Die Gartenlaube (1879)/Heft 40

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 40. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Felix.
Novelle von Karl Theodor Schultz.
1.

Herr Felix von Pranten, seit Kurzem wohlbestallter Hülfsarzt an der Augenklinik des Doctor Pflummern in Cleebronn, saß heute ganz wider seine Gewohnheit nachdenklich am Fenster. Neben ihm lag zwar Ruete’s Lehrbuch der Ophthalmologie, augenscheinlich aber – darauf deutete die unberührte Lage Staub auf dem Deckel hin – hatte er das Buch noch nicht geöffnet. Die an dem jungen Mann befremdende Stimmung konnte also nur ein Artikel der Zeitung hervorgerufen haben, die er in der Hand hielt. Plötzlich aufspringend, maß er das Zimmer mit großen Schritten. Nach ein paar Rundgängen trat er an das Fenster zurück, hob den guten, zu Fall gekommenen Ruete auf und nahm die Zeitung von Neuem vor.

Halblaut las er folgende Anzeige: Wer geneigt wäre, einer Blinden – wöchentlich an drei Nachmittagen – vorzulesen, wolle sich Frauengasse Nr. 18 melden! Gutes, verständnißvolles Lesen ist Bedingung.

„Frauengasse 18 – 18!“ wiederholte er, „das ist sie.“

Wieder begann das ruhelose Wandern. Vielerlei Gedanken, die sich bald zu Plänen entwickelten, kreuzten durch Pranten’s Kopf. Vor einigen Tagen war nämlich eine junge Dame von auffallender, lichter Schönheit in der Klinik gewesen: sie hatte ihn sofort auf’s Lebhafteste gefesselt, und um so tiefer, als sich bei der Untersuchung herausgestellt, daß die Art ihres grauen Staares selbst bei einer glücklichen Operation keine sichere Aussicht auf günstigen Erfolg bot. Vielleicht ewige Blindheit für dieses scheinbar von allen Göttern begnadigte Geschöpf! Wie sehr Pranten auch an Schweres in der Beziehung gewöhnt war, so viel Schönheit und solch unsägliches Weh gehörte einmal nicht zu einander. Mit einem Ausruf der Ungeduld, der beinahe wie etwas verschlucktes Böses klang, schien der junge Mann endlich in sich einig geworden zu sein und eilte nach dem Schlafzimmer, um seinen Anzug zu wechseln.

Kurze Zeit darauf wurde – gerade nicht sanft – in Nr. 18 der Frauengasse die Glocke gezogen, und Pranten, in tadelloser Besuchstoilette (auf die er gern hielt), übergab seine Karte. Während das Mädchen ihn anmeldete, war er schwach genug, sein üppiges Haar vor dem im Hausflur hängenden Spiegel durch geniale Bürstenstriche aufzulocken. Freilich bildete dieses Haar eigentlich seinen einzigen äußeren Schmuck; besonders war an dem großen Kopfe, welcher selbst der hochaufgeschossenen Figur gegenüber allzu stark hervortrat, alles bis auf das Haar häßlich. Daher führte wohl auch der fast traurige Blick, mit dem Pranten sich in die Augen sah, unverwandt, als lohnte es überhaupt nicht, die andern Theile seines Gesichts, die eingebogene Nase, diesen unschönen Mund und das vierkantige Kinn, noch irgend welcher Aufmerksamkeit zu würdigen. Er kannte da wohl seit lange alle Züge, und so häufig er sie auch zergliederte, niemals hatte ihre Häßlichkeit in milderem Licht erscheinen wollen.

Mit einem Seufzer wandte sich Pranten der Treppe zu und folgte dem inzwischen wiedergekehrten Mädchen nach einem Altan, der auf der Rückseite des Hauses herausgebaut war. Den kleinen Raum nahm beinahe vollständig eine Art von Laube ein, die auf’s Einfachste durch Heraufziehen von wildem Wein hergestellt war. Dennoch hatte die Laube etwas luftig-phantastisch Zierliches: die Capitäle der schlanken Säulen, auf welchen das Dach ruhte, waren von feiner alter Steinhauerarbeit und traten überall mit ihren Akanthus- oder Palmenblättern gefällig aus dem Geranke des Weines hervor, das sie nur wie Festons umflatterte.

Pranten erkannte auf den ersten Blick in der jüngeren der beiden Damen, vor welche das Mädchen eben eine Schale mit Erdbeeren setzte, die Blinde, welche ihm in der Klinik aufgefallen war.

Mit einer stummen Frage in dem schmalen, runzelvollen Gesicht trat ihm die ältere Dame entgegen; Pranten bat, sich nicht stören zu lassen, nahm rasch Platz und fuhr in seiner lebhaften Weise fort:

„Um jeder Unklarheit zuvorzukommen – Ihre Annonce im Tageblatt hat mich hergeführt.“

Die ältere Dame lehnte sich mit einem Zuge beginnender Reserve in ihren Sessel zurück und musterte den Ankömmling, der sich für solche Stellung sehr ungenirt zu benehmen schien, die Blinde aber, welche nur auf sein klangvolles, sonores Organ gelauscht hatte, rief von Freude:

„O, Sie wollten das wirklich übernehmen?“

„Wenn wir uns über die Stunden einigen können!“ antwortete Pranten, ohne durch die abweisende Kälte seiner stummen Nachbarin im Mindesten beunruhigt zu werden.

„Meiner Cousine, Frau Assessor Ballingen“ – die einander Vorgestellten verneigten sich auf’s Förmlichste – „wird ein stundenlanges Lesen schwer,“ erwiderte die Blinde; „so kamen wir auf den Gedanken, nach Hülfe auszuschauen. Wie freundlich, wenn sich unser Wunsch, kaum entstanden, schon erfüllen sollte!“

„Du bist zu sanguinisch,“ bemerkte die Frau Assessor mit leichtem Hüsteln, „wir sind ja über die Bedingungen des Herrn von –“ [658] „Pranten! alte gute Familie!“ ergänzte dieser lachend und fuhr fort: „Meine Bedingungen? Ah, die sind herzlich einfach: Mittwoch und Sonnabend Nachmittag habe ich frei, wie in goldener Kinderzeit, könnte also ganz nach der Damen Wunsch erscheinen. Die Stunden des dritten Nachmittags – etwa Montags? – müßten sich allerdings nach meinem Dienst richten, also nach fünf Uhr gelegt werden; wie Ihnen meine Karte gesagt haben wird, bin ich Hülfsarzt in der Pflummern’schen Klinik. Damit ist Alles erschöpft, was ich an Bedingungen zu stellen hätte. Darf ich nun die Ihrigen hören?“

„Ja, aber,“ fiel Frau Ballingen mit vorwurfsvollem Blick auf die Blinde ein, welche den Worten des jungen Mannes lächelnd zugehört hatte, „damit ist doch unmöglich Alles erschöpft? Sie sind uns völlig fremd, wir Ihnen; meine Cousine würde sich ebenso wenig wie ich dazu verstehen können, ein solches Opfer ohne – ohne –“

„Eine Gegenleistung anzunehmen,“ unterbrach sie Pranten ernsthaft. „Gewiß, das begreife ich. Augenblicklich scheint ja die ganze Welt ein großer Handelsplatz; eigentlich ist Alles käuflich, und Jeder, der Fürst wie der Bettler, macht Geschäfte. Natürlich darf ein bloßer Baron, dabei ein armer, keine Ausnahme machen, ob seine Ahnen auch dem Grundsatz huldigten, daß im Handel der Adel erlischt. Auch seine Freistunden haben ihren Werth und sind daher meistbietend loszuschlagen. Bieten Sie also, gnädige Frau, oder lieber Sie, mein Fräulein, ich würde gern erfahren, wie hoch gerade Sie meine Freistunden anschlagen.“

Eine Pause der Verlegenheit entstand. Zwar schien Alles scherzend hingeworfen, dennoch hatte sich, dem Sprecher vielleicht unbewußt, hie und da ein Ton von Bitterkeit durchhören lassen, der geschont sein wollte. Das empfand wenigstens eine seiner Zuhörerinnen wie eine Nothwendigkeit und suchte nach einem zarten Uebergang. Doch schon löste Pranten’s heitrer Uebermuth die kleine Spannung mit den Worten:

„Fordere ich zu viel, wenn ich für zwei Stunden, wie ich hoffe, erträglichen Lesens eine gute Tasse Kaffee mit – denken Sie darum nicht gering von meiner Männlichkeit! – mit Kuchen fordere? Kaffee ohne Kuchen ist einmal für mich wie Schönheit ohne Anmuth.“

Cousine Ballingen konnte nicht umhin, einen milderen Blick auf ihr Gegenüber zu werfen, da eine ihrer wenigen Schwächen auch in „Kaffee mit Kuchen“ bestand. Sie paßten doch in etwas zu einander, denn im Uebrigen erschien ihr die Möglichkeit, mit diesem sans façon Baron als halbem Hausgenossen verkehren zu sollen, durchaus nicht sympathisch.

Die Blinde dagegen rief heiter: „Das bringt uns aber um keinen Schritt vorwärts, denn es versteht sich doch von selbst, daß Sie den Kaffee mit uns nehmen. Auch darf ich Ihnen versichern, daß es ein Ehrenpunkt für meine Cousine ist, stets ein vortreffliches Stückchen Kuchen bereit zu halten.“

„Eine ebenso schätzbare wie reizvolle Eigenschaft!“ richtete Planten sich verbindlich an die Frau Assessor. Dann wandte er sich ernst zu der Blinden. „Ich will offen sein: ich war vor einigen Tagen bei der Untersuchung Ihrer Augen in unserer Klinik zugegen, und die Art, in welcher der Staar bei Ihnen auftritt, interessirt mich. Doctor Pflummern scheint mir diesmal allzu dunkel zu sehen; nach meiner, allerdings erst geringen, Erfahrung möchte ich glauben, daß wir auch Ihren Staar trotz seiner Größe bezwingen werden, sobald nur der des linken Auges erst reif geworden ist.“

„O, wirklich? Mein Gott, welche Hoffnung!“ jubelte die Blinde auf, indem sie ihre zarten Hände unwillkürlich faltete.

„Nur nicht zu sanguinisch, liebste Josephine!“ Sanguinisch war ein Lieblingswort der Frau Assessor. „Du hörst ja, es ist eine bloße Ansicht des Herrn Baron.“

„Sie heißen Josephine?“ fragte Pranten rasch.

Die Blinde nickte.

„Dann müssen Sie mir erst recht gestatten,“ fuhr Pranten fort, „über das Vorschreiten Ihrer Blindheit gleichsam zu wachen. Josephine ist ein Lieblingsname von mir, der meines Pflegemütterchens und einer Jugendfreundin. Schon um dieser Erinnerungen willen darf ich nicht leiden, daß Jemand, der Josephine heißt, einen Tag länger blind bleibe, als nöthig. Nicht wahr, nun sehen Sie auch ein, daß es geradezu nothwendig ist, mir das Amt Ihres Vorlesers anzuvertrauen?“

„Aber –“ begann Frau Ballingen –

„Kein Aber mehr!“ unterbrach sie Pranten. „Als ich Ihre Anzeige las, trieb mich ein unabweisbares Gefühl hierher; ich empfand gleichsam körperlich die Macht einer unbewußten Führung; bei dergleichen soll man nie achtlos bleiben. Und wirklich, so lieb und angenehm ein paar in Damengesellschaft verlebte Stunden auch erscheinen mögen, hier, in diesem Falle, spricht der Arzt in mir ebenso voll mit wie der Mensch. Fräulein Josephine, bei Ihnen – verzeihen Sie, gnädige Frau, doch wir Sehenden haben da zurückzutreten, einzig bei dem Fräulein liegt die Entscheidung: darf ich übermorgen mein Amt antreten?“

In dem Tone Pranten’s, in der ganzen Art seines Sprechens lag etwas durchaus Einfaches; dennoch erzwang es gleichsam die Gewährung seiner Bitte.

So erwiderte Josephine denn, während Blässe und Röthe in ihrem Antlitz wechselten:

„Zwar ist solche Güte ungewöhnlich, Herr Baron, doch auch in mir spricht etwas dafür, daß ich Ihre Gründe gelten lasse und Ihre Aufopferung ohne vieles Klügeln annehmen möge.“

„Dürfen Sie es wirklich Aufopferung heißen,“ versetzte Pranten warm, „daß ich zwei Stunden, welche ich sonst auf dem Sopha oder im Kreise meiner Tischgenossen zubringen würde, nun in Ihrer und eines guten Buches Gesellschaft verleben soll? Thun Sie damit nicht ebenso viel für mich, wie ich für Sie? Oder vielmehr: Sie können nicht ahnen, in welchem Grade Sie mir Gutes erzeigen würden, während mein Verdienst Ihnen in gleicher Weise zu Gute kommen würde, wenn Sie fortführen von Zeit zu Zeit die Klinik zu besuchen.“

„Dieser Besuch der Klinik,“ entgegnete Josephine, „ist aber eine wahre Marter für mich; die Aufregung bei dem Gedanken, wieder dorthin gehen zu müssen, macht mich jedesmal tagelang vorher leidend.“

„Und das letzte Mal,“ setzte Frau Ballingen hinzu, „mußten wir beinahe zwei Stunden warten, ehe die Reihe an Josephine kam. Mir war in der Hitze und unter den vielen Wartenden so unwohl geworden, daß ich früher nach Hause fuhr.“

„Für die Zukunft also,“ sagte Pranten sich erhebend, „sind Sie von allen Fahrten nach der Klinik erlöst. In einer Person ist hiermit der Vorleser und Hausarzt angeworben, bis Sie Beide wieder verabschieden; möge der Abschied – ich will versuchen völlig selbstlos zu sein – bald gegeben werden können!“

„Darüber bestimmen wir ja nicht,“ versetzte Josephine leise.

Sie reichte ihm die Hand, welche Pranten mit festem Druck umschloß.

„Somit auf Wiedersehen!“ sagte er und verließ den Altan.




2.

Die Frau Assessor hatte Pranten’s Verbeugung freundlicher erwidert, als man nach ihrer anfänglichen Kühle hätte vermuthen dürfen; das nunmehrige Fortfallen aller Klinikbesuche, die Doctor Pflummern unbedingt gefordert und welche ihr ganzer Schrecken gewesen, hatte sie milder gestimmt. Diese Milde wäre wohl der Schilderung zugute gekommen, die sie eben auf Josephinens Frage nach der äußern Erscheinung ihres künftigen Vorlesers geben wollte, als das Mädchen einen neuen Besuch meldete.

Die beinahe athemlos hereinstürzende Dame, Frau Kanzleiräthin Schussenried, nahm sich heute nicht die Zeit, mit der Freundin die beiden gewohnten Küsse zu wechseln, oder nur ihrem Pathchen die Hand zu streicheln; schon im Eintreten begann sie:

„Goldene Kinder, dieser Pranten kam von Euch? Was wollte er? Ein schrecklicher Mensch! Das war ein Student! Der erste Krakehler: immer gleich auf die Mensur! Er ist es ja gewesen, der meinem armen Willy die Lippen zerhauen. Und getrunken hat er und trinkt noch! Ueberall soll er der Letzte sein. Mein Gott, warum antwortet Ihr mir nicht? Hattet Ihr nach ihm geschickt? Ist etwas passirt mit Josephine?“

„Nichts, nichts!“ rief diese lächelnd. „Du frägst nur so viel auf einmal, daß man mit der Antwort ‚nicht gerathen kann’, wie Du zu sagen pflegst.“

„Er will die Vorleserei übernehmen!“ fiel Frau Ballingen beunruhigt ein.

„Unmöglich, rein unmöglich!“ erklärte die Räthin.

„Auch mir hat die Idee mit dem Vorlesen von vornherein [659] widerstrebt,“ versicherte Frau Ballingen. „Hätte Josephine nicht darauf bestanden, wenigstens den Versuch zu machen, ich für meine Person hätte mich nie dazu entschließen können.“

„Aber beste Adelheid,“ sagte Josephine mit leichter Ironie, „Dich ermüdete das Lesen immer.“

„Doch nur,“ unterbrach diese, „weil Du Dich in letzter Zeit auf wissenschaftliche Werke capricirst! Denke Dir, Malchen, sie wollte neulich sogar die Philosophie eines gewissen Unbewußten kaufen.“

Die Räthin schauderte, benutzte aber gleichzeitig das Verstummen der Freundin und bat, indem sie sich hastig an Josephine wendete:

„Kindchen Du mußt mir versprechen, diesen Pranten nicht mehr über die Schwelle zu lassen! Sein Ruf ist durchaus nicht danach, daß er sich zum Vorleser für ein anständiges junges Mädchen eignet; ich glaube, ich hörte von der Wallhausen sogar etwas von einem Verhältniß mit einer Schenkmamsell! Gott, man behält dergleichen nicht, ich will mich aber sofort genauer erkundigen; jedenfalls dürft Ihr Euch noch nicht binden.“

„Leider ist das so gut wie geschehen,“ erwiderte Frau Ballingen mißmuthig. „Ich habe öfter gehustet, um Josephine zur Vorsicht zu mahnen, sie schien das jedoch absichtlich zu überhören.“

„Er hat solche durch und durch offene Art, sich zu geben, und ein so schönes, edles Organ!“ warf Josephine hin.

„Er hätte wirklich etwas Schönes an sich?“ rief die Räthin mit hellem Auflachen; „denn im Uebrigen ist er mein Ideal von einer Vogelscheuche. Dieser Riesenkopf mit dem fürchterlichen Munde und den Schlitzaugen – nicht wahr, Adelheid, wenn Phine sehen könnte, wäre bei ihrer Empfindsamkeit von vornherein gedankt worden?“

„Wenn ich sehen könnte,“ sagte Josephine mit einem herben Lächeln, „hätte er uns allerdings nicht aufgesucht.“

„Wie kam er denn überhaupt darauf, sich bei Euch einzuführen?“ fragte die Räthin. „Habt Ihr ihn in der Klinik kennen gelernt?“

„Nein!“ erwiderte Josephine. „Zwar muß er bei der Untersuchung gegenwärtig gewesen sein, er bezog sich darauf, aber ich erinnere mich nicht, ihn sprechen gehört zu haben. Unsere Annonce hat ihn hergeführt.“

„Kind!“ rief die Räthin, „dahinter steckt etwas; das lasse ich mir nicht nehmen. Wie in aller Welt käme sonst gerade er dazu, sich für diesen Dienst zu melden! Wir dachten doch an einen armen Studenten oder irgend eine Hülfslehrerin. Er hat ja sein Brod, wenn es auch noch so klein wäre. Jedenfalls sind die paar Thaler nicht die Hauptsache.“

„O,“ fiel Frau Ballingen ein, „er beansprucht, wie es mir vorkommt, gar kein Honorar; eine Tasse Kaffee hat er sich ausbedungen.“

„Du vergißt den Kuchen!“ setzte Josephine ernsthaft hinzu.

„Es wird immer verdächtiger!“ brach Frau Kanzleiräthin Schussenried los, „kein Honorar, nur Kaffee, wie für ein Familienmitglied! Meine arme Taube“ – sie drückte und streichelte dabei Josephinens Hände – „ich sehe Dich schon in seinen Krallen. Glaubt mir, er hat es bereits herausgebracht, daß Du wohlhabend bist und – und –“

„Ich bin blind!“ unterbrach sie Josephine sanft.

„Was gilt solchem Menschen Blindheit!“ fuhr die Räthin auf, „und die Deinige, welche doch über kurz oder lang gehoben wird! Dein Geld ist ihm –“

„Liebe Pathe,“ versetzte Josephine erregt, „Alles hat seine Grenzen. Baron Pranten ließ uns offen in seine Gedanken und Absichten blicken, und so lange mich nicht bestimmte Thatsachen von der Unwahrheit seiner Angaben überzeugen, dürfte –“

„Auf die Gedanken und Absichten des Herrn Barons wäre ich unendlich neugierig,“ fiel die Räthin scharf ein, indem sie ihr Spitzentuch mit einem Ruck an sich zog.

