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Japans wirtschaftliche und soziale Probleme und seine Expansionsbestrebungen

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Textdaten
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Autor: Robert Schachner, Ludwig Riess
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Titel: Japans wirtschaftliche und soziale Probleme und seine Expansionsbestrebungen
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Achtzehntes Hauptstück: Die politischen Ziele der Mächte in der Gegenwart, 110. Abschnitt, S. 373−385
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[373]
110. Abschnitt.


Japans wirtschaftliche und soziale Probleme und seine Expansionsbestrebungen.
Von
Dr. iur. et. rer. pol. Robert Schachner, † Jena.
Neu bearbeitet von Dr. Ludwig Riess, Berlin.


Literatur:

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Karl Rathgen, Japans Volkswirtschaft und Staatshaushalt 1891. –
Karl Rathgen, Die Japaner in der Weltwirtschaft. Band 72 von „Aus Natur und Geisteswelt“. 1911. –
B. H. Chamberlain, Things Japanese 1902. –
Fritz Wertheimer, Die japanische Kolonialpolitik 1910. –
Robert Schachner, Arbeiter, Unternehmer und Staat in Japan im Archiv für Sozialwissenschaft. Band 24. –
Finanzielles und wirtschaftliches Jahrbuch für Japan. 1912.
E. A. Heber, Japanische Industriearbeit (Bd. VII der „Probleme der Weltwirtschaft“) Jena 1912.
Karl Haushofer, Dai Nihon, Betrachtungen über Grossjapans Wehrkraft, Weltstellung und Zukunft. Berlin 1913.
O. Scholz und Dr. K. Vogt, Handbuch für den Verkehr mit Japan. Berlin 1913.
H. Nishi, Die Baumwollspinnerei in Japan. (Ergänzungsheft 40 der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“) 1911.
L. Riess, Die Wirkung des russisch-japanischen Krieges auf die ostasiatischen Seeinteressen. (Deutsche Monatsschrift, April und Mai 1907.)

Als Ostasien im Zeitalter des Dampfes und Eisens aus seinem Winterschlaf geweckt und auch Japan im Jahre 1854 dem Weltverkehr eröffnet wurde, betrug seine Bevölkerung etwa 27 Millionen; sie ist seitdem, mit Ausschluss des inzwischen dazu erworbenen Gebietes auf über 52 Millionen angewachsen, hat sich also fast verdoppelt. An die Stelle von 271 Lehnstaaten verschiedener Grösse ist seit Wiederherstellung der Kaisermacht im Jahre 1868 ein straff zentralisierter bureaukratischer Staatsmechanismus getreten, der nach dem Vorbild des französischen Präfektensystems von der Hauptstadt Tokio, dem früheren Jeddo, aus regiert wird. Die mehr als 400 000 Familien des Schwertadels verloren 1876 ihre erblichen Renten und gesellschaftlichen Privilegien, nachdem den Bauern die Gebundenheit an die Scholle und den Parias (Eta) ihre Abschliessung von der übrigen Bevölkerung durch kaiserliche Willenserklärung bereits behoben worden war. Von den Vertragshäfen aus gelangten die für den Massenbedarf berechneten Fabrikerzeugnisse der modernen Industrie allmählich in den innersten Winkel der japanischen Berge, während zugleich für die altberühmten Erzeugnisse des Landes, für Seide und Tee, für Kupfer und Gold, für Papier und Bambus, für Lackwaren und Seidenstoffe, für keramische Erzeugnisse und Kuriositäten ein reger Begehr eingesetzt hatte. Die neue Regierung war nach ihrem Siege ohne Barmittel und suchte ihrem Papiergelde durch ein System von Nationalbanken Aufnahme beim Publikum zu sichern. Zugleich brachten aber die beschleunigten Versuche, dem geeinigten Staate ein Heer mit moderner Bewaffnung und eine brauchbare Flotte zu verschaffen, Eisenbahnen und Telegraphen zu bauen, das Schulwesen zu verbessern und eine gleichmässige Organisation der Polizei über das ganze Land auszudehnen, die Notwendigkeit mit sich, zur Bestreitung der Unkosten die Steuerkraft der Bevölkerung zugleich anzuspannen und zu heben. Durch Anregungen von oben her, durch Staatsunterstützungen und durch Anstellung fremder Ratgeber und Lehrer sollte nach dem Wunsche der energischen und optimistischen Regierung Japan sehr schnell den Vorsprung technischer und wirtschaftlicher Entwicklung einholen, den die europäischen Kulturmächte vor ihm voraus hatten. Bei der Unbekanntschaft der Bevölkerung mit den fremden Einrichtungen, denen man im Inselreiche einen gedeihlichen Boden verschaffen wollte, mussten sich die Behörden nach Anleitung der Zentralregierung [374] um alles Einzelne kümmern; die staatliche Fürsorge und Bevormundung wurde das Kennzeichen des jetzt im Verhältnis zu dem schon früher geöffneten China schnell fortschreitenden Landes. Die Periode der „Aufklärung“ musste unter den gegebenen Verhältnissen durch polizeiliche Bevormundung die Assimilisation Japans an die Zustände westlicher Länder möglichst zu beschleunigen suchen.

Ehe die Regierung in 20jähriger, an fehlgeschlagenen Experimenten reicher Tätigkeit das Volk an die Bedürfnisse, Betätigungen und Willensregungen des Maschinenzeitalters und der Gewerbefreiheit in freier Konkurrenz mit dem Auslande gewöhnt hatte, war noch eine politische und eine finanztechnische Aufgabe zu lösen. Den Widerstand des um seine Vorrechte gebrachten Schwertadels warf die Regierung durch Unterdrückung einer Reihe von Aufständen nieder, von denen der letzte, der Satsumaaufstand von 1877, der gefährlichste war. Der Papiergeldwirtschaft, die durch abenteuerliche Massnahmen der Regierung einen schlimmen Stand erreicht hatte, machte der Finanzminister Matsukata ein Ende, indem er mit grossen Opfern und nach vierjähriger Vorbereitung die Staatsbank (Nippon Ginko) in den Stand setzte, ihre Noten von 1885 an mit Silber al pari einzulösen. Seit 1886 wird in Japan das Papiergeld ohne Disagio und sogar lieber als das Metallgeld genommen, obwohl noch 1881 für 100 Yen in Silber 170½ Papieryen zu bekommen waren. Für das Gros der japanischen Bevölkerung bedeutete die schnelle Sanierung der Währung nach einer Periode leichtsinniger Papiergeldausgabe eine Verschlechterung ihrer Lage, da die Bauern den gleichen auf Yen festgesetzten Steuerbetrag entrichten mussten, als der Marktpreis ihrer Erzeugnisse nominell gefallen war, und da die Durchschnittslöhne für Männer und Frauen stärker sanken als die Lebensmittelpreise. Aber jetzt begann sich auch die Privatindustrie zu entwickeln, der die grosse vom Lande abwandernde und den Städten zuströmende Menschenzahl sehr zu statten kam. Somit beginnt seit 1887 für Japan die Industrialisierung, der umfangreichere Eisenbahnbau und die stärkere Betätigung im Schiffsverkehr. In den Häfen Ostasiens begann die japanische Kohle eine Rolle zu spielen; Baumwollspinnereien versuchten, für den Konsum im Lande zu arbeiten; Papierfabriken, Bierbrauereien, Zündholzfabriken, Verfertiger von Regenschirmen usw. suchten das Feld zu gewinnen, das sich bis dahin europäische oder amerikanische Fabrikate erobert hatten. Man rechnete besonders auf die niedrigen Löhne, durch die andere Schwierigkeiten, wie Kleinheit des Betriebes, hoher Zinsfuss der Kredite, Ungeschultheit des Arbeiterstammes ausgeglichen werden sollten. Die Schwankungen des Silberkurses erschwerten die Konkurrenz, wenn infolge der amerikanischen Gesetzgebung (Sherman Bill) eine starke Steigerung eintrat, und erleichterten sie, wenn, wie im Jahre 1893 nach Aufhebung der Bland Bill, ein Preissturz des weissen Edelmetalls auf dem Weltmärkte erfolgte.

