Zwei Sommergeschichten

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Textdaten
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Autor: Karl Wartenburg
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Titel: Zwei Sommergeschichten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 348–350
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[348]

Zwei Sommergeschichten.
Von Karl Wartenburg.
1. Die Oesterreicher in Leipzig.


War das ein heißer Sommer, der von 1849! Es war gut, daß der Professor Albrecht in Leipzig, Einer der Göttinger Sieben, seine Vorlesung über deutsches Staatsrecht in dem schattigen Auditorium des Kirchenflügels des Augusteums in den kühlen Vormittagsstunden hielt, wer hätte sonst im Sommer 1849 ein Colleg über deutsches Staatsrecht hören sollen? In Dresden, in der Pfalz und in Baden war soeben das neueste deutsche Staatsrecht, die deutsche Reichsverfassung, durch das Kanonenrecht antiquirt worden und in dem deutschen Kaiserstaat, wie sich die österreichisch-habsburgische Monarchie unbefugter Weise so gern nannte, regierte seit dem October 1848 das Standrecht. Fürst Windischgrätz, Haynau, der Feldzeugmeister von Welden, Gouverneur von Wien, übten eine sehr summarische Justiz aus, bei welcher der Strick und Pulver und Blei die Hauptrolle spielten.

Eine derartige Rechtspflege ist nicht nach Jedermanns Geschmack, und besonders die österreichischen Demokraten hatten alle Ursache, sich vor der geringsten Berührung mit dieser Corporaljustiz in Acht zu nehmen. So reizend die schöne blaue Donau und die Prager Moldau auch sind, an den flachen Ufern der Pleiße und Elster in Leipzig ließ sich wenigstens sicherer leben. Wie Coblenz in der großen Revolution von 1789 der Zufluchtsort der französischen Adligen und Königlichen, so war Leipzig 1848 und 1849 die gastliche Herberge der österreichischen Demokratie geworden.

Wiener Studenten, ehemalige akademische Legionäre, Nationalgarden-Officiere, ausgetretene kaiserliche Officiere, demokratische Zeitungsschreiber, Parteiführer aller slavischen Nationalitäten der habsburgischen Monarchie fand man zu jener Zeit in den Leipziger Restaurationen und Kaffeehäusern, wo man sie, wenn nicht an ihrer mehr oder minder eigenthümlichen Tracht, an ihrer Aussprache erkannte.

Besondere Gastfreundschaft fanden diese Flüchtlinge aus Oesterreich bei dem freisinnigen Theile der Studentenschaft und bei vielen Leipziger Buchhändlern, die den literarisch Gebildeten unter jenen auch Erwerbsquellen verschafften. Es lag unendlich viel deutsche Gutmüthigkeit und Unbefangenheit in dieser Gastfreundschaft. Man frug Niemanden nach seinem Glaubensbekenntniß, es genügte, daß er politischer Flüchtling war; und ob Deutscher, Pole oder Czeche – das war ganz gleichgültig. Die Jugend schwärmte damals wenigstens noch für den Völkerfrühling und die allgemeine Verbrüderung aller Nationen, von der im Februar 1848 Alphons von Lamartine vom Pariser Stadthause aus phantasirt hatte. So frug man damals in Leipzig auch nicht, ob der Flüchtling aus Oesterreich ein guter Deutscher oder ein fanatischer Böhme war, der von der Wiederaufrichtung des Reichs der Wenzelskrone und von den Siegen der Hussiten, der Prokope und des Ziska träumte. Man hielt Jeden, der das Vaterland hatte verlassen müssen, für einen Freund der Freiheit, Jeden, der zum Schießen commandirte gegen das Volk, für einen Verräther und Todfeind. So erinnere ich mich noch lebhaft der Empörung, die damals unter uns achtzehn- bis zwanzigjährigen jungen Köpfen eine Adresse hervorrief, die, wenn ich nicht ganz irre, von einem Leipziger Professor ausgegangen und an den Fürsten Windischgrätz gerichtet war. Es war eine Dankadresse für Niederwerfung des Czechen-Aufstandes in den Pfingsttagen von 1848. Die Adresse lag in den besuchtesten Kaffeehäusern aus, aber obgleich damals ein wirkliches Adressenfieber herrschte, so glaube ich nicht, daß diese von der studentischen Jugend Leipzigs zwanzig Unterschriften erhalten hat. Und doch würden die Czechen nicht viel Federlesens mit den Deutschen Böhmens gemacht haben, wenn sie damals gesiegt hätten.

