Zum Inhalt springen

ADB:Bekker, Immanuel

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Bekker, Immanuel“ von Karl Felix Halm in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 2 (1875), S. 300–303, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Bekker,_Immanuel&oldid=- (Version vom 28. November 2024, 23:08 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Bekker, Balthasar
Nächster>>>
Bel, Johann de
Band 2 (1875), S. 300–303 (Quelle).
Immanuel Bekker bei Wikisource
Immanuel Bekker in der Wikipedia
Immanuel Bekker in Wikidata
GND-Nummer 118850210
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|2|300|303|Bekker, Immanuel|Karl Felix Halm|ADB:Bekker, Immanuel}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118850210}}    

Bekker: Immanuel B., (so sein Gelehrtennname, sein Taufname hieß August Emanuel), geb. zu Berlin 21. Mai 1785 als Sohn eines Schlossermeisters, † ebendaselbst 7. Juni 1871. Wider den Willen seiner Eltern studirend, erhielt B. seine Vorbildung auf dem Gymnasium des Grauens Klosters, wo er den Unterricht eines Heindorf und Spalding genoß, und bezog hierauf 1803 die Universität Halle, um sich unter Fr. Aug. Wolf dem Studium der Philologie zu widmen. Schon auf der Universität traten die Eigenschaften zu Tage, die B. zum großen Kritiker gemacht haben: eiserner Fleiß, feine Beobachtungsgabe, nächterne Besonnenheit und Selbständigkeit des Urtheils, durch welche Vorzüge er sich seinem Lehrer so empfahl, daß dieser ihm als seinem besten Schüler unbedingtes Vertrauen schenkte, und ihn in jeder Weise unterstützte und förderte. Kurz nachdem sich B. 1806 den Doctorgrad erworben hatte, wurde er zum Inspector des philologischen Seminars ernannt mit einem Gehalt von 100 Thalern. Außer [301] diesem schmalen Einkommen bildeten, da er von Hause keine Unterstützung erhielt, Lectionen und Recensionen in der Jenaer Litt.-Zeit. (die interessantesten wieder abgedruckt im Anhang der Homerischen Blätter Bd. II. 236–282) den Erwerb, von denen die berühmte über die kleinere Ilias von Heyne noch 1806 erschien. Als Halle westphälisch wurde, nahm B. auf Schleiermacher’s Empfehlung eine Hauslehrerstelle in Lanke bei Bernau an, in welcher ländlichen Abgeschiedenheit er die noch berühmtere Recension des Wolfischen Homer verfaßte, in der bereits die Grundprincipien festgestellt sind, von denen eine Textrecension der Homerischen Gedichte auszugehen hat. Auf Wolf’s Empfehlung an die neugegründete Universität zu Berlin berufen, erhielt B. bald nach seiner Ernennung die Mittel zu einer wissenschaftlichen Reise nach Paris (im Mai 1810), woselbst er dritthalb Jahre verblieb, mit Vergleichung und Abschrift griechischer Handschriften beschäftigt. Schon 1815 zum Mitglied der Berliner Akademie erwählt, ward er auf ihre Empfehlung mit einer neuen Sendung nach Paris betraut, um bei der Zurückforderung der aus Deutschland entführten Handschriften mitzuwirken, und nebenbei für die beabsichtigte Herausgabe eines Corpus inscriptionum Graecarum den handschriftlichen Nachlaß des Archäologen Fourmont auszubeuten. Ein weiteres großartiges Werk, das die Akademie ins Leben rief, eine kritische Ausgabe des Aristoteles und seiner Scholiasten verschaffte B. die Gelegenheit die berühmtesten Bibliotheken Europas kennen zu lernen. Von 1817 an verweilte er dritthalb Jahre in Italien, besuchte