Es ist bei der Unerfahrenheit der so lange in Abgeschlossenheit lebenden Bevölkerung und den erwähnten Störungen des inneren Friedens und der Währungsverhältnisse leicht erklärlich, dass die sich überstürzenden Versuche zur Erweckung der produktiven Kräfte nicht den erwarteten schnellen finanziellen Erfolg hatten. Die vom Staate betriebenen Fabriken mussten schon deshalb mit Verlust arbeiten, weil sie als Lehrbetriebe gedacht waren und die aus dem Ausland bezogenen technischen Berater hoch besolden mussten. Ausser Eisenbahnen, Telegraphen, Schiffswerften, Gewehrfabriken, einer Pulverfabrik, eines Hüttenwerks, einer Tuchmacherei und Gerberei für Militärbekleidungszwecke begründete und unterhielt die Regierung seit Mitte der siebziger Jahre auch eine Reihe von Musteranstalten für die Fabrikation von Zement, Glas, billigem Papier, Schrifttypen, Seife und manchem andern, was man im Lande früher nicht herzustellen vermochte. Filaturen für die Zubereitung der Rohseide zum Verkauf auf dem Weltmärkte, Baumwollspinnereien und Webereien nach europäischer Art, Seifensiedereien und Sodafabriken, Zuckerraffinerien und Laboratorien für Keramik und Färberei mussten als Pfadfinder von der Regierung entweder selber unternommen oder ausgiebig unterstützt werden. Den Provinzialverwaltungen konnte man von dieser Aufklärungsarbeit für Hebung des Gewerbfleisses nur wenig auferlegen, weil zu gleicher Zeit die musterhafte Organisation des Elementarschulwesens und die Herstellung fester Fahrstrassen für die sich schnell über das ganze Land verbreitenden zweiräderigen Karren zum Menschen- und Lastentransport die Lokalsteuern ausserordentlich anschwellten. Ja, die Regierung scheute sich nicht, Leistungen, die eigentlich dem Staate obliegen sollten, wie für den Bau und [375] die Unterhaltung der Gefängnisse, den Regierungsbezirken (Ken und Fu) aufzuerlegen. Man konnte aber den hohen Steuerdruck, zu dem auch das Salzmonopol gehörte, nicht ermässigen, weil seit 1884 in grossem Umfange die Vorbereitungen für einen modernen Konstitutionalismus möglichst schnell beschafft werden mussten, um zugleich die Eröffnung des Parlaments und die Vertragsrevision vorzubereiten. Viele wichtige Aufgaben, wie besonders die Aufforstung der Berge, mussten einstweilen zurückgestellt werden, weil die Not der Landbevölkerung, das Herabsinken vieler Bauern und sogar eines Teiles des Schwertadels in die Kuliklasse der Regierung dringendere sozialpolitische Aufgaben stellte. Das Agrarproblem wurde schon seit Anfang der achtziger Jahre auch für Japan das wichtigste von allen. Da der intensive Hackbau, die Reiskultur und der mit Kopfdüngung betriebene Getreide- und Gemüsebau bei dem Mangel einer rationellen Viehzucht einer Steigerung kaum fähig war, wenn man nicht vom Auslande künstlichen Dünger bezog, so waren viele Teile des Landes übervölkert. Die Versuche der inneren Kolonisation durch Bewirtschaftung des ausgedehnten Oedlandes (Hara) auf den Hochflächen der Gebirge machte nur geringe Fortschritte, weil der japanische Bauer die Reisnahrung nicht entbehren kann und alle Versuche, ihn an Brot und Kartoffeln zu gewöhnen, fehlschlugen. Die Regierung brachte grosse Opfer, um durch eine nach amerikanischem System durchgeführte Besiedelung der äusserst dünn bevölkerten Insel Jeso, die jetzt unter dem Namen Hokkaido als Kolonialgebiet organisiert wurde, durch Verpflanzung von Bauernfamilien aus dem Süden der dringendsten Not zu steuern. Wohl war es gelungen, die dort lebende Urbevölkerung (Ainu) für die neu eingeführte Pferdezucht zu gewinnen; auch war die Einführung europäischen Kernobstes, das im eigentlichen Japan schlecht gedeiht, wohl gelungen; für Hopfen und Gerste, für Zuckerrüben und Kartoffeln erwies sich der Boden dieser Nordinsel, die etwa dem Königreich Bayern an Areal gleichkommt, besonders geeignet. Aber für ein Betriebssystem, das für eine grössere Ackerfläche verwendbar ist, brachten die an ihre Zwergwirtschaft gewöhnten Bauern des Südens kein Verständnis mit. Die vom Grafen Kuroda geschaffene Organisation wurde 1889 aufgelöst, um diesen Fehlschlag wirtschaftlicher Betätigung nicht noch vor dem Parlamente verantworten zu müssen. Bis 1897 hatte die Auswanderung nach dem Hokkaido keinen dauernden Erfolg, weil die dorthin verpflanzten japanischen Bauern sich an ein Klima und eine Wirtschaftsweise wie die Norddeutschlands nicht gewöhnen konnten und immer wieder abwanderten. Viel verlockender war den in der Heimat nicht fortkommenden Bevölkerungsschichten die gut bezahlte Kuliarbeit, die sie auf den entlegenen Inseln der Hawaigruppe unter einem Klima des ewigen Frühlings und von subtropischer Vegetation umgeben, auf den Zuckerplantagen amerikanischer Besitzer leisten konnten. Bald überwog die japanische Bevölkerung auf der von Amerikanern ausgebeuteten und später annektierten Inselgruppe nicht nur diejenige der früher dort angesiedelten Chinesen, sondern auch die der Eingeborenen. Die regelmässigen Geldsendungen und Ersparnisse der Japaner auf Hawai erhielten auch für das Mutterland eine volkswirtschaftlich beachtenswerte Bedeutung. Bei einer jährlichen Bevölkerungszunahme von etwa 400 000 Seelen hat es an sich geringe Bedeutung, dass auf der Inselgruppe des Grossen Ozeans eine japanische Ansiedelung von 60 000 bis 70 000 Köpfen dauernd oder auf eine Zeit von zehn Jahren ein nach ihren Begriffen reichliches Auskommen fanden. Aber in der Auffassung des japanischen Volkes knüpfte sich infolgedessen an jede Auswanderung oder langjährige Sachsengängerei die Vorstellung einer für den Nationalwohlstand erfreulichen Bereicherung. Denn daran zweifelte niemand, dass auch in der Fremde die echten Söhne des Sonnenaufgangslandes ihre nationalen Sitten und ihre Anhänglichkeit an das Heimatland sowie ihre Staatsangehörigkeit sich bewahren würden.