Indessen solche Betrachtungen hegte man zu jener Zeit nicht und am allerwenigsten dachte ich an diesen czechischen Deutschenhaß, als mich eines Tages, eben, als ich aus einem Colleg des Professors Albrecht über deutsches Staatsrecht kam, ein Bekannter, ein flüchtiger Wiener Student der Medicin, ehemaliger Legionär, der nach der Octoberrevolution sich nach Leipzig gerettet hatte, im Barfußgäßchen mit einem Professor Arnold aus Prag bekannt machte. Wie es bei so manchen Ereignissen im Leben der Fall ist, daß man sich der Hauptsache nicht erinnert, wohl aber der Nebenumstände, so geht es mir auch mit dieser Begegnung und mit meiner ganzen sonstigen Bekanntschaft mit dem czechischen Prager Professor. Ich weiß nur noch, daß es ein heißer Sommervormittag war und daß ich dann mit ein paar Commilitonen in die damals sehr bekannte Zill’sche Restauration zum Tunnel ging, in deren Nähe wir standen. Wir plauderten dabei über Allerlei, amüsirten uns köstlich über einen Schauspieler, den die Märzrevolution aus dem Engagement gebracht und zum wüthendsten Demokratenfresser gemacht hatte, und gingen dann auseinander. Doch weiß ich heute weder mehr, worüber wir geplaudert, noch wie der Professor Arnold aussah, auch nicht, wann und wo ich ihn wiedersah. Dunkel ist mir, als ob ich ihn einmal Nachmittags im Rosenthal bei Bonorand getroffen, aber es ist dies nur eine unbestimmte Erinnerung.

Die Ereignisse jenes denkwürdigen Sommers, in welchem Rom fiel und Görgey bei Vilagos capitulirte, Radetzky Carl Albert die Lombardei wieder nahm, Manin aber seinen Heldenkampf in Venedig kämpfte, drängten sich so, daß man in der That nicht Zeit hatte, solche vorübergehende Bekanntschaften festzuhalten; und ich hatte damals auch nicht die geringste Ahnung, daß diese zufällige flüchtige Begegnung im Barfußgäßchen Gegenstand einer kriegsgerichtlichen Untersuchung werden würde.

Monate waren seit jenem Morgen, an dem ich den Professor Arnold im Barfußgäßchen gesehen, vergangen, als ich eines Tages eine Ladung erhielt, vor dem Leipziger Criminalamt zu erscheinen. Dies überraschte mich nicht, da ich, wie so viele meiner Commilitonen, auch in eine politische Untersuchung verwickelt war. Man war damals an die Gänge in das Verhörszimmer auf dem Criminalamt gewöhnt, wie an das Gehen zum Mittagstisch bei dem Restaurateur. Es war die Zeit der Maiprocesse in Sachsen und jener Reactionsperiode, die sich mit unauslöschlichen Zügen in die Tafeln der Geschichte und in das Gedächtniß des deutschen Volkes eingrub, und die so viel zu der Umwälzung beigetragen hat, die sich vom italienischen Kriege 1859 an bis 1866 in Deutschland vollzogen. Doch ich will hier nicht politische Betrachtungen anstellen, sondern nur eine Erinnerung aus jener Zeit wiedergeben.

