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ADB:Fechner, Gustav Theodor

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Artikel „Fechner, Gustav Theodor“ von Wilhelm Windelband in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 756–763, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Fechner,_Gustav_Theodor&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 01:07 Uhr UTC)
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Fechner *): Gustav Theodor F., am 19. April 1801 in dem damals noch kursächsischen Dorfe Groß-Särchen bei Muskau geboren, stammte väter- und mütterlicherseits aus evangelischen Pfarrergeschlechtern der Niederlausitz, die unter der halb wendischen Bevölkerung die Träger deutschen Geistes waren. Der Vater wies in theoretischer wie in praktischer Beziehung die schlichten Züge des Aufklärungszeitalters auf. Der frühe Verlust dieses Vaters (1806) machte Fechner’s Kindheit bedrängt und unruhig. Die Mutter, eine tapfere und tüchtige Frau, zog mit ihren fünf Kindern zunächst in das Städtchen Triebel; bald nahm sich der beiden Söhne ihr Bruder, der Diakonus Fischer in Wurzen, an, der sie auch, als er nach Ranis in Thüringen versetzt worden war, in seinem Hause erzog. Nach der Confirmation kam der ältere Bruder Eduard auf die Malerakademie in Dresden, Theodor auf das Gymnasium in Sorau, wo er sich schnell und glücklich entwickelte. Im J. 1815 siedelte die Mutter nach Dresden über, und Theodor beschloß seine Schulzeit auf der dortigen Kreuzschule, um dann ein Semester lang an der medicinisch-chirurgischen Akademie das ärztliche Studium zu beginnen. Die geistige Bedeutung der vielseitig veranlagten Frau machte ihr Haus trotz der bescheidenen äußeren Verhältnisse zu einem Mittelpunkt feiner und anregender Geselligkeit, die dem Jüngling zu gute kam.

Zur Fortsetzung des medicinischen Studiums ging F. 1817 nach Leipzig, das 70 Jahre lang die Stätte seiner Arbeit und Wirksamkeit sein sollte. Von Anfang an waren Ernst und Arbeitsamkeit die Züge dieses Lebens. Er fand zwar einen fröhlichen Freundeskreis, der die liebenswürdige Schalkheit seines Wesens zu schätzen wußte: aber er hatte mit Privatstunden und litterarischen Arbeiten, deren er zu seinem Lebensunterhalt bedurfte, überreichlich neben seinem Studium zu thun. Und dies Studium befriedigte ihn nicht. Nur die Vorlesungen von Weber über Physiologie und von Mollweide über Algebra fesselten ihn; im übrigen fand er bei dem akademischen Unterricht so wenig seine Rechnung, daß er für Pathologie und Therapie sich nur aus [757] Büchern für das Examen vorbereitete. Es ist charakteristisch genug für die Zeit, daß er damit das Doctorexamen (1822) recht gut bestehen konnte. Aber er fühlte zu deutlich, daß ihm die praktische Ader versagt, daß er zur ärztlichen Thätigkeit nicht geschaffen war: er erkannte, daß die theoretische Arbeit des Forschens und des Grübelns das ihm gewiesene Feld bildete. Auf der einen Seite hatten ihn die Gedanken der Naturphilosophie ergriffen, die ihm durch das Studium Oken’s zugeführt wurden; sie reizten seine Phantasie zur Fortspinnung und zugleich sein wissenschaftliches Denken zum Widerspruch. Auf der anderen Seite gewann er aus der Frohnarbeit des Uebersetzens die Anregung zu eigener Forschung. Seine Bearbeitung von Biot’s Lehrbuch der Physik gab seiner wissenschaftlichen Thätigkeit die erste Richtung. Er habilitirte sich 1823; aber statt der Naturphilosophie, deren Vortrag er anfangs im Auge gehabt hatte, übernahm er im folgenden Jahre zunächst vertretungsweise nach dem Tode des Professors Gilbert die Vorlesungen über Physik und begann daneben seine eigenen Untersuchungen, die mit einer genialen Benutzung der äußerst dürftigen Hülfsmittel zu glänzenden Ergebnissen führten. Hauptsächlich lagen diese Forschungen auf dem Gebiete der Elektrodynamik, und in deren Geschichte bilden seine Untersuchungen über das Ohm’sche Gesetz einen der wesentlichsten Fortschritte. Seine „Maßbestimmungen über die galvanische Kette“ (1831) gelten als die bedeutendste seiner Leistungen, sein „Elementarbuch der Elektromagnetik“ (1831) als die beste Darlegung des damaligen Standes des Wissens auf diesem Gebiete. Auch die Elektrolyse verdankt ihm wichtige Förderung, und er fügte diese Forschungen z. Th. seiner siebenbändigen deutschen Bearbeitung des Lehrbuchs der Chemie von Thénard ein. Daneben veröffentlichte er in Poggendorff’s Annalen seine Abhandlungen über die subjectiven Farbenerscheinungen, die den Anfang seiner Forschungen zur experimentellen Psychologie darstellen.