„Das sind recht einfache Absichten!“ erwiderte Josephine ruhiger. „Ihm füllen sich dadurch ein paar müßige Stunden, und den Arzt interessirt außerdem die Weiterbildung meiner Art von Staar.“

„Das kann er bei den Patienten in der Klinik ebenso gut haben,“ erklärte die Kanzleiräthin, ihr Tuch wieder loslassend. „Was ist da auch zu verfolgen? Ich sage noch einmal und Ihr werdet es erleben: dahinter steckt mehr. Nun, Adelheid, Du wenigstens halte die Augen offen! Wir wollen gleich zur Wallhausen gehen. Kinder, ich gebe ja gern zu, daß ich gegen diesen Monsieur Pranten eingenommen bin; mein armer Willy hat noch dann und wann sein Zucken in den Lippen, aber was unklar, ist unklar, und Noth kennt kein Gebot. Seine Eltern sind im Elend verkommen; der Vater war ein stadtkundiger Trunkenbold und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Wenn ich es denke, mein Pathchen, meine Josephine!“ Fast wie eine Thräne glänzte es da im rechten Auge, und die Küsse, die sie auf Josephinens Wangen preßte, bewiesen geräuschvolle Innigkeit, dennoch streifte sie mit einem Schütteln die ungewohnte Anwandlung wieder ab und sagte, indem sie sich rasch erhob: „Aber so weit sind wir noch nicht. Hören wir von der Wallhausen bestimmt Gravirendes, so wirst Du selbst einsehen, daß ihm abgeschrieben werden muß. Deine, unser Aller Ehre käme in’s Spiel.“

„Gewiß, beste Pathe,“ erwiderte Josephine, „ich verspreche Dir, sobald der Ruf des Herrn von Pranten zu Bedenken Anlaß giebt, von meinem Wunsche abzustehen, so schwer mir das auch fiele.“

„O, deshalb brauchst Du von Deinem Wunsche nicht abzustehen,“ rief die Räthin erleichtert, „ich kann Dir jedenfalls eine Vorleserin besorgen. Eine von den Kindergärtnerinnen aus der Schule meiner Schwester –“

„Allerdings ein Unterschied!“ sagte Josephine müde.

„Doch unbedingt viel passender für uns,“ betonte Frau Ballingen und nickte der Freundin beistimmend zu.

Diese fuhr mit den Blicken gen Himmel und hob die Schultern viel höher, als man für möglich gehalten hätte, dann sagte sie mit Salbung:

„Liebes Kind, wie oft müssen wir ein viel tieferes Verlangen bekämpfen, sterben sehen – begraben!“ Dazu schwangen sich ihre Seitenlocken wie graue Trauerglöckchen hin und wider; als sie ausgeschwungen, fuhr sie fort: „Sind wir nicht auch da? Im Nothfall löse ich Adelheid gern ab. O, man rühmte meinen Vortrag; im Theekränzchen habe ich einmal die Thekla gelesen, und Herr Assessor Huber, der eben aus der Residenz kam, behauptete, so Etwas nie gehört zu haben.“

Josephine beugte den Kopf herab: ein kleines, mildes Lächeln glitt wie ein rosiger Anhauch über ihre Züge. Frau Schussenried achtete nicht darauf und nahm in weicher Stimmung Abschied. Frau Adelheid begleitete sie.

Als die Thür sich hinter den Damen geschlossen und die kreischende Stimme der Räthin verhallt war, schien es Josephine auf einmal, als erklänge in weiter Ferne Pranten’s herrliches Organ. Und dieser Klang sollte einem Verlorenen angehören können? Nimmermehr! Viel eher einem Unglücklichen. – Sie versank in Sinnen.




3.

Hätte Pranten geahnt, welchen Sturm im Wasserglase er heraufbeschworen, wie herzlich hätte er lachen müssen! Auf die Möglichkeit eines so gefährlichen Naturereignisses kam er aber nicht. So schlenderte er denn harmlos seiner Wohnung zu, allerdings in jener Art gehobener Stimmung, die jedem Gelingen nachklingt.

Sein Häuschen, das ebenso dicht mit wildem Wein bedeckt war, wie das Haus in der Frauengasse, kam ihm heute ganz besonders freundlich vor. Er blieb, was er nie gethan, davor stehen und fand bald, dieser anheimelnde Zug rühre von der Beleuchtung her: die Abendsonne, die eben in Wolken versank, warf so verklärende Strahlen über Alles. Vielleicht hatte es auch einen anderen Grund, doch wer kann Alles und Jedes ergründen?

Sogar den Gartentheil, welcher die Klinik von seiner Wohnung schied, dieses grüne Laubgewirr, nur dicht am Hause von ein paar Blumenbeeten und am Gange von hochstämmigen Rosen, die in voller Blüthe standen, unterbrochen – selbst dieses Fleckchen Erde würdigte Pranten zum ersten Mal einer gewissen Aufmerksamkeit. Es war ihm, als hätten dort noch nie so viele Blumen auf einmal geblüht, gerade wie zu Sträußen gemacht. Zu Sträußen? Doch warum nicht? Junge Damen pflegen Blumen zu lieben. Welche Blume wohl in Nr. 18 bevorzugt würden? Unbedingt Rosen, und er hatte, wie neulich Frau [660] Doctor Pflummern ausdrücklich betont, über die Rosen des ganzen Ganges zu verfügen.

„Schön! sehr schön!“

Mit diesen halblaut gesprochenen Worten trat Pranten in sein Zimmer. Die kleine Schwarzwälderin nebenan hob eben aus. Er blieb stehen und zählte wie in Erwartung ihre Schläge. „Schon Sieben!“ Sich auf dem Absatz umdrehend, begann er etwas zu pfeifen, was stark nach einer der leichtfertigsten Melodien aus der „Schönen Helena“ klang, wechselte dabei, weniger aus Wirthschaftlichkeit, als aus Nothwendigkeit, da sein Hofschneider Müller erklärt hatte, nicht ferner borgen zu können, den momentan einzigen standesgemäßen Anzug und verließ das Haus.

Ohne den geringsten Umweg, als brächte jede Minute Verspätung einen unersetzlichen Verlust mit sich, eilte Pranten heute sogar durch Winkelgäßchen, die er sonst vermied, nach dem „Grafenbräu“. Man empfing den frischen, beliebten Mann mit fröhlichen Zurufen, die lebhaft erwidert wurden; die braune Hulda brachte seinen Maßkrug, mit „eben Angestochenem“ gefüllt, dann nahm der Abend seinen ewig gleichen Verlauf. Hier und da ein Stückchen Interessantes aus dem Leben eines Alten, ein paar überdreiste Geschichten, wohl auch etwas Kannegießerei, zwischendurch immer wieder Hulda und später vor Allem die wichtige Abendbrodfrage, deren Erledigung Stunden hinnahm. Unterdeß bot eine Blumenmaid Rosenknospen an, und der Mann der schwedischen Säkerhets-Tändstickor, die uralte Zeitungsverkäuferin, ein Italiener mit seinen mandoli unterbrachen die oder jene längst bekannte Geschichte. Endlich bemerkte ein Aelterer, daß die Tabakswolken beinahe undurchdringlich geworden, daß man die letzte Halbe bestellen müßte. Als sie getrunken war – lange nach Mitternacht – verließ die Gesellschaft in sichtlicher Unbeholfenheit Einer nach dem Andern das „Grafenbräu“.

Pranten war, wie leider gewöhnlich, einer der Allerletzten und steuerte durchaus mannhaft, jedoch mit einer gewissen gespreizten Energie, seiner Wohnung zu. Den guten Göttern dank, träumte die Frau Kanzleiräthin längst vom schönen Assessor Huber, als Pranten unter ihren Fenstern hinstelzte: sie hätte sonst gewiß wieder allerlei Böses in sein spätes nach-Hause-Kommen hinein gebraut. Und doch hatte sich dieser eben so lobenswerth benommen, eben dem leichtsinnigen Krüger widerstanden, der ihn noch durchaus mit in das Nachtcafé zerren wollte, aus welchem die heiseren Soprane klangen und das wüste Bravogeschrei. Sonst war er wohl mitgegangen, warum heute nicht? Er dachte darüber, lächelte still und sah zur Venus empor, die allein am Himmel herrschte; wie von Blitzgefunkel umrissen war in dem Augenblicke, als ihn Krüger hereinziehen wollte, ein hauchzarter Kopf vor ihm aufgetaucht – hatte der ihn wirklich am Eintreten gehindert? Vielleicht – Vielleicht auch bloße Müdigkeit? Ah! – nur Müdigkeit!

(Fortsetzung folgt.)




Das neue deutsche Reichsgericht zu Leipzig.


Von Professor Karl Biedermann.



Im alten deutschen Reiche war der Kaiser geborener und berufener Schützer des Rechts in allen Landen. Die alten Kaiser hielten selbst Gericht, oder ließen in ihrem Namen Recht sprechen durch ihre Vertreter, die Pfalzgrafen oder Hofrichter. Nur freilich reichte ihr Blick und ihr Arm nicht immer weit genug, um jedes Unrecht zu entdecken oder jedes Urtheil nachdrücklich zu vollziehen. Auch die Gaugrafen übten ursprünglich, als Statthalter des Kaisers, in dessen Namen und Auftrage die Rechtspflege, allein allmählich verwandelte sich diese übertragene Justizgewalt in eine eigene der Grafen selbst, welche letztere sich dadurch mehr und mehr in vom Kaiser unabhängige Landesherren verwandelten. Dennoch blieb das Kaiserthum der höchste Rechtsschutz; man empfand die Abwesenheit eines solchen schmerzlich in jener „kaiserlosen, schrecklichen Zeit“, die nach dem Absterben der großen Kaiserdynastien über Deutschland hereinbrach, und „das Volk jauchzte“, als „ein Richter war wieder auf Erden“.

Leider nur riß, der Hoffnung des Volks entgegen, unter den nun folgenden Kaisern bald durch die Eigensucht der einen, bald durch die Ohnmacht der andern gegenüber den immer übermächtiger und unbotmäßiger werdenden Vasallen abermals eine immer wachsende Rechtlosigkeit ein. Ja, so groß ward dieselbe, daß zuletzt die Fürsten selbst die Dringlichkeit einer Abhülfe empfanden und, mit dem Kaiser vereint, auf solche bedacht waren.

So entstand vor nunmehr nahezu vierhundert Jahren, 1495, der erste oberste Gerichtshof für Deutschland, das Reichskammergericht; es hatte in der ersten Zeit seinen Sitz in verschiedenen Reichsstädten, namentlich zu Speyer, seit 1689 aber zu Wetzlar. Wie alle Einrichtungen des alten deutschen Reichs, auch die bestgemeinten, an der allgemeinen Schwäche des Reichskörpers krankten, an der Verkümmerung der Gewalt des Hauptes und dem Ueberwuchern der Glieder, so entging auch das damalige Reichsgericht diesem traurigen Schicksal nicht. Weite Gebiete des Reichs wurden bald, und in immer wachsender Zahl, seiner Gerichtsbarkeit gänzlich entzogen, denn die großen Fürsten, vor allen die Kurfürsten, erlangten das bedauerliche Vorrecht, daß von ihren Gerichten nicht an das Reichsgericht Berufung eingelegt werden konnte außer in ganz besonderen Fällen, bei einer förmlichen Rechtsverweigerung, und thatsächlich selbst da wohl kaum. Auch für solche Zweige der Rechtspflege, bei denen das Interesse der Fürsten nicht direct in Frage kam, wie die bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, ward die Wirksamkeit reichsrichterlicher Entscheidungen durch den schleppenden Geschäftsgang gelähmt, eine Folge der Knauserei, mit welcher die Stände des Reichs (Fürsten und städtische Magistrate) die Mittel zur Unterhaltung des Reichsgerichts schmälerten, vorenthielten, wo nicht gar verweigerten. So geschah es, daß die Zahl der Räthe (oder, wie es damals hieß, „Beisitzer“) des Reichskammergerichts, die im westfälischen Frieden 1648 auf fünfzig festgesetzt worden war, schon 1719 durch einen Reichstagsbeschluß auf fünfundzwanzig herabgemindert ward, weil man die andern nicht bezahlen konnte, daß aber auch von diesen fünfundzwanzig selten mehr als die Hälfte, weit öfter viel weniger, wirklich besoldet waren und selbst diese meist sehr unregelmäßig. Natürlich waren die bezahlten die einzigen, welche arbeiteten. Kein Wunder, wenn die Zahl der unerledigten Rechtshändel beim Reichskammergericht, die schon 1620 auf 50,000 geschätzt wurde, 1772 auf 61,233 angewachsen war, daß einzelne solcher Rechtshändel von bedeutenderem Umfange und größerem Belange weit über hundert Jahre sich hinzogen. Zuletzt kam es dahin (wie Goethe, der bekanntlich eine Zeitlang selbst beim Reichskammergericht zu Wetzlar thätig war, in „Dichtung und Wahrheit“ so drastisch erzählt), daß überhaupt nur noch solche Sachen zur Bearbeitung kamen,

[661]

Reichsgerichtspräsident Dr. Simson.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

welche die eine oder andere Partei ausdrücklich wieder in Anregung brachte, oder, wie der Geschäftsausdruck lautete, „sollicitirte“. Da nun dieses „Sollicitiren“ nicht beim Gericht als solchem, sondern bei den einzelnen Beisitzern geschah, die mit den betreffenden Sachen zu thun hatten, so verstand es sich fast von selbst, daß, um der Sollicitation Nachdruck zu geben, man zu Bestechungen griff, für welche die schlechtbesoldeten Beisitzer nur zu empfänglich waren, und daß auf diese Weise eine allgemeine Bestechlichkeit, auch in Bezug auf die Materie der Rechtssprüche selbst, einriß. Im Archiv des Leipziger Rathes befindet sich noch ein Aktenstück über einen Proceß, den Leipzig und Frankfurt an der Oder gemeinsam mit Braunschweig wegen gewisser Meßprivilegien im Jahre 1671 [662] führten. Darin finden sich ganz bestimmte Summen verrechnet, mit denen Mitglieder des Reichskammergerichts (darunter sogar ein Vicepräsident) vom Rathe zu Leipzig für gemeinsame Rechnung bestochen wurden.

Eine weitere Verkümmerung erfuhr die oberstrichterliche Gewalt des Reichskammergerichts durch die bald entstandene Concurrenz einer zweiten, ähnlichen Instanz: des kaiserlichen Reichshofraths, der, wie jenes vorwiegend von den Ständen des Reichs, so seinerseits fast ausschließlich vom Kaiser besetzt und daher beeinflußt ward. Hier war der Gunst und Parteilichkeit noch mehr Thor und Thür geöffnet.

Und endlich sorgten die Stände, insbesondere die Landesherren, dafür, daß die Kaiser in den Wahlcapitulationen, welche jeder vor seiner Krönung unterzeichnen mußte, feierlichst versprachen, die Reichsgerichte – das Reichskammergericht sowohl wie den Reichshofrath – dahin anzuhalten, „daß sie wider Kurfürsten, Fürsten und Stände des Reichs auf von dero Landsassen und Unterthanen bei ihnen angebrachte Klagen nicht leichtlich Proceß erkennen, sondern vorher um Bericht (von den Verklagten) schreiben, auch gegen der Kurfürsten, Fürsten und Stände landesherrliche Rechte auf keine Weise verfahren sollten“.

Kein Wunder daher, wenn die Annalen der deutschen Geschichte aus dem vorigen Jahrhundert reich sind an Beispielen von zum Theil schreienden Rechtsverletzungen, denen gleichwohl durch die Reichsgerichte entweder gar keine oder nur eine sehr späte oder unvollständige Abhülfe geschafft wurde, während äußerst selten einmal wider allzu grobe Gewaltthat und Ungesetzlichkeit einzelner Machthaber (natürlich immer nur kleinerer) ein reichsgerichtliches Erkenntniß erging, wobei es noch allemal fraglich blieb, ob nun solches auch wirklich vollstreckt ward.

Als nach der Wiederbefreiung Deutschlands die deutschen Fürsten auf dem Wiener Congresse an die Neugestaltung des nationalen Gemeinwesens gingen, da rief die öffentliche Stimme laut wieder nach einem Reichs- oder Bundesgerichte. Die Schäden der alten Reichsgerichte waren vergessen, oder man hoffte, daß sie sich nicht erneuern würden: die Idee und das Bedürfniß eines obersten Rechtsschutzes lebte unaustilgbar in den Gemüthern. Im Rathe der Fürsten selbst fand diese Idee und dieses Bedürfniß einen warmen Fürsprecher an Preußen. Aber der starre Widerstand der Mittelstaaten erwies sich stärker und siegreicher als die Beharrlichkeit der preußischen Regierung, obschon diese nur nach langem Sträuben auf ihren Vorschlag eines Bundesgerichts verzichtete. Was dann um volle zwanzig Jahre später, 1834, an dessen Stelle mühsam zu Stande kam, ein sogenanntes Bundesschiedsgericht zur Austragung von Verfassungsstreitigkeiten zwischen Regierungen und Ständen, das trug den Keim des Todes seiner ganzen Anlage nach in sich und ist auch niemals wirklich in’s Leben und in Thätigkeit getreten.

Erst die freigewählte Vertretung der deutschen Nation, die 1848 bis 1849 in Frankfurt am Main tagte, nahm mit voller Kraft und Entschiedenheit den Gedanken der Errichtung eines Reichsgerichts in Angriff. Nur leider blieb er, wie die ganze dort zu Stande gebrachte Reichsverfassung, damals ein bloßes Ideal und ein frommer Wunsch. Nicht besser erging es dem, obschon sehr abgeblaßten Nachbilde jenes Reichsgerichts in der preußischen Unionsverfassung.

Wie viel Schweres aber wäre dem deutschen Volke erspart geblieben, wenn in den Zeiten maßlosester Reaction, die bald darauf über Deutschland hereinbrachen, jede Verfassungsverletzung, jeder Mißbrauch amtlicher Gewalt, jedes dem Einzelnen angethane Unrecht vor einem unbestechlichen, unabhängigen höchsten Gerichtshof sich hätte verantworten und der von diesem gesprochenen Entscheidung beugen müssen!

Auf so düsterem Hintergrunde unserer vaterländischen Vergangenheit hebt sich doppelt leuchtend das Bild der nationalen Einrichtung ab, welche die glücklichere Gegenwart uns Jetztlebenden bietet und hoffentlich einer langen Reihe kommender Geschlechter vermachen wird: das Bild des neuen Reichsgerichts zu Leipzig.

Das Bedürfniß nach einem solchen obersten Gerichtshofe für das ganze Reich hat zum Theil, den Zeitverhältnissen entsprechend, veränderte Gestalt und Richtung angenommen. Der Rechtsschutz für den Einzelnen, obschon nicht mehr so ganz dringend wie unter der Herrschaft des schrankenlosen Despotismus und der Cabinetsjustiz im vorigen Jahrhundert, wird gleichwohl noch immer eine wichtige Aufgabe dieser hohen Reichsbehörde sein; allein kaum minder wichtig und in seiner Anwendung auf praktische Fälle noch weit häufiger begehrt ist die Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit der Rechtssprechung in jenen zahlreichen und oft sehr verwickelten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, welche namentlich unser vielgestaltiger Handel und Verkehr hervorbringt – Streitigkeiten, deren Entscheidung nach particularen Rechten und durch particulare Gerichte eben diesem Handel und Verkehr oft so empfindliche Nachtheile schuf.