In die seit über 20 Jahren in gleicher Richtung fortgehende Entwicklung brachte die parlamentarische Kontrolle der Verwaltung seit der Eröffnung der ersten Volksrepräsentation im November 1890 zunächst eine Unterbrechung. Das japanische Parlament suchte seinen ersten Ruhm in Herabsetzung der Staatsausgaben. Statt der naturgemässen Steigerung finden wir für das erste Jahrfünft des konstitutionell gewordenen Staates eine durchschnittliche Gesamtausgabe von 80 Millionen Yen gegen 81 Millionen des Durchschnitts der unmittelbar vorangegangenen Jahre. Selbst für den Ausbau der Flotte waren von der Mehrheit des Parlaments die notwendigen Bewilligungen nicht zu erlangen. Der Kaiser und die Beamtenschaft steuerten ein Zehntel ihrer Bezüge [376] um das reduzierte Flottenprogramm durchführen zu können. Im Wettbewerb um den politischen Einfluss in Korea verlor Japan daher bereits gewonnenes Terrain an China, das von dem jetzigen Präsidenten der Republik Juanschikai zielbewusst und geschickt vertreten wurde. Im Juli 1894 nahm deshalb die japanische Regierung den Kampf auf, obwohl die chinesische Nordflotte der ganzen maritimen Macht Japans an Gefechtswert der Schiffe überlegen war. Dennoch heftete sich der Sieg zu Wasser und zu Lande an die Fahnen des Inselreiches. Nicht nur die Vorherrschaft in Korea, sondern auch den Besitz der Insel Formosa und der Pescadoren und eine mit Russlands Hilfe schnell gezahlte Kriegsentschädigung von 300 Millionen Yen war die Beute des Siegers. Damit begann für das wirtschaftliche und politische Leben Japans eine neue Epoche. Das neu gewonnene Ansehen in der Welt, der eroberte Kolonialbesitz der durch Zuckerbau, Reisüberschuss, Teeexport und Kampferproduktion für den Weltmarkt wichtigen Insel Formosa und der Geldstrom, über den die Regierung verfügte, ermunterten die regsamen Teile der Bevölkerung zu waghalsigem Unternehmungsgeist und scharfer Konkurrenz mit den fortgeschrittensten Industrieländern. Die Regierung kam diesen Bestrebungen um so bereitwilliger entgegen, weil sie nach der bitteren Erfahrung der Intervention Deutschlands, Russlands und Frankreichs eine Verdoppelung des Heeres und der Flotte für notwendig hielt. Die Mittel dazu hoffte man aus der vermehrten Steuerkraft des Volkes ziehen zu können, sobald die „neue Industrie“ das Land wirtschaftlich den Grössenverhältnissen der Interventionsmächte näher gebracht haben würde. Als Hauptmittel dazu erschien die Eroberung des chinesischen Marktes und ein energischer Mitbewerb in der ganzen Welt. Durch Subventionen von Dampferlinien nach Amerika und Europa, Belebung des inneren Verkehrs mittels Bahnbauten und Dampferlinien, Unterstützung begehrenswerter industrieller Unternehmungen aus Staatsmitteln wollte man schnell vorwärts kommen. Um den Mitbewerb auf dem Weltmarkt zu fördern und die Beschaffung ausländischen Kapitals für staatliche und private Zwecke zu erleichtern, wurde durch den Grafen Matsukata 1897 die Goldwährung eingeführt, obwohl angesehene Wirtschaftspolitiker in der mit China gemeinsamen Silberbasis einen für die Erringung des Übergewichts im Güteraustausch mit dem volkreichen Nachbarreiche schätzenswerten Vorteil sahen. Die veränderte Lage spiegelt sich in den vermehrten Staatsausgaben. Sie erreichten schon 1896 bis 1897 168⅞ Millionen, das Jahr darauf 223⅔ Millionen, zwei Jahre später über 254 Millionen und im Jahre darauf (zur Jahrhundertwende) 292¾ Millionen. Da die Regierung während des dreivierteljährigen Feldzuges auf dem Kontinent den fehlenden Traindienst durch „Kriegskulis“ ersetzt hatte, so kehrten viele Tausende mit gesteigerten Ansprüchen an ihre Lebenshaltung und mit gehobenem Selbstgefühl in die Heimat zurück. Dort war zwar infolge der neuen Gründungen die Arbeitsgelegenheit vermehrt und der Tagelohn gestiegen; aber mindestens ebenso stark hatten sich auch die Lebensmittel verteuert und die gewohnten Bedürfnisse gesteigert. Seit dem Jahre 1897 hat auch Japan eine Arbeiterbewegung, die sich in Lohnkämpfen, Ausständen und Aufruhrszenen stärker bemerkbar macht als in Aussperrungen und Organisationen der Arbeitgeber. Besonders der erfolgreiche Streik der Maschinisten der grössten japanischen Eisenbahngesellschaft (Nippon Tetsudo Kaisha) im Februar 1898 hat dazu geführt, dass das englische Wort „strike“ auch im Japanischen ein jedermann geläufiges Lehnwort wurde und dass die Arbeiterfrage ein stehendes Kapitel in der öffentlichen Diskussion der Tageszeitungen und der national-ökonomischen Zeitschriften wurde. Der soziale Gedanke wurde durch japanische Gelehrte, die aus Deutschland zurückgekehrt waren, eifrig gepflegt, und aus Amerika brachten japanische Studenten und Arbeiter die Forderungen der „Knights of labour“ als Gegengift gegen den Egoismus des sich immer mehr ausbreitenden plutokratischen Unternehmertums. Solange, von der allgemeinen Hochkonjunktur des Weltmarktes begünstigt, der neue Aufschwung der Volkswirtschaft anhielt, bewahrte die japanische Regierung den Anfängen der Arbeiterbewegung gegenüber eine wohlwollende Neutralität. Es wurde sogar im Ministerium für Ackerbau und Handel ein Arbeiterschutzgesetzentwurf ausgearbeitet und nach wiederholten Revisionen durch die „Kommission zur Untersuchung des Fabrikwesens“ im November 1902 veröffentlicht; aber da sich das Unternehmertum sehr absprechend darüber äusserte und inzwischen andere politische Fragen die Aufmerksamkeit der Regierung ausschliesslich in Anspruch nahmen, so wurde polizeilich allen solchen den inneren Frieden gefährdenden Erörterungen gewaltsam ein Ende gemacht und die eben erst zu täglichem Erscheinen fortgeschrittene Zeitung „Arbeitswelt“ unterdrückt. [377] Durch diese einseitige Strenge kam in die soziale Bewegung Japans, in deren Leitung idealistisch gesinnte junge Gelehrte bereits ihre Lebensaufgabe erblickt hatten, ein revolutionärer Zug und eine ehrliche Entrüstung über Tyrannei, die infolge der Neigung rabiater Individuen zu Aufsehn erregenden Gewalttaten bei dem sonst so gefügigen japanischen Volke um so bedenklicher war.

Wie gewaltig sich die wirtschaftlichen Verhältnisse Japans unter den durch den Krieg herbeigeführten neuen Verhältnissen veränderten, wird schon an dem unvergleichlichen Wachstum seines Aussenhandels deutlich. Hatte er in dem Jahre vor dem Kriege (also 1893) mit rund 178 Millionen Yen oder 4,30 Yen auf den Kopf der Bevölkerung eine damals viel erörterte Rekordziffer erreicht, so stieg er von jetzt an in gesteigerter Proportion und erreichte 1903, also in dem Jahre vor dem Ausbruch des Krieges mit Russland 606⅔ Millionen Yen oder rund 13 Yen auf den Kopf der Bevölkerung. Es war also eine Verdreifachung eingetreten, während in dem damals sich ebenfalls ungewöhnlichen hebenden Aussenhandel Deutschlands nur eine Steigerung um rund 66% stattgefunden hatte und alle anderen Länder Europas und Amerikas dagegen noch zurückgeblieben waren. Dagegen hielt sich die Auswanderung aus dem Inselreiche in verhältnismässig noch immer bescheidenen Grenzen. Am Ende des Jahrhunderts lebten nur 124 000 japanische Staatsangehörige im Auslande und davon genau die Hälfte (62 000) auf den Zuckerplantagen in Hawai als Kontraktarbeiter. Was Japan vorwärts trieb, war also nicht, wie es später irrtümlich oft behauptet wurde, die drängende Sorge um die Unterkunft seiner überschüssigen Bevölkerung, sondern das durch den Krieg mit China mächtig geförderte Bestreben der Regierung und öffentlichen Meinung, an politischer Bedeutung zu gewinnen und auch wirtschaftlich möglichst schnell die Gleichstellung mit den europäischen Mächten zu erringen, die durch die Vertragsrevision 1899 völkerrechtlich und handelspolitisch erreicht worden war. Eine stete Sorge der Regierung und der öffentlichen Meinung war dabei, dass seit dem Kriege die Handelsbilanz Japans Jahr für Jahr ungünstig war und in den neun Jahren von 1896 bis 1904 einen durchschnittlichen Ueberschuss der Einfuhr um jährlich 44 Millionen Yen aufgewiesen hatte. Erklärlich ist diese Erscheinung ja aus dem Bedürfnis, zur Ausgestaltung der neuen Industrie Maschinen, Apparate und Muster in ungewöhnlichen Mengen ins Land zu ziehen; aber dahinter erhob sich die bange Sorge, ob es möglich sein würde, die 1897 eingeführte Goldwährung aufrecht zu erhalten, wenn das so fortginge. Es war ein Glück für Japan, dass gerade damals die riesige Vermehrung der Goldproduktion in Alaska, Australien, und ganz besonders Südafrika den früheren Goldhunger der aufstrebenden Kulturstaaten vermindert hatte. So konnte man hoffen, die ungünstige Handelsbilanz nachhaltig zu verbessern, wenn man erst auf neutralen Märkten der übermächtigen europäischen Konkurrenz näher gekommen wäre und zugleich für die modernen Bedürfnisse des Lebens im Lande selbst die Massenverbrauchsartikel selber herstellte. Infolgedessen nahm der volkswirtschaftliche Aufschwung in Japan eine Richtung, die der europäischen Industrie und der Handelstätigkeit der in den früheren Vertragshäfen bestehenden Firmen feindlich schien und dem Verdacht chikanöser Behandlung durch die Behörden Nahrung bot. Eine durch die Verträge nicht gerechtfertigte Besteuerung der in den sogenannten Konzessionen erbauten Häuser und Warenspeicher der Fremden erhitzte während der langen Verhandlungen darüber die Gemüter auf beiden Seiten, bis endlich das Haager Schiedsgericht 1909 die Entscheidung gegen den Anspruch der japanischen Regierung fällte. Das Gerede von der gelben Gefahr erhielt dadurch einen um so günstigeren Nährboden.