im Herbst 1819 zum dritten Male Paris; 1820 arbeitete er auf den Bibliotheken zu Oxford, Cambridge und London, zuletzt auf denen zu Leyden und Heidelberg. Eine reiche Nachlese für seine Forschungen ergab noch eine zweite Reise nach Italien 1839, die sich jedoch nicht über Florenz hinaus erstreckte. Noch als Student in Halle hatte sich B. als Lebensaufgabe gestellt, ein großes griechisches Lexikon zu bearbeiten; aber nachdem er die Arbeit begonnen, erkannte er bald, daß erst eine unabweisliche Vorbedingung zu erfüllen sei, eine Herstellung kritischer Texte. Das neu erworbene Material bot dafür so reichliche Arbeit, daß der ursprüngliche Lebensplan nicht zur Ausführung kam. Was aber auf diesem Gebiete von ihm zu erwarten war, zeigt die treffliche neue Ausgabe des kleinen etymologischen Wörterbuches von A. C. Niz, Berlin 1821. Als Frucht des eisernen Fleißes, mit dem B. Handschriften, an Zahl gegen 400, verglichen hat, liegt eine erstaunliche Menge von Ausgaben meist griechischer Schriftsteller vor, die sich alle auch durch seltene Correctheit des Druckes und große Genauigkeit in der Interpunction, wodurch manche dunkle Stelle ihre Aufklärung erhielt, auszeichnen. Kein Gelehrter hat je so viele Schriftsteller herausgegeben; die Zahl der von ihm zum Drucke beförderten Bände beläuft sich auf gegen 140. B. selbst unterscheidet in seinen Ausgaben Recensionen und Recognitionen. Die ersteren, die völlig selbständig auf neu verglichenen Handschriften beruhen oder zuerst herausgegebene Schriften enthalten, umfassen die Schriftsteller Apollonios Dyskolos (de pronomine 1813 im Mus. antiqu. stud. von Buttmann und Wolf, de adverbiis und de conjunctionibus im II. Band der Anecdota, und de constructione orationis 1817), die in den Anecdota Graeca 1814–1821 herausgegebenen Lexikographen und Grammatiker, Theognis 1815, Coluthi raptus Helenae 1816, Jo. Tzetzae Antehomerica, Homerica, Posthomerica 1816, Plato (10 Bde.) 1816–23, Thukydides (Oxford 1821 und Berlin 1832), die attischen Redner (Oxford 1823, 7 Bde. und Berlin 1823 ff. 5 Bde.), Demetrii Moschi Helena et Alexander 1823 (in Friedemann und Seebode, Miscell. critica II. 476 ff.), Bibliothek des Photios 1824, Aristophanes 1825, die Scholien zur Iliade 1826, Aristoteles (Berlin 1831–36. 3 Bde. 4.), Harpokration und Möris 1833, die Theogonie des Joh. Tzetzes 1840 (Abhandl. der Berliner Akad., Sextus Empiricus 1842, [302] Onomastikon des Pollux 1846, Cassius Dio 1849, endlich die Epoche machende Ausgabe des Homer 1843 und 1858. Die Textesrecognitionen umfassen außer Livius (1829) und Tacitus (1831) die meist umfangreichen Schriftsteller: Herodian 1826 u. 1855, Pausanias 1826, Aratus cum scholiis 1828, Herodot 1833 und 1845, Apollonii Sophistae lexicon Homericum 1833, Polybius 1844, Appian 1853, Lucian 1853, Diodor 1853 f., Suidas 1854, Apollodor’s Bibliothek 1854, Heliodor’s Aethiopika 1855, Flavius Joesphus 1855 f., Plutarch’s Biographien 1855 f. Von dem gleichfalls von der Berliner Akademie ins Leben gerufenen Corpus scriptorum historiae Byzantinae hat B. nicht weniger als 25 Bände, die volle Hälfte, bearbeitet, die Mehrzahl in wesentlich verbesserter Gestalt. Ein anderes großes Unternehmen jedoch, eine Sammlung der griechischen Lexikographen, die im Leipziger Meßkatalog als künftig erscheinend in sieben Quartbänden angekündigt war, ist nicht