ADB:Avenarius, Richard

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Artikel „Avenarius, Richard“ von Max Heinze in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 46 (1902), S. 147–149, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Avenarius,_Richard&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 01:46 Uhr UTC)
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Avenarius: Richard A., Philosoph, war am 19. Novbr. 1843 in Paris geboren, wo sein Vater Buchhändler war. Ein Vorfahre hatte seinen deutschen Namen Habermann latinisirt. Die Mutter des Philosophen war die Tochter des Hofschauspielers Geyer in Dresden und eine Stiefschwester Richard Wagner’s, dessen Mutter nach dem Tode ihres ersten Ehemannes, des Vaters von Richard Wagner, sich in zweiter Ehe mit eben diesem Geyer verbunden hatte. Die Eltern von Richard A. gingen nicht lange nach der Geburt dieses Sohnes nach Deutschland zurück, wohnten zunächst in Leipzig, dann in Berlin. Nach Aufgabe seines sonstigen buchhändlerischen Geschäfts hatte der Vater noch das Literarische Centralblatt in seinem Verlag behalten, dessen Herausgeber Fr. Zarncke später ein lebhaftes Interesse für den jungen A. zeigte. Dem Willen des Vaters sich fügend, widmete sich dieser trotz seines Widerstrebens dem Beruf eines Buchhändlers, bis der Vater sich endlich bewegen ließ, der ausgesprochenen Neigung des Sohnes zum wissenschaftlichen Beruf freien Lauf zu lassen. Es wurde diesem bei seiner hohen Begabung und seinem unermüdlichen Fleiß leicht, bald die Reifeprüfung an der Nicolaischule in Leipzig zu bestehen, worauf er sich auf den Universitäten Zürich, Berlin, Leipzig philologischen, physiologischen aber namentlich philosophischen Studien widmete. Unter seinen akademischen Lehrern fühlte er sich, wie er öfter versicherte, besonders zu Danke verpflichtet dem Philosophen Drobisch, dem Germanisten Zarncke, dem Physiologen Ludwig. Doch hat keiner von diesen anscheinend auf die Entwicklung von A. eingewirkt, wenn er auch bei Drobisch streng logisch denken lernte, bei Ludwig zur Schätzung der Naturwissenschaft in ihrer Bedeutung für das seelische Leben angeleitet wurde und von Zarncke nach verschiedensten Seiten hin geistige Anregung erhielt. Auch mit dem geistreichen, eigenartigen aber vielfach barock denkenden Historiker Wuttke stand A. während seiner Studienzeit in Verbindung. Im J. 1868 wurde er in Leipzig zum Doctor philosophiae promovirt auf Grund der von gründlichem Studium und selbständigem Forschen sowie Urtheilen zeugenden Dissertation: „Ueber die beiden ersten Phasen des Spinozischen Pantheismus und das Verhältniß der zweiten zur dritten Phase, nebst einem Anhang über Reihenfolge und Abfassungszeit der älteren Schriften Spinoza’s“ (Leipzig 1868). Die nächsten Jahre verbrachte A. theils in Dresden, theils in Berlin, theils auf Reisen, die ihn nach dem Süden, nach Italien, Spanien, auch nach Algier führten. Mit philosophischen Problemen beschäftigte er sich während dieser Zeit des Heranreifens zum akademischen Beruf aufs intensivste. Im J. 1875 entschloß er sich zur Habilitation an der Universität Leipzig für das Fach der Philosophie, reichte zu dem Zwecke bei der philosophischen Facultät die Schrift ein, die schon den Weg deutlich zeigte, den er später gehen wollte: „Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Princip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung“, die Leipzig 1876 im Druck erschien. Das Colloquium bestand er bei den drei Professoren der Philosophie in Leipzig: Drobisch, Wundt, Heinze, mit welchem letzten er später eng befreundet wurde. Nur ein und ein halbes Jahr war er in Leipzig Privatdocent, dann erhielt er schon einen Ruf nach Zürich als ordentlicher Professor der inductiven Philosophie und Nachfolger Windelband’s. Obgleich er Leipzig ungern verließ, weil er hier festgewurzelt war, so glaubte er doch, nach Zürich gehen zu müssen, konnte aber bei seinem Weggange mit Befriedigung auf seine Leipziger Zeit zurücksehen: er hatte daselbst nicht nur anregend auf manchen Studirenden gewirkt, sondern er hatte auch im Verlage von Reisland eine philosophische Zeitschrift, die „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie“ begründet, die lange Jahre unter [148] seiner Leitung. zuerst unter der Mitwirkung von C. Göring, M. Heinze und W. Wundt, erschien, und den Standpunkt vertrat, daß alle Wissenschaft und so auch alle Philosophie nur auf Grund der Erfahrung möglich sei. Ein Zeugniß für seine Begabung, jüngere Leute zum philosophischen Studium zu bringen, ist auch der akademisch-philosophische Verein in Leipzig, der durch A. hauptsächlich ins Leben gerufen wurde und jetzt noch sein Andenken hoch ehrt.