Seit 1896 drohte aber die Gefahr, dass die von den Chinesen den Japanern überlassene Vormachtstellung in Korea an Russland fallen würde. Durch die Ermordung der Königin unter Assistenz der japanischen Gesandtschaft und durch Gefangenhaltung des Königs hatten die Japaner den alten Hass, den die Koreaner gegen sie hegten, aufs äusserste gesteigert, so dass die russische Politik, die das Amurgebiet südwärts zu einem grossen Kolonialreich ausdehnen wollte, in China und Korea in der Japanfeindlichkeit der leitenden Kreise die beste Unterstützung fand. Die bevorstehende Vollendung der transsibirischen Eisenbahn und ihre Abzweigung durch die Mandschurei erhöhte die Aussichten der russischen Kolonialschwärmer, die in dem Admiral Alexejew ihr Oberhaupt und am Hofe in St. Petersburg mächtige Gönner fanden. Die starke Befestigung des von China gepachteten Port Arthur, die Besetzung der ganzen Mandschurei durch russische Truppen während der Boxerwirren und die unausgesetzte Vermehrung des ostasiatischen Geschwaders liessen an der [378] Verschlechterung der Lage für Japans Vormachtstellung in Korea keinen Zweifel. Nachdem sich die japanische Regierung im Januar 1902 durch das Bündnis mit England eine Rückensicherung verschafft hatte, verlangte sie in St. Petersburg die Räumung der Mandschurei in drei halbjährigen Etappen, und als diese nicht innegehalten wurden, begannen im Juli 1903 die „ernsten Verhandlungen“ auf der Basis von Vorschlägen, durch die die Mandschurei als russische, und Korea als japanische Interessensphäre anerkannt werden sollten. Aus den Schwierigkeiten, die Russland machte, entsprang der Krieg, der am 8. Februar 1904 begann und erst im August 1905 nach vollständigem Siege der Japaner zu Wasser und zu Lande durch den von den Vereinigten Staaten vermittelten Frieden von Portsmouth beendet wurde. Dadurch gewann Japan nicht nur die Oberherrschaft in Korea, sondern auch die russischen Pachtrechte und Eisenbahnbauten in der Süd-Mandschurei, die Hälfte der Insel Sachalin, (jap. Karafuto) und wichtige Fischereigerechtigkeiten im ochotzkischen Meere. Allerdings musste Japan auf jede Kriegsentschädigung verzichten und daher die Kriegsanleihen im Betrage von etwa 1550 Millionen Yen (3¼ Milliarde M.) weiter verzinsen. Die vom Landtag mit Begeisterung angenommenen „Kriegssteuern“ mussten auch im Frieden beibehalten werden. Die Staatsschuld, die beim Anfang des Krieges 562 Millionen Yen betragen hatte, erhöhte sich, nachdem auch die Eisenbahnen gegen Schuldscheine über 518 Millionen verstaatlicht worden waren, im Budget des Jahres 1910 auf 2664 Millionen Yen, der Schuldendienst des Staates von 40 Millionen auf 194 Millionen. Gegen die Zeit vor dem Kriege haben sich die Endziffern des Staatshaushalts verdoppelt; sie balanzierten in Einnahme und Ausgabe 1911 bis 12 um rund 574 und 1912 bis 13 um rund 576 Millionen Yen. Aber es war Japan auch geglückt, während des Krieges seine Goldwährung aufrecht zu erhalten und nach dem Frieden seinen Kredit an den Hauptbörsen des Auslandes wesentlich zu erhöhen. Zugleich war die Grossmachtstellung Japans dadurch anerkannt worden, dass England, Frankreich, Deutschland, Russland und die Vereinigten Staaten ihre Gesandtschaften in Tokio zu Botschaften erhoben.

Um den neuen Aufgaben seiner Grossmachtstellung gerecht zu werden, sah sich der Staat in noch höherem Grade als früher zu Eingriffen ins Wirtschaftsleben genötigt. Es kam der Regierung darauf an, in dem erweiterten Machtgebiet eine nationale Wirtschaftspolitik zu befolgen, durch die sich die Untertanen möglichst weitgehend mit dem Rohmaterial für ihre Bedürfnisse versehen, für ihre Arbeitskraft durch ein gesichertes Absatzgebiet gute Verwendung und zugleich durch möglichst umfangreichen Export Gewinn aus dem Auslande erzielen konnten. Man fasste deshalb die neugewonnenen Länder Formosa nebst den Pescadores, Korea und das südliche Sachalin als Kolonien unter einer einheitlichen Verwaltung zusammen und stellte ihm das übrige Japan als „eigentliches Japan“ gegenüber. In dem Pachtgebiet der südlichen Mandschurei, das man von Russland übernommen hatte, galt es vor allem die Bedeutung der Eisenbahn für den Weltverkehr zu heben und durch gute Verbindungen mit dem verlängerten koreanischen System diese äusserste Verteidigungsgrenze des eroberten Gebiets näher an das Inselreich heranzurücken. Aber zugleich sah man in der Vermehrung der Produktion in den eroberten Gebieten die wichtigste Vorbedingung zur Hebung des Wohlstandes auch der Bevölkerung des insularen „eigentlichen Japans“.

Regierung und Parlament hatten sich noch in der Begeisterung des Sieges das hohe Ziel gesetzt, die schwere Schuldenlast, die man während des Krieges angehäuft hatte, durch einen Tilgungsfond innerhalb von 30 Jahren vollständig abzutragen. Um das zu ermöglichen und zugleich die neuen militärischen Aufgaben, die der grosse festländische Besitz dem Inselreiche auferlegte, zu erfüllen, rechnete man auf einen neuen Aufschwung des Wirtschaftslebens, der den nach dem chinesischen Kriege noch weit übertreffen sollte. Weil aber diesmal die spontane Unternehmungslust der Bevölkerung lange auf sich warten liess, gab die Regierung den Anstoss und übernahm die Führung. Das Programm des Finanzministers Sakatani rechnete mit allen Möglichkeiten, die Erwerbstätigkeit zu heben, Geld ins Land zu ziehen und im Lande zu behalten, damit die schweren Lasten, die man dem Volke auferlegen musste, auch ertragen werden konnten. Man rechnete dabei sehr optimistisch mit den Ausbeutungsmöglichkeiten in den Kolonien, den reichen Wasserkräften des Landes, die sich, weil sie im Winter nicht zufrieren, zur Elektrisierung besonders eignen, den billigen Arbeitslöhnen, die der Industrie zur Verfügung standen und den reichlichen Ersparnissen, die [379] japanische Auswanderer in die Heimat senden würden. Alle Erwerbsmöglichkeiten bekamen unter dem Zwang der finanziellen Lage eine patriotische Heiligung, der gegenüber andere Rücksichten einstweilen in den Hintergrund treten mussten. Ganz Ostasien sah man als das natürliche Absatzgebiet japanischer Manufakturwaren an und erwartete, dass das Inselreich die industrielle Werkstätte für ganz Asien werden könnte.

Wohl am besten gelungen ist in diesem Programm die wirtschaftliche Entwicklung der Insel Formosa. Sie entwickelte sich immer mehr als das Zuckerland für den japanischen Markt. Durch Begünstigung in der Zollbehandlung, durch Zuführung von Kapital und technische Verbesserungen stieg die Zuckerproduktion der Insel in gewaltigen Sätzen. 1903 hatte sie 58 Millionen Kin betragen; 1908 war sie auf 1091/5 Millionen Kin; jetzt hob sie sich von Jahr zu Jahr um 100 Millionen Kin und darüber. So betrug sie 1910 3402/5 und 1911 bereits 4503/5 Millionen Kin. Die frühere Einfuhr deutschen und österreichischen Zuckers ist vollständig verschwunden; nur aus Niederländisch-Indien bezog Japan 1911 noch etwas braunen und weissen Zucker, dem aber eine wenig geringere Menge aus Japan ausgeführten raffinierten Zuckers gegenübersteht. Durch den Ertrag der Zuckersteuer konnte sich diese Kolonie nicht nur seit 1905 ohne Zuschüsse des Mutterlandes behelfen, sondern aus eigener Kraft Aufwendungen für die Unterstützung der Schiffahrt nach Altjapan, erwünschter Fabrikanlagen und des Aufschlusses von Neuland in den wilden Gebieten machen. Ebenso hob sich die Salzproduktion der Insel Formosa und die Ausfuhr, die sich jetzt über alle Küsten Ostasiens von Hongkong und Manila bis Sachalin und Kamschatka erstreckt. Die Einführung des Selzereimonopols und die staatlichen Prämien für Verbesserung des Produktes haben unzweifelhaft heilsam gewirkt. Das Kampfermonopol, durch das aller gewonnener Kampfer zu festen Preisen der Regierung überlassen werden muss, ist von Formosa auch auf Altjapan übertragen worden und hat seit 1910 gesteigerte Mengen sowohl von Rohkampfer wie von Kampferöl ergeben. Von der Ausfuhr der Insel Formosa gingen 1911 mehr als ⅔ nach Altjapan, und fast ebenso stark war der Anteil Japans im Verhältnis zu allen anderen Ländern bei der Einfuhr.