zu Stande gekommen. Diese gedrängte Uebersicht der großartigen schriftstellerischen Thätigkeit Bekker’s zeigt schon die Stellung, die er in der Geschichte der classischen Philologie einnimmt. Er war der erste, der in umfassender Weise correcte griechische Texte auf diplomatischer Grundlage hergestellt hat; von den Schriftstellern, die er nach Handschriften bearbeitet, sind die Texte aller früheren Arbeiten unbrauchbar geworden. Erst durch seine verlässigen Ausgaben hat das Studium der griechischen Grammatik und Lexikographie sichern und festen Boden gewonnen. Bei der ungemeinen Zahl von Handschriften, die er zuerst untersuchte, ist der sichere Blick bewundernswerth, mit dem er werthvolle herausfand und geringe bei Seite ließ; in ihrer Beurtheilung hat er nur selten geirrt, wie z. B. im Aeschines und Lysias. Aber er kannte nicht blos das Maß, das man bei Benutzung von Handschriften zu beobachten hat; er zeigte auch die richtige Methode, wie ein kritischer Apparat mitzutheilen ist; sein Verfahren wurde das Vorbild für alle Arbeiten gleicher Gattung. Je mehr er in der Uebung und praktischer Erfahrung fortschritt, desto knapper wurde er in seinen kritischen Mittheilungen, aber die Sache litt nicht dabei, während für die leichte Uebersichtlichkeit wieder ein Vortheil errungen war. Bei der beispiellosen Zahl von Texten, die B. besorgte, hat es nicht an dem Vorwurfe gefehlt, als wäre sein Geschäft des Edirens zuletzt ein handwerkmäßiges geworden. Aber bei einer näheren Prüfung seiner Ausgaben überzeugt man sich bald, daß seine Sicherheit in Handhabung der Kritik ebensowol auf der feinsten Sprachkenntniß als auf sorgfältigem Studium der einzelnen Schriftsteller und deren besonderen Eigenthümlichkeiten beruhte. Nicht mit Unrecht indeß hat man getadelt, daß er, gewohnt immer auf eigenen Füßen zu stehen, kritische Leistungen seiner Zeitgenossen fast ignorirt und so auch manches Brauchbare nicht gekannt hat; das bestrafte sich z. B. beim Diodor, bei dessen Herausgabe 1854 ihm die von C. A. L. Feder 1850 aus einer Handschrift des Escurial bekannt gemachten interessanten Fragmente entgangen sind. Es war nicht Bekker’s Gewohnheit, von seinen Voruntersuchungen über die Gestaltung eines Textes irgend eine Rechenschaft zu geben („defugiebam insolitum mihi et molestum praefandi commentandique negotium“, Vorrede zum Homer in der Bonner Ausg. S. 5), aber für Homer, den er seit seiner Recension über die Ilias von Heyne nicht mehr aus den Händen gelegt, hat er doch einen Einblick in die Art gestattet, wie er zu schaffen pflegte. Erst nach den sorgfältigsten, in das kleinste Detail eingehenden Voruntersuchungen, die er von Zeit zu Zeit der Berliner Akademie vorgelegt und in seinen „Homerischen Blättern“ 1863 gesammelt hat, und wie er selbst sagt „post decem lustra multaque facultatis criticae multis in scriptoribus experimenta“, wagte er es in der zweiten Ausgabe des Homer (1858), in der er auch das äolische Digamma consequent herstellte, das Resultat seiner mühseligen Vorstudien zu einer durchgreifenden Umgestaltung des überlieferten Textes [303] zu verwerten. Den Weg, den er eingeschlagen, erkannte er immer als den einzig richtigen, daß er jedoch seine Ausgabe nicht als eine abschließende betrachtete, beweisen seine weiteren „Homerischen Mittheilungen“ in den Classensitzungen der Berl. Akad. (die