem Söhnchen Wilhelm, dessen Kopfmaße ich vorhin anführte, ein. Auch ist ihre Stirn bei Weitem nicht so klein und zurückfliehend. Dagegen ist ihr Hinterhaupt sehr abgeflacht, und der Schädel ist, wie bei der Helene Becker, von der Mitte nach beiden Seiten abfallend oder in geringem Grade dachförmig. Als das Kind zur Welt kam, war die Kleinheit seines Kopfes wenig auffallend, und man konnte noch nicht vollständig ahnen, was sein späteres Schicksal sein werde. Auffallend war uns, daß die sogenannten Fontanellen oder die offenen Stellen in der knöchernen Schädelkapsel, welche bei gesunden Neugeborenen nie fehlen, geschlossen waren. (Auch die Helene Becker kam mit geschlossenen Fontanellen zur Welt.) Je älter jedoch das Kind wurde, und je mehr sein Wachsthum zunahm, um so deutlicher erschien das Mißverhältniß seines Kopfes zur Größe seines Körpers, indem letzterer zunahm, der Kopf aber nicht. Es besteht ein beinahe absoluter Stillstand im Wachsthum der Schädelkapsel. Ein Hütchen, das die Eltern dem Kinde vor nun anderthalb Jahren kauften, paßt heute noch vollständig; und sogar ein solches, welches dasselbe als vierteljähriges Kind trug, kann ihm zur Noth heute noch aufgesetzt werden. Dieses Fehlen des Wachsthums der Schädelkapsel besteht auch bei der Helene Becker. Wenigstens behaupten die Eltern, daß der Kopf derselben seit der Geburt gar nicht gewachsen sei. Ganz richtig mag dieses indessen nicht sein. Wenigstens betrug eine Messung des Kopfumfanges, welche Professor Schaafhausen vor nun beinahe drei Jahren bei der Helene Becker vornahm, einen Zoll weniger, als die meinige.

Nach Aussage der Eltern der Sophie L… soll sich das Kind bis zum vierten Monat entwickelt haben, von da aber in seiner Entwickelung stehen geblieben sein. Eine sehr gute Entwickelung zeigt das Zahnsystem der Sophie L…, namentlich bezüglich der Eckzähne, welche stark und über die übrige Zahnreihe etwas emporstehend sind, dagegen ist von sogenannter Schiefzähnigkeit nichts zu bemerken.

Einen sehr bedeutenden Unterschied in der Gesichtsbildung der Sophie L… im Vergleich mit der Helene Becker macht neben der mehr vortretenden Stirn und der nicht so sehr hervorstehenden Nase das ziemlich gut entwickelte Kinn, welches ja bekanntlich von Linné neben dem aufrechten Gang als das eigentliche Charakteristicum der Menschlichkeit oder als Hauptunterscheidungs-Merkmal zwischen Mensch und Thier bezeichnet worden ist. Daher macht auch die allgemeine Form des Gesichtes der Sophie L… nicht jenen überaus thierähnlichen oder vogelartigen Eindruck, wie bei der Helene Becker, trotz der sonstigen großen Aehnlichkeit der beiden Physiognomieen. Namentlich hat das Auge der Sophie L… fast ganz denselben leeren, geistlosen Ausdruck, wenn es auch freundlicher erscheint. Auch verzieht sie das Gesicht zum Lächeln, wenn sie angenehm erregt wird, was durch Zurufen, Vorhalten glänzender Gegenstände oder Musik geschehen kann. Dagegen steht sie in beinahe allen anderen Beziehungen fast ganz auf der Stufe des Becker’schen Kindes, wobei allerdings auch der Unterschied des Alters in Rechnung zu bringen ist. Sie kann nicht stehen, nicht gehen, nicht allein essen oder trinken, Nichts mit den Händen ergreifen oder festhalten, nicht sprechen, ihre Bedürfnisse nicht anhalten etc. Sie kann nur schreien und unnatürliche Laute ausstoßen, ist wenig empfindlich gegen Schmerz, aber sehr zum Zorn geneigt, und von einer großen Sucht zum Beißen beseelt. Ihre Beine und Arme sind schwach, mager, schlecht ausgebildet, aber ohne Spur von Rhachitis, fühlen sich immer kalt an und zeigen eine blaurothe Färbung. Ihr Schlaf ist schlecht und kurz und muß meist durch Opium erzwungen werden; sie wacht sehr leicht auf. Die Sinne sind gut; sie hört und sieht deutlich; aber von einer durch dieselben erweckten geistigen Thätigkeit ist beinahe Nichts zu bemerken.

Das Kind macht sehr viel häusliche Pflege nöthig und wird wohl in einer Anstalt untergebracht werden. Es hat ein anderthalb bis zwei Jahre altes Schwesterchen, welches ganz gesund und körperlich, wie geistig durchans gut entwickelt ist.

Offenbar gehören beide Kinder, die Sophie L…, wie die Helene Becker, ganz in eine und dieselbe Kategorie der Mikrocephalie oder Kleinköpfigkeit, und unterscheiden sich nur dem Grade nach. An Kindern wie die Sophie L… oder mit noch geringer entwickeltem Kleinkopf wird es wohl in keiner Stadt oder Gegend fehlen, während die Helene Becker gewiß zu den sehr seltenen Exemplaren ihrer Gattung zählt.

Es kann nicht Sache der Gartenlaube sein, über die Entstehungsweise dieser traurigen Abnormität des Menschengeschlechtes sich weiter zu verbreiten; Professor Virchow spricht sich entgegen einer Aeußerung des Prof. Schaafhausen von Bonn dahin aus (19. Juni 1867), daß, obgleich er nicht zweifle, daß Synostosen oder Verwachsungen der Schädelnähte vorhanden seien, ihm doch eine ursprüngliche Mangelhaftigkeit in der Gehirnentwicklung vorzuliegen scheine. Damit nähert sich Virchow’s Gutachten der Vogt’schen Theorie; denn die Annahme einer ursprünglichen Mangelhaftigkeit in der Gehörentwickelung oder die Annahme einer sogenannten Bildungshemmung ist nothwendig, wenn man die Kinder als Beispiele für die im Eingang des Aufsatzes beschriebene atavistische oder „Ahnenbildung“ gelten lassen will. Mag sich indessen dieses verhalten, wie es wolle, so glaube ich jedenfalls annehmen zu dürfen, daß die Leser der Gartenlaube vorstehenden Bericht nicht ohne einiges Interesse und ohne einige Belehrung über die merkwürdigen und in ihrem inneren Wesen bis jetzt noch so räthselhaften Zusammenhänge zwischen dem menschlichen Denk- und Seelenvermögen und seinem nothwendigen materiellen Organ, dem Gehirn, gelesen haben werden!



  1. Das Nähere hierüber, sowie über die Gesetze der Vererbung und Erblichkeit überhaupt bittet der Verfasser in seinem Buche „Aus Natur und Wissenschaft“ (zweite Auflage, Leipzig, 1869) und zwar auf Seite 359 in dem Aufsatze „Physiologische Erbschaften“ nachsehen zu wollen.