Man mußte gewöhnlich etwas warten auf dem Criminalamte, bevor man zum Verhör kam, die Herren Assessoren und Actuare hatten vollauf mit der Masse von Hochverräthern zu thun, von denen viele noch die buntfarbige Studentenmütze trugen. Der Aufenthalt in dem Vorzimmer des Criminalamts war nicht angenehm, aber interessant. Das Gebäude, in welchem sich der Sitz der Untersuchungsbehörde befand, war das sogenannte Stockhaus auf dem Naschmarkte, in dessen oberen Räumen die Untersuchungsgefangenen verwahrt wurden. Vor dem Hause und auf der ersten Treppe stand ein Schütze mit gezogenem Hirschfänger Schildwache, während in dem Vorzimmer einige Criminaldiener die Controle führten. Man konnte damals darauf rechnen, in diesem Vorgemach, das düster und schmutzig war, und in dem es beständig nach der Latrine roch, stets eine Anzahl Studenten, Buchhändler, Schriftsteller und auch Männer anderer Berufsclassen zu finden, die in politische Untersuchungen verflochten waren.

An jenem Tage bemerkte ich dort einen jungen Leipziger Verlagsbuchhändler, der damals durch einige demokratische Zeitschriften, deren verantwortlicher Herausgeber er war, rasch zu einer Anzahl Preßprocessen gelangte, die ihn auch später in’s Gefängniß brachten. Ich war einmal auf seinem Comptoir gewesen, um ihm einen Beitrag zu einer Sammlung für die Flüchtlinge in der Schweiz, die er veranstaltet, einzuhändigen.

Von diesem kurzen Besuche datirte sich unsere Bekanntschaft.

Ich frug ihn, was ihn hierher geführt. Er zuckte die Achseln.

„Ich soll als Zeuge vernommen werden – worüber, weiß ich nicht, ich habe durchaus keine Vermuthung. Und Sie?“

Die Reihe des Achselzuckens war an mir. In dem Augenblick trat ein Diener heran und rief den Buchhändler zu seiner Vernehmung durch den Actuar Beyer ab. Das Verhör, welches er zu bestehen hatte, dauerte ziemlich lange. Als er herauskam, blieb mir nur soviel Zeit, um einen flüchtigen Gruß mit ihm zu wechseln, dann mußte ich dem Diener folgen, der mich zu demselben Untersuchungsrichter führte.

[349] Es war ein langes, schmales, düsteres Zimmer, in welchem dieser saß. Obgleich es erst gegen vier Uhr im Monat Februar war, so brannten doch schon die Lampen und warfen ihren matten Schein unter den großen Blechschirmen hervor auf die Bank an der Wand, auf welcher die sogenannten Gerichtsschöppen, lebensmüde Leipziger Schuhmacher und Schneider, saßen und schlaftrunken vor sich hinblickten. Oben am grünen Tische saß der Untersuchungsrichter und neben ihm erblickte ich noch zwei Personen. Der Aeltere, es mochte ein hoher Fünfziger sein, hatte eine Raubvogelphysiognomie und erinnerte mich an einen Bankhalter, den ich in einem Badeort gesehen hatte. In dem Knopfloche trug er ein Ordensbändchen. Der Andere war ein junger, dunkelblonder, etwa dreißigjähriger Mann von angenehmem Aeußeren.

Der Actuar lud mich ein Platz zu nehmen und eröffnete mir unter einigem verlegenen Husten und Räuspern, daß er mir zuvörderst eine Verordnung des königlichen Justizministeriums in Dresden mitzutheilen habe, wonach es den beiden anwesenden Herren, dem kaiserlich königlich österreichischen Kriegsrath und dem kaiserlich königlichen Auditeur X. X. aus Prag – die slavisch klingenden Namen blieben meinem Ohr unverständlich – gestattet sei, dem mit mir anzustellenden Verhöre beizuwohnen.

Nach dem Gerichtsbrauch war das eigentlich nicht statthaft, aber es war dies eine Gefälligkeit, die Herr von Beust, der damals schon die Seele des sächsischen Ministeriums war, dem österreichischen Gouvernement erwies, eine Gefälligkeit in einer Sache, bei der es sich, wie sich später herausstellte, um Leben und Tod eines Menschen handelte.

