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ADB:Fichte, Johann Gottlieb

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Artikel „Fichte, Johann Gottlieb“ von Kuno Fischer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 6 (1877), S. 761–771, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Fichte,_Johann_Gottlieb&oldid=- (Version vom 30. Dezember 2024, 18:02 Uhr UTC)
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Band 6 (1877), S. 761–771 (Quelle).
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Fichte: Johann Gottlieb F., epochemachender Philosoph des nachkantischen Zeitalters, wurde als das erste Kind einer armen Leinweberfamilie in Rammenau, einem Dorfe der Oberlausitz in Sachsen, den 19. Mai 1762 geboren. Er lernte lesen und schreiben, half am Webstuhle des Vaters und hütete die Gänse im Dorfe; die Predigten des Pfarrers Wagner machten ihm einen solchen tiefen Eindruck, daß er sie auswendig behielt, dieser Umstand erweckte die Aufmerksamkeit eines benachbarten und begüterten Edelmanns, des Freiherrn v. Miltitz, der sich des Knaben annahm und ihn von dem Pfarrer Krebel in Niederau für den höheren Schulunterricht vorbereiten ließ; er wurde zuerst nach Meißen, dann nach Schulpforta geschickt, woselbst er sechs Jahre blieb (October 1774 bis 1780). Leider starb sein Wohlthäter zu früh, um noch weiter für ihn zu sorgen. Im Herbste 1780 bezog F. die Universität Jena, um Theologie zu studiren, aber zu arm, um seinen Studiengang ohne Unterbrechung fortsetzen und vollenden zu können, mußte er seinen Lebensunterhalt durch Privatunterricht verdienen, den er in den Jahren von 1784–87 in verschiedenen sächsischen Orten ertheilte. Seine Bitte um Unterstützung, damit er weiter studiren und die Prüfung ablegen könne, wurde von dem Oberconsistorium abgeschlagen. Es war in seinem Leben die hoffnungsloseste Zeit. Von Hause erhielt er nichts als mütterliche Vorwürfe, von keiner Seite sah er Hülfe. Da bot ihm der Dichter Weiße eine Hauslehrerstelle in Zürich (den 18. Mai 1788), die er mit Freuden ergriff. Vom 1. September 1788 bis Ostern 1790 unterrichtete hier F. im Gasthofe zum Schwert die beiden Kinder des Gasthofsbesitzers Ott; er übte seine pädagogischen Pflichten auch den Eltern gegenüber mit einer solchen censorischen Strenge aus, daß sein Verhältniß in diesem Hause nicht auf die Dauer Stand hielt und Ostern 1790 gelöst wurde. Während dieser Zeit machte er Lavater’s Bekanntschaft und durch ihn die des Kaufmanns Rahn, der Klopstock’s begeisterter Verehrer und Schwager war; mit der Tochter dieses Mannes (Johanna Maria) war F. verlobt, als er Zürich verließ und ohne Aussicht und Beruf nach Leipzig zurückkehrte. Den inneren Beruf und seine Lebensaufgabe findet er hier, als er, um einem Studenten den erbetenen Unterricht in der Kantischen Philosophie zu ertheilen, selbst genöthigt ist, die Werke Kant’s zu studiren. Dieses Studium erfüllt ihn ganz. „Von einem Tage zum andern verlegen um Brod, war ich damals vielleicht einer der glücklichsten Menschen auf dem weiten Rund der Erde.“ Indessen muß er seinen Lebensunterhalt wieder als Hauslehrer verdienen und geht zu diesem Zwecke nach Warschau, wo ihm im Hause des Grafen Plater eine solche Stelle angeboten worden; es war eine sehr kurze Episode, die nur 18 Tage dauerte. In Folge von Mißhelligkeiten mit der Gräfin, die von dem Hauslehrer größere Unterwürfigkeit und besseres Französisch erwartete, verließ er Warschau den 25. Juni 1791; er hatte kurz vorher am Frohnleichnamstage in der evangelischen Kirche über die Einsetzung des Abendmahls gepredigt.