Inzwischen war 1824 seine Mutter zu ihm nach Leipzig gezogen; eine seiner Schwestern war schon in Grimma verheirathet, die andern beiden fanden später in Leipzig ihre Gatten: der Bruder Eduard hatte sich in Paris angesiedelt und hat dort als Porträt- und Genremaler unverheirathet bis zu seinem Tode 1860 gelebt; seine Radirungen und Rauchzeichnungen werden als originelle Schöpfungen geschätzt. Auch Theodor Fechner’s Leipziger Jugendleben erhielt künstlerischen Inhalt und ästhetische Belebung durch einen geistig bewegten Freundeskreis, in den er eintrat: dazu gehörten Hermann Härtel, der spätere Chef der Breitkopf & Härtel’schen Buchhandlung, der Theologe Billroth, der nachher in Halle Professor gewesen ist, ein anderer Theologe Namens Grimmer, der sich später dem Buchhandel und der Musik widmete, der Mathematiker Müller, der als Realschuldirector in Wiesbaden endete, vor allem aber der Leipziger Philosoph Hermann Weiße, der lange Jahre hindurch in treuer Gedankengemeinschaft mit F. verbunden war, und seine späteren Schwäger, der Physiologe Alfred und der Jurist Julius Volkmann. Die reichen Anregungen des litterarischen, des musikalischen und des künstlerischen Lebens, die F. hier erfuhr und die ihm auch manche interessante und dauernde Beziehungen, wie z. B. mit Bettina v. Arnim, verschafften, fielen in seinem sinnigen Gemüthe auf den fruchtbarsten Boden und entwickelten zu schöner Blüthe die andere Anlage, die in ihm so eigenartig mit der des Forschens und des Grübelns verbunden war: die schriftstellerische. Sie zeigte sich zunächst in der Richtung, die Fechner’s Specialität geblieben ist, in der wissenschaftlichen Satire. Für dieses freie Spiel seines Geistes wählte er sich das Pseudonym des Dr. Mises. Die Schriftchen, die er unter diesem Namen seit 1821 herausgegeben hat, bilden in gewissem Sinne eine eigene Litteraturgattung: [758] sie unterscheiden sich von sonstigen Satiren durch den ganz eigenartigen Symbolismus, mit dem sie den tief ernsten Hintergrund einer noch im Werden begriffenen Weltanschauung durch bunte und wunderliche Bilder hindurchschimmern lassen. Es ist ein neckisches Spiel, das darin mit den letzten Räthseln der Welt und des Lebens getrieben wird, und der satirische Anlaß ist niemals das Letzte, was der Verfasser dem Leser bieten will. Mit einer echt romantischen Ironie wird man immer in der Ungewißheit darüber entlassen, was nun eigentlich ernst gemeint ist und was nur ein phantasievolles Tasten und Versuchen an den höchsten Fragen sein will. Zuerst ist es, wie in dem „Beweis, daß der Mond aus Jodine besteht“ oder in dem „Panegyricus der jetzigen Medicin und Naturgeschichte“ der durch die Naturphilosophie zerrüttete Zustand der Medicin, auf den es der dieses Studiums überdrüssige Mann abgesehen hat: ihre Pathologie und Therapie laufen darauf hinaus, daß jedes Mittel alle Krankheiten heilt und jede Krankheit durch alle Mittel geheilt wird. Aber wie schon hier, so kommt noch mehr in den „Schutzmitteln für die Cholera“ das scharfe Urtheil über allerlei Schäden des socialen Lebens zu liebenswürdig umschleiertem Ausdruck. Die „Stapelia mixta“ und die „Vier Paradoxa“ bringen übermüthige Capricen intellectueller Phantasie, die ihr Schöpfer später z. Th. nicht wieder hat abdrucken lassen: das feinste und charakteristischste der wissenschaftlichen Märchen ist die „Anatomie der Engel“, worin die Phantasien von dem höheren Lebewesen, das, ganz und nur Auge, als selige Kugel im Weltall schwebt, schon zu den lichten Höhen der Weltanschauung von der Allbelebtheit des Universums emporklettern. Durch alle diese launigen Darstellungen aber zieht sich eine feine Selbstironie, und dadurch gewinnen sie den Werth, eine der vollkommensten Erscheinungen der humoristischen Litteratur zu sein, die in Deutschland sonst so spärlich vertreten ist. Auch die kleinen Scherzschriften, wie die Beantwortung der Frage, weshalb man die Wurst schief anschneidet, sind reizende Muster echten Humors. –