Ich zerbrach mir noch den Kopf, wo hinaus das Alles wohl gehe, als mich der Actuar frug, was ich mit dem Professor Arnold an jenem Morgen im Barfußgäßchen gesprochen habe, woher ich ihn kenne und ob mir nicht zwei Brüder Strachow aus Prag, Studenten der Theologie, bekannt wären. Es sind, wie gesagt, seit jener Zeit zwanzig Jahre vergangen und ich weiß heute nicht mehr, nach welchen tausend anderen Kleinigkeiten noch mich die Herren frugen, denn auch der Herr Kriegsrath betheiligte sich anfänglich an dem Inquisitorium, bis ich ihm bemerkte, daß ihm zwar gestattet sei, dem Verhör beizuwohnen, daß er aber kein Recht habe, unmittelbar Fragen an mich zu stellen. Wie ich nachher erfahr, hatte der Herr Kriegsrath sich gleiche Ungehörigkeiten bereits bei dem Verhöre des Buchhändlers herausgenommen, war aber damals schon – zur Ehre des sächsischen Richterstandes sei dies erwähnt – von dem Actuar Beyer in energischer Weise zurecht gewiesen worden. Nach fünf Viertelstunden etwa wurde ich entlassen.

Eine höchst drollige Episode hatte sich bei dem Verhör des Verlagsbuchhändlers ereignet. Der Herr Kriegsrath frug den Zeugen nämlich, ob der Professor Arnold oder die unter diesem Namen auftretende Persönlichkeit auch Hosen getragen habe, eine Frage, die der Gefragte mit ironischem Lächeln und der Bemerkung beantwortete, daß es in Leipzig keine Sansculotten gebe und hier zu Lande jeder Mann Hosen zu tragen pflege, eine Ironie, die dem Herrn Kriegsrath das Blut nach dem Kopfe trieb und ihn von seinem Sitze mit den Worten: „Was schaffen’s mit den Hosen?“ hoch aufschießen ließ. Selbst der Verhörsrichter mußte in das Lächeln des Zeugen einstimmen. Die Frage war indessen nicht so lächerlich, wie sie für den ersten Augenblick erschien, wie denn überhaupt die ganze Geschichte nicht lächerlich, sondern sehr tragisch war. Arnold war ein czechischer Parteiführer und die Czechen trugen nicht die langen weiten deutschen Beinkleider, sondern eng anliegende lederne Hosen in kleinen ungarischen Stiefeln. Ueber Arnold und sein Schicksal habe ich etwas ganz Bestimmtes nie erfahren können. Er war kurz nach jener Unterredung, die ich mit ihm gehabt, in Leipzig auf österreichische Requisition verhaftet und nach Prag ausgeliefert worden, wo er lange Zeit in Untersuchungshaft saß und auch mit Bakunin confrontirt wurde. Später erzählte man sich in Leipzig, daß Arnold zum Tode verurtheilt und gehängt worden sei. Ob das Urtheil wirklich vollzogen wurde, ob man ihn nach Kufstein, nach dem Spielberg oder Munkacs geschickt hat, ich habe, wie gesagt, nie wieder etwas über ihn erfahren können. Wahrscheinlich ist, daß er gehängt wurde. Es wurde zu jener Zeit im österreichischen Kaiserstaat so viel erschossen und gehängt, daß es dabei auf Einen mehr oder weniger nicht ankam.

Einer mehr oder weniger! Der Todte von Queretaro, der jetzt in der Gruft bei den Capuzinern in Wien liegt, war auch nur Einer, und welche Thränen sind um ihn, der auch als Hochverräther von der mexicanischen Republik verurtheilt standrechtlich hingerichtet wurde, in Oesterreich geweint worden!