letzte vom 20. Febr. 1871, 64 Jahre nach seinen ersten Studien von 1806), von denen besonders die höchst interessanten Vergleichungen des Homerischen Epos mit den altfranzösischen epischen Gedichten hervorzuheben sind. In einem von B. selbst geschriebenen Verzeichniß seiner Schriften, das dem Verfasser dieser Skizze vorliegt, findet sich nach Anführung der Homerischen Blätter von 1863 (eine zweite Sammlung erschien 1872 nach seinem Tode) die charakteristische Aeußerung: „seitdem in den MB. mehrere kleine aufsätze zur vergleichung Homerischer und mittelalterlicher zustaende, und zur Homerischen Kritik, darunter (Oct. 1865) eine abfertigung Cobetischer conjecturen“. In seinem hinterlassenen Handexemplar ist der Text vollständig durchcorrigirt und der Apparat umgearbeitet, wie zu einer neuen Ausgabe. – Bekker’s Schweigsamkeit, die er wie als Schriftsteller, so auch im Leben bethätigte, ist sprichwörtlich geworden; bei seiner Unlust sich im Reden zu ergehen, konnte er eine wirksame Thätigkeit als akademischer Lehrer nicht entfalten. Er beschränkte sich auf einen regelmäßigen Cursus von exegetischen Collegien über einige Reden des Aeschines und Isokrates und über die Reden bei Thukydides. Schon diese Beschränkung zeigt, daß es ihm nicht darum zu thun war, Zuhörer zu gewinnen; eben so wenig einladend war die Art seines Vortrags; aber die wenigen, die ihn hörten, rühmten alle, wieviel man bei ihm lernen konnte, und welche Fülle der feinsten Bemerkungen er im trockensten Tone, oft aussetzend und sich gleichsam zum Sprechen zwingend, auszuschütten verstanden hat. Schleiermacher’s geistreiches Wort, B. schweige in sieben Sprachen, ist zu einem geflügelten geworden; diese sieben Sprachen aber verstand er nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern er kannte sie alle in ihrer historischen Entwickelung. Ein gebornes Sprachtalent wußte B. mit größter Leichtigkeit sich in ein fremdes Idiom einzuleben und brachte es, da das Erlernen einer Sprache bald überwunden war, zu einer ganz ungemeinen Kenntniß in den Litteraturen der modernen Culturvölker. Als Schriftsteller auf diesem Gebiete hat sich B. nur mit Herausgabe unedirter Texte befaßt: provençalischer („Der Roman von Fierabras“, 1829, „Geistliche Lieder des 13. Jahrhunderts“, 1842); altfranzösischer („La vie de St. Thomas le martir“, 1838 u. 1844, „Die altfranzösischen Romane der St. Marcus-Bibliothek, Proben und Auszüge“, 1839, „Flore et Blanceflor“, 1844, dazu auch eine neugriechische Uebersetzung 1856, „Der Roman von Aspremont“, 1847, „Erec und Enide“ von Chrestien de Troyes, 1856) und altitalienischer (Die Gedichte des Fra Bonvesin dalla Riva, eines Zeitgenossen des Dante, in altvenetianischer Sprache“, 1850). Bei Bearbeitung dieser schwierigen Schriftwerke bewährte B. die gleiche Sicherheit, wie in seinen Leistungen in der methodischen[1] Philologie, so daß er auch in der romanischen Sprachkunde als bahnbrechender Meister allgemein anerkannt ist.

Zur Erinnerung an meinen Vater von Ernst Imman. Bekker, in den Preußischen Jahrbüchern. Bd. XXIX. S. 553–585 und 641–668. Zur Erinnerung an Meineke und Bekker von Hermann Saupe, Abhandlungen der kgl. Gesellschaft der Wissenschaft zu Göttingen. Bd. XVI. 1872. 4.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 303. Z. 13 v. u. l.: classischen st. methodischen. [Bd. 3, S. 793]