Ganz bescheidene Vorteile für das Eroberungsland bietet Japanisch-Sachalin oder Karafuto. Es versorgt Japan hauptsächlich mit Heringen. Auch der Krebsfang liess 1911 260 000 Kisten, die je 4 Dutzend enthielten, konserviert nachdem Ausland, vornehmlich Amerika gehen. Sachalin hat auch Kohlen für die Zukunft in seinen Schachten, die nur wegen der Wintersperre durch Eis bis jetzt nicht in Angriff genommen sind, wo japanische Schachte noch reiche Lager bieten. Die Hoffnung auf Erdölquellen, die den Wunsch nach dem Besitz des Südteils der Insel vor allem leiteten, sind bis heute noch nicht in Erfüllung gegangen, wenn auch bei Tokombo und Arakoi bereits Öllager sich fanden. Die gewaltigen Wälder bieten grosse Hoffnungen auf ihre Holzverwertung; auch hofft man für die Nebenprodukte der Wälder, wie Terpentinöl, Kolophonium, Holzgeist, Teer, Pech und andere aus Holz gewonnene Chemikalien eine chemische Industrie zu erhalten.

Die grossen Hoffnungen, die man auf die 1904 wiedergewonnene und am 29. August 1910 dem japanischen Reiche einverleibte „Kolonie“ Korea (japanisch Chosen) auch in wirtschaftlicher Hinsicht gesetzt hatte, sind bis jetzt nur zum geringen Teil verwirklicht worden. Da noch nicht ein Zehntel des tragfähigen Bodens in dem vernachlässigten Lande landwirtschaftlich angebaut war, so hatte man erwartet, dort den Baumwoll- und Zuckerrübenbau in grossem Massstabe betreiben zu können. Die „orientalische Kolonisationsgesellschaft“ (Toyo Takushoku Kaisha) in Tokio, die von der Regierung durch Kapitalszeichnung und Zinsgarantien unterstützt wird, bezweckte die Ansiedelung japanischer Bauern in Korea. Aber dort zeigten sich bei der Kolonisation dieselben Schwierigkeiten wie früher im Hokkaido. Der japanische Bauer versteht sich nur auf den intensiven Reisbau mit Kleinbetrieb und die ihm geläufigen landwirtschaftlichen Industrien; für Grossbetrieb, für ihn neue Kulturen und für Viehzucht ist er nicht viel brauchbarer als der wegen seiner Lässigkeit verrufene Koreaner. Die Erwartung, dass man die angebaute Fläche Ackerlandes in Korea sehr schnell von 1 800 000 auf 3 000 000 ha vermehren könnte, und dass man einen Teil der in Japan versponnenen Rohbaumwolle statt aus Indien aus dem neuen Koloniallande beziehen könnte, ist ihrer Verwirklichung noch sehr fern. Auch als Absatzgebiet für japanische Waren ist die Lage durch die Einverleibung Koreas nicht wesentlich verändert, denn die japanische Regierung hat versprochen, in den nächsten 10 Jahren von der koreanischen Ein- und Ausfuhr die gleichen Zölle zu erheben wie früher und ihre eigenen älteren Staatsgebiete zollpolitisch Korea gegenüber als Ausland [380] zu behandeln. Auch hat Japan das Recht der Europäer, in Korea Grundeigentum und Bergbauberechtigungen zu erwerben und frei darüber zu verfügen, die Küstenschiffahrt und andere Konzessionen, die sich die Fremden durch Staatsverträge zur Zeit der Unabhängigkeit Koreas gesichert haben, ausdrücklich zugestanden, um seine Auffassung, dass die Exterritorialität und die Gerichtsbarkeit der fremden Konsuln infolge der Einverleibung aufhören müssen, zur Anerkennung zu bringen. Auch darüber bedarf es noch zukünftiger Vereinbarungen. Der Gesamthandel Koreas mit Japan und der Aussenwelt belief sich im Jahre 1911 auf etwas über 150 Millionen M., wobei die Einfuhr fast dreifach so hoch ist wie die Ausfuhr. Die Steigerung gegen frühere Jahre entspricht jedenfalls nicht den japanischen Erwartungen. Dass Altjapan bei der Einfuhr die ausländische Konkurrenz um 75% übertrifft und aus Korea das 2½fache von dem ausführt, was andere Länder von dort direkt beziehen, erklärt sich aus der geographischen Lage und politischen Verbindung. Auch früher hatten die Japaner auf dem koreanischen Markt das Übergewicht. Natürlich bietet ein so nahe gelegenes und politisch beherrschtes Gebiet von der Grösse des penisularen Italiens mit einer Bevölkerung von 14 Millionen Einwohnern und günstigen klimatischen Bedingungen grosse Zukunftschancen. Einstweilen hält sich aber der Zuwachs, den Japans Volkswirtschaft durch die Annexion erhalten hat, bei der Ärmlichkeit der koreanischen Bevölkerung und bei den grossen Aufwendungen, die das „Mutterland“ für die „Kolonie“ Chosen machen muss, in bescheidenen Grenzen. Auch die Auswanderung, die in den letzten sechs Jahren allerdings von 72 500 auf 250 000 Köpfe gestiegen ist, scheint an der Grenze der Aufnahmefähigkeit Koreas für japanische Siedler angelangt zu sein. Der Widerstand des Parlaments gegen die dauernde Garnisonierung von zwei japanischen Divisionen in Korea hängt zum Teil mit den wirtschaftlichen Enttäuschungen zusammen, die man bis jetzt dort erlebt hat. Günstiger hat sich der Fischfang in den koreanischen Gewässern entwickelt.

Das Pachtgebiet Kwantung, das Japan von Russland übernahm, hat unter 488 000 Einwohnern etwas über 41 000 Japaner. Von seinem Handel, der 1911 in Ein- und Ausfuhr zusammen 89⅔ Millionen Yen betrug, kommt auf Japan etwas mehr als die Hälfte, auf China weniger als ¼, auf Europa und Amerika 1/5. Das Gebiet steht unter chinesischer Zollverwaltung und ist handelspolitisch auch für Japan Ausland. Es ist aber die Basis der wirtschaftlichen Vorherrschaft in der südlichen Mandschurei bis Shangshun, der Endstation der unter japanischer Verwaltung stehenden südmandschurischen Eisenbahn. Auf die Ausnutzung der sich dort ergebenden wirtschaftlichen Vorteile hat die südmandschurische Eisenbahngesellschaft, an der die japanische Regierung stark beteiligt ist, das allergrösste Gewicht gelegt. Die Kohlenminen von Fushun, die Erhebung der Soyabohne zum Welthandelsartikel, das Bedürfnis der japanischen Landwirtschaft nach Ölkuchen als beliebtesten Düngermittels, die Seesalzgewinnung und die Verarbeitung der Kaulian- (Hirse) Stengel zur Papierfabrikation, die Verbesserung der Seidenproduktion boten sofort lohnende Aussichten, die man auch deshalb nicht unbenutzt lassen durfte, weil die grosse Kapitalsanlage, die in der südmandschurischen Bahn steckt, sich verzinsen soll. In der wirtschaftlichen Einflusssphäre, die Japan durch die südmandschurische Bahn beherrscht, leben fast 12 Millionen Chinesen. Bei den vielen Reibungen, die Japans „Bahnpolizei“ und „Bahnschutztruppen“ mit den chinesischen Behörden und Truppenführern hatten, war es auch politisch wichtig, die Überlegenheit der japanischen Aufschliessungsarbeit zu erweisen. Trotz der Konkurrenz anderer Verkehrslinien, hob sich die Ausfuhr über Dalny (jap. Dairen) sprungweise, wie die folgende kleine Tabelle beweist:

Ausfuhr in Dalny.
1907 1908 1910
Yen
Soyabohnen 6 400 000 10 459 450 16 493 439
Bohnenkuchen 4 800 000 8 478 179 8 866 706
Rohe Tussahseide 3 554 841 1 782 519.