Ich habe, als ich die blutige Nachricht aus Mexico gelesen, oft an den armen Professor Arnold aus Prag gedacht, an ihn und an die ungarischen Generale, die man am 6. October 1849 in Arad aufhängte und wie die Hunde einscharrte.

Nicht wahr, das ist ein trauriges Ende der Sommergeschichte aus dem Jahre 1849? Und ich möchte nicht gern mit einem düsteren Eindruck schließen. Vielleicht gelingt es der zweiten Sommergeschichte, die allerdings zehn Jahre früher spielt, die trübe Stimmung zu verscheuchen, welche der Gedanke an die Galgen in Oesterreich hervorgerufen hat. Ich erzähle deshalb schnell noch die zweite Geschichte, die ich nennen will


2. Die Armee im Ballsaal.

Es war im Sommer von 1839. Fürst Metternich und der Bundestag regierten in Deutschland und Fürst Heinrich der Zweiundsiebenzigste herrschte über Lobenstein-Ebersdorf und in Gemeinschaft mit seinem Vetter Heinrich dem Zweiundsechszigsten über Gera. Das Jahrzehnt von 1830 bis 1840 war eine merkwürdige Zeit, die für unser heutiges Geschlecht kaum verständlich ist, obwohl sie noch nicht lange hinter uns liegt. Selbst Denen von uns, deren erste Jugend noch in jene Zeit fällt, die wir sie noch mit erlebt haben, erscheint sie heute schon mit dem bläulichen Nebelduft der Sage überhaucht, und man muß sich erst wieder in sie hineinleben, wie der Geschichtsforscher in längst entschwundene Perioden der Weltgeschichte, um sie sich wieder gegenständlich und klar zu machen. Zum Verständniß des Nachstehenden ist daher eine kurze Charakteristik dieser Zeit nöthig.

Der Donner der Pariser Julirevolution hatte seinen Wiederhall in Deutschland gefunden. Kassel, Hannover, Göttingen, Braunschweig, Leipzig, Dresden und eine Anzahl Hauptstädte der kleinen thüringischen Staaten hatten ihre „große Woche“ gehabt. Das Hambacher Fest und der Ueberfall der Frankfurter Hauptwache, dieser romantische Einfall einer Anzahl Burschenschafter und anderer patriotischer Hitzköpfe, der mit der Gefangennahme des nichtsnutzigen Bundestags und der Proclamirung des deutschen Kaiserreichs enden sollte, waren die letzten heftigen Zuckungen des unterdrückten, nach Freiheit und nationaler Einheit lechzenden Volksgeistes gewesen. Es war sehr still in Deutschland geworden, zumal im Norden und in den mittleren Theilen unseres Vaterlandes. Die Karlsbader Beschlüsse, der kaiserlich königliche Haus- und Staatskanzler und die bundestäglichen Polizeileute in Frankfurt am Main sorgten dafür, daß diese Stille und Ruhe nicht gestört wurden. Die Redekämpfe in den süddeutschen Kammern waren immer unbedeutender geworden und die sächsische Zweite Kammer mit ihrer auserwählten Schaar von Vorkämpfern der Freiheit hatte noch nicht die Bedeutung, welche sie im Anfange der vierziger Jahre gewann; in Preußen herrschte jene dumpfe Ruhe, welche die letzten Regierungsjahre Friedrich Wilhelm des Dritten charakterisirt. Der erste deutsche Staat hatte damals seinen Beruf noch nicht erkannt, an die Spitze der Nation zu treten, und ließ sich noch zum Schmerz aller wahren Freunde des Vaterlandes in das Schlepptau Metternich-Habsburgischer Hauspolitik nehmen. Die Presse war über innere deutsche Angelegenheiten entweder stumm wie ein Trappist und zitterte vor dem Rothstift des Censors, oder war verfolgt wie ein Thier des Waldes, auf dessen Fersen die Jäger sind. Höchstens daß sich im Mantel der Anonymität ein fliegendes Blatt oder aus der Schweiz ein Heftchen des „Tribun“ von Karl Heinzen mit einer scharfen Kritik unserer öffentlichen Zustände hervorwagte, um verstohlen bei den Gleichgesinnten von Hand zu Hand zu gehen.