Durch die in ihren Grundzügen bereits den Lesern der „Gartenlaube“ dargelegten (vergl. den Artikel von Helbig in Nr. 37) großen Justizgesetze, das dankenswerthe Geschenk des deutschen Reichstages von 1876, wurden die Formen des Gerichtsverfahrens und die Grundlagen der Gerichtsverfassung nach allen Seiten hin einheitlich gestaltet. Das Strafrecht war schon 1868 ein gemeinsames geworden; für das bürgerliche Recht ist die gleiche Einheitlichkeit angebahnt durch die gründlichen Vorarbeiten einer aus den bedeutendsten theoretischen und praktischen Capacitäten des deutschen Juristenstandes zusammengesetzten Commission, an deren Spitze derselbe Mann, der Wirkliche Geheime Rath Dr. Pape, steht, der zehn Jahre hindurch als erster Präsident des 1869 eingesetzten Bundesoberhandelsgerichts (seit 1871 Reichsoberhandelsgericht genannt) die Verhandlungen des letzteren mit ausgezeichnetem Geschick geleitet hat. Die zehnjährige Wirksamkeit dieses engeren Gerichtshofes, dessen Thätigkeit sich im Wesentlichen auf Handels- und Wechselsachen, Fälle des Nachdrucks- und des Haftpflichtgesetzes beschränkte, hat das deutsche Volk und insbesondere die deutsche Geschäftswelt die Wohlthaten einer einheitlichen Rechtspflege bereits kosten lassen; der Schritt von da zum Ausbau eines Gerichts, dessen Praxis, gestützt auf eine über alle Rechtsgebiete sich ausdehnende gemeinsame Gesetzgebung, das ganze Rechts- und Verkehrsleben der Nation umspannen soll, war ein durchaus natürlicher und nothwendiger. Und so war es auch wohl nur natürlich, daß die Verlegung des neuen, erweiterten Gerichtshofes eben dahin erfolgte, wo die segensreiche Wirkungsstätte des bisherigen gewesen war, nach Leipzig, indem so gleichsam symbolisch angedeutet ward, wie das Reichsgericht bestimmt und berufen sei, die Erbschaft des Reichsoberhandelsgerichts anzutreten.

Die Gerichtsbarkeit des nunmehr in’s Leben tretenden Reichsgerichts umfaßt neben der Rechtssphäre des Reichsoberhandelsgerichts auch die davon bisher noch ausgeschlossenen Theile des bürgerlichen Rechts und das ganze Strafrecht. Sie reicht soweit, wie das Gebiet des Civil- und Strafprocesses reicht. Seiner Entscheidung fallen in letzter Instanz sowohl alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten von größerem Belang, wie auch alle wichtigeren Strafsachen anheim. Insbesondere sind die Sprüche der Geschworenen im Wege der Revision (wegen Verletzung gesetzlicher Formen) nur beim Reichsgericht anfechtbar. Kein Bundesstaat, auch der größte nicht, kann sich der Gerichtsbarkeit des Reichsgerichts entziehen. Eine einzige, jedoch nur vorübergehende Ausnahme findet statt: die größeren Bundesstaaten mit mehreren Oberlandesgerichten können einem davon gewisse sonst dem Reichsgericht zuständige Entscheidungen bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten zuweisen, für welche das bürgerliche Recht noch kein gemeinsames in ganz Deutschland ist. Denn wo Reichsrecht gilt, da entscheidet auch das Reichsgericht. Diese Berechtigung, von der übrigens nur Baiern, nicht einmal Preußen, Gebrauch gemacht hat, findet aber nicht statt bei den bisher der Zuständigkeit des Reichsoberhandelsgerichts anheimgefallenen, sowie bei allen durch besondere Reichsgesetze dem Reichsgericht jetzt schon ausschließlich zugewiesenen Sachen.

Das Reichsgericht ist der einzige zuständige Gerichtshof in Fällen des Hochverraths und des Landesverraths, die gegen Kaiser und Reich gerichtet sind. Endlich hat es in den Staaten, welche keinen obersten Verwaltungsgerichtshof besitzen, die Vorentscheidung bei Klagen von Privatpersonen gegen Beamte wegen Ueberschreitung ihrer Amtsbefugnisse oder Unterlassung denselben obliegender Amtshandlungen. Diese hochwichtige Entscheidung, die früher fast überall den obersten Verwaltungsbehörden zustand, wird hierdurch einer völlig unparteiischen Instanz, wie sie das Reichsgericht ist, anvertraut. In dessen Hand ist es somit gelegt, einerseits öffentliche Beamte vor leichtfertigen und unbegründeten Verfolgungen zu schützen, anderseits dem verletzten Staatsbürger den Weg civilrechtlicher oder strafrechtlicher Verfolgung seines gekränkten Rechts [663] auch gegen solche Personen zu eröffnen, welche sonst leicht im Gefühl ihrer Unantastbarkeit sich Ueberschreitungen ihrer Amtsbefugnisse oder Vernachlässigungen ihrer Amtspflichten könnten zu Schulden kommen lassen.

Für die Unabhängigkeit dieses höchsten deutschen Gerichtshofes sind die möglichst größten Garantieen geschaffen. Die Ernennung sämmtlicher Mitglieder des Reichsgerichts erfolgt auf Vorschlag des Bundesrathes durch den Kaiser. Zum Mitgliede des Reichsgerichts kann nur ernannt werden, wer die Fähigkeit zum Richteramte in einem Bundesstaate erlangt hat und mindestens fünfunddreißig Jahre alt ist. Nur die solchergestalt ernannten und mit allen im Gesetz vorgeschriebenen Erfordernissen versehenen ordentlichen Mitglieder dürfen an den Entscheidungen des Gerichts Theil nehmen; die Zuziehung von Hülfsrichtern wird vom Gesetze schlechthin für unzulässig erklärt. Letzteres geschieht wohl im Hinblick auf die Erfahrungen, die man in Preußen während der Reactionsperiode von 1850 bis 1858 gemacht hat. Auch rücksichtlich der Entsetzung sowie der unfreiwilligen Versetzung eines Mitgliedes in Ruhestand ist jede Willkür und jeder Eingriff der Regierung ausgeschlossen: die eine wie die andere kann nur durch einen Plenarbeschluß des gesammten Reichsgerichts ausgesprochen werden. Eine unfreiwillige Versetzung auf eine andere Stelle ist ohnehin bei den Mitgliedern dieses alleinigen obersten Gerichtshofs im Reiche der Natur der Sache nach ausgeschlossen, würde auch schon nach den allgemeinen Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes ebenfalls nur durch richterliche Entscheidung verfügt werden können.

Ebenso sorgfältig ist vorgesehen, daß sowohl bei der Vertheilung der Geschäfte an die verschiedenen Kammern oder Senate des Reichsgerichts wie rücksichtlich der Zutheilung der einzelnen Mitglieder an letztere jede Möglichkeit einer Willkür oder Parteilichkeit ausgeschlossen bleibe. Zu dem Ende wird das Präsidium, welchem die Verfügung über diese Vertheilung zusteht, nach ausdrücklicher Bestimmung des Gesetzes hierbei verstärkt durch die vier ältesten Mitglieder des Gerichts.

Wie für vollste Unparteilichkeit, so ist auch für möglichste Einheitlichkeit und Gleichartigkeit der Entscheidungen des Reichsgerichts in dem Gerichtsverfassungsgesetze selbst Fürsorge getroffen worden. Glaubt ein Civil- oder ein Strafsenat in einer Rechtsfrage von einer früheren reichsgerichtlichen Entscheidung abweichen zu müssen, so hat derselbe die Verhandlung und Entscheidung der betreffenden Sache vor die vereinigten Civil-, beziehungsweise Strafsenate zu verweisen. Bei Entscheidungen der vereinigten Senate sowie des Plenums ist die Anwesenheit von mindestens zwei Dritttheilen aller Mitglieder erforderlich. Der Geschäftsgang beim Reichsgerichte wird durch eine Geschäftsordnung geregelt, welche das Plenum feststellt und dem Bundesrathe zur Bestätigung unterbreitet.

So sind im Gesetze alle nöthigen Bestimmungen getroffen, um dem neuen Gerichtshofe und seinen Entscheidungen ein möglichst großes und rückhaltloses Vertrauen von vornherein zuzuwenden. Die Bekräftigung und Befestigung dieses Vertrauens steht zu erwarten von der Wirksamkeit des neuen Reichsgerichts selbst, zunächst aber von dem Ansehen der in dasselbe ernannten Persönlichkeiten.

Bei dieser ersten Zusammensetzung des Reichsgerichts für ganz Deutschland lag es nahe, daß in vorderster Linie theils die Mitglieder des bisherigen Reichsoberhandelsgerichts, theils diejenigen der höchsten Gerichtshöfe der Einzelstaaten und hier wieder überwiegend – entsprechend dem numerischen Verhältniß der Bevölkerung – die des höchsten Gerichtshofes der preußischen Monarchie, des Obertribunals zu Berlin, berücksichtigt wurden. So gehen denn aus dem Reichsoberhandelsgericht 18 Räthe in das Reichsgericht über, aus dem preußischen Obertribunal 23; die übrigen 19 von den im Ganzen 60 Mitgliedern des Reichsgerichts sind dem höheren richterlichen oder zum Richteramt befähigten Personal der einzelnen Bundesstaaten entnommen worden, sodaß eine möglichst gleichmäßige und gerechte Betheiligung aller Einzelstaaten an der Besetzung des obersten deutschen Gerichtshofes hergestellt erscheint.* Auch in der Wahl der Senatspräsidenten ward derselbe Grundsatz beobachtet. Zu diesen Stellen wurden ernannt: zwei bisherige Vicepräsidenten des Reichsoberhandelsgerichts, der Mecklenburger Dr. Drechsler und der Baier Dr. Hocheder, der Vicepräsident des preußischen Obertribunals Dr. Henrici, die beiden ersten Präsidenten der preußischen Appellationsgerichte zu Magdeburg und zu Marienwerder, Ukert und Drenkmann, der Director des württembergischen Obertribunals Dr. von Beyerle, der großherzoglich badische Ministerialrath im Justizministerium Dr. Birgner. Das Königreich Sachsen hat von dem ihm angebotenen Vorschlag zu einer Präsidentenstelle keinen Gebrauch gemacht.

Von ganz besonderer Wichtigkeit war natürlich die Wahl des ersten Präsidenten, denn in ihm verkörpert sich gewissermaßen der ganze große Gerichtshof; sein Name, seine Vergangenheit, der Ruf, der ihm vorausgeht, kann, ja muß beinahe der öffentlichen Meinung in ganz Deutschland wie eine Art von Programm der Wirksamkeit des Gerichts, an dessen Spitze er gestellt wird, erscheinen.

Es ist schon oben angedeutet worden, welche hochwichtige anderweite Thätigkeit dem bisherigen Präsidenten des Reichsoberhandelsgerichts, Dr. Pape, zugetheilt ist. Diese Thätigkeit ließ dessen Uebergang in die gegen seine bisherige noch ungleich arbeitvollere, jede andere Beschäftigung neben ihr ausschließende Stellung eines Präsidenten des Reichsgerichts nicht wohl möglich erscheinen. Sah man aber von dieser nächstgegebenen Anknüpfung an das schon Bestehende ab, so trat doppelt bedeutsam die Persönlichkeit des zu Ernennenden in den Vordergrund. Der Vorschlag für die Besetzung der ersten Präsidentenstelle stand dem Kaiser persönlich zu, während für die anderen Präsidentenstellen die verschiedenen Bundesregierungen Vorschläge machten. Kaiser Wilhelm und sein verantwortlicher Berather, der Reichskanzler, waren, wie zuverlässig verlautet, in ihren Ansichten wegen Bezeichnung eines Candidaten für diesen höchsten richterlichen Posten im Reiche sofort und zweifellos einig gewesen. Es war der bisherige erste Präsident des preußischen Appellationsgerichts zu Frankfurt an der Oder[WS 1], Dr. Simson, den Beide gleichmäßig in’s Auge gefaßt hatten, ein Mann, der, neben seiner langjährigen und ausgezeichneten juristischen Thätigkeit sowohl als Praktiker wie als Theoretiker, auch noch in ganz Deutschland und selbst im Auslande ehrenvollst bekannt ist durch seine hervorragende Wirksamkeit als Präsident aller großen nationalen Vertretungskörper in Deutschland vom Frankfurter Parlamente 1848 an bis zu dem deutschen Reichstag von 1873.

Trug daher Simson’s Wahl zum Präsidenten des Reichsgerichts insofern einen gewissen politischen Charakter, als sie bekundete, daß der Kaiser und sein Kanzler mit den Traditionen eines gemäßigten Liberalismus, denen sie seit Begründung des norddeutschen Bundes gefolgt, auch jetzt nicht brechen, daß sie nicht etwa das Reichsgericht außerhalb der constitutionellen Einrichtungen des Reiches stellen wollten, so war es anderseits doch kein einseitiger oder gar schroffer Parteicharakter, der sich an Simson’s Person knüpfte.


* Die 18 Reichsoberhandelsgerichtsräthe sind die Herren Dr. von Hahn, Dr. von Vangerow, Dr. Wernz, Dr. Gallenkamp, Dr. Hoffmann, Dr. Fleischauer, Dr. Boisselier, Dr. Puchelt, Langerhans, Hullmann, Dr. Wiener, Krüger, Buff, Dr. von Meibom, Dr. Dreyer, Dr. Hambrook, Wittmack, Maßmann; die 23 Mitglieder aus dem preußischen Obertribunal die Herren Dr. Bähr, Friedrich, von Specht, Peterssen, Plathner, Henecke, Hartmann, Werner, Dr. von Grävenitz, Lesser, Rappold, Thewalt, Welst, Schwarz, Schlomka, Kirchhoff, von Forcade de Biaix, Meyer, Wulfert, Rassow, Stechow, Dähnhardt, Rottels; dazu kommen noch die Herren Schüler, Oberstaatsanwalt beim preußischen Obertribunal, Möli, Vicepräsident des preußischen Appellationsgerichts zu Kassel, Cuncumus, zweiter Staatsanwalt beim obersten baierischen Gerichtshofe zu München, Dürr, Rath bei demselben Gericht, Dr. Hauser, baierischer Appellationsgerichtsrath, Dr. Wenck, Vicepräsident des sächsischen Appellationsgerichts zu Leipzig, Rüger, sächsischer Oberappellationsgerichtsrath, Petsch, Director des sächsischen Bezirksgerichts zu Leipzig, von Gmelin, von Streich, von Geß, Räthe beim württembergischen Obertribunal zu Stuttgart, Wielandt, badischer Oberhofgerichtsrath, Dr. von Buri, hessischer Staatsanwalt, Dr. Spieß, braunschweigischer Obergerichtsrath, Dr. Agricola, Rath am Gesammt-Oberappellationsgericht zu Jena, Dr. Bolze, anhaltinischer Oberlandesgerichtsrath, Dr. Schlesinger, Rath am hanseatischen Oberappellationsgericht zu Lübeck, Derscheid, Präsident des kaiserlichen Landesgerichts zu Colmar. Als sechszigstes Mitglied trat, nachdem der zuerst ernannte sächsische Reichsoberhandelsgerichtsrath Dr. Schilling gestorben, an dessen Stelle der sächsische Oberappellationsgerichtsrath Scheele ein. Zum Oberreichsanwalt ward bestellt der preußische Generalprocurator beim Appellationsgerichtshof zu Köln, Dr. von Seckendorff, zu Rechtsanwälten der Oberstaatsanwalt beim preußischen Obertribunal von Wolff, der kaiserliche Staatsanwalt aus dem Reichsoberhandelsgericht Hofinger und der königlich baierische Rechtsanwalt bei dem Bezirksgericht München links der Isar Stenglein. [664] Als Präsident so vieler deutscher Parlamente, erst 1848 und 1849, dann des norddeutschen Reichstages und des deutschen Zollparlamentes von 1867 bis 1870, endlich des gesammtdeutschen Reichstages bis 1873 (wo Simson aus Gesundheitsrücksichten und weil er nach so schweren Anstrengungen und Aufregungen sich einmal nach Ruhe sehnte, eine Wiederwahl ablehnte) – in allen diesen hervorragenden Stellungen war Simson nicht sowohl der Erwählte und Vertrauensmann einer einzelnen Partei, als vielmehr – nach Ausweis der Ziffern bei allen den betreffenden Wahlacten – der Vertrauensmann der ganzen großen Versammlung oder doch ihrer überwiegenden Majorität gewesen. In der Handhabung des Präsidentenamtes hatte er seinerseits niemals auch nur die geringste Parteilichkeit zu Gunsten seiner oder zu Ungunsten irgend einer andern Partei, vielmehr jederzeit die strengste Unbefangenheit, Sachlichkeit und Selbstlosigkeit, neben einer seltenen Beherrschung auch der verwickeltsten Angelegenheiten, bethätigt, Eigenschaften, welche für den Vorsitzenden eines Gerichts, zumal eines so hohen, von ausschlaggebendster Wichtigkeit sind.

Zu diesen Vorzügen eines, man könnte sagen geborenen Präsidenten bringt Simson noch einen weitern, ebenfalls nicht zu unterschätzenden mit: das Talent einer würdigen Repräsentation – nicht jener banalen, welche in der peinlichen Beobachtung äußerlicher Formen und eines steifen Ceremoniells die Würde des Amtes und der Person sucht, sondern jener edleren und wesenhafteren, welche auch die blos äußerlichen Formen adelt und mit einem würdigen Inhalt erfüllt. Als Redner hat Simson etwas von der attischen Beredsamkeit jener alten Classiker, die für ihn, den so vielseitig Gebildeten, von früh an, neben unsern großen vaterländischen Dichtern ein Hauptgegenstand eindringenden und feinsinnigen Studiums gewesen und jederzeit geblieben sind; aber er ist kein blos „akademischer“ Redner; er wendet sich nicht blos an den Verstand und Geschmack, sondern auch an das Herz und Gemüth des Hörers; er versteht es, große, allgemeine Gesichtspunkte mit kurzen, treffenden Worten zur Anschauung und zur Geltung zu bringen. Ihm stehen für sein schweres und verantwortungsvolles Amt die wissenschaftlichen Früchte einer fast dreißigjährigen Lehrthätigkeit auf dem juristischen Katheder und die praktischen Erfahrungen einer fünfundvierzigjährigen richterlichen Wirksamkeit zur Seite. Trotz seines vorgerückten Alters – er wurde am 10. November 1810 zu Königsberg in Preußen geboren – ist Simson noch rüstig an Körper, von beinahe jugendlicher Frische und Beweglichkeit des Geistes. So vereinigt sich Alles in ihm, um seine Erhebung an die Spitze des neuen Reichsgerichts als einen glückliche Griff und als eine gute Vorbedeutung für die Thätigkeit und die Volksthümlichkeit des demnächst in’s Leben tretenden nationalen Gerichtshofs erscheinen zu lassen.

Und so können wir nach all dem Gesagten diesem höchsten deutschen Gerichtshofe bei seiner nun bevorstehenden Eröffnung mit vollem Vertrauen in jeder Beziehung unsere wärmsten Segenswünsche darbringen.




Gerechtigkeit in Rom.


Erinnerungen eines einstigen Schlüsselsoldaten.


1.


Es war in der zweite Hälfte des Jahres 186*, als ich als Freiwilliger in die päpstliche Armee eintrat. Wenn ich von meinem heutigen geläuterten Standpunkt in jene Zeit zurückblicke und mich mir vergegenwärtige als begeisterten Kämpfer für das Pontificat, für dasselbe Princip, dem ich heute in jeder Form entgegentrete, so erscheint mir Alles fast wie ein Traum. Und doch hatte meine damalige Denk- und Handlungsweise nichts Wunderbares, Unverständliches an sich.