Japan mit seinen Besitzungen umfasst jetzt ein durch kein fremdes Staatsgebiet unterbrochenes Reich von der Ausdehnung Österreich-Ungarns mit Bosnien und der Herzegowina. [381] Es übertrifft an Einwohnerzahl das Deutsche Reich, und wenn wir die südliche Mandschurei hinzurechnen, auch die Bevölkerung Frankreichs und aller seiner Kolonien. Nach der beifolgenden statistischen Tabelle

Fläche
in Quadratkilometer
Bevölkerung
1911
1912
Alt-Japan 382 415 51 591 342 52 200 679
Korea 218 650 13 125 027 13 461 299
Formosa 34 971 3 392 063 3 443 679
Peskadoren 201 26 966
Japanisch-Sachalin 43 017 35 823 43 273
Kwantung 3 150 462 399 488 089
673 407 68 633 620 69 437 019

ergäbe sich von 1911 auf 1912 ein Bevölkerungszuwachs von 800 000 Einwohnern; doch ist dabei zu berücksichtigen, dass die amtlichen Schätzungen für das letzte Jahr sehr vervollständigt worden sind, so dass vielleicht nicht viel mehr als eine halbe Million den tatsächlichen Verhältnissen entspricht. Davon kommt auf Altjapan an Areal etwas über die Hälfte, an Bevölkerung ⅔ der Gesamtzahl. Der auswärtige Handel dieses ganzen Gebietes erreicht aber kaum den Wert von 2¾ Milliarden M. und davon kommen 2 Milliarden, also weniger als der achte Teil des deutschen Ausfuhrhandels, auf Altjapan. Was die Regierung tun konnte, um in den neugewonnenen Besitzungen die geringe Kaufkraft der Bewohner zu entwickeln, um sie zu Abnehmern der japanischen Industrie zu machen, ist geschehen. Vor allen Dingen ist das ganze Gebiet durch die Einführung der japanischen Goldwährung wirtschaftlich geeinigt und an den Weltverkehr angeschlossen worden. Durch Notenbanken zur Regelung des Geldumlaufs, durch Telegraphen- und Eisenbahnbauten, durch Dampferlinien, Hafenbauten, Flussregulierungen und Kabel ist der Verkehr gehoben und durch Staatsunterstützung die Pionierarbeit der Erwerbsgesellschaften nach Möglichkeit beschleunigt worden. Da aber die natürlichen Produktionsbedingungen in den neuen Besitzungen denen Altjapans sehr ähnlich sind und die ins Gewicht fallenden Importartikel im wesentlichen auch dort die Stapelartikel der modernen Industrie, besonders der Textilindustrie ausmachen, so musste Japan, wenn es seine Eroberungen seiner eigenen Volkswirtschaft nutzbar machen wollte, gerade auf diesem Gebiete mit Europa und Amerika konkurrenzfähig werden. Weil nun für billige Massenartikel, wie sie in den japanischen Kolonien hauptsächlich Absatz finden, eine ins Grosse gehende und darum ökonomische Herstellung nur dann möglich ist, wenn man ein sehr umfassendes Ländergebiet als Markt im Auge hat, so rechnet man auch in Japan mit der Möglichkeit, mit den wichtigsten Erzeugnissen der neuen Industrie in dem volkreichen benachbarten China, in Hinterindien und in Siam neben den europäischen und amerikanischen Erzeugnissen aufkommen zu können. Die rascheste Förderung der auf Export angewiesenen neubegründeten Fabriken war also in der volkswirtschaftlichen Situation nach dem japanisch-russischen Kriege für das Inselreich begründet. Der neue Zolltarif, der am 7. Juni 1911 in Kraft trat, diente in erster Linie den Bedürfnissen und Wünschen der auf dem asiatischen Markte aussichtsvollen japanischen Industrien nach Schutzzoll im eigenen Lande, um zunächst den inneren Markt erobern und dann auch auf neutralen Märkten konkurrieren zu können. Auch die Küstenschiffahrt erlangte durch die neuen Handelsverträge die Privilegierung für die japanische Flagge.

Vor allen Dingen rechnete man mit dem Vorteil der billigen Arbeitslöhne gegenüber der ausländischen Konkurrenz. Um den Fabrikanten in dem schwierigen Anfangsstadium ihres Kampfes mit der ausländischen Konkurrenz entgegenzukommen, verschob man die dringend notwendige Wohlfahrtspflege und Schutzgesetzgebung für die industriellen Arbeiter, einschliesslich der Frauen und jugendlichen Arbeiter. Auch für die internationalen Abmachungen über gesetzlichen Arbeiterschutz, die in Bern ihr Bureau haben, war die japanische Regierung aus Rücksicht auf ihre Fabrikanten nicht zu gewinnen. Die Mehrheit des Parlaments war bis jetzt immer noch arbeiterfeindlicher als die Regierung. Sie hat auch in dem sehr bescheidenen Gesetz betreffend die Arbeit in Fabriken [382] vom 28. März 1911 die Schutzbestimmungen sehr herabgemindert und durch Gewährung einer 15jährigen Gnadenfrist an gewisse Industrien die Verwirklichung des angestrebten Zieles wieder hinausgeschoben. Besonders in der Textilindustrie, wo die Kasernierung der Arbeiter üblich ist, sind grauenhafte Missstände eingerissen, die an die bösesten Kapitel in der englischen Enquête von 1842 bis 44 erinnern.

In keinem der grossen Industriestaaten werden Frauen und Kinder bis zum zartesten Alter in gleicher Weise herangezogen und ausgebeutet.

Arbeiter aus der Textilindustrie.
1909 Insgesamt Weibliche
Arbeiter
Minderjährige
unter 14
Jahren
Minderjährige
unter
16 Jahren
Minderjährige Minderjährige
(unt. 16 Jahren in Deutschland
unter 14 Jahren in Japan
und weibl. Arbeit. über 16 bezw. 14 Jahren.)
Insges. weibl. Insges. weibl. unter
14
Jahren
unter
16
Jahren
Deutschland 879 218 464 393
(d. s. 53%)
3630 2312 80776 49992 0,41% 9,6% 56%
Japan 486 508 414 277
(d. s. 85%)
32367 30059 7% 86%

In der japanischen Industrie arbeiten die Räder Tag und Nacht und bei der gleichen Löhnung für beide Schichten werden sogar die Nachtzeiten noch bevorzugt, weil man dann noch des Tages über im Hause arbeiten kann. Nicht einmal der Sonntag hat sich als Ruhetag durchgesetzt, in vielen Industrien ist es der monatliche Reinigungstag, der eine Unterbrechung bringt, im günstigsten Fall ist am ersten und fünfzehnten des Monats Stillstand der Fabrik. Diese Rastlosigkeit im Arbeitsprozess bei einer Arbeitsdauer von 14 Stunden und mehr, im günstigsten Fall, beim Schichtwechsel, von 12 Stunden, führt zu eigenmächtigen Arbeitsunterbrechungen, die die Unternehmer zwingen, sich eine kostspielige Reservearmee zu halten.

Von einer Gewerbehygiene oder Betriebssicherheit kaum dürftige Anfänge! Am schlimmsten scheint es im Bergbau auszusehen trotz eines Gesetzes vom Jahre 1905; aber auch die Verhältnisse in der Industrie wurden mir durch den Besuch einer Zündholzfabrik von Osaka beleuchtet, wo Frauen mit Säuglingen an der Brust und Kinder schon von 3 Jahren an in einem von üblen Dünsten erfüllten holzgebauten Raum arbeiteten. Die Schulpflicht hindert an der Fabriktätigkeit der Jugendlichen nicht viel, denn sie wird nicht allzu scharf eingehalten und hat in der Notlage der unteren Klassen ihre Grenze; die Schule selbst hat mit der Schwierigkeit der japanischen Schrift allein eine Bürde, die eine wertvolle Gesamtbildung in dem Rahmen der vorgeschriebenen vier Jahre nicht zulässt.