Das war die goldene Zeit der Sängerinnen, Schauspieler, Ballettänzerinnen und Virtuosen. Es gehörte diese politische Grabesstille dazu, um das Publicum durch spaltenlange Feuilletons, über einen neuen Tenor, eine junge Primadonna oder eine reizende Ballerina zu fesseln. Ich glaube, daß viele Berühmtheiten jener Zeit spurlos vorübergegangen wären, wenn sie nicht eben in einer Periode aufgetreten wären, in welcher man sogar Herrn von Dingelstedt, „den politischen Nachtwächter mit den langen Fortschrittsbeinen“, für einen gefährlichen Demagogen hielt. Abgesehen von den Katzbalgereien unten im südwestlichsten Winkel unseres Erdtheils zwischen Carlisten und Christinos war es in den Jahren nach der Julirevolution nicht nur in Deutschland,

[350] sondern auch im übrigen Europa still. In Paris hielt man zwar Kammerreden, in der Rue Transnonain wurden auch eines Tages von einer Handvoll schwärmerischer Idealpolitiker, welche in der Republik Frankreichs Heil und in Louis Philipp nichts als einen pfiffigen Börsenmäkler und Geldmacher erblickten, Barricaden gebaut und Flintenschüsse mit den Truppen gewechselt; aber schließlich waren doch diese Reden der Herren Deputirten weiter nichts als Zungenraketen, oratorische Feuerwerke, die einen Augenblick prasselnd aufstiegen, um in der nächsten Minute spurlos zu verpuffen, und das Häuflein Republikaner in der Straße Transnonain wurde durch Kartätschen für immer still gemacht. Herr A. Thiers verdiente sich gegen sie seine ersten Sporen. …

Es war im Sommer 1839, im Monat Juni, zur Zeit der thüringischen großen und kleinen Vogelschießen. Diese kleinen Vogelschießen, bei welchen man mit einem eisernen Stoßvogel einen hölzernen Adler abschießt, sind heute noch bei den meisten geselligen Vereinen im Thüringerlande die beliebtesten Sommervergnügen. So hielt auch eine Gesellschaft in Gera, die den idyllischen Namen „Eintracht und Frohsinn“ führte, ihr Vogelschießen in einem öffentlichen Vergnügungsgarten ab und hatte dazu Fürst Heinrich den Zweiundsiebzigsten mit höherer Dienerschaft, wie die Einladung lautete, eingeladen. Serenissimus hatte geruht, dieselbe huldvoll anzunehmen. Es war ein prächtiger Juni-Sonntag, Bier und Speisen vortrefflich und die Stimmung der Gäste die rosenfarbenste, als Se. Durchlaucht mit seiner Suite erschien. Heinrich der Zweiundsiebzigste war ein schöner Mann in seinen jüngeren Jahren und konnte sehr liebenswürdig sein. Er war unverheirathet, ein Freund des schönen Geschlechts und lebenslustig. Nachdem er sich eine Weile unter seinen getreuen Unterthanen vergnügt hatte, entfernte er sich, nur von seinem Adjutanten, einem Grafen Beust begleitet, die Mehrzahl seiner Diener, Reitknechte und Jäger zurücklassend. Kaum war der Fürst fort, als sich diese unter die Ballgäste mischten und zu tanzen begannen. Die sonst so loyalen Bürger fühlten sich darüber empört. Ihre Frauen und Töchter mit Bedienten tanzen zu sehen, das machte ihr Blut heiß. Die Vorsteher der Gesellschaft erklärten den Unverschämten, daß sie wohl Se. Durchlaucht mit höherer Dienerschaft, nicht aber seine Reitknechte und Kutscher eingeladen hätten. Die Bedienten Serenissimi empfahlen sich mit Ingrimm und Rachegelüsten im Herzen und berichteten die Sache dem Adjutanten Grafen Beust, der jedenfalls den Vorfall dem Fürsten in den schwärzesten Farben als eine Art Hochverrath oder zum Mindesten Majestätsbeleidigung dargestellt haben muß. Heinrich der Zweiundsiebzigste war außer sich und schrieb sofort eine Cabinetsordre an den Kanzler. Am andern Morgen wurde der Vorstand der Gesellschaft auf das Landrathsamt beschieden und ihm hier auf allerhöchsten Befehl Sr. Durchlaucht die Abhaltung des Balles, der am Abend stattfinden sollte, untersagt.