In Zürich vermählte er sich bald mit Maria Semper aus Altona, der Schwester des bekannten Zoologen Semper, die ihm eine treue Gefährtin im Leben war, ihm aber auch in verständnißvollster Weise in seinem philosophischen Denken folgte. – Die Ehe blieb ohne Kinder.

Bis zu seinem Tode, der am 18. August 1896 erfolgte, lebte er in angestrengter Arbeit für seine Vorlesungen und für die Ausarbeitung seines philosophischen Systems, das er „Empiriokriticismus“ nannte, sich anlehnend an den Nebentitel seiner Habilitationsschrift. Gestört und unterbrochen war seine Thätigkeit in späteren Jahren öfter durch Krankheit, die durch allzu intensive geistige Anstrengung wenigstens befördert sein mochte. In seinen Vorlesungen über Logik, Psychologie, allgemeine Pädagogik, sowie in denen über sein eigenes System wußte er die Zuhörer und seine vielen Zuhörerinnen nicht sowol durch Leichtigkeit des Verständnisses, durch schöne Sprache und rhetorische Mittel zu fesseln, vielmehr durch die zwingende Folgerichtigkeit des Denkens, die einfache klare Sachlichkeit und den Ernst, mit dem er seine Aufgaben erfaßte und durchführte. Das eigentliche Werk seines Lebens ist die „Kritik der reinen Erfahrung“ (2 Bde., Leipzig 1888, 90), welchem „Der menschliche Weltbegriff“ (Leipzig 1891) folgte. Die Aufgabe der wissenschaftlichen Philosophie beschränkte A. auf die descriptive Bestimmung des allgemeinen Erfahrungsbegriffs nach Form und Inhalt; dem formalen Theile dieser Aufgabe ist das erste dieser beiden Werke, dem inhaltlichen Theil das zweite gewidmet. Da der theoretische Idealismus auf dem Gebiete der Philosophie, namentlich der Psychologie ganz unfruchtbar gewesen sei, mußte nach A. ein neuer realistischer Weg eingeschlagen werden, der nicht im alten Materialismus endigt, aber doch diesem nahe kommt, indem anatomische und physiologische Processe mit in die Theorie aufgenommen werden, das Ganze aber mit einem Aufwand großen Scharfsinnes unter Anwendung von mathematischen Formeln und Buchstaben ausgeführt ist, freilich gerade durch diese Anwendungen an Deutlichkeit und Begreiflichkeit verliert. Es kommt bei A. schließlich darauf an, die Variationen der Erfahrungen, indem fremde und eigene Erfahrungen gleichberechtigt sind, als logisch unhaltbar zu beseitigen und einen natürlichen Weltbegriff zu Stande zu bringen. Werthvoll, auch zum Verständniß seines Systems, sind noch die Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psychologie, in der Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos., Bd. 18 u. 19 ff. Mit dem Erfolg seiner Vorlesungen konnte A. sehr zufrieden sein; sie wurden von denen, die sich einmal an die Strenge des Vortrags gewöhnt hatten, eifrigst besucht und mit Erfolg gehört. Seine Werke dagegen, namentlich die „Kritik der reinen Erfahrung“, fanden nicht die vom Verfasser gewünschte Aufnahme, wenngleich sich in den letzten Jahren um A. ein Kreis von gläubigen, ja begeisterten Anhängern sammelte. Er empfand es bitter, daß ihm die wissenschaftliche Anerkennung nicht in Form eines Rufes an eine Universität Deutschlands zu Theil wurde – erst auf seinem Todtenbett erhielt er sie, indem die Anfrage an ihn gelangte, ob er geneigt sei, der Nachfolger von A. Riehl in Freiburg i. Br. zu werden. Er verstand es nicht, daß nicht einmal ausführliche Beurtheilungen seines Systems, wenn sie auch angreifende wären, erschienen. – Alle, die A. persönlich nahe getreten sind, werden die Vornehmheit seiner Gesinnung, sein großes Wohlwollen gegen jedermann, die Frische seines Wesens [149] und seinen wenigstens in früheren Jahren sich häufig zeigenden Humor in bestem Andenken behalten. Von seinen Anhängern sind namentlich zu nennen: Jos. Petzoldt (Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung, 1. Bd.: Die Bestimmtheit der Seele, Leipzig 1899), Fr. Carstanjen (R. Avenarius’ biomechanische Grundlegung der neuen allgemeinen Erkenntnißtheorie, und Einführung in die Kritik der reinen Erfahrung, München 1894), R. Willy (Der Empiriokritizismus als einzig wissenschaftlicher Standpunkt, Vierteljahrsschr. für wissenschaftl. Philos., Bd. 20).

Ueberweg-Heinze, Grundr. d. Gesch. d. Philos., III. 2, S. 218–228. – W. Wundt, Empiriokritizismus, Philos. Studien, Bd. 13. – Fr. Carstanjen, Biogr. Jahrb. u. deutscher Nekrolog, 1. Bd., 1897. – Eigene Bekanntschaft.