Das Arbeiterschutzgesetz vom 28. März 1911 bezieht sich nur auf Fabriken mit mehr als 15 Arbeitern entgegen dem Regierungsvorschlag, der 10 Arbeiter als Grenze wollte, fasst nur Betriebe, die „gefährlich oder gesundheitsschädlich“ sind, und lässt auch da noch, „wo die Anwendung des Gesetzes nicht erforderlich erscheint“, Ausnahmen durch kaiserliche Verordnung zu. Die Tätigkeit von Kindern unter 12 Jahren ist in Zukunft ausser für leichte und einfache Arbeiten, wo die Verwaltungsbehörden Personen von 10 Jahren an zulassen können, verboten. Für Kinder unter 15 Jahren und Frauen ist eine Maximalarbeitszeit von 12 Stunden festgesetzt, doch kann während 15 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes vom Minister des Innern noch eine Arbeitsdauer von 14 Stunden erlaubt werden; das Verbot der Nachtarbeit zwischen 10 Uhr abends und 4 Uhr morgens für die gleichen beiden Gruppen wäre ein gewaltiger Fortschritt, wenn es nicht durch eine Reihe von Arbeiten, die ihrem Charakter oder sonstiger Eigenart nach Tag- und Nachtarbeit oder Nachtarbeit erheischen und vom Minister noch festgesetzt werden, durchbrochen wäre. Erst 15 Jahre nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ist die Beschäftigung von Personen unter 14 Jahren und Frauen unter 20 Jahren für die Nachtzeit völlig untersagt. Als Ruhetage sind nur für Arbeiterinnen und [383] Jugendliche unter 15 Jahren zwei Ruhetage im Monat zugestanden, im Fall der Tätigkeit in Tag- und Nachtschichten vier. Von allen diesen Arbeitsbestimmungen sind wiederum Ausnahmen zugelassen, z. B. bei Saisonarbeit, die bis zur Gewährung von Überarbeit an 120 Tagen und diese im Ausmass von 1 Stunde im Tag den Wert des Gesetzes schwächen. Frauen und Jugendliche unter 15 Jahren dürfen mit der Bedienung von Maschinen oder Arbeiten an Kraftleitungsanlagen nicht beschäftigt werden, noch in Betrieben, die mit Giften und Explosivstoffen arbeiten oder viel Staub, Pulver oder gesundheitsgefährliche Gase verbreiten, tätig sein. Der Bau wie Betrieb von Fabriken ist unter Aufsicht gestellt.

Bestimmungen für kranke Personen und schwangere Frauen sind den zuständigen Ministern überlassen.

Die Krankheits- und Unfallfürsorge soll durch kaiserliche Verordnung noch geregelt werden und eine Unterstützung dem unverschuldet Beschädigten oder seiner Familie bringen; diese wird wohl die dürftigen Bestimmungen des Berggesetzes von 1905 nicht übersteigen, die Arztkosten und Verpflegung, ⅓ des Arbeitslohnes in der arbeitslosen Zeit, 10 Yen Begräbnisgeld gewährten und eine Abfindung von 100 Tagelöhnen für Witwen und Waisen vorschrieben.

Auch die Regelung der Aufsicht über Anstellung und Entlassung der Arbeiter und Stellenvermittlung, sowie die Frage des Lehrlingswesens soll ein kaiserlicher Erlass noch regeln.

Geldstrafen im Höchstmass von 500 Yen lassen das von Ausnahmen durchbrochene so überaus milde erste Sozialgesetz nicht wirksamer werden.

Hat die Regierung bis heute also noch immer der Arbeiterarmee den nötigen sozialen Schutz versagt, so finden sich ausserordentlich klägliche Lohnverhältnisse, die vielfach noch eine altväterliche Höhe zeigen, neben Preisen, die durch die Anpassung an den Weltmarkt seit dem chinesischen Krieg wie durch die finanziellen Bürden der Kriege unaufhörlich stiegen.

Tabelle XII.
1895
Yen
1900
Yen
1905
Yen
1907
Yen
1909
Yen
1 koku (1,804 hl) Reis 8,21 11,32 12,66 16,02 12,54
1 koku Gerste 3,80 4,74 6,59 5,46 5,62
1 koku Salz 1,39 2,41 4,43 5,24 5,21
100 kin 1 kin = (6 hektogr.) ausländischer brauner Zucker 5,81 7,70 11,65 10,94 12,48
1 koku Soya 9,57 17,41 21,76 22,60 23,23
100 kin Tee, 30,26 36,36 48,21 44,45 49,34
1 koku Sake 17,23 30,68 37,61 41,09 43,49
1 Kiste Erdöl mit 2 Kannen 2,38 3,14 3,29 3,70 3,85
1 kama = (36,57 m) grauer Shirting 3,14 3,80 5,21 5,46 5,69
1 Tan (= 9,917 Ar) gebleichter baumwollener Stoff 0,31 0,37 0,47 0,47 0,44

Die ganze Steuerlast der Kriege wurde auf die Schultern des Volkes gewälzt; mochte bei dem geringen Vorkommen von grossen Vermögen auch kein anderer Ausweg bleiben, als eine starke Heranziehung der breiten Massen des Volkes, so hat diese doch einen Umfang angenommen, der Frau und Kinder in die Fabrik zwingt und Einschränkungen in der Lebenshaltung gebietet, was schwere und bedenkliche Folgen zeitigen muss.

Es ist durch Zölle oder indirekte Steuern alles getroffen, was den Arbeiter nährt, kleidet, wohnen lässt, fortbewegt und in der Krankheit hilft, oder sein primitives Vergnügungsleben bildet. Neben Reiszoll steht die Soyasteuer, die Gewebesteuer trifft sein Gewand, die erhöhte Grundsteuer sein Wohnen, die Verkehrssteuer gerade die kurzen Entfernungen und den Trambahnverkehr schwer, die Arzneisteuer sucht den Kranken noch am Krankenbett auf und die Steuer auf Sake belastet ihn, ohne dass der Staat für ein höheres Vergnügungsleben, das dem Alkoholgenuss steuerte, sich umtut. Die neuen Steuerreformen erleichterten die Lasten der Bauern im Verhältnis ihrer Leistungsfähigkeit und zogen die städtische Bevölkerung sehr scharf heran.

[384] Abgesehen von einigen männlichen Berufen, wie besonders dem Bauhandwerk, wo alte Gilden die Löhne regulierten, oder der Eisenindustrie, wo moderne Gewerkschaften eingriffen, ist die unorganisierte Arbeiterschaft, am meisten Frauen und Kinder, dem Machtgebot des Unternehmers ausgeliefert. Es finden sich Löhne für Mädchen unter 14 Jahren von 8–11 sen, von Knaben unter 14 Jahren 12–20 sen, für Frauen von 17–22 sen, für Männer von 29–50 sen in einer grossen Anzahl von gewerblichen Tätigkeiten.

Eine vegetarische Ernährung, die in der Hausindustrie üblich, von zwei Gelehrten Dr. Kellner und Mori als Unterernährung bezeichnet wurde, ist es noch mehr mit dem Eintritt der Arbeiter in die Fabrik geworden. Die Löhne vieler Männer reichen nicht zur vollkräftigen Ernährung der „dritten Speisengruppe“, die der Frauen und Kinder meist nicht zur kümmerlichsten vegetarischen Kost; die Fleischnahrung ist aber bei der sitzenden Tätigkeit in den Fabriken geradezu eine Notwendigkeit.

Diese Löhne können den Körper auf die Dauer nicht leistungsfähig erhalten, sondern müssen zur Kraftlosigkeit, hoher Krankheitsempfindlichkeit, Geburt schwacher Kinder und frühem Tod führen. In der Verzweiflung an ihrer Lage kam es dann wohl besonders in Bergwerken zu Streiks, wo bei die Sabotage nicht selten war – am schlimmsten war der Streikaufstand in den Kupferwerken von Ashio im Jahre 1907; aber die Arbeiter, die sich ins Unrecht setzten, wurden mit Waffengewalt niedergezwungen und hatten oft noch schlimmer zu dulden als zuvor.