Im J. 1830 hatte F. sich mit der Schwester seiner Freunde, Clara Volkmann, verlobt, und drei Jahre später wurde der Ehebund geschlossen, der für sein ganzes Leben, obwohl er kinderlos blieb, ein so reicher Segen gewesen ist. Frau Clara stammte aus einem Hause, das ein Mittelpunkt der „Stillen im Lande“ war: aber sie selbst in ihrer feinen und vornehmen Sinnigkeit besaß nichts von aufdringlicher Frömmelei. Wohl mochten durch diese Beziehungen in F. selbst die religiösen Neigungen, die er von seiner Jugend her bewahrte, neue Stärkung gewinnen: aber wie er durch seine wissenschaftliche Erziehung, so war die Frau durch inneren Takt vor dem Fall in orthodoxes Eifern bewahrt. Sie besaß eine stille, natürliche Liebenswürdigkeit und gab damit seinem Hause einen warmen, zarten Ton. Die Kinder der Verwandten, denen sie Märchen erzählte, hatten sie „die schwarze Tante“ genannt: diesen Namen legitimirte sie, indem sie darunter jene Märchen zum Theil veröffentlichte, und unter diesem Namen verehrten sie die zahlreichen Freunde des Fechnerschen Hauses bis in die Zeit hinein, wo sie den Gatten überlebte.

Der Segen dieser Ehe ward in tiefem Leid erprobt. Mit dem Ende der dreißiger Jahre brach über Fechner’s Gesundheit eine schwere Krisis herein. Zu all den wissenschaftlichen und litterarischen Arbeiten hatte er aus finanziellen Gründen auch noch sein dreibändiges Repertorium der Experimentalphysik (1832) verfaßt und außerdem die Redaction des Pharmaceutischen Centralblatts und die Herausgabe eines bei Breitkopf & Härtel erscheinenden „Hauslexicon“ übernommen, in dessen acht starken Bänden er, wie sein Biograph mittheilt, [759] etwa den dritten Theil der Artikel selbst schrieb. Die Professur der Physik, die er als außerordentliche 1831 erhalten hatte und die 1834 in eine ordentliche verwandelt war, brachte ebenfalls gesteigerte Arbeitsanforderungen. Er hatte wenig Erholung genossen: 1827 war er durch Süddeutschland und die Schweiz nach Paris zu wesentlich wissenschaftlichen Zwecken gereist; 1835 hatte ihn eine Erholungssfahrt nach Gastein und von da nach Venedig und München geführt; 1839 war er während der Ferien in Ilmenau gewesen. Nun aber brach sein Nervensystem unter der Riesenlast seiner Arbeit zusammen. Zunächst stellte sich als Folge der Ueberanstrengung bei den experimentellen Untersuchungen ein schweres Augenleiden ein, das ihn völlig brach legte. Dann aber traten in der Unthätigkeit, zu der er verurtheilt war, tiefere nervöse Störungen ein: sie betrafen vor allem die Ernährung, und sie führten unsägliches seelisches Leid mit sich. Er hat selbst später diese merkwürdige Krankheitsgeschichte aufgezeichnet; sein Biograph Kuntze hat das Wesentliche daraus mitgetheilt. Wir erleben daran anschaulich die Qual, welche er viele Monate hindurch erleiden mußte, während deren er fast hoffnungslos das dreifache Geschick des Erblindens, des Verhungerns, des Irrewerdens vor sich zu haben glaubte. Was ihn über all das Unheil aufrecht erhalten hat, das war in erster Linie die eigene kerngesunde Natur an Leib und Seele, sodann die pflegende Liebe der Gattin und die treue Theilnahme der Freunde: unter ihnen traten jetzt neben Weiße vor allem der andere Leipziger Philosoph, Rudolf Hermann Lotze, der „Hausgeist“, wie er bei Fechner’s hieß, der mit geräuschloser Stetigkeit immer zugegen schien, und der Physiker Wilhelm Weber hervor, der, aus Göttingen als einer der „Sieben“ vertrieben, in Fechner’s Lehrthätigkeit eingetreten war.