Aus gutkatholischer Familie stammend, wurde ich, noch nicht neun Jahre alt, in’s Kloster zur Erziehung geschickt. Du lieber Himmel, welch eine Erziehung! Gebet, Gottesdienst, Beichte, Predigten, Vorträge, geistliche Exercitien in Kirche und Haus, in der Schule aber Religion nicht nur in den zahlreichen Religionsstunden, sondern auch in allen anderen Lehrfächern, bei den Sprachübungen und vor allem in der Geschichte! In unseren Frei- und Unterhaltungsstunden aber leisteten uns ultramontane Journale, Bücher von unbezweifelter Religiosität und unsere mönchischen Erzieher Gesellschaft. Welche Lebensanschauungen wir aus solchen Quellen gewinnen mußten, braucht nicht erst erläutert zu werden, und ebenso wenig kann es Wunder nehmen, daß ein guter Theil von uns Jungen früher oder später Glaubensschwärmer wurde. „Stellvertreter Gottes“, Beglücker der Menschheit, „geistlich“ zu werden, war für die meisten von uns das höchste Ideal, und viele sind in der That „geistlich“ geworden.

Dazu hatte nun ich, ein kraftstrotzender, wilder Junge, keine Lust; gleich den meisten männlichen Mitgliedern meiner Familie wollte ich Soldat werden. Was lag da näher, als jenes moderne geistliche Ritterthum der päpstlichen Armee, das uns von den sonst dem Kriegshandwerk wenig zugethanen Mönchen als das Musterbild des Soldatenthums gepriesen wurde! Bücher, in denen die Heldenthaten und das gottgefällige Leben römischer Zuaven geschildert waren, gehörten zu meiner Lieblingslectüre. Und als nach der großen Retirade von Castelfidardo einmal ein solcher Papstritter in abgeschabter Uniform, waffenlos „fechtend“, in unserem Kloster erschien, von den Patres mit Auszeichnung behandelt, an den Ehrenplatz des Tisches gesetzt wurde und von der ewigen Stadt und ihren Herrlichkeiten erzählte, da nahm ich mir fest vor, nichts anderes als ein Held zu werden.

Als ich dann aus den Klostermauern in das Weltleben hinaustrat und dieses seinen tausendfältigen Einfluß durch Familie, Beruf, Freundschaft, Vergnügen, Erfahrung geltend machte, da fingen die alten Phantasiebilder freilich allmählich zu verblassen an. Mein Geist empfing zahllose neue, bisher ungeahnte und mit dem Anerzogenen in Widerspruch stehende Eindrücke; der Zweifel, der Vater aller Erkenntniß, begann – wenn auch erst schüchtern und leise – sein Werk, und wäre diesem natürlichen Entwickelungsgange nichts hindernd in den Weg getreten, so wäre mir wohl mancher spätere Kampf, manches Opfer erspart geblieben. Aber die in das bildsame Gemüth der Jugend gelegten Keime sitzen gar tief und fest, und anerzogene Grundanschauungen können nicht auf einmal beseitigt werden, sondern nur durch lange, unausgesetzte und consequente Arbeit, für deren glücklichen Erfolg die Beseitigung aller der Einflüsse, welche das Unkraut erhalten und in seinem Wachsthum fördern, die wesentliche Voraussetzung ist. Wie viele Mittel hat aber nicht die Kirche, und hatte sie noch viel mehr damals, ihre Zöglinge auch selbst nach den Lehrjahren in ihre magischen Cirkel zu bannen und sie durch kirchliche und weltliche Mittel, vor allem durch ihr schlau organisirtes Vereinswesen zu beeinflussen!

In jener Zeit war es besonders der Pius-Verein, welcher es sich zur besonderen Aufgabe machte, Gelder zur Anwerbung und zum Unterhalt päpstlicher Soldaten zu sammeln, und der, wenn das Werbewesen nicht so recht vorwärts gehen wollte, alle Mittel spielen ließ, um junge Leute zum Eintritt in die römische Armee zu bewegen – dem gesetzlichen Verbot der Anwerbung zum Trotz. Auch die ultramontane Presse wurde natürlich zu diesem Zwecke benutzt und in ihr die Verdienstlichkeit und der Glanz des päpstlichen Dienstes mit lebhaften Farben geschildert, was selbstverständlich Alles nicht ohne Wirkung auf mich blieb, indessen mich doch kaum zur Zerreißung aller neuen Bande vermocht hätte, wäre nicht noch etwas Besonderes hinzugekommen. In dem Gesellenvereine zu M*, in dem ich mich eines Abends auf Einladung eingefunden hatte, trat, durch den Präses eingeführt, ein römischer Officier in voller Uniform auf und schilderte in bewegten Worten die Nothlage des heiligen Vaters, der von allen Seiten von den Feinden der Kirche bedrängt werde und sich deshalb an seine waffenfähigen Söhne um Hülfe wende. Die Pflicht, Rom zu Hülfe zu eilen, die Verdienstlichkeit und den Ruhm einer solchen Handlung, dazu den Zauber der Natur und Kunst des classischen Landes, die Vorzüge und die Ehren des Dienstes – all das malte der kluge Römer in lebhaftesten Farben zu einem verführerischen Gesammtbilde aus.

Meine Phantasie war auf’s Tiefste erregt, trunken; all die [665] alten Bilder tauchten wieder vor mir auf, und das Dazwischenliegende zerrann in Nichts; mein Schicksal war entschieden. In meiner Schwärmerei verließ ich Familie, Freunde, Lebensstellung und Heimathland und eilte über das Mittelmeer dem bedrängten Vater der Christenheit zu Hülfe.

So ward ich Schlüsselsoldat.

So überzeugt und begeistert ich aber war, so war ich doch nicht blind, und wer das nicht war, sondern ehrlich nach der Wahrheit forschte, mußte trotz aller günstigen Voreingenommenheit die Heillosigkeit der römischen Herrschaft bald einsehen. Die an Sprüchwörtern so reiche italienische Sprache hat sicher kein wahreres, als das alte: Roma veduta, fede perduta – Rom gesehen, den Glauben verloren! Ueber Rom konnte man sich blos in der Entfernung täuschen; dem Nähertretenden gingen alsbald die Augen auf. Es geht mit allen Despotieen so.

Bald ging denn eine gewaltige Veränderung in mir vor. Anfänglich suchte ich mich, wenn mir etwas mich in meinen Illusionen Störendes aufstieß, mit meiner Unkenntniß des Zusammenhanges und der Landesart, wohl auch mit der dem Mißbrauch zu Grunde liegenden guten Meinung zu beschwichtigen. Ich klammerte mich fest an meine Ueberzeugung und strebte, sie vor mir selbst zu retten. Aber vergebens; je mehr ich das Detail der Mittel und Erfolge dieser christlichen Regierung erkennen lernte, indem ich dabei selbst zum Theil als Werkzeug dienen mußte, desto mehr verschwand das Zauberlicht, in dem ich die Dinge bisher gesehen, und die nackte, scheußliche Wirklichkeit enthüllte sich mir, mein Jugendideal, für das ich so viel geopfert, gründlich zerstörend.

Ich hatte in Rom die göttliche Gerechtigkeit, die christliche Liebe, das Glück der Menschheit, eine milde, väterliche Regierung, die nicht nach der herrsch- und selbstsüchtigen Art anderer Regimes waltet, sondern nach den segenverheißenden Grundsätzen der Religion, ich hatte Land und Volk geistig und materiell glücklich und zufrieden gewähnt, wie es mir immer geschildert worden. Und was mußte ich statt dessen sehen! Selbst die lebhafteste Phantasie vermag sich kaum eine Vorstellung zu machen, wie unbeschreiblich elend die päpstliche Regierung war, und für die römischen Zustände bieten sich heute nur noch in der Türkei Vergleiche.

Das herrliche Land, von der Natur gesegnet und einst ein lachendes Gelände voll Fruchtbarkeit und hoher Cultur – ich fand es zum großen Theil verödet und versumpft, als einen Herd böser Seuchen; an Stelle der Gärten und Fruchtfelder erstreckten sich unabsehbare verwilderte Viehweiden, und wo einst volkreiche Städte und Villen standen, vermochte das Auge stundenweit kaum eine elende Rohrhütte zu entdecken. Das Volk aber sah ich herabgekommen wie sein Land, über jede Beschreibung elend und bettelarm. Die gleich Wilden in Schaf- und Ziegenfelle gekleideten Hirten, die jahraus, jahrein mit ihren wilden Heerden in der menschenleeren Campagna hausen, elend genährt, obdachlos und verwahrlost, und die erbarmenswürdigen Gestalten der Tagelöhner, die zur Erntezeit in Haufen von ihren Bergen herabsteigen, fieberbleich und in schmutzige Fetzen gehüllt, um wenige Bajocchi zu verdienen – sie schienen mir eher verachtete und rechtlose Sclaven des Alterthums, als freie Arbeiter des neunzehnten Jahrhunderts zu sein. Kein Stück von ihren Heerden und keine Handbreit des Bodens gehörte ihnen; Niemand achtete sie; Niemand nahm sich ihrer Noth und ihrer Unwissenheit an; für sie gab es weder politische noch persönliche Rechte.

Die nothwendige Folge dieser Zustände blieb nicht aus: die Moralität dieses religiösesten Volkes stand auf einer in civilisirten Ländern unerhört niedrigen Stufe. Die Unsicherheit von Gut und Leben war sprüchwörtlich; der Straßenraub florirte, und die Gefängnisse des Miniaturstaates beherbergten in einem Jahre nicht weniger als 600 Mörder, 25 Elternmörder, 12 Gattenmörder – von sonstigen Verbrechen gar nicht zu reden.

Dagegen war diese Hölle des Volkes ein Lustheim seiner Beherrscher, des Pfaffenthums und des Adels. Immense Reichthümer befanden sich in ihren Händen, und das ganze Land fast war ihr Privateigenthum. Die kirchlichen Genossenschaften besaßen für mehr als eine Milliarde Grundbesitz, und es gab Kirchengüter, die 80 bis 100 Quadratkilometer groß waren; der Agro Romano, eine Fläche von 36 geographischen Quadratmeilen, befand sich im Besitz von 113 Familien und Congregationen. Die römische Aristokratie war eine der reichsten stolzesten und üppigsten. Selbstredend hatten die beiden eng verbündeten Stände auch die politische Macht in Händen, die sie schonungs- und gewissenlos und mit den verwerflichsten Mitteln gegen ihre „christlichen Mitbrüder“ zu ihren Zwecken anwandten. Die Corruption dieser Kreise, vor Allem des Pfaffenthums, spottete jeder Beschreibung; Herrschsucht, Stolz, Heuchelei, Lüge, Betrug, Gewaltthat, Verschwendung und Unsittlichkeit rangen um den Ehrenpreis.

Die Vergeudung war so ungeheuer, daß für den Aufwand des „Knechtes der Knechte Gottes“ und seiner Leute auch die gründlichste Auspressung des armen Ländchens nicht mehr als einen Tropfen auf einen heiße Stein lieferte. So wurden denn die alte und neue Welt systematisch gebrandschatzt und „ganze Länder aufgefressen“ – man verstand es, nach den Worten Julius des Zweiten, „die Fabel von Jesus Christus“ einträglich zu machen und den Schmutz der Sünden der Menschheit durch die Zauberkraft des Fischerrings in eitel Silber und Gold zu verwandeln. Milliarden über Milliarden wanderten seit Jahrhunderten für Annaten, Pallien, Dispense und Ablässe und als freiwillige Peterspfennige nach der Tiberstadt. Und trotz alledem gab es keine finanziell zerrüttetere Regierung, als die päpstliche.

Ebenso elend, wie mit den Finanzen, war es mit der ganzen Verwaltung bestellt, In der Administration, in der Polizei, in der Justiz, im Verkehr – überall herrschte Unordnung, grauenhafter Schlendrian, allgemeine Desorganisation. Aller Erwerb lag darnieder; kein Gewerbe, keine Industrie, kein Handel, kein Ackerbau, kein wissenschaftliches Streben – das ganze Gebiet war wie vom Fluch getroffen, und der Staat des Papstes schien sich in Wahrheit, nach Goethe’s treffendem Wort, nur zu erhalten, weil ihn die Erde nicht verschlingen wollte.

Solche Zustände mußten selbst das entkräftetste und geduldigste Volk zu Versuchen der Selbsthülfe aufreizen, um den unerträglichen Druck, der auf ihm lastete, zu erleichtern. An Aufständen und Verschwörungen fehlte es denn auch keineswegs, aber die Macht der Tyrannei war zu groß, und jede Regung des Volkes ward auf’s barbarischste unterdrückt, wozu freilich die eigene Macht der römischen Regierung nie ausreichte; es mußten vielmehr stets gesinnungsverwandte Herrscher aushelfen. Aber diese Schwäche war auch der ärgste Vorwurf in den Augen der übrigen Regierungen; um ihn zu beseitigen und die Fähigkeit einer selbstständigen staatlichen Existenz darzuthun, beschloß die päpstliche Regierung eben nach 1866 eine formidable Heeresmacht aufzustellen.

Diese „Armee“ bestand nun in ihrem Gros aus in aller Herren Ländern angeworbenen Leuten, aus arbeitsscheuen Handwerkern, entlaufenen Soldaten, flüchtigen Gesetzesverächtern, verlorenen Söhnen, auch manchen Unglücklichen, kurz, echtem Werbevolk, bei dessen Annahme nichts als körperliche Gesundheit, ja – sonst unerhört in Rom – nicht einmal die Religion maßgebend war. Der kleinere Theil bestand aus Schwärmern, gleich mir, und recrutirte sich namentlich aus Frankreich, Belgien und Canada, aber auch Deutschland stellte kein geringes Contingent, das hauptsächlich aus Rheinländern, Westfalen, Baiern und Oesterreichern bestand. Was nun das Gros dieser Truppe betrifft, so blieb es natürlich von den inneren Kämpfen, die mich und viele Gleichdenkende erschütterten, vollkommen verschont. Was kümmerten sich diese Leute um Recht oder Unrecht der Sache, der sie einfach gegen Sold dienten und die sie gegen bessere Bezahlung nächsten Tages mit einer anderen vertauscht hätten! Allerdings befanden sich auch unter ihnen viele, welche die Schändlichkeit der päpstlichen Verwaltung einsahen, und das war erfreulicher Weise namentlich bei den deutschen Abtheilungen der Fall, die deshalb, obgleich sie militärisch wohl die besten waren, für nicht ganz „sicher“ galten und stets zu Gunsten der französischen Zuaven und Legionäre zurückgesetzt wurden. Aber wenn die Infamie, zu der man sie gebrauchen wollte, nicht allzu sehr auf platter Hand lag, so dachten sich die Leute – als echte Söldner – wenig dabei und fühlten sich von den schmählichsten Schergendienste wenig gekränkt.

Welche Gefühle dagegen mich und so Viele, welche mit denselben Illusionen gekommen waren, angesichts der ganzen Zustände und unseres Dienstes insbesondere bewegten, brauche ich wohl kaum zu schildern. Wir hatten uns gefeierte Glaubenshelden zu werden gedünkt, und sahen uns nun als geringgeschätzte und gehaßte Schergen der Tyrannei, ohne den in unserer Verblendung

[666] freiwillig übernommenen Dienst so leicht wieder von uns werfen zu können.

Unter diesen Umständen versetzte es mich und meinen Freundeskreis in die freudigste Stimmung, als uns eines Tages der Befehl ward, nach der toscanischen Grenze abzumarschiren, um dort die arg gefährdete Sicherheit wieder herzustellen. Zwar befanden sich in jener Gegend mehrere Garnisonen eingeborener Truppen, aber der Brigantaggio nahm nicht ab, und die frechsten Beraubungen und Erpressungen waren an der Tagesordnung; denn die Truppen waren nie zur rechten Zeit zur Hand, sie kamen immer erst an, wenn die Herren der Straße längst das Weite gewonnen hatten. Es war freilich ein öffentliches Geheimniß in Rom, daß nicht nur die Commandanten dieser Truppen, sondern auch gewisse einflußreiche Leute am Tiber diese Art von Kriegführung gar nicht ungern sahen und sich sehr gut dabei standen. Endlich aber war der Scandal doch zu arg geworden, und so mußten denn wir Deutsche die Italiener ablösen.

So mühe- und gefahrvoll nun auch unsere neue Aufgabe war, so waren wir, wie gesagt, doch sehr erfreut über diese Veränderung. Brauchten wir doch die scandalösen Zustände in Rom nicht mehr mit anzusehen und dabei mitzuwirken, hatten wir nun doch einen Wirkungskreis, in dem wir der Menschheit wirklich nützen konnten, ungerechnet die Gelegenheit, das interessante Land und seine Bewohner näher kennen zu lernen.




2.

So zogen wir denn an einem herrlichen Frühlingstage leichten Herzens hinaus auf der lavagepflasterten Via Cassia in die bis an die Mauern der Stadt heranreichende melancholische Campagna, welche, einst mit blühenden Städten und Fruchtgärten übersät, jetzt eine ungeheure Trümmerstätte von antiken Tempel-, Gräber- und Aquaductenresten, mittelalterlichen Thurmruinen und halbzerfallenen neuzeitlichen Landsitzen ist, zwischen denen mächtige Heerden silbergrauer Rinder und schwarzer Büffel weiden. Sonst so ernst und einförmig, wenn auch von unbeschreiblich fesselnder Stimmung, war sie jetzt ein wahres Meer von Blumen und Knospen in den leuchtendsten Farben, die durch ihre unausgesetzte Einwirkung das Auge förmlich blendeten und ermatteten.

Weiter stiegen wir empor zu dem düsteren ciminischen Wald, dem einstigen Bollwerk Mitteletruriens, mit seinen Kastanien- und Eichenwäldern und seinem sagenumwobenen Kratersee, alsdann jenseit hinab in das tuskische Hügelgelände, und bald waren wir angelangt an unserm Bestimmungsort, derselben Stelle, wo einst in grauer Vorzeit in blühender Umgebung das Heiligthum des etrurischen Bundes, der Tempel der Voltumna stand, während sich heute dort das armselige Städtchen Montefiascone erhebt – den ganzen Abstand zwischen einer stolzen Vergangenheit und der elenden Gegenwart darthuend.

Welche Genüsse bot uns die herrliche, vom Zauber uralter Erinnerungen übergossene Gegend! Nur wenige Schritte brauchten wir vor das Thor zu thun, um die entzückendste Fernsicht zu genießen: hier im Norden der gewaltige Kratersee von Bolsena mit seinen malerischen Inseln und seinen schweigsamen, nur von der Malaria bewohnten Ufern, dahinter die zackige Kette des Monte Amiata; dann östlich in blauer Ferne der umbrische Apennin, im Süden der schwarze Mons Ciminus und endlich im fernen Westen das Meer – die ganze Ebene Etruriens lag ausgebreitet vor dem trunkenen Blick. Und wir hatten Zeit und Gelegenheit, diese Gaue zu durchstreifen, die Trümmerstätten von Orcle, Axia, Blera und Tuscania zu durchforschen, die Felseninsel Martana zu besuchen, von der aus des großen Gothenkönigs Tochter Amalasuntha ihr Reich regierte und auf der sie ihr gewaltsames Ende fand, und nahe den lombardischen Thürmen die alte Schwefelquelle Bulicame zu begrüßen, die den göttlichen Dante zu herrlichen Strophen begeisterte. Dazu gewährte das Volksleben mit seinen fremdartigen Erscheinungen hohes Interesse. Und zuletzt auch die süße Berühmtheit des Montefiasconer Traubenblutes nicht zu vergessen, an dem sich einst Domherr Fugger den seligen Tod getrunken! Welch prächtigen Tausch hatten wir gemacht gegen Rom, in dem es uns zu Muthe war wie einst Juvenal, da er sein kaustisches „Mentiri nescio – quid Romae faciam? („Ich verstehe mich nicht auf das Lügen – was soll ich da in Rom machen?“) sprach.