Nachdem es entschieden war, dass die Kriegsauflagen, namentlich auch die vom niederen Volke schwer empfundenen auf Gewebe, Shoyu (die in jedem Haushalt unentbehrliche Sauce aus Sojabohnen) und Salz verewigt werden, setzte auch die sozialistische Agitation gegen die Verelendung der Massen wieder ein. Der Unterrichtsminister hielt es am 9. Juni 1906 geboten, die Jugend vor dem schädlichen Einfluss der neu aufgekommenen Lektüre über wirtschaftliche Fragen zu warnen und die Überwachung der Schülerlektüre anzuordnen. Sein Rundschreiben erläutert diese neue Erscheinung: „Seit einiger Zeit mehren sich die Veröffentlichungen, welche gefährliche Theorien, pessimistische Ansichten darlegen und verabscheuungswürdige Gefühle beschreiben; auch sehen wir, wie überall extrem-sozialistische Theorien verbreitet werden.“ Namentlich seit dem Rückgang der Konjunktur in der zweiten Hälfte des Jahres 1907 wurde die Kampfstimmung unter den Arbeitermassen immer allgemeiner. Im Februar 1908 bildete sich ein neuer „sozialistischer Verein“, der durch wahrheitsgemässe Darstellungen der traurigen Lage der ungeschulten Arbeiter Propaganda machte. Die Gefahr wurde, wie viele, oft leichtsinnige Streiks bewiesen, dadurch nicht vermindert, dass die Regierung die Bildung einer sozialdemokratischen Partei (Shakwai Heiminto) mit dem Programm, „die Prinzipien des Sozialismus innerhalb der durch die Verfassung gezogenen Grenzen zu vertreten und den arbeitenden Klassen zu ihren angeborenen Rechten zu verhelfen“ mit Gewalt vereitelte. Die Unterdrückung der Agitation hatte nur die Folge, dass die fanatischen Idealisten den Grundlagen des Staatswesens Totfeindschaft schwuren und dass im Juli 1910 sogar eine anarchistische Verschwörung gegen das Leben des Kaisers beinahe Erfolg gehabt hätte. Unter den 26 Verschworenen waren drei buddhistische Priester und unter den 12 am 24. Dezember 1910 Hingerichteten befand sich auch der seit Jahren über den Raubbau an der japanischen Volkskraft Material sammelnde Arzt Kotoku und seine Frau. Solch ein Vorkommnis ist, wie Rathgen mit Recht hervorhebt, „für den Kenner japanischer religiös-politischer Vorstellungen geradezu erschütternd“.

Brachte so die überhastete Industrialisierung Japans die Arbeiterfrage in den Vordergrund der inneren Politik, so verband sich mit einem anderen Mittel zur Hebung des Volkswohlstandes und Aufrechterhaltung der Zahlungsbilanz der neuen Grossmacht die Gefahr einer schweren auswärtigen Verwicklung. In den Aufstellungen des Finanzministers Sakatani spielten die Geldsendungen der Auswanderer eine bedeutende Rolle. Dementsprechend wurde es den Auswanderungsunternehmern (meist Gesellschaften) erleichtert, Menschenmaterial nach allen möglichen Ländern, besonders nach Nord- und Südamerika zu schaffen. Da durch ein Gesetz 1896 japanische Berg-, Fabrik-, Landwirtschafts- und Hausarbeiter zum Verlassen des Inselreichs einer behördlichen Erlaubnis bedürfen, so lässt sich die Zahl der ins Ausland gegangenen Japaner aus den Pässen, die von der Regierung ausgestellt sind, ziemlich genau berechnen. Sie erreichte ihr Maximum i. J. 1906, [385] wo 45 278 Passe zur Reise nach Hawai, den Vereinigten Staaten, Kanada und Mexico ausgefertigt wurden. Die amerikanische Einwanderungsstatistik stellte für die Zeit von 1900 bis 1907 eine Vermehrung der in den Vereinigten Staaten angesiedelten Japaner von 24 500 auf 80 000 fest. Etwa ⅔ dieser Zahl fand in dem den japanischen Inseln am nächsten gelegenen Staate Kalifornien als Obstzüchter, Packer und Handwerker eine nach ihren Anschauungen sehr lohnende Beschäftigung gegen einen Entgelt, von dem amerikanische Arbeiter nicht leben können.

Aber die Reaktion blieb nicht aus. In den Vereinigten Staaten sowohl wie im westlichen Kanada und in Australien vollzieht sich die Bildung der Nationalität durch schnelle Aufsaugung und Assimilation der Einwanderer. Dafür waren die zu neuem Selbstgefühl gekommenen Japaner, die ihrem Vaterlande treu bleiben wollten, nicht zu verwerten. Sie schlossen sich eng aneinander an, behielten deshalb viel von ihrer heimatlichen Lebensweise bei und verlangten doch auf Grund der Verträge volle Gleichberechtigung. Ihre Anstelligkeit und Betriebsamkeit erschien den an eine hohe Lebenshaltung gewöhnten amerikanischen Arbeitern als die schlimmste Konkurrenz. Überall regte sich bei den englisch sprechenden Völkern der neuen Welt das Selbstgefühl der weissen Rasse gegen diese Farbigen, die sich nicht so missachtend behandeln lassen wollten wie die Neger und Chinesen. Man benutzte die staatliche und munizipale Autonomie, um durch besondere Gesetze alle Mongolen, und damit auch die Japaner, vom Besitz und von der Pachtung von Ländereien auszuschliessen oder ihre Kinder in besondere für den mongolischen Nachwuchs eingerichtete Schulen zu zwingen. Zur Beschönigung dieses Verfahrens wurde die gelbe Presse nicht müde, auf die Gefahr japanischer Überrumpelungen mittels der über den Ozean geworfenen verkappten Soldaten hinzuweisen. Aus der Monroedoktrin leitete man die Berechtigung der Vereinigten Staaten ab, auch die Ansiedelung von Japanern im spanischen Mittel- und Südamerika zu überwachen, weil daraus eine Unterstützung des Widerstandes gegen den panamerikanischen Gedanken entstehen könnte. Die Proteste der japanischen Regierung führten nur zu neuen Reibungen in den japanfeindlichen Gebieten. Da die Vereinigten Staaten für die wichtigsten Exportartikel Japans, besonders für Seide und Tee, die weitaus besten Abnehmer sind, so hatte man auf japanischer Seite das Bedürfnis, den Konfliktstoff möglichst zu beseitigen. Durch Versagung von Pässen kam man praktisch den amerikanischen Wünschen sehr weit nach, obwohl man prinzipiell den Rechtsanspruch, der sich auf den Wortlaut der Verträge stützte, nicht aufgab. 1908 wurden nur noch 7581 Pässe zur Reise nach Hawai, den Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko ausgegeben. Einen Ersatz suchten die Auswanderungsagenturen in der Arbeitsgelegenheit der Salpeterfelder in Chile, der Zuckerpflanzungen in Peru, der Minen und Tabakspflanzungen in Brasilien. Auch die eigenen Kolonien bekamen als Aufnahmegebiet der mit ihrem Lose in der Heimat unzufriedenen Japaner eine erhöhte Bedeutung. Aber dort kann der an bessere Lebensführung gewöhnte Lohnarbeiter aus Altjapan mit Koreanern und Chinesen in der Billigkeit seiner Arbeitskraft nicht konkurrieren. Nur als Vorarbeiter, Handwerker, Krämer, Aufseher, kaufmännischer und technischer Angestellter findet er ein besseres Fortkommen. In grösserem Umfange kann es ihm nur beschafft werden, wenn nun auch die Kolonien industrialisiert werden, dann aber dem Heimatlande Konkurrenz machen. Die moralische Überlegenheit in den Verhandlungen mit Amerika über die Auswandererfrage hat sich die japanische Regierung auch dadurch verscherzt, dass sie selbst im eigenen Lande die Einwanderung chinesischer Kulis zu verhindern gewusst hat. Der Japaner fühlt sich in den Kolonien und im Auslande dem Chinesen und Koreaner gleicher Bildungsstufe überlegen und beansprucht sozialen Vorrang, während er selber in den Ländern westlicher Kultur als vollkommen gleichberechtigt anerkannt sein will.

So ergeben sich aus den Bemühungen zur Industrialisierung Altjapans, den Bedingungen erfolgreicher Konkurrenz mit technisch fortgeschritteneren Ländern, der dadurch beeinflussten Arbeiterfrage, dem Zurückbleiben in der Sozialpolitik und der auf diplomatischen Versprechungen beruhenden Einschränkung der Auswanderung schwierige Probleme für die Zukunft des Grossstaates Japan.