Dieser Cabinetsbefehl Serenissimi flog auf den schnellen Fittigen des Gerüchts in Kurzem durch die gute Stadt Gera. Schon in den ersten Nachmittagsstunden war der Garten, in welchem die Gesellschaft ihr Vogelschießen abhielt, überfüllt – man ahnte irgend etwas Besonderes. Der Tag war noch reizender, als der vorhergehende. Ein wolkenloser Himmel, eine glänzende Sonne, blühende Büsche und Sträucher, Musik und gutes Bier versetzten das zahlreiche Publicum in eine heitere Stimmung und ließen es die Ungnade Seiner Durchlaucht, die wie eine drohende Wetterwolke über dem Feste hing, allmählich vergessen. Es wurde Abend, es dunkelte bereits, man fing an, sich auf die Illumination im Garten vorzubereiten, und auf dem Orchester im Ballsaal stimmten die Musikanten schon ihre Instrumente – denn wer dachte noch an das Verbot? Da schallten vom Eingang des Gartens her plötzlich die Tritte einer heranmarschirenden Colonne. Bajonnete blitzten, Commandoworte wurden hörbar und auf einmal schimmerten die weißen Uniformen – das fürstlich reußische Bundescontingent war damals ähnlich wie das österreichische Militär gekleidet – durch die Räume. „Halt!“ „Gewehr bei Fuß!“ Darauf wurden die Gewehre in Pyramiden zusammengestellt und die militärische Macht Sr. Durchlaucht machte es sich in einer großen schattigen Laube, die vor dem Balllocal befindlich und gewissermaßen das Entrée zu demselben bildete, bequem. Der Commandant erklärte aber dem Gesellschaftsvorstand kurzweg, daß er hier sei, um die Abhaltung des Balles zu verhindern. Die Araber haben ein Sprüchwort: „Man kann keine Säbelklingen essen“. Aehnliches dachten wahrscheinlich auch die Geraer Bürger, stumm fügten sie sich der Gewalt der Bajonnete, das Tanzen unterblieb, die Streitmacht Sr. Durchlaucht aber bivouakirte die Sommernacht in der Laube, bewirthet von dem harmlosesten Gesellschaftspublicum mit Bier, Grog und Bratwürsten. Das ist die Geschichte von der Armee im Balllocal. Neun Jahre später brach die Märzrevolution von 1848 aus, die auch Heinrich’s des Zweiundsiebzigsten Thronentsagung herbeiführte. …

Es sind kaum dreißig Jahre seit jener Zeit verflossen, in welcher ein fürstlicher Machtspruch hinreichte, in der willkürlichsten Weise ein unschuldiges Vergnügen friedlicher Bürger zu verbieten. Doch die Zustände, welche solche Vorkommnisse in Deutschland möglich machten, sind für immer beseitigt. Mit dem alten Bundestag, der seine letzten Tage, würdig seiner Vergangenheit, auf der Flucht in einem Augsburger Gasthof beschloß, fiel auch die letzte Stütze der kleinfürstlichen Allmacht. Die meisten davon hatte freilich in der Mehrzahl der deutschen Staaten die Bewegung von 1848 zerbrochen.

Zustände und Vorkommnisse, wie die in den „Oesterreichern in Leipzig“ und in der „Armee im Balllocal“ geschilderten, sind heute unmöglich – vorbei für immer, und darum – Hurrah Germania!