Unser Verhältniß zu den Einwohnern Montefiascones war freilich ein sehr kaltes. Den Aufgeklärten unter ihnen mußten wir als die Erhalter der Tyrannei verhaßt sein, während wir auch den Loyalsten fremde Söldlinge blieben, für deren Unterhalt sie steuern mußten. Dagegen standen wir mit den Bauern der Umgegend, besonders mit den etwas vermöglichen Pächtern, denen wir als Schutz gegen die gefürchteten Briganten willkommen waren, auf leidlich gutem Fuße, und wir kamen auf unseren Patrouillen selten an einem Gehöfte vorbei, ohne daß man uns zum Eintreten eingeladen hätte.

Besonders vertrauten Umgang gewannen wir mit den Bewohnern einer einsam auf dem hohen Ufer des Bolsener Sees gelegenen Besitzung.

Wir hatten einst eine Partie nach dem weltvergessen daliegenden Felseneiland Amalasuntha’s gemacht, wobei mein Freund Werner ** einen Sturz that, der ihn fast geh-unfähig machte. Da es, als wir am Ufer anlangten, bereits dämmerte und demnach höchste Zeit war, daß wir aus dem malariadunstigen Kessel herauskamen, so entschlossen wir uns, den Freund bis auf die sichere Höhe zu tragen, dabei einen zwar sehr beschwerlichen, aber viel kürzeren Weg einschlagend, den uns ein Hirte gewiesen. Die Arbeit des Tragens war auf dem steilen und scharfen vulcanischen Gestein beschwerlich genug, und so waren wir herzlich froh, auf der Höhe angekommen, ein kleines, aber sauber aussehendes Häuschen vor uns zu sehen, in dem wir rasten zu können hofften. Wir baten um Gastfreundschaft, die man uns zwar zurückhaltend, aber nicht unfreundlich gewährte.

Das einsame Häuschen wurde nur von zwei Personen bewohnt: von Luigi Boticelli und seiner Tochter Domenica. Beide galten als Sonderlinge, denn sie hatten soviel wie gar keinen Verkehr mit den Bewohnern der Gegend und verließen ihr kleines Besitzthum, das sie selbst bewirthschafteten, nur selten und wenn es absolut nothwendig war. Die Bauern hielten diese Zurückgezogenheit für Stolz, und unsere neuen Bekannten erfreuten sich daher nur geringer Beliebtheit, obgleich sie gar manchem Bedrängten mit Rath und That geholfen. Aber Boticelli, der zwar ernst und verschlossen, aber nichts weniger als stolz war, hatte ganz andere Gründe, die Einsamkeit dem nachbarlichen Verkehr vorzuziehen.

(Fortsetzung folgt.)




Deutschlands große Industrie-Werkstätten.
Zwei Erzläuterstätten.


Unweit der alten, ehrwürdigen Bergstadt Freiberg, da, wo die Mulde die haldenreiche, bergschachtübersäete Hochebene in einer tiefen Wasserrinne durchschneidet, dicht an der großen Verkehrslinie Baiern-Schlesien, drängt sich dem Reisenden eine Landschaft gar seltsamen Charakters in das Auge. Auf einem fast vegetationslosen Terrain an den Gehängen des jäh abfallenden Muldenthales breiten sich etwa hundert essenstrotzende, qualmende Gebäude aus, zu deren Füßen sich ungeheure Schlackenkegel nach den schwarzen Ufern des Flusses hinabdehnen. Die Gebäude selbst sind zum größeren Theil aus schwärzlich-bläulichem Schlackengestein aufgemauert; dazu flammt es und glüht es zu allen Oeffnungen heraus, sodaß die weite Gruppe als Modell zu einer infernalen Landschaft dienen könnte.

„Die Muldenhütten!“ tönt es in allen Coupé’s, und die Waggonfenster vermögen die Gesichter kaum zu fassen, die sich regelmäßig herandrängen, um den fremdartigen Anblick flüchtig zu genießen. Eine Stunde flußabwärts, einsamer gelegen, wiederholt sich dasselbe Schauspiel; dort gruppiren sich die Halsbrückner Hütten zu einem ganz ähnlichen Bilde auf derselben Grundlage; es sind Schwesteretablissements von gleichem Umfang und unter gleicher Oberhoheit; sie gehören dem sächsischen Staate und man bezeichnet sie zusammen kurz als die fiscalischen Hütten.

[667] Diese beiden Erzläuterstätten gehören zu den ersten Triumphstätten menschlichen Geistes; ihr Ruhm ist heimisch auf beiden Erdhälften, wo nur je ein Bergmann das Fäustel ergriff, um metallischen Schätzen nachzuspüren und es ist eigentlich befremdlich, daß außerhalb der Fachliteratur bis zur Stunde so gut wie nichts über dieselbe verlautete.

Mit dem sächsischen Bergbau hängen sie eng zusammen unter sich; alle Leiden und Freuden, die seit siebenhundert Jahren über den erzgebirgischen Bergmann dahingegangen, hat sein Bruder, der Hüttenmann, redlich mit ihm getheilt; hatte der Erstere einen besonders reichen Erzgang aufgeschlossen, so lohten auch auf den Hütten die Flammen mächtiger zum Himmel empor, und als der Dreißigjährige Krieg über das Land dahinwüthete und der Bergmann sein Gezäh (Werkzeug) weggeworfen, da ward es auch auf den Hütten still und einsam.

Man sollte meinen, so innig verwachsene Industrien müßten Schritt für Schritt mit einander vorwärts gegangen sein, allein die Geschichte lehrt das Gegentheil; der Hüttenmann hinkte seinem Stammverwandten Jahrhunderte lang nach, denn dieser war mit der Erfindung des Schießpulvers schon auf einer Höhe angelangt, die er im Wesentlichen nicht mehr überschreiten konnte, obgleich er jetzt den Dampf zu Hülfe genommen. Noch vor wenigen Jahrzehnten mußte der Bergmann Erze auf die Halde werfen, die auf den Centner weniger als 25 Gramm Silber ausgaben, weil der Hüttenmann behauptete, es lohne sich nicht mit solch armem Schmelzgut, heute aber hat sich der letztere auf eine Höhe geschwungen, daß er den einst verachteten Schutt mit schwerem Geld bezahlen kann, ja, er läßt ihn selbst wieder unter den Halden hervorgraben und nimmt es noch mit Erzen auf, die pro Centner nur 15 Gramm des edlen Metalls bei sich führen.

Aber das ist nicht sein vornehmstes Verdienst. Für den Kupfer-, Nickel-, Kobalt-, Zink- und Schwefelgehalt der Erze wollte der Hüttenmann gar nichts bezahlen, und er vermochte das auch nicht, denn er wußte diese Erztheile, die gerade in den Freiberger Erzen reich vorhanden sind, entweder überhaupt nicht, oder doch nicht lohnend auszuscheiden; in früheren Zeiten gewann er nicht einmal das Blei, das jetzt 28 Procent des Gesammtwerthes der Hüttenproducte beträgt. Unseren Vorvordern war es eben nur um den „Silberblick“ zu thun, der in unseren Zeiten so schwer an Ansehen einbüßen sollte. Die Einführung der Goldwährung in Deutschland führte bekanntlich die bis zur Stunde unerhörte Erscheinung herbei, daß ein Edelmetall auf 75 Procent seines ehemaligen Werthes zurückgeben konnte. Dieser Ausfall würde dem Bergmann das Fäustel wahrscheinlich ganz aus der Hand winden, hätte sein Bruder, der Hüttenmann, nicht in den letzten Jahrzehnten ganz riesengroße Fortschritte gemacht; man darf sagen, er allein hat dem Bergmann das karge Brod erhalten, das durch jenen Reichstagsbeschluß so schwer bedroht war.

Das ist neben dem wirthschaftlichen ein schöner menschlicher Triumph, doch auch noch einer weiteren Errungenschaft in dieser Hinsicht ist Erwähnung zu thun, die nicht minder hell über den Hütten schimmert, welche einst von giftigen Dämpfen aller Art schwer umlagert waren.

Der reiche Schwefelgehalt der Erze ging bei den früheren Schmelzprocessen als schweflige Säure hinaus in die Lüfte. Nach einem Gutachten des Professor Freitag in Bonn, der als unparteiischer Fachmann berufen worden war, sind ehedem im Jahr über 100,000 Centner dieses Stoffes durch die Schornsteine gefahren, um sich als ein heimtückisches Gift auf die Felder der benachbarten Dörfer niederzusenken; auch arsenige Dämpfe, gasförmige Oxyde und arseniger Flugstaub waren ehedem in großen Mengen entwichen, sodaß die Bewohner der Umgebung ihres Lebens nicht froh werden konnten. Der Bauer betrachtete den Hüttenmann als einen Giftmischer en gros; er räsonnirte, und schließlich kam es zu Processen.

Das Getreide kränkelte; die Rinder nahmen das Futter nicht an oder fraßen es nur mit Widerwillen; erkrankte Thiere zeigten bei der Section zerfressene Labmägen; außerdem sollte der Hüttenrauch Markflüssigkeit und Knochenbrüchigkeit verursachen, und endlich gar den Mutterboden selbst seiner Zeugungskräfte berauben. Die Gewinnsucht gesellte sich eben, wie ja immer in solchen Fällen, zu den berechtigten Ansprüchen. Kurz, der Hüttenmann hatte mit der Malice der Natur, die ihren edelsten Erzeugnissen so unheimliche Bestandtheile beimengt, seine liebe Noth. Ein eigener Regierungscommissar (ein Landwirth) mußte bestellt werden zur Abschätzung der wirklichen und zur Feststellung der fingirten Schäden, auch war man gezwungen, mehrfach auswärtige Fachleute als Schiedsrichter zu berufen.

Im Jahre 1865 erreichte die Summe der vergüteten Rauchschäden eine ganz bedenkliche Höhe – um mit einem Male rapid zu fallen und schließlich ganz aus den Bilanzen zu verschwinden, und mancher ungläubige Thomas kann sich jetzt an den neu angelegten Gemüsegärtchen inmitten der verdächtigen Essen selbst zur Evidenz überzeugen, daß der Sieg der Hüttenleute über die Misère ein vollständiger ist.

Im Jahre 1857 begann man schüchtern die angefeindete schwefelige Säure zur Herstellung von Schwefelsäure zu verwenden; man ward kühner, und zehn Jahre später war man dahin gelangt, daß der Schwefelgehalt in den Erzen dem Bergmann als Werthobject bezahlt werden konnte. Der Bauer aber streute jetzt den schwergehaßten Stoff als Bestandtheil des Superphosphats selbst auf seine Felder.

So hat die Hüttenkunde den Feind zum Freund, den Mörder zum Erzeuger, den heimtückischen giftigen Rauch zu einem reichen Nährquell verwandelt. Jetzt ist die Schwefelsäure nach dem Silber und Blei das vornehmste Hüttenproduct Freibergs geworden; im Jahre 1875 fabricirte man davon 232,729 Centner; als Nebenproduct bei der Herstellung gewann man noch 12,449 Centner Eisenvitriol und schwefelsaures Natron. Das wirthschaftliche Gesammtresultat dieses Fortschritts betrug in demselben Jahre 804,801 Mark, und dabei ist die vermehrte Arsen- und Silbergewinnung aus dem Flugstaub gar nicht in Frage genommen worden; das sanitäre Resultat aber spottet jeder Bezeichnung in Münzwerthen und ist überhaupt nicht abzuschätzen.

Der historische Sinn und die Pietät für das Althergebrachte sind dem Hüttenmann trotz seiner großen Neuerungen ebenso treu geblieben wie dem Bergmann. Die urväterlichen Rangbezeichnungen haben in einer Zeit, in der man nur von Directoren, Ingenieuren, Assistenten und ähnlichen prätentiösen Titeln hört, etwas Freundliches, Anmuthendes. Da giebt es Oberhüttenverwalter, Oberkunstmeister, Oberhüttenraiter, Hüttenwardeine, Schiedswardeine, Hülfswardeine, Hüttenmeister; die Arbeiter nennen sich: Erzröster, Schmelzer, Schlackenläufer, Abtreiber, Silberbrenner, Aschknechte, Vorläufer, Vorlaufsteiger, Kohlenläufer, Fördermänner, Erzmüller etc.. Unter etwa 40 Beamten stehen 900 ständige und circa 300 nichtständige Arbeiter; ihre Knappschaftscasse ist auf 90,000 Thaler angewachsen und wird von dem sächsischen Staat außerdem stark subventionirt; daneben besteht auch eine Krankencasse, auch zahlen die Hüttenwerke sogenannte Sterbelöhne an die Hinterlassenen aus, die dem Betrag eines vierwöchentlichen Lohnes des „bergmüden“ Knappen gleichkommen.

Die Güterbewegung auf den Hütten weist Riesenziffern auf, mit denen ich den Leser jedoch nicht quälen will. Die Anfuhrlasten bestehen in Schmelzgütern (Erze, Metallabfälle, alte Legirungen), in Kohlen, Coaks, Thon, Mergel etc.. Die Abfuhrlasten sind Gold, Silber, Kupfer- und Eisenvitriol, Wismuth, Zink, Rohblei, Schrot und Bleiwaaren, Schwefelsäure und Arsenikalien. Die Gesammtlasten mögen im Jahr auf anderthalb Millionen Centner kommen (das sind 500 große Güterzüge); darunter sind etwa 4 Centner Gold, 700 Centner Silber, 70,000 Centner Blei und 20,000 Centner pures Gift, mit denen man Europa entvölkern könnte.

Oefen brennen auf beiden Werken gegen 200; darunter sind solche von den seltsamsten Gestaltungen und mit den merkwürdigsten Namen. Einige heulen vor Gluth; aus anderen schlagen grünliche, gelbliche und bläuliche Flammen heraus, die unheimlich aufflackern wie Irrlichter oder die wie Feuerwerk das Auge entzücken. Recht garstige Ungeheuer sind darunter die sogenannten Arsensublimir-Oefen, und geradezu ein kleines Scheusal ist ein Vetter von ihnen, ein Ofen, in dem man das Arsen mit brennendem Schwefel vermischt, um das rothe Arsenglas herzustellen; sein Rachen gleicht einem riesigen Krebsgeschwür, das man mit Schwefel und Phosphor ausbrennt.

Mit Herzählung der Hunderte von Betriebsmitteln könnte der Einbildungskraft des Lesers schwerlich gedient sein; es würde doch zu keiner Vorstellung führen, wenn ich von den 6 Bleikammern der Schwefelsäurefabrik spräche, die mit den Fallthürmen 25,000 Kubikmeter Rauminhalt haben, oder von den Flugstaubkammern, die 19,000 Kubikmeter zu fassen vermögen; nur zweien kleiner [668] Kessel sei besonders gedacht, obwohl sie sonst recht unscheinbar sind; sie haben das Aussehen von Weißblechgefäßen und klingen auch recht blechern, wenn man daran klopft, und doch repräsentiren sie den Werth eines stattlichen Landgutes. Das Weißblech ist Platinmetall, das bekanntlich im Werth dem Gold am nächsten kommt. Der größere Kessel hat 60,000, der kleinere 36,000 Mark gekostet. Man braucht sie, um die Schwefelsäure bis auf 66 Grad concentriren zu können, da die Bleigefäße die Concentrirung nur bis auf 60 Grad gestatten.

Was einst der Gottheit mächtige Hand
Gemischet in feurigen Wogen,
Was tief den Berg und die Felsenwand
Als schimmernde Ader durchzogen,
Das scheidet wieder der kecke Gesell
Und trotzt dem wüthenden Flammenquell –

Das ist des Hüttenmannes Verrichtung in allgemeinen Worten. Er ist ein auf den Kopf gestellter Apotheker; er „gießt nichts Widriges zusammen“; er hat’s nur auf Trennung abgesehen; er rückt den innigsten und hartnäckigsten Verbindungen zu Leibe, und müßte er die Erze durch Hunderte von Oefen jagen und sie brenzeln und brennen, wie Seine höllische Majestät die unlauteren Seelen. Wer eine Dantewanderung, wenigstens im Geist, durch die infernalen Räume antreten will, ist höflichst geladen; ich kann ihm zwar keinen Virgil als Führer anbieten, aber ich hoffe ihm mindestens den Hauptschmelzproceß deutlich machen zu können; die Nebenprocesse müssen wir des Raumes wegen übergehen.

Wir schreiten zunächst in die Erzlagerhäuser. Hier fahren die Bergwerke ihre Producte an, die sich, zu Pulver gepocht, von gewöhnlichem Sand kaum unterscheiden. Schon mancher Laie rief hier verwundert: „Aus dem Zeug machen Sie Silber?“ In ungeheuren

Andreas Hofer’s Abschied von den Seinen.
Nach dem Oelgemälde von Franz Defregger in München.

[669] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


Haufen liegen die Erze nach ihrem Gehalt beisammen, fremde und einheimische. Von jeder Partie, gleichviel, ob sie Freiberg, Böhmen, Mexico oder Chile lieferte, wird erst auf der Hütte die Probe gemacht. Die beiden Hüttenwardeine untersuchen getrennt die Erze auf ihren Gehalt; hat indeß der Lieferant von seinen Erzen eine bessere Meinung, als die Wardeine, so wird der Schiedswardein zu Freiberg angerufen. Seinem Ausspruche hat sich der Lieferant zu fügen, oder er kann die Erze wieder abfahren lassen. Doch das kommt kaum vor; in den meisten Fällen streicht er im Hüttenamt sein blankes Geld ein.

Der Hüttenmann richtet nunmehr eine „Beschickung“ an; er mischt eine Partie gleichartiger Erze von etwa 5000 Centnern, die mit einem Male zur Bearbeitung gelangt. Auf kleinen Fahrzeugen, Hunde genannt, werden die Sandmassen über die Röstöfen gefahren und in Röstposten zu 25 Centner in die Röstöfen eingeschüttet. Diese Oefen sind in neuester Zeit so construirt worden, daß die Erze im Feuer selbst fortgeschaufelt werden können; sie bieten riesenhafte Feuerflächen dar, auf denen sich verschiedene Hitzgrade entwickeln. Der ganze Proceß gleicht dem Speckrösten auf ein Haar, nur daß man statt des Thranes hier den Schwefelgehalt ausscheidet, der sonst, wie wir aus früheren Anführungen wissen, als verlorenes Gut durch die Essen gefahren ist und draußen so viel Unheil anrichtete. Jetzt wird er als schwefelige Säure, als kostbarer Rohstoff durch große Canäle direct nach der Schwefelsäurefabrik geleitet.

Bei der Einführung dampfen die Erze nur, je weiter sie aber dem eigentlichen Feuerherd zugeschaufelt werden, je mehr gerathen sie in Gluth, bis sie zuletzt in flüssigem Zustande als schwefelfrei in fahrbare Behälter abfließen, [670] in denen sie zu compacten Massen erstarren. Nach dem Erkalten werden sie in Stücke zerschlagen und in die Hochöfen übergeführt. Ein Cylindergebläse verursacht in diesen Oefen ein wahres Höllenfeuer. Bei circa 1600 Grad Celsius zerschmilzt die harte Erzmasse abermals und sondert ihre Hauptbestandtheile blos durch das verschiedene specifische Gewicht von einander ab. Das schwere Blei mit dem Silbergehalt sinkt zu Boden; darüber hat sich als dünne Lage die Nickelspeise gebildet; auf dieser ruht ein schwarzer Stein, in dem sich vorzugsweise das Kupfer ansammelt, und ganz zu oberst schwimmen die Schlacken, die indeß auch noch Metalle enthalten. Diese Ausscheidungen werden je einzeln wieder diversen Scheideprocessen unterworfen; sie bergen sämmtlich noch Silber, Blei, Kupfer, Arsen etc.. Doch müssen wir beim Hauptproceß verweilen, der das Hauptproduct, Silber und Blei, umfaßt, das jetzt zusammen „Werkblei“ genannt wird.