Diese Krankheit bildet das große Erlebniß in Fechner’s Dasein. Als er sich aus ihr in unerwarteter, wie ein Wunder empfundener Erlösung erholte, da war er innerlich fertig und entschieden. Er war im Leid zum Philosophen gereift. Wohl hatte er gerade in der Krankheit die meisten der „Gedichte“ verfaßt, die er noch als Dr. Mises herausgab, wie später das damit sinnverwandte „Räthselbüchlein“ (1850). Aber das werthvollste war ihm die Weltanschauung geworden, die in den Jahren des Grübelns sich zu voller Deutlichkeit entwickelt hatte. Ueber sie hielt er nach der Genesung seine öffentlichen Vorlesungen: denn die Professur der Physik trat er, auch nachdem Wilhelm Weber nach Göttingen zurückgerufen worden war, nicht wieder an; er blieb, indem man ihm sein Gehalt beließ und es mit den Jahren noch etwas steigerte, der Universität zeitlebens ohne bestimmte Lehrverpflichtung verbunden.

Den Mittelpunkt dieser Weltanschauung und damit den Ausgangspunkt aller späteren Arbeiten Fechner’s bildet der Gedanke der Allbeseeltheit des Universums, wie er unter den Schriften des Dr. Mises schon in der „Anatomie der Engel“ angedeutet und nach der religiösen Seite durch das „Büchlein vom Leben nach dem Tode“ (1836) ausgeführt worden war. Jetzt ging F. an die allseitige Begründung dieser Lehre in seinen beiden charakteristischsten Schriften: in der „Nanna“ (1848) trug er die Theorie von der Beseeltheit der Pflanzen, im „Zendavesta“ (1851) die von der Beseeltheit der Erde und der anderen Gestirne vor, beidemal mit reichem poetischen Schmuck der Rede und mit warmer, tief empfundener Begeisterung. Von dem Standpunkt aus, daß wir kein Recht haben, das Seelenleben durchaus an das Nervensystem gebunden zu halten, an dem wir es freilich allein direct erfahren, zieht er mit kühner Energie die Linien zuerst in die unteranimale und dann in die übermenschliche Wirklichkeit. Das logische Beweismittel ist dabei immer der Analogieschluß, aber dahinter [760] steht als treibendes Motiv das Bedürfniß einer die Welteinheit umspannenden Phantasie. Es ist keine Frage, daß dies Grundmotiv des Fechner’schen Philosophirens aus der Schelling-Oken’schen Naturphilosophie stammte. So sehr er sich als Physiker gegen deren Auswüchse und die Willkürlichkeit ihrer Constructionen sträubte, so mächtig hatte ihn die Ueberzeugung ergriffen, daß der tiefste Sinn und das eigenste Wesen der Natur das Leben sei. Er stand vermöge seiner Studien und seiner eignen Untersuchungen fest auf dem Boden der experimentellen Forschung und der mathematischen Theorie: aber er trug in sich den Glauben an den geistigen Lebensinhalt aller Wirklichkeit. Dies Erbtheil des deutschen Idealismus hat F., wie Lotze, über die Zeiten naturalistischer und materialistischer Verirrungen hinaus bewahrt und, wie Lotze, um so stärker aufrecht erhalten, je intimer er selbst durch eigne Forschung in der Naturwissenschaft heimisch war. Dabei ist diese Stellung Fechner’s durch keine genaueren Beziehungen zu einem der großen idealistischen Systeme bestimmt; sie waren ja zu seiner Zeit vergessen und geschmäht, und er selbst hat sie, soweit man weiß und sieht, wohl kaum aus eignem Studium, sondern höchstens aus seinen Disputationen mit dem Freunde Weiße gekannt. Für ihn gewinnt jener Idealismus die persönliche Färbung durch das religiöse Interesse. Der Aufbau der Beseelung des Universums gipfelt in der Weltseele, in Gott. Wie die Seelen der Pflanzen, der Thiere, der Menschen Organe und Theilerscheinungen der übergreifenden Erdseele sind, so schließlich alle besonderen Gebilde des kosmischen Lebens nur die Erscheinungen der Einen göttlichen Gesammtseele. Wie bedeutsam für F. dieser religiöse Einschlag seiner Weltanschauung war, sehen wir nicht nur aus dem Schluß von Zendavesta, wo er die Uebereinstimmung seiner Lehre mit einem freien Christenthum ausführlich behauptet, sondern auch aus den späteren, apologetischen Schriften: „Ueber die Seelenfrage, ein Gang durch die sichtbare Welt, um die unsichtbare zu finden“ (1861) und „Die drei Motive und Gründe des Glaubens“ (1863), wo er auch dem historischen Moment der Religion neben dem praktischen und dem theoretischen gerecht werden möchte.