Eine Neuerung an den Hohöfen sind die sogenannten Kühlringe, gußeiserne Hohlräume, die einen Ring um den Ofen bilden, durch den fortwährend kaltes Wasser strömt, sonst mußten die glühenden Riesen von Vierteljahr zu Vierteljahr umgebaut werden, da keine ihrer Thonausmauerungen im Stande gewesen, solche furchtbare Gluthen länger zu ertragen; seit man ihnen aber einen Prießnitz-Umschlag um den heißen Leib verordnete, bringen sie es auf 18 bis 24 Monate, und das ist für einen Hohofen ein wahres Greisenalter.

Das Werkblei wandert nun zum Saiger-Ofen. Das Saigern bedeutet eine Ausscheidung des Kupfers und ist ein rein mechanischer Vorgang. Auf einem schräg gemauerten Herde wird das Werkblei abermals zum Schmelzen gebracht. Das schnellflüssige Blei mit dem Silber läuft von dem schrägen Herde fort, während das schwerfälligere Kupfer in den sogenannten Saigerdörnern darauf zurückbleibt. Der Hüttenmann gießt das Werkblei in Barren, harkt das Kupfer vom Herde fort, scheidet noch Manches aus ihm aus und verwandelt es schließlich in das prächtige, tiefblaue Kupfervitriol, das in den Batterien der Telegraphen eine Hauptrolle übernommen. Doch zurück zu dem nun auch kupferfreien Werkblei! Jetzt gilt’s, das Arsen und das Antimon auszuscheiden; diese Verbindungen hat die Natur besonders dauerhaft gestaltet, denn die Trennung des Giftes von dem zukünftigen Geldstück erheischt eine ganz energische Manipulation. In Massen von 400 Centnern bringt man das Werkblei in die Raffiniröfen und hetzt mit Gebläse die Flammen viele Stunden lang über die flüssige, glänzende Masse dahin. Das Arsen und das Antimon wird dadurch zum Oxydiren gebracht, sodaß man die beiden Metalle als ein aschenartiges Product von der Oberfläche des Metallsees abstreichen kann. Der Hüttenmann kennt einen ersten, zweiten und einen dritten Abstrich, die er wieder verschiedenartig verhüttet, scheidet und ausnützt. Aus einem der Abstriche gewinnt er das Antimonblei, das in der Welt in Form von Buchdruckerlettern viel Heil und Unheil anrichtet.

Das Werkblei hätte nun nur noch das Silber bei sich, aber Silber und Blei sind fast unzertrennliche Freunde, die der Mensch nur mit größter Mühe zu entzweien vermag. Dazu benutzt er zunächst einen kleinen Egoismus des letzteren Metalls. Das Blei hat nämlich das Bestreben, beim Erkalten in einem gewissen Wärmegrad Krystalle zu bilden, in denen es kein Silber mit aufnimmt. Das hat ihm der kluge Mensch abgelauscht „und darauf baut er seinen Plan“; er überrascht das ahnungslose Metall bei diesem Vorgange und schöpft die Krystalle mit Riesenlöffeln aus. Je zu einer Post gehören sechszehn große Kessel, die unterirdisch gefeuert werden und dicht an einander stoßen. Die schwere Arbeit des Schöpfens beginnt bei den mittleren Kesseln; die Bleikrystalle werden von Kessel zu Kessel nach rechts übergeführt, die Mutterlauge jedoch – das ist das Blei, welches das Silber an sich behält – geht von Kessel zu Kessel nach links. Nach einer endlos erscheinenden Ausschöpferei hat man es dahin gebracht, daß im äußersten Kessel zur Rechten reines Blei angesammelt und zur Linken ein Blei zusammengeschöpft worden ist, das statt des früheren halben Procents jetzt zwei Procent Silber enthält und nun nicht mehr Werkblei, sondern Reichblei benannt wird. Dem Laien erscheint das ein geringer Vortheil, vor den Augen des Hüttenmannes aber ist es ein bedeutender Erfolg, und der Name Pattinson – so hieß der erste Ausbeuter dieses Naturprocesses – hat einen guten Klang in der Hüttenkunde.

Jetzt rückt man den treuen Verbündeten „Silber und Blei“ wieder direct mit dem Feuer auf den Hals; der Abtreibeproceß beginnt, der schon durch seinen Namen auf das Gewaltsame seines Charakters hindeuten. 600 bis 700 Centner Reichblei werden gleichzeitig in den Treibeherd gebracht, der zu jedem Abtreiben neu aus Mergel geschlagen werdet muß. 120 Stunden lang schlagen jetzt die wildesten Flammen, getrieben von einem wüthenden Luftstrom, ununterbrochen in den Treibeherd hinein. Das Silber hält diese glühende Parforcejagd der Sauerstoffmassen aus, nicht aber sein Getreuer, das Blei; es oxydirt zu einer brüchigen, gelbgrünen unscheinbaren Masse, die in den Töpfereien als Bleiglätte den Töpfen die bekannte Glasur giebt. Doch nicht alles Blei hat sich zum Oxydiren zwingen lassen, in dem Rückstande, dem Silberkuchen, sind davon noch immer zwanzig bis dreißig Procent vorhanden, das Silber wird daher in einen kleineren Herd gebracht, und der „Guttreibeproceß“ mit mäßigeren Luftströmen vollendet das, was der Haupttreibeproceß zu thun übrig ließ. Man hält jetzt von Zeit zu Zeit ein Gezähstück über das flüssige Metall und erst, wenn sich der Silberspiegel als ein ganz reiner und tadelloser erwiesen, werden die heulenden Flammen zum Schweigen gebracht, denn das ist das Zeichen, daß die Mesalliancen, die das Edelmetall tief unter der Erde eingegangen, beseitigt sind. Aber noch führt das Silber eine Contrebande bei sich, die weit köstlicher als sein eigener Werth ist, das Gold, und das kann ihm der Hüttenmann nicht mit auf die Fahrt geben. Das glänzende Metall muß sich zu diesem Zwecke eine völlige Auflösung in Schwefelsäure gefallen lassen, wobei es das Aussehen eines „Grünbittern“ annimmt, kurz, zu einer nichtssagenden Flüssigkeit entstellt wird. Das Gold scheidet sich dabei als ein unscheinbarer Staub aus, der durch Waschen und Kochen in Wasser, Schwefelsäure und doppeltschwefelsaurem Natron zu reinem Golde geläutert wird, und damit stehen wir auf der Höhe und am Ende der vielgestaltigen Erzscheideprocesse.

Die Zinkhütten, die Arsenhütten und die Schwefelsäurefabrik, wo der deutsche Hüttenmann so große Erfolge errungen, müssen wir übergehen, so gern wir auch diese Triumphe den Lesern verständlich machten – nur das Eine sei hier verkündet, das den Hüttenmann vielleicht am meisten ehrt: seine Triumphe haben ihn nicht träge gemacht – im Gegentheil, er ist noch lange nicht mit sich zufrieden. Die blauen, röthlichen, gelb- und grünlichen Flammen, die aus den Oefen hier und da emporschlagen, gefallen ihm durchaus nicht, so sehr auch ihr flackerndes Farbenspiel das Auge entzückt; er weiß, daß hier kostbare Stoffe verbrennen, und diese und noch manch Anderes, was in die Lüfte entweicht oder über die Schutthalden hinabrollt, gedenkt er gleichfalls der Menschheit dienstbar zu machen. Nun, Glückauf, wackerer Hüttenmann!

Gampe.




Aus vergessenen Acten.

Eine Criminalgeschichte von Hans Blum.

(Fortsetzung.)


Zwanzig Jahre waren nun vergangen seit jener blutigen Johannisnacht, und Kern war immer noch Amtsrichter in dem kleinen Städtchen. Von der dunklen That erzählten die alten Leute den jungen wie von einer blutigen Sage. Nur zwei verwitterte Grabsteine auf dem älteren Theile des Kirchhofes bekundeten, daß die Sage Wirklichkeit gewesen. Der Unselige, der die That verübt, sollte noch leben: das Leben des Zuchthauses.

Und auch das muthige Mädchen, das einst mit eigener Lebensgefahr die verborgene That an’s Licht gezogen, lebte noch. Sichtbar lag nach Ansicht der Leute der Segen Gottes auf ihrem Thun, ihrem Hause. Einst, so erzählten die Alten, hätte der Bauer Stephan von der Liebschaft seines Sohnes Gustav mit der Margret absolut nichts wissen wollen. Und gerade als der Josua King, der Mörder, abgeurtheilt worden, und die Margret mit [671] den anderen Zeugen aus dem Gerichtshause der Residenz getreten sei, da sei vor allem Volk der alte stolze Bauer auf Margret zugetreten, habe schweigend ihre Hand in die des Sohnes gelegt, sie als seine liebe Tochter angeredet, umarmt und auf den bereitstehenden Zweispänner gehoben; er habe sie dann in Person auf seinen schönen Bauernsitz drüben auf der Höhe gefahren. Darauf sei die Hochzeit mit aller bäuerlichen Pracht, fast mit Verschwendung ausgerichtet worden, und der Alte habe dem jungen Paar den Gasthof zum „Hirsch“ im Städtchen gekauft und eingerichtet, der damals billig zu haben war, weil er wenig Zuspruch hatte. Der Alte habe dem jungen Paar auch etwas zu thun übrig lassen wollen: sie sollten ihr Haus selber vorwärts bringen.

Die Alten brauchten den Jungen nicht erst zu sagen, daß heute der „Hirsch“, in dem die stattliche Wirthin Margret Stephan waltete, der erste Gasthof der Stadt sei. Das wußte das junge Volk selbst sehr genau. Namentlich seit einigen Jahren sah man die heirathsfähigen jungen Männer der Stadt fast jeden Abend im „Hirsch“ versammelt.

Der Magnet, der alle anzog, war der Wirthin holdseliges Töchterlein, ihr einziges Kind, das der Mutter in der Gaststube, in Küche und Keller tüchtig zur Hand ging. Um ihretwillen ließ sich das junge Volk auch willig von den Alten jene grausige Mordgeschichte erzählen, bei der Frau Margret Stephan eine so bedeutsame Rolle gespielt hatte. Viel umworben war das frische, schöne Mädchen, aber gleich freundlich war sie gegen Alle; Niemand sah sich bevorzugt. Keiner der jungen Männer mochte darum die Hoffnung aufgeben, der jungen Margret schöne Augen einstmals doch noch besonders auf sich zu lenken, und nach wie vor dauerte der Wettlauf um ihre Gunst.

Alle diese Hoffnungen mußten freilich auf unbestimmte Zeit vertagt werden, als etwa vor Jahresfrist plötzlich das Gerücht die Stadt durchlief, der Gastwirth Stephan sei nach kurzer Krankheit einem hitzigen Fieber erlegen. Das ganze junge Geschlecht eilte in’s Trauerhaus, um sein Beileid zu stammeln und kehrte mit der Versicherung nach Hause zurück, daß auch die Trauergewänder dem Mädchen reizend ständen. Die Blüthe der männlichen Jugend der Stadt erwies dem todten Wirth die letzte Ehre auf dem weiten Wege bis zum Erdbegräbniß der stolzen Bauernfamilie Stephan, das auf dem Dorfkirchhof jenseits des Berges lag.

Alles wurde aufgeboten, in den kommenden Monaten die Waise zu trösten, zu gewinnen. Sie war aber dieselbe wie zuvor; gleichmäßig freundlich gegen Alle, von der Bevorzugung eines einzelnen der vielen jungen Männer weiter entfernt als je. Daß sie der Mutter nun immer in der Wirthschaft, im Hause helfen müsse, sich nicht von ihr trennen dürfe, sprach sie nach dem Tode des Vaters wiederholt aus.

Das waren nur vertrauliche Aeußerungen Margret’s, aber das Städtchen erfuhr sie doch. Der große Generalstab des Städtchens in Enthüllung der Herzenspläne von Mitbürgern aber hatte einen feinen Trost in Bereitschaft für Diejenigen, welche klagten, die kleine Margret wolle für immer bei der Mutter bleiben.

„Das wird plötzlich einmal anders werden,“ orakelte es. „Der alte Kern wird der Sache schon eine Wendung geben.“

„Der alte Kern?“ fragte die betheiligte Jugend ungläubig.

„Freilich, der alte Kern – alt sollte man eigentlich nicht sagen, denn wie alt kann er denn sein? Nun, ein hoher Vierziger. Für einen Junggesellen freilich schon ein etwas reifer Frühling! Aber alte Liebe rostet nicht. Wenn der die Margret vor zwanzig Jahren hätte haben können – Ihr braucht nicht zu lachen, ich meine nicht die achtzehnjährige Wirthstochter, sondern ihre Mutter – hätte er sie gleich heimgeführt. Er hat sie geliebt seit der Mordjohannisnacht. Aber sie hatte einmal Gustav Stephan das Wort gegeben. Habt Ihr, so lange Ihr lebt und denken könnt, einen einzigen Tag gesehen, an dem der alte Kern nicht regelmäßig um ein Uhr zum Mittagessen und um sieben Uhr zum Abendessen in den ‚Hirsch’ gegangen wäre? Aber diesen Mann und diese Frau in Ehren, Kinder! Keiner kann der Hirschwirthin etwas nachsagen. Ihre ganze Ehe war wie ein einziger Sonnentag. Aber sie mag den Amtsrichter sehr gut leiden und hat so großen Respect vor ihm, wie wir Alle. Und ihr seliger Mann war ihm auch so gut. Also, Kinder, ich will nichts gesagt haben, aber man kann Alles noch erleben. Und dann ist natürlich für die erwachsene Tochter kein Bleiben im Hause. Mutter und Stiefvater werden sie rasch zu versorgen trachten.“

So urtheilte der Generalstab, und dieses Urtheil – kam den Empfindungen Kern’s wirklich sehr nahe.

Einmal, ein einziges Mal in seinem Leben war ihm ein Wort der Liebe zu Margret, der Verlobten Gustav Stephan’s, auf den Lippen gestanden. – In jenem Augenblicke, als Margret dem verurtheilten Mörder Josua King zum letzten Mal begegnet war, hatte Kern im Zeugenzimmer sich eingefunden. Er stand dem Mädchen allein gegenüber, unter dem unmittelbaren Eindrucke der Tragödie, die im Verhandlungssaal zu Ende gegangen war, bei der er Margret die Rolle der ersten Heldin noch einmal hatte spielen sehen. Im Glauben, ihre Neigung zu Gustav Stephan sei eine verlorene erste Liebe, die auf den rauhen Klippen der Wirklichkeit Schiffbruch gelitten, hatte er sich der Hoffnung hingegeben, Margret werde bei dem häufigen Verkehr mit ihm während der letzten Monate wenigstens sein redliches Wollen erkannt haben und ihn so gut für würdig hatten, an ihrer Seite durchs Leben zu gehen, wie manchen Andern. Er schmeichelte sich, daß die Ehre und Würde seines Amtes seinen Heirathsantrag wesentlich befürworten werde, und meinte, als Mann Margret’s volle Zeit und Gelegenheit zu finden, um die Unterschiede in ihrer beiderseitigen Bildung immer mehr auszugleichen. Das Alles hatte er sich wochenlang überlegt und nun den Muth gefunden, ihr Alles zu sagen.

Er schritt auf sie zu, faßte herzlich ihre Hand, blickte ihr ernst in die verwunderten Augen und sprach feierlich:

„Margret, ich habe ein ernstes Wort mit Ihnen zu reden.“

„Herr Amtsrichter, Sie erschrecken mich –“

„Nicht doch, Margret, ein Wort freudigen Inhalts für uns Beide, wie ich hoffe. Margret, ich wollte sagen, daß ich –“

„Ach, entschuldigen Sie, Herr Amtsrichter,“ meldete in diesem Augenblicke der Wachtmeister, „unten am Eingange des Gerichtsgebäudes steht ein Herr Gustav Stephan, der die Zeugin Margret gern gleich sprechen möchte.“

„Gustav – hier!“ stammelte Margret erröthend, indem sie ihre Hand derjenigen Kern’s entzog. „Ach, Herr Amtsrichter, Sie sagen mir das, was Sie mir sagen wollten, wohl nachher!“

Damit eilte sie aus dem Zimmer, die Treppe hinab.

Kern war ihr gefolgt. Er war Zeuge, wie der alte Stephan vor allem Volk sie seinem Gustav verlobte und auf seinen Zweispänner hob. Das arme Fahrzeug der ersten Liebe Margret’s, das Kern auf den Klippen gestrandet glaubte, fuhr als stolzer Dreimaster mit flatternden Wimpeln heim in den Hafen der Ehe. Er zerdrückte verstohlen eine Thräne. Das Wort, das Margret in der nächsten Minute von ihm hören wollte, wurde nie gesprochen.




Zwanzig Jahre waren vergangen seit dieser Zeit, und während neunzehn derselben hatte Kern seine Liebe zu Margret begraben geglaubt für immer. Er war ihr und ihrem Gatten allezeit der treueste Freund gewesen. Er hatte sein Hauptquartier im Hirsch aufgeschlagen und dadurch den besten Theil der Honoratioren des Städtchens nach sich gezogen. Er war in guten und bösen Tagen dem jungen Paar mit Rath und That treulich zur Seite gestanden, und die kleine Margret hatte an „Onkel Kern“ einen zweiten Vater. Er spielte mit ihr, als sie klein war, bestimmte später über ihre Erziehung und controlirte den Fleiß und die Fortschritte des Kindes, die Methode und Leistungen der Lehrer. Kern war glücklich in dem Glücke des Stephan’schen Hauses, als ob es sein eigenes gewesen wäre. Margret war ihm diese lange Reihe von Jahren hindurch das Sonnenlicht, dessen er bedurfte, um zu leben, das er aber so wenig zu eigen begehrte, wie das Licht des Himmelsgestirns.

Mit einem Male hatte der Tod jäh die Bande gelöst, die Kern bis zum Ende seiner Tage als unübersteigliche Schranke seiner Liebe gezogen geglaubt. Margret war frei. Sie war noch nicht vierzig Jahre alt, er selbst noch nicht fünfzig. Aufrecht und energisch schritt er einher; das volle Haar und die kräftigen muskulösen Züge seines Gesichtes gaben ihm immer noch ein recht leidliches Aussehen. Spät war es allerdings geworden für den Frühling in diesem Herzen. Aber dieses Herz war noch des Frühlings fähig.

Monate waren vergangen seit dem Tode des Hirschwirthes Stephan, ehe Kern sich die Frage vorlegte, ob dessen Wittwe jemals daran denken werde, ihren Wittwenstand aufzugeben. Und abermals vergingen Monate, ehe Kern dieser Frage gestattete, öfters bei ihm einzukehren, sie nicht schroff abwies, wie das erste Mal. Man [672] sah ihn nun häufig und gegen seine bisherige Gewohnheit, gleichviel in welchem Wetter, stundenlang einsam in der Umgegend des Städtchens umherpilgern. In der Mittagsstunde und am Abend im Kreise der Freunde war er einsilbiger und verschlossener, als er sonst sich zu geben pflegte, sodaß Manche fürchteten, eine schleichende Krankheit, welche Frohsinn und Lebensfreude ihm mehr und mehr bestricke, werde plötzlich bei ihm zu Tage treten. Selbst im Verkehr mit der Hirschwirthin, mit der jungen Margret zeigte er sich verändert. Bald war er zärtlicher, weicher und hingebender, als je zuvor, bald rauher und abweisender, als sie Kern jemals gekannt hatten. Besonders eingehend und freundlich berieth er mit der Wirthin unter vier Augen. Als Vormund des „Kindes“ Margret hatte er dazu oftmals Veranlassung, die er jedesmal eifrig benutzte.