Im Ganzen war die Lehre Fechner’s, wie sie sich in diesen Schriften darstellte, eine Philosophie mehr der Anschauung und des Gefühls, als der Begriffe. Wo er auf diesem Gebiete den Weg begrifflicher Untersuchung einschlug, da waren es die Principien der Naturphilosophie, die er seiner Behandlung unterzog. Es sind solcher Schriften hauptsächlich zwei. Die erste „Ueber die physikalische und philosophische Atomenlehre“ (1855 und in zweiter, wesentlich vertiefter Auflage 1864) zeigt Anklänge an Herbartische Gedankengänge, die ihm durch den Umgang mit Drobisch nahe gelegt sein mochten: aber in durchas eigener Weise dringt F. hier mit der Untersuchung des Wesens der Naturgesetzmäßigkeit zu einer Umbildung der Begriffe von Kraft und Stoff vor, die ganz in der Richtung der energetischen Weltauffassung liegt. Die zweite dieser Schriften „Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen“ (1873), angeregt durch die darwinistische Litteratur, versuchte die Begriffe der organischen und der unorganischen Bewegung aus den differenzirten Arten der Tendenz zur Stabilität zu erklären. Wenn das z. Th. an die Ausführung erinnert, die ein Grundgedanke Ernst v. Bär’s in Herbert Spencer’s Theorie [WS 1] gefunden hat, so besteht der fundamentale Unterschied gerade darin, daß hier F. (ganz im Sinne, wenn auch garnicht in den Begriffen Schellings) das Organische und zwar das „Kosmorganische“ für das Ursprüngliche erklärt und daraus im ausgesprochenen Gegensatze gegen die mechanistischen Theorien das Unorganische als Lebensproduct ableiten will.

Inzwischen aber war seinem philosophischen Grundgedanken die wissenschaftliche [761] Aufgabe und Leistung entsprungen, die Fechner’s Namen am weitesten und dauerndsten bekannt gemacht hat: die Psychophysik. Wenn die Lehre von der Allbeseeltheit des Universums bedeutet, daß durchgängig den physischen Gebilden und Bewegungen psychische Zustände und Thätigkeiten coordinirt sind, so erleben wir dieses Verhältniß von Bewegung und Bewußtsein unmittelbar an den Beziehungen zwischen Leib und Seele. Dies ist daher der Punkt, an dem für F. der Naturforscher die Rechenprobe auf die Philosophie machen soll, wenn er diese Coordination in ihrer Gesetzmäßigkeit begreifen kann. Das nächste Object für eine solche Untersuchung ist das Verhältniß von Reiz und Empfindung. Um ihm die Form eines naturwissenschaftlichen Gesetzes zu geben, ist es erforderlich, die Intensität der Empfindungen ebenso zu messen wie die der Reize, und da das nicht direct möglich ist, so muß es auf indirectem Wege versucht werden. In der Fortführung der Untersuchungen seines Freundes Ernst Heinrich Weber über den Tastsinn bildete F. solche Methoden aus; die theoretisch bedeutsamste darunter war die „der eben noch merklichen Unterschiede“, und von ihr aus gewann er mit einer umfangreichen experimentellen Forschung das nach ihm benannte psychophysische Grundgesetz von dem logarithmischen Verhältniß zwischen dem Wachsthum des Reizes und dem der Empfindung. Seine „Elemente der Psychophysik“ (1860) bilden die in der Geschichte der Wissenschaften seltne Erscheinung, daß eine neue Disciplin unmittelbar aus dem Gedanken ihres Urhebers heraus mit einem Schlage schon in einer gewissen Vollständigkeit der Leistung ihrer Aufgabe in die Oeffentlichkeit tritt. Für F. selbst bedeutete die Psychophysik, wie ihr Schluß lehrt, den empirischen Unterbau für seine Weltanschauung: in der Geschichte der Wissenschaften ist sie die exacte Begründung der experimentellen Psychologie gewesen, die sich daraus mit Erweiterung ihrer Aufgaben und Verfeinerung ihrer Hülfsmittel in Leipzig durch das Wundt’sche [WS 2] Laboratorium und von da aus über die ganze wissenschaftliche Welt entwickelt hat. Das ist Fechner’s Verdienst und Ruhm: wenn nachher die Leute aus der experimentellen Psychologie ein Surrogat für die ganze Philosophie haben machen wollen, so ist das nicht seine Schuld, denn es war nicht seine Meinung. F. selbst hatte seine principielle und methodische Stellung und die Ergebnisse seiner Forschung gegen mancherlei Angriffe zu vertheidigen, und er that es hauptsächlich in der Schrift „In Sachen der Psychophysik“ (1877) und in der „Revision der Hauptpunkte der Psychophysik“ (1882). In der Structur der psychophysischen Begriffe (Schwelle u. s. w.) waren wiederum Beziehungen zu Herbart’s Psychologie unverkennbar; in der theoretischen Ausdeutung des psychophysischen Verhältnisses überwog der Gedanke des psychophysischen „Parallelismus, wonach die Coordination der physischen und der psychischen Zustände nicht sowohl unter dem Gesichtspunkte der wechselseitigen Kausalität, als vielmehr unter dem der essentiellen Identität (nach spinozistischem Muster) gedacht werden soll. Auch hierin ist die experimentelle Psychologie fast durchgängig dem Fechner’schen Vorbilde treu geblieben.

Eine den persönlichen Neigungen des Denkers besonders willkommene Abzweigung der Psychophysik bildeten seine Untersuchungen zur experimentellen Aesthetik. Der principielle Hintergrund dafür war der universelle Hedonismus, den er als eine Folgerung der Allbeseelungslehre schon in der Schrift „Ueber das höchste Gut“ (1846) dahin ausgesprochen hatte, Sittlichkeit sei die möglichst große Förderung der Lust im Weltall. Für die ästhetischen Fragen hatten das Kunstleben Leipzigs, der Umgang mit Weiße und früher die Beziehungen zu seinem Bruder Fechner’s Interesse lebendig gehalten. Den besonderen Anlaß boten nun Zeising’s Untersuchungen über die ästhetische Bedeutung des goldnen Schnitts. Die Abhandlungen, in denen F. dazu und zu andern actuellen [762] Kunstfragen Stellung nahm, waren die Vorbereitungen für seine „Vorschule der Aesthetik“ (1876), einem seiner reichhaltigsten und interessantesten Bücher. Er versucht darin durch experimentelle Methoden (der Wahl, der Herstellung u. s. w.) und durch statistische Methoden (der Ausmessung, Vergleichung u. s. w.) die naturgesetzmäßige Wohlgefälligkeit einzelner Formen und Verhältnisse zu constatiren, geht dabei namentlich darauf aus, den „directen Factor“ von allen associativen Momenten zu isoliren, und begründet so die „Aesthetik von unten“, d. h. die rein empirische Aesthetik als eine elementare Hedonik. Auch diese Anfänge haben sich in der psychologischen Aesthetik der folgenden Jahrzehnte als fruchtbare Anregungen erwiesen: er selbst hat nachher hauptsächlich die methodische Seite der Sache in zahlreichen Abhandlungen verfolgt, an denen er bis an sein Lebensende arbeitete.