So war das Trauerjahr beinahe abgelaufen, als auch das ganze kleine Fürstenthum plötzlich von Amtswegen in Trauer versetzt wurde. Der Landesfürst segnete das Zeitliche und hinterließ Alles, was er besessen, seinem Erben. Viel war es nicht. Die officielle Trauer nahm sechs Wochen in Anspruch. Die Gerichte siegelten schwarz; die Beamten trugen schwarze Flöre um den linken Arm und den Cylinder: nur Cylinder durften von Beamten während der Landestrauer getragen werden. Die Hofschauspieler erhielten sechs Wochen Ferien und überschwemmten die Theater des deutschen „Auslandes“ mit Gastspielen. Die überschießende gute Gesinnung zeigte sich in mancherlei rührenden Zügen: man schaffte schwarze Pferde zu loyalen Equipagen an; der Hofcorsettlieferant veranstaltete in seinen Schaufenstern eine sinnige Auslegung beflorter Handschuhe und Hosenträger in den Landesfarben. Der Hofconfitürier stellte eine braunschwarze Kolossalbüste des verewigten Monarchen von Chocolade aus. Das amtliche Blatt registrirte tiefbewegt „alle diese ungeheuchelten Beweise eines allgemeinen großen Schmerzes um die heimgegangenen landesväterlichen Tugenden“.

Dem Ländchen aber blieb der schwierigere Theil des Beweises seiner Theilnahme an dem allerhöchsten Familienereignisse noch vorbehalten. Denn mit dem letzten Tage der sechs Trauerwochen sollte der große ungeheuchelte Schmerz mit einem Male versiechen, jeder Thränenquell, der aus diesem Anlaß floß, trocken gelegt werden und von Mitternacht ab die Landestrauer in eitel Landesfreude sich verwandeln. Denn am kommenden Tage gedachte der neue Thronbesitzer seinen Regierungsantritt festlich zu begehen. Da durfte kein Städtchen und kein Flecken des Landes sich ausschließen, wenn es nicht höheren Ortes ungünstig vermerkt werden sollte. Namentlich trat an die Wirthe des Landes die Aufgabe heran, für geeignete Festveranstaltungen zu sorgen.

Auch die Wittwe Margret Stephan hatte ihre Anstalten für das fürstliche Fest zu treffen, und natürlich, wie alle Anderen, schon am letzten Tage der Trauerwochen, damit der kommende Tag Küche und Keller bei ihr in Ordnung finde. Und doch war ihr das Herz schwerer und trauriger als jedem andern Landeskind an diesem Tage. Denn gerade an diesem Tage vor einem Jahre war ihr Gatte gestorben.

Es that ihr sehr weh, daß sie heute nicht selbst an das Grab ihres Gustav sollte wandern, es nicht selbst sollte bekränzen können. Aber auch Kern, der stets nur das Nöthigste an loyalen Kundgebungen empfahl, hatte der Gastwirthin dringend gerathen, sich ordentlich zum Krönungsfest zu rüsten, um dem Neide Mißgünstiger keinen Stoff zum Gerede zu geben. So mußte denn das Opfer gebracht sein.

Am frühen Morgen verließ jung Margret die Mutter, um die duftigen Kränze des Frühlings, unvergänglicher Liebe auf dem Grabe des Vaters niederzulegen. – –

Vor zwanzig Jahren war ihre Mutter denselben Weg geschritten zu demselben Zwecke, wie sie heute.

Wie damals jubelten die Lerchen. Wie damals war die Luft erfüllt von dem kräftigen Dufte der Bergwiesen. Wie damals der Mutter, so winkte heute der Tochter als süßer Lohn nach der steilen, schattenlosen Steigung vor dem Gipfel des Berges das wonnige, lichte Grün des Buchenwaldes, unter dessen Laubdom man bis zum Dorfe hinabschritt.

Ja, die Mutter hatte der Tochter oft erzählt von jenem Gang nach dem Grabe der Eltern, den sie vor beinahe zwanzig Jahren gethan. War an diesem Morgen doch zum ersten Male in den Mai ihrer Liebe der tödtliche Frost gefallen, den das Wort Scheiden der jungen Liebesblüthe bringt. Und wie furchtbar hatte der Tag geendet – mit dem Morde der Johannisnacht!

Genau kannte jung Margret alle Einzelheiten jenes Morgens, jenes Tages, der nun fast zwanzig Jahre zurücklag. Hier oben stand noch der Feldstein, auf dem vor zwanzig Jahren ihr Vater als junger Mensch gesessen und die Braut erwartet hatte. Sie kannte auch den Stein genau, der das Merkzeichen war, daß die Höhe gewonnen sei. Ihr Auge heftete sich mit dem Ausdruck der Verwunderung auf diese Stelle. Ein alter Mann lag schlafend an demselben. Er hatte die Rechte um den Stein geschlungen, hatte eine rauhe Decke wie ein Kissen an den Stein und unter den Kopf gelegt und schlief in dieser Lage, den Körper im weichen Grase ausgestreckt.

Margret mußte an dem Manne vorüber; sie schritt leise näher, um ihn nicht zu wecken. Einen Augenblick blieb sie stehen, um das Gesicht des Fremden zu betrachten, das dem Wege zugekehrt war.

Sie hatte anfangs geglaubt, es könne ein alter Landarbeiter sein, der so früh schon vor Müdigkeit raste. Aber dem widersprach der Schnitt der Kleidung des Unbekannten. Sie schien nicht lange getragen und in einer Mode zugeschnitten, die jung Margret in ihren achtzehn Jahren noch nie gesehen. Auch das bleiche, blutleere Gesicht, die blassen, mageren Hände des Fremden gehörten sicherlich keinem Landmann an. Für einen Handwerksburschen war der Mann viel zu alt, für einen Bettler zu reinlich und zu gut gekleidet. Ein wandernder Krämer konnte er nicht sein, da er keine Waaren mit sich führte.

Wenig kurzgeschorenes graues Haar bedeckte das Haupt des Unbekannten. Die breite Stirn zeigte Furchen des Grams und tief in ihren Höhlen ruhten die geschlossenen Augen. Die Backenknochen sprangen weit hervor; verfallen waren die Wangen und der dichte graue Bart kurz rasirt. Der Athem des Fremden ging unruhig und schwer. Auch die lange, breitschulterige Gestalt schien gebeugt, verfallen vor Alter. Von den alten Männern, die Margret gesehen, war dieser weitaus am hinfälligsten. Und dennoch erhöhte eine genauere Prüfung seiner Züge nicht das Mitleid für den schwachen, alten Mann; denn es lag etwas so Gemeines, Wildes um den Mund des Schlafenden, daß Margret zurückschreckte. Die Muskeln und Bänder der Kiefern schienen so straff angezogen wie bei einem Raubthier, das Beute erspäht.

Alle diese Beobachtungen hatte Margret in wenigen Minuten gemacht. Sie war auf den Fremden zugetreten in der stillen Absicht, eine Blume als Frühlingsgruß bei ihm zurückzulassen, oder eine Geldspende, wenn er ihrer bedürftig scheinen sollte. Sie trat jetzt rasch und ohne jede Spende von ihm zurück, ihren Weg fortzusetzen, um den fremden Menschen so schnell wie möglich aus den Augen zu verlieren.

In diesem Augenblicke hustete er laut und heftig, und der Anfall schüttelte und weckte ihn, noch ehe Margret sechs Schritte von ihm entfernt stand.

(Fortsetzung folgt.)




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 45. Eine Bärenhatze.


Vor vielen Jahren, auf einer Fußreise nach Italien, begegnete ich unterwegs da, wo das Karstplateau von Krain sein weites steinbesäetes, ödes Gebiet erstreckt, einem Jägersmann, in welchem ich schon nach den ersten mit ihm gewechselten Worten einen unleugbaren guten Sachsen erkannte. Erwiderte derselbe doch meinen ihm entbotenen Morgengruß zu meiner freudigsten Ueberraschung in so unverfälscht sächsisch-erzgebirgischer Mundart, daß ich keinen Augenblick zweifelte, einen rasse-reinen Abkommen meiner heimathlichen „Blechlöffelleut“ vor mit zu haben. Aber auch er, der alte gemüthliche Grünrock, hatte alsbald an meiner Aussprache

[673]

Eine Bärenhatze in Krain.
Original-Zeichnung von Fr. Specht.

[674] seinen wasch-echten Stammesbruder aus der Niederung herausgewittert, und äußerte, als er seine Vermuthung durch mein vergnügliches Zugeständniß bestätigt fand, in rührender Einfalt eine geradezu tolle Freude darüber. Natürlich wurden wir, wie verschieden auch an Jahren, im Fluge die besten Freunde, und ich mußte alsbald als lieber Gast in sein Haus mitkommen, das, ein paar Stunden entfernt von unserem Begrüßungsorte, in dem malerisch reizenden Inseldörfchen des Zirknitzer Sees lag.

In diesem Stück Eden der sonst so tristen Gegend lebte nämlich der wackere Alte schon seit Jahren in stiller Zurückgezogenheit als Pensionär, nachdem er, schon jung als Jägerbursche nach Böhmen gekommen, die längste Zeit seines Lebens als kaiserlich königlich österreichischer Forst- und Jagdbediensteter in Siebenbürgen, Kroatien, Ungarn und Galizien, später aber in Tirol, Steiermark und den Kärntner Alpen zugebracht. Schließlich hatte er hier, in Krain, im Kreise seiner Tochterfamilie, deren Oberhaupt ein braver eingeborener Bauer war, sein Asyl gefunden.

Bei landesüblichem Mahle, das mir zu Ehren tintendunkler Karstwein würzte, mußte ich nun dem „Großvater“ von der allezeit geliebten Heimath erzählen, und als es sich dabei herausstellte, daß ich sogar den Ort seiner Wiege, sowie dessen ganze wald- und wildreiche Umgegend, eine wahre Perle erzgebirgischer Naturschönheit, durch eigene Anschauung auf das Genaueste kannte, so wollte sein Fragen nach dem nievergessenen Daheim kein Ende nehmen. Als ich aber auch noch über manchen Veteranen aus dem Kreise seiner Jugendbekannten, die, wie er, zur „grünen Farbe“ geschworen, Auskunft zu geben vermochte, da jubelte des greisen Waidmanns jung gebliebenes Herz hoch auf vor Wonne, wobei ihm die treublickenden Augen unter den weißbuschigen Brauen schier übergingen in tiefer Erregung.

Ich versprach dem Gerührten, bei meiner Nachhausereise seine einstige traute Geburtsstätte von Neuem zu besuchen und dort seinen noch lebenden Bekannten Gruß von ihm und Nachricht über seine Vergangenheit und seinen jetzigen Wohnsitz zu bringen. Dies bewog ihn, mir etwas aus seinem in der Fremde verbrachten vielbewegten Leben zu berichten, und so lenkte er seine heimwehen Gedanken wieder mehr auf sein zweites Vaterland, das unvergleichlich schöne Oesterreich mit seiner reichen Naturherrlichkeit.

Von all den Jagdereignissen aber – und der Hauptsache nach besprach er nur solche – die er im Laufe langer Dienstzeit mit allerlei Gethier in den Wildnissen seiner innegehabten Reviere bestanden, schien ihm keines so ergötzlich und der Erinnerung werth – vielleicht nur deshalb, weil es sein jüngst erlebtes war – wie eine Bärenhatze, die auf demselben Boden, auf welchem wir uns getroffen, sich abgewickelt. Denn: hatte er auch in dem Geklüft der schneegegipfelten Karpathen, wie in den weiten, stillen Wäldern Ungarns manchen „Vetter Braun“ in echt waidgerechter Art gefällt, so versicherte er doch unverhohlen, jene regellose Bauernjagd, als welche er die nachfolgend geschilderte Begebenheit von vorn herein bezeichnete, sei für ihn doch die allerlustigste gewesen.

Es war nämlich an einem sonnig schönen Novembermorgen gewesen, dem viele Regentage mit Schneegestöber vorausgegangen; die plötzlich eingetretene günstige Witterung hatte eine Anzahl von Hirtenknaben veranlaßt, mit ihren Ziegen noch einmal zwischen das Steingetrümmer ihres Flurbereiches zu ziehen, um hier die letzten kargen Gräser von ihren Pfleglingen abweiden zu lassen. Einer dieser Hirtenknaben war nun athemlos in den nächsten Ort gekommen mit dem Angstrufe: ein großmächtiges Thier habe soeben seine kleine Heerde angegriffen und das „Schwarzel“, seine Lieblingsziege, daraus hinweggeholt.

Wie ein Lauffeuer hatte die schlimme Nachricht sich verbreitet und auch meinen Landsmann, auf den hierbei von vorn herein Aller Augen sich gerichtet, in seinem Inselsitze erreicht. Selbstverständlich hatte der bewährte Nimrod, der sofort einen Bären in dem Eindringling erkannt hatte, nicht einen Augenblick gezaudert, noch einmal die erprobte Pürschbüchse zur Hand zu nehmen und das inzwischen zusammengebrachte Aufgebot aller sonst noch streitbaren Mannen gegen den jedenfalls aus dem nahen Alpengebiete eingewechselten zottigen Räuber hinauszuführen.

Zu diesem Zwecke waren aber auch noch sämmtliche Köter, ein Gemenge von Ketten-, Fleischer- und Hühnerhunden, Dächseln, Pudeln und Spitzen, wie solche eine Landbevölkerung eben zu stellen vermag, mitgenommen worden, die nun ganz besonders der wirren, wilden Jagd das originelle Gepräge gegeben, welches meinen sonst so waidgerechten Jägersmann gerade einmal auf’s Höchlichste ergötzt hatte.

„Sehen Sie,“ erzählte der Alte, „da gehen wir nun hinter dem Jungen her von der Stelle aus, wo der Bär sich das Unglücksthier geholt hatte. Die Hunde hatte ich alle an die Leine nehmen lassen, daß sie mir den Spaß nicht verderben sollten, aber ruhig waren sie nicht zu kriegen; da konnten wir machen was wir wollten, und die Leute mußten ganz windschief gehen, wenn sie von den großen Kötern nicht umgerissen werden wollten. Dabei geriethen wir natürlich gehörig in’s Schwitzen; denn hier ist es im Spätherbst manchmal noch hübsch warm. Wie wir so eine Weile gegangen waren, wußte der Junge nicht mehr wohin. Eine Fährte war nämlich gar nicht da, weil es harter Boden war, und eine Blutspur war auch nicht zu sehen. Da wurden wir stutzig, aber ich dachte: die Ziege ist fort; geträumt kann der Junge doch auch nicht haben, und da suchen wir denn in der Gegend herum. Mit einem Male schreit Einer; der hat Blut gefunden; jedenfalls hat sich der Bär da noch einmal fest eingebissen, und von dort ging nun auch eine Blutspur weiter. Ich lasse also zwei Dächsel auslösen; die nehmen die Spur auf, und das geht hell wie die Glöckchen so ein Stückchen hin, bis wir sie nicht mehr sehen.

Nach einer Weile geben sie Standlaut – sehen Sie: haben die Teufelskerlchen richtig den Bären gefunden und gestellt. Nun war aber bei dem andern Hundevolk kein Halten mehr. Ich schrie und schrie – Gott bewahre! Ein paar Leute wurden bei der Gelegenheit auf die Erde gesetzt; die andern ließen los, und nun ging das ‚hast du nicht gesehen‘ immer einer über den andern weg. Na, ich lachte – es war gar zu possirlich; ich war nur neugierig, was daraus werden würde. Wir setzten uns Alle in Trab. Unterwegs sahen wir die Ziege liegen: der Bär hatte schon tüchtig an ihr herumgearbeitet, und wahrscheinlich hatten die Dächsel ihn gestört. Ein Stück weiter lag ein Hund; der hatte eine Ohrfeige gekriegt, daß er genug hatte. Gar nicht weit davon ließ sich endlich der Bär sehen: ein ganz gehöriger Bursche war’s. Er troddelte gemüthlich hin und hatte dabei die Köter an allen Zotten hängen. Mit einem Male dreht er sich um und schüttelt sich; da fielen sie nur so ab, wie das Wasser von einem nassen Pudel. Jetzt springt ihm einer von den Packern von vorn an – watsch! hat er eine an den Kopf, daß er auf die Seite kugelt und liegen bleibt, und nun steht der Bär und dreht sich im Kreise herum, und die Hunde, in guter Entfernung, laufen ebenso im Kreise um ihn herum. Es war, weiß Gott! wie ein Caroussel.

Das dauerte aber dem Bären endlich zu lange, und er ging gerade aus, aber da hatte er auch die Gesellschaft wieder hinter sich. Die Sache wurde ihm ungemüthlich, und er fing an zu laufen, gerade auf einen mächtigen Steinblock los – und sehen Sie: erst haut er noch ein paar mal ordentlich um sich und räkelt sich dann ganz ruhig auf den Steinblock ’nauf. Zwei Hunde hängen sich gerade noch an ihn, die schleppt er mit und schüttelt sie dann von oben ’runter.

Für die Hunde war’s zu hoch, um hinaufzukommen. Und nun sah sich das erst possirlich an: oben saß der Bär, und unten sprangen, wie besessen, die Köter, und wie Mosje Urian ein bischen verschnauft hatte, spreizte er die Beine von einander, hing den Hals herunter und fing an, ganz vergnügt mit dem Kopfe wie ein Perpendikel hin und her zu wackeln, als wie ‚Gott Herre, ihr könnt lange bellen‘. Ich hatte während dem die Leute so gestellt, daß ihm die Fluchtlinie abgeschnitten war, und ging nun ruhig daran, ihm die letzte Oelung zu geben.“

Hierbei machte mein wackerer Landsmann drastisch genug die Bewegung des Schießens.

Der Erfolg war der gewünschte gewesen, denn sowie es geknallt, da war der grimme Bursche auch im Feuer zusammengebrochen und vom Rande seiner Zinne hinabstürzt, mitten unter seine johlende Henkerschaar. Diese aber hatte den zum Todte Getroffenen sofort wie ein Höllenknäuel überdeckt und den wehrlos Verendenden in rasender Gier vollends abgewürgt. In blutdürstiger Wuth hatten hierbei die Maßlosesten sich derart in ihr Opfer verbissen, daß sie, vor Erregung vom Kinnbackenkrampf befallen, wie festgesogene Blutegel daran gehangen hatten und daß man sie mit dem Knebel hatte davon abbrechen müssen. Nur mit Mühe waren darnach die völlig außer Rand und Band [675] gekommenen Bestien wieder zu beruhigen und zum Gehorsam zu zwingen gewesen. Sowie dies aber nur einigermaßen gelungen, hatte man schleunigst in’s nächste Dorf nach einem Ochsengespann geschickt, um die seltene Trophäe nach den Ufern des Zirknitzer Sees zu schaffen, von wo sie dann mittelst Fährkahns nach Ottok, dem Dörfchen im See, übergeführt worden war. Dort endlich angelangt, hatte der Held des Tages, der greise Bärenbesieger, unter dem Jubel der ganzen Bevölkerung einen wahren Triumphzug gehalten, denn seit Menschenalter konnte man sich in der Umgegend eines solchen Jagderfolges nicht entsinnen, wenn auch das nahe Alpengebiet dergleichen niemals gänzlich ausgeschlossen gehabt.




Das Schönste.


Ich hatte mich gelagert
     Auf einer Höh’ allein
Und sah zum Himmel über mir
     In’s klare Blau hinein.

5
Da dacht’ ich mir: nichts Schön’res

     Ist in der weiten Welt,
Als dieses lichten Aetherbau’s
     Unendlich Prachtgezelt,

Daraus die gold’ne Sonne

10
     Am Tag sich stolz erhebt,

Daraus zur Nacht der sanfte Mond
     Im Sternenreigen schwebt.

In selig Schau’n verloren,
     Vertiefte sich mein Sinn;

15
Durch unbegrenzte Fernen trug

     Die Sehnsucht ihn dahin. –

Und als ich dann hinunter
     Vom Berg zu Thale ging,
Gewahrt ich einen See versteckt

20
     Im dunklen Tannenring.


Der hatte sich von Stürmen
     Und Wettern ausgeruht,
Und träumerisch und abgrundtief
     Lag seine Spiegelfluth.