Die abschließende und eindrucksvollste Zusammenfassung seiner Gedanken hat F. endlich in seinem persönlichsten Buche gegeben: „Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht“ (1879). Der naturwissenschaftlichen Theorie, für die nach der „Subjectivität der Sinnesqualitäten“ die Welt nur ein dunkles, stummes und innenloses System von Atomschwingungen ist, hält er das Bild des universellen Lebens, die Forderung der Realität des Seelischen mit all seinem Inhalt und all seiner Bewegtheit entgegen. Der physische Zusammenhang des Weltalls ist nur möglich, weil er zugleich ein psychischer ist, ein göttliches Allbewußtsein.

In der Darstellung dieses Buches ist zwischen aller Liebenswürdigkeit und aller „Tendenz zur Harmonie“, die dem Manne unversieglich eigen waren, ein gewisser Zug der Enttäuschung nicht zu verkennen. F. fühlte, wie gering die Resonanz seiner Ideen in seiner Zeit war. So lebendig seine Beziehungen zu der Leipziger Wissenschaft und zu zahlreichen Besuchern von auswärts waren, so wenig konnte er sich doch verbergen, daß im ganzen die intellectuelle Bewegung andere Wege ging. Der Naturforschung galten seine philosophischen Ideen als liebenswürdige Phantasien; der Philosophie, deren Neubeginn unter dem Zeichen der Kantischen Erkenntnißtheorie stand, lagen seine metaphysischen Bestrebungen fern. Mit dem Ganzen seiner Weltanschauung stand er fast allein. Und daß er damit die Welt der Geister erobert hätte, dazu fehlt es ihr schließlich doch an der Energie der Allseitigkeit. Sein Denken umspannte mit weitem Blick den physischen, den psychophysischen Kosmos: aber der historische Kosmos war ihm verschlossen. Wie dereinst die Aufklärer, interessirte ihn die Natur und das Seelenleben des Einzelnen; die Geschichte und ihre großen Gestalten ließen ihn kühl. Wo er über das Individuum hinaus seelische Gesammtgebilde suchte, da fand er sie nicht in den Geschicken der Völker, sondern in den Planetenseelen und in dem Allbewußtsein Gottes.

Aber der Zauber seiner feinen Gelehrtenpersönlichkeit ließ ihn nicht vereinsamen. Zur akademischen Jugend freilich hatte er niemals ausgebreitete Beziehungen gefunden, und Schüler im engsten Sinne des Wortes hat er nicht gehabt. Aber mit einem weiten Freundeskreise blieb er in lebendiger Wechselwirkung. Jährliche Reisen, oft mit befreundeten Familien, brachten Abwechslung und Auffrischung; aber unermüdlich währte auch darin die Arbeit. Seitdem eine neue Gefahr für seine Augen durch eine glückliche Staaroperation gehoben war, konnte er diesem innersten Triebe seiner Natur wieder stattgeben. So war dem äußerlich so stillen und innerlich so tief bewegten Leben ein heitrer Abend beschieden. Am 18. November 1887 schloß er nach kurzem und leichtem Leiden die Augen für immer. –

Fechner’s Biographie hat sein Neffe Dr. J. E. Kuntze, Professor der Rechte in Leipzig, mit warmer Liebe und anschaulicher Schilderung, aber [763] nicht ohne einen Einschlag frömmelnder Kritik, geschrieben: dem Buche (Leipzig 1892) sind W. Wundt’s Nekrolog auf F. und ein vollständiges Verzeichniß seiner Schriften angefügt. Eine wissenschaftlich competente Monographie über F. hat Kurd Laßwitz in Frommann’s Classikern der Philosophie (Stuttgart 1896) gegeben.

[756] *) Zu Bd. XLVIII, S. 505.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Herbert Spencer (1820–1903); war ein englischer Philosoph und Soziologe.
  2. Wilhelm Maximilian Wundt, als Autor meist Wilhelm Wundt, (1832–1920); war ein deutscher Physiologe, Psychologe und Philosoph.