25
O welch ein Bild! Umblühet

     Vom Alpenrosenkranz,
Verschwammen Wald und Berg und Luft
     Im feuchten Wellenglanz.

Da sah ich, daß noch Schön’res

5
30     Zu schauen mir gewährt:

Die Erde, die den Himmel trägt
     Verklärend und verklärt. –

Und als ich mich mit Zögern
     Geschickt zum Weitergehn,

35
Fand ich ein armes Hirtenkind

     Vor seiner Hütte stehn.

Den Kopf voll krauser Haare,
     Die Wangen rund und roth,
So stand’s und trank sein Schälchen Milch

40
     Und aß sein Stückchen Brod.


Und plötzlich fühlt’ ich ruhen
     Auf mir ein Augenpaar,
Tief war’s und dunkel wie der See
     Und wie der Himmel klar.

45
Wie drang zu meinem Herzen

     Der Blick so voll und warm!
Die große Welt mit einem Mal
     Erschien mir klein und arm.

O Blick der Kindesunschuld,

50
     Das Schönste, das bist du;

Du schließest Erd’ und Himmel ein
     Und all ihr Glück dazu.

Max Kalbeck.




Die „Juister“ und ein Hans Sachs’scher Schwank.
Von Karl Blind.

Das in der „Gartenlaube“ (Nr. 13) mitgetheilte Gedicht „Die Juister[1] von Heinrich Kruse erinnert so lebhaft an einen Landsknechts-Schwank von Hans Sachs, daß die Frage wohl gestattet sein mag: aus welcher Quelle der neuere Dichter geschöpft – ob er namentlich sich etwa an eine besondere Volkssage des friesischen Eilandes angelehnt hat?

Die Landsknechts-Schwänke des von Luther und Melanchthon als Mitstreiter geehrten, von Wieland, Goethe und Friedrich von Schlegel hochgeschätzten Hauptes der Meistersinger – dessen Bedeutung übrigens bekanntlich nicht in seinen Schul-Dichtungen liegt – sind eine wahre Fundgrube köstlicher Laune. Wie Goethe über die Stellung des freigesinnten Volkssängers dachte, ergiebt sich aus dessen wohlbekanntem Liede: „Hans Sachsens poetische Sendung“. Ein anderes Denkmal hat er ihm in „Wahrheit und Dichtung“ gesetzt, wo er unter dem Bekenntniß, daß die Sprache der Minnesinger für ihn (Goethe) schwer verständlich war, den Nürnberger Meister als sein erstes Muster und Vorbild pries.

Hans Sachs selbst ist vielfach nur ein Umarbeiter vorhandener Stoffe gewesen. In wie weit seine in ihrer einfachen Schalkhaftigkeit so vortrefflich ausgeführten Schwänke auch ihm in der Erfindung gehören, oder nur eine Umdichtung enthalten, läßt sich nicht nimmer feststellen. Jene heitere Geschichte von den „Ungleichen Kindern Eva’s“ ist – um nur ein Beispiel zu wählen – zufolge der Mittheilung eines isländischen Freundes selbst in der Literatur jenes äußersten germanischen Thule vorhanden. Doch war es mir nicht möglich, Klarheit über die Zeitfolge zwischen der Hans Sachs’schen und der isländischen Darstellung zu erlangen. Wie die Siegfried-Sage vom Rhein – wo sie auch in der Edda spielt – nach Skandinavien und Island wanderte, so wird auch jener Eva-Schwank von Süden nach dem so lange heidnisch gebliebenen Norden erst spät hinaufgewandert sein. Hans Sachs selbst aber schöpfte den wesentlichen Stoff dieses prachtvollen Scherzgedichtes aus älterer Quelle.

In Heinrich Kruse’s Gedicht heißt es von dem heiligen Paulus:

          „… Er ging nach der Thüre,
Und dort frug er den Hüter: ‚Was sind das, Petrus, für Leute,
Die sich so unnütz machen? Was sind das für grobe Gesellen?‘
‚Das sind Leute von Juist. Ich weiß nicht, wie sie es machten,
Um in den Himmel zu kommen, wohin sie so wenig gehören,
Wie ein Schwein in ein jüdisches Haus,‘ antwortete Petrus.
‚Nun, so wirf sie doch wieder hinaus!‘ ‚Nein, Lieber, das geht nicht.
Unser himmlischer Vater ist so grundgütig; wenn einmal
Wer in den Himmel gelangt, hat Gott mir geboten, ich soll ihn
Nicht mit Gewalt austreiben, und, siehst Du, sie gehen von selbst nicht
Wieder zur Pforte hinaus.‘ ‚Ei nun, das will ich doch sehen!
Für ein Völkchen wie dies ist der wahre Himmel der Strandraub.‘
Also versetzte darauf der heilige Paulus und legte
Sich zum Fenster hinaus, als ob da draußen was los sei.
‚Schiff am Strande!‘ so rief er mit dröhnender Stimme. Die Juister
Hörten sobald nicht den Ruf, so liefen sie rasch aus der Thüre,
Wie auf Juist sie gewohnt, wenn: ‚Schiff am Strande!‘ geschrie’n wird.
Rasch schloß Petrus die Thür und rief: ‚Ihr kommt mir nicht wieder.‘“

„Gespräch Sanct Peter’s mit den Landsknechten“ heißt nun ein ganz ähnlicher Schwank von Hans Sachs. In Kürze geht die Sache so zu. Neun arme Landsknechte ziehen, da kein Krieg los ist, auf den Bettel – auf das sogenannte „Garten“ – aus. Eines Morgens trägt sie ihr Weg bis vor’s Himmelsthor. Sie klopfen an; Petrus aber, welcher der Pforte wartet, will erst die Erlaubniß des Herrn einholen.

Der spricht: „Laß sie länger warten!“

Als nun die Landsknecht’ mußten harren,
Fingen sie an zu fluchen und zu scharren:
„Marter, Leiden und Sacrament!“
Sanct Peter diese Flüche nit kennt;
Meint, sie reden von geistlichen Dingen;
Gedacht’ in Himmel sie zu bringen.
Und sprach: „O lieber Herre mein!
Ich bitte Dich, laß sie herein.
Nie frömmere Leut’ hab’ ich gesehen.“

Der Herr antwortet:

„O Peter, Du kennst sie nit recht!
Ich seh’ wohl, es sind Landsknecht’,
Würden wohl mit muthwilligen Sachen
Den Himmel uns zu enge machen.“

Sanct Peter bittet mehr und mehr. Der Herr spricht:

„… Nun! magst sie lassen ’rein;
Du sollst mit ihnen behangen sein.
Schau’ wie Du sie wieder bringst hinaus!“
Sanct Peter war froh überaus
Und ließ die frommen Landsknecht’ ein.
Sobald sie in Himmel kamen hinein,
Bettelten sie herum bei aller Welt,
Brachten zusammen ein gut’ Stück Geld,
Hockten nieder auf den Plan
Und fingen gleich zu würfeln an.
Und eh’ eine Viertelstund’ verging,
Ein Hader sich bei ihnen anfing …
Zückten vom Leder allesammen,
Und hieben da mit Kräften zusammen;

[676]

Jagten einander hin und wieder
In dem Himmel auf und nieder.

Nun wettert Petrus seinerseits:

„… Wollt Ihr in dem Himmel balgen?
Hebt Euch hinaus an lichten Galgen!“ –
Die Landsknecht’ ihn tückisch ansahen,
Und thäten auf Sanct Petrus schlahen,
Daß ihnen Sanct Peter mußt’ entlaufen,
Zum Herrn kam mit Aechzen und Schnaufen
Und klagt’ ihm über die Landsknecht’.
Der Herr sprach: „Dir geschieht nit Unrecht!
Hab’ ich Dir nicht gesaget heut’:
Laß sie drauß’ – es sind freche Leut’?“

Es handelt sich jetzt darum, die Raufbolde hinauszubringen.

Der Herr sprach: „Einen Engel gebeut,
Daß er eine Trommel nehm’ zur Hand,
Und vor des Himmels Pforten stand,
Und einen Lärmen davor schlag’!“
Sanct Peter thät nach seiner Sag’.
Sobald der Engel den Lärmen schlug,
Liefen die Landsknecht’ ohne Verzug
Eilend hinaus durch’s Himmelsthor;
Meinten, es sei ein Alarm davor.

Sanct Peter verschloß die Himmelspforten,
Versperrt die Landsknecht’ an den Orten.
Der’ keiner ist seither hineingekommen,
Weil Sanct[WS 2] Peter mit ihnen thät brummen.
Doch nehmt auf Schwankweis' dies Gedicht,
Wie Hans Sachs es ohn’ all’ Arges spricht.

Diese Darstellung ist ein Muster ruhiger Schalkheit. Die kurze, meist iambische Versform, die ja auch Goethe mehrmals dem Nürnberger Meister entlehnt hat, erhöht den lebendigen Eindruck. Ebenso vortrefflich, aber noch urkomischer, ist der andere Hans Sachs’sche Schwank: „Der Teufel läßt keinen Landsknecht mehr in die Hölle fahren“. Selbst dieser Schwank aber wird übertroffen durch den andern: „Warum die Bauern nicht gern Landsknechte beherbergen“. In solchen heiteren Darstellungen hat uns der Dichter die werthvollsten Züge zur Geschichte seiner Zeit aufbewahrt.

Die Landsknechte waren der häufige Vorwurf der Muse des auf Volksrecht und deutsche Einheit haltenden Bürgers der freien Reichsstadt. Jene Truppen bildeten bekanntlich den Anfang der stehenden Heere und damit der Macht des auf Zerreißung der Nationaleinheit abzielenden Landesfürstenthums. Durch nichts weniger als Mannszucht sich auszeichnend, standen die Landsknechte anfänglich nur ab und zu im Dienste, trieben sich, wenn entlassen, oft als abgerissene Bettler im Lande herum, wurden der Gegenstand eines halb ärgerlichen Mitleides und dadurch, sozusagen, schwankfähig. Nicht selten jedoch arteten sie in’s Räuberhafte aus. Im Hinblick all solches Unwesen nannte Hans Sachs den Krieg eine Mutter alles Ungemachs, aller Untugenden ein Ziehpflaster.

In seinem „Landsknechtsspiegel“ zeigt ihm der große Gott der Natur die Verheerungen des Krieges in Feld und Stadt, das Darniederliegen des Gewerbefleißes, die sittliche Versunkenheit der Streitenden, das Stillstehen der Gerechtigkeitspflege, die Schlacht mit ihren Schrecknissen. So will denn der Dichter, voll Trauer, nichts vom Kriege wissen; da antwortet ihm aber der Genius des Rechtes:

„Gesell! man muß des Feinds sich wehren,
Der wider Recht und Ehren bekümmert unser Land.
Allda mit theurer Hand wehrt man sich recht und billig.
Da sollst auch Du gutwillig Deinem Vaterland beisteh’n.
Als ein ehrlicher Mann d’ran setze Leib und Blut,
Kraft, Macht, Gewalt und Gut, Dein Vaterland zu retten –
Wie auch die Alten thäten.“

Bei aller Neigung zur scherzhaften Laune zieht sich dieser tief sittliche Ernst durch die gesammte dichterische Thätigkeit Hans Sachsens. Sein warmes Gefühl für menschliches Leiden ließ ihn, wie gegen die Tyrannei in Staat und Kirche, so auch gegen die verderblichen Fürstenkriege auftreten. In der ergreifenden Schilderung, welche die Aufschrift trägt; „Das schädlich große und starke Thier, der Krieg“, ist fast etwas von Dante’schem Sehergeist. Ja, es findet sich da bei dem sonst so ruhig öfters handwerksmäßig trocken erzählenden Dichter ein Schwung düsterer Weissagung, eine tief schmerzliche Ahnung kommenden Unheils, als hätte er die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges geahnt.

Hans Sachs hat jetzt endlich sein Denkmal in der Vaterstadt, die er mit so warmes Liebe besungen. Wünschen möchte man nur, daß auch seine so lange in Vergessenheit gerathenen Werke wieder Volkseigenthum würden, wie sie es einst gewesen. Alles, was sich auf diesen Volks-Goethe des sechszehnten Jahrhunderts bezieht, ist der Untersuchung wohl eben so werth, wie das ältere Schriftthum fremder Nationen, dem wir Deutsche stets so gründliche Aufmerksamkeit zuwenden. Darum mag bei Anlaß des Scherzes über „Die Juister“ der Hinweis auf einen Hans Sachs’schen Landsknechtsschwank schon gerechtfertigt sein. Das Zusammentreffen ist so überraschend, daß sich die Forschung nach der Quelle schnell aufdrängt.“[2]




Blätter und Blüthen.


Andreas Hofer’s Abschied von den Seinen. (Zu dem Bilde auf Seite 668 bis 669.) Auf der vorjährigen Berliner Kunstausstellung erschien noch in letzter Stunde ein Bild, an welches nicht einmal die letzte Hand gelegt war und welches doch sofort das Interesse fast allein für sich in Anspruch nahm: das jüngste Werk Defregger’s, des noch jugendlichen und doch so hochbewunderten Münchener Meisters. Der Stoff des Gemäldes war wieder derjenige, welcher Defregger am geläufigsten ist: ein tirolerischer, und wohl der populärste tirolerische Stoff für ein historisches Bild: der gefeierte „Sandwirth von Passeier“ auf seinem Todesgange. Defregger ist selbst Tiroler, ein Dorfkind aus Stronach bei Lienz, und er hat das Wesen seiner Landsleute mit einer Feinfühligkeit erfaßt, wie keiner von jenen Hunderten, welche aus dem Reiche in die Berge ziehen, um, aus rein malerischem Interesse oder auch blos, weil es Mode ist, Almhütten mit Sennerinnen und Tirolerbuben zu malen. Seine malerische Vergangenheit, vom ersten Bilde „Des Försters letzte Heimkehr“ bis zu dem Hofer-Bilde, bewegt sich denn auch fast ausschließlich auf tirolerischem Boden.

Was Defregger als Maler auszeichnet, das war auch in dem Hofer-Bilde wieder klar ausgeprägt: neben der guten Piloty’schen Schulung jene Naivetät der Auffassung, welche sich von jedem theatralischen Pathos und jeder Sentimentalität fern hält, jene Begabung großer Meister, welche schlicht und wahr und doch zugleich feingeistig Empfundenes zu vollendetem Ausdruck zu bringen vermag. Unsere Leser mögen sich die Wahrheit des Gesagten einigermaßen aus der Wiedergabe des Bildes in dieser Nummer bestätigen lassen. Die ergreifende Scene selbst ist gelegentlich der fünfzigjährigen Wiederkehr von Hofer’s Todestage in der „Gartenlaube“ geschildert worden (Jahrgang 1860, Seite 126). Am 10. Februar 1810 war es, Schlag elf Uhr Vormittags, als der gefangene Löwe, von seinem Beichtiger, dem Erzpriester Manifesti, begleitet, durch das Executionscommando zum Tode geführt wurde. Bei der Porta Molina, an den Kasematten, welche so viele gefangene Tiroler bargen, empfingen ihn auf den Knieen liegend, weinend und betend eine Anzahl Landsleute, welche frei herum gehen durften. Als der Sandwirth erschien, stürzten die Getreuen zu ihm hin, warfen sich vor ihm nieder und flehten um seinen Segen; Hofer nahm erschüttert Abschied von ihnen; er bat um Verzeihung, wenn er die Schuld an ihrem Unglück trage; er ermahnte sie, getrost und standhaft und dem Vaterlande treu zu bleiben. Fünfhundert Gulden, die er bei sich trug, übergab er dem Geistlichen, um sie unter die Leute zu vertheilen. Dann ging’s hinaus, zum Tode – dem Tode der Unsterblichen.




Zur Rettung deutscher Soldatenehre. Auf die Anklagen, welche das besiegte Frankreich nach Abzug der Sieger über deren sittliches Verhalten im Feindeslande ausschüttete und zum Theil noch ausschüttet, fällt dann und wann ein überraschendes Streiflicht. So erfuhr man vor einiger Zeit, daß Franzosen die Taschenuhren deutscher Soldaten deshalb als gestohlen betrachteten, weil die im Innern angebrachten Bezeichnungen französische waren – was bekanntlich mit einem französischen Ursprung nichts zu thun hat, sondern auf die schweizerische Herkunft der Mehrzahl unserer deutschen Uhren hinweist. Möge – beiläufig gesagt – die deutsche Uhrenfabrikation, welche die französischen Bezeichnungen in den Uhren wie Eierschalen aus dem schweizerischen Neste noch mit sich herumschleppt, aus jenen Mißverständnisse und seinen Folgen eine Lehre ziehen!

Dieser Tage nun geht uns von einem Freunde der „Gartenlaube“ eine Nummer des „Soleil“ vom 14. September zu, welche, gelegentlich eines Referats über eine stattgehabte Gerichtsverhandlung, nach einer andern Seite hin Aufklärung verbreitet. In der Kriegszeit wurden in Compiègne zwei preußische Soldaten kriegsrechtlich bestraft, welche unter der Anklage standen, der Frau eines gewissen Singeot, eines pensionirten Artillerie-Unterofficiers und Ritters der Ehrenlegion, den Arm zerschlagen zu haben. Dieser würdige Ritter der Ehrenlegion hat die nämliche Frau jüngst um’s Leben gebracht und ist jetzt dafür von den Assisen der Oise zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurtheilt worden; bei dieser Gelegenheit hat sich aber zugleich herausgestellt, daß er, der längst aus Wuth, seine Pension nicht allein verzehren zu können, sein Weib auf’s Schmählichste gemißhandelt, der Urheber jenes Armbruchs gewesen ist und daß er damals das unglückliche Opfer durch Bedrohung mit dem Tode gezwungen hat, die That auf die „Prussiens“ zu schieben. Wie manche der angeblich von diesen „Prussiens“ verübten Unthaten mögen auf solche Weise ihre Erklärung finden! Erfreulich aber wäre es, wenn die berichtete Entdeckung die Wirkung hätte, den unschuldig Gestraften zu einer officiellen Genugthuung zu verhelfen.




Kleiner Briefkasten.


B. P. in Wenersborg in Schweden und zahlreichen anderen Correspondenten diene zur Nachricht, daß, wie bereits mehrmals erklärt worden, der Zusammenhang unseres Blattes mit den „Allgemeinen Anzeigen zur ‚Gartenlaube‘“ ein rein äußerlicher ist. Eine Verantwortung für den Inhalt der unter selbstständiger Redaction stehenden „Anzeigen“ müssen wir durchaus ablehnen, wie wir auch bitten dürfen, Annoncen für dieselben nicht an unsere, sondern direct an folgende Adresse zu dirigiren: Expedition der „Allgemeinen Anzeigen zur ‚Gartenlaube‘“ in Leipzig, Peterskirchhof, 4.



Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Inzwischen in dem amerikanischen Blatte „The Syracuse Daily Journal“ vom 24. Mai in englischer Uebersetzung erschienen.
    D. Red.
  2. So sehr ich Hans Sachs verehre, und obwohl ich auf seinem Dreibein in Nürnberg gesessen und mich selbst zu einem Fastnachtsschwank: „Der Teufel zu Lübeck“ habe begeistern lassen, war mir doch, als ich die „Juister“ schrieb, der von Karl Blind treffend zur Vergleichung angezogene Schwank gänzlich entfallen. Meine Quelle ist die allermodernste: ein Aufsatz von Fanny Lewald, der voriges Jahr in einem hiesigen, bereits wieder eingegangenen Wochenblatte erschien. Berlin, im August 1879.
    Heinrich Kruse.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: „Frankfurt a. M.“, siehe Berichtigung
  2. Vorlage: Panct