Das nächste Ziel seiner Reise war Königsberg, um Kant persönlich kennen zu lernen. Die ersten Eindrücke, die er bei seinem Besuche (den 4. Juli 1791) und bald darauf im Auditorium empfing, haben ihn wenig befriedigt. Er wünscht das Interesse des großen Denkers durch eine Leistung zu gewinnen, und da alle Welt in dieser Zeit die Religionslehre Kant’s erwartet und Kant selbst die Frage, wie sich der Vernunftglaube zur Offenbarung verhalte, noch nicht berührt hat, so schreibt F. während seines Königsberger Aufenthaltes über dieses Thema ein Werk, welches er Kant in der Handschrift übersendet (den 18. August 1791). Jetzt wird er von diesem „mit ausgezeichneter Güte“ aufgenommen; Kant sorgt dafür, daß er eine neue Hauslehrerstelle und für seine Schrift einen Verleger erhält. Auf diese Weise wird ihm zugleich die ökonomische Hülfe verschafft, deren F. damals in dringendster Weise bedurfte, denn er hatte sein [762] Weniges verbraucht. Bei Hartung in Riga, Ostern 1792, erscheint seine Schrift unter dem Titel: „Versuch einer Kritik aller Offenbarung“. Durch Zufall ist sein Name im Druck nicht genannt, man hält Kant für den Autor. Die Jenaische Litteraturzeitung sagt in ihrer Beurtheilung: „der erhabene Verfasser dieses Werkes sei unverkennbar“. Diese Meinung verbreitet sich in der litterarischen Welt, bis Kant den 3. Juli 1792 eine öffentliche Gegenerklärung gibt und den wirklichen Verfasser nennt. Von jetzt an ist der Name F. bekannt, ja berühmt. „Mich hebt bei meinen ersten Schritten“, schrieb er damals an seine Braut, „ein unglaublicher Zufall.“ Die neue Hauslehrerstelle bei dem Grafen Krockow zu Krockow in der Nähe von Danzig war die angenehmste, die er finden konnte, denn in dem gräflichen Schlosse war die Verehrung Kant’s einheimisch. Hier blieb er bis zum Frühjahr 1793.

Als ein bekannter philosophischer Schriftsteller kehrt er im Juni dieses Jahres nach der Schweiz zurück, um seine Braut heimzuführen. Die Ehe wird den 22. October 1793 geschlossen. Von den damaligen in der Schweiz gemachten Bekanntschaften sind vor allem zu nennen der dänische Dichter Baggesen und ganz besonders Pestalozzi in Richterswyl am Zürichersee, der Reformator der Volkserziehung. In dieser Zeit schreibt F. seine „Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution“, deren erstes Heft schon in Danzig begonnen wurde, und die Rede „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europa’s, die sie bisher unterdrückten“ (1793). Auch hat die Aufgabe einer neuen Begründung der Kantischen Philosophie aus einem einzigen Princip schon angefangen ihn zu beschäftigen; er hält im Winter von 1793 zu 1794 darüber Vorträge in Zürich, unter deren Zuhörern sich auch Lavater befand. Jetzt war Fichte’s Beruf entschieden. Noch hatte er kein Amt, er wünschte kein anderes als ein Lehramt der Philosophie. Gegen Ende des Jahres 1793 erfüllt sich dieser Wunsch durch eine Berufung nach Jena, wo er Reinhold, der Ostern 1794 nach Kiel geht, ersetzen soll. Den 23. Mai 1794 beginnt hier F. seine Lehrthätigkeit mit einer öffentlichen Vorlesung über Moral für Gelehrte, das Thema seiner Privatvorlesungen war die Wissenschaftslehre. Man hatte ihn mit großer Spannung erwartet, noch größer war seine Wirkung. „An F. wird geglaubt, wie nie an Reinhold geglaubt worden ist,“ schreibt Forberg, ein Schüler des letzteren, in sein Tagebuch. Die fünf Jahre in Jena (1794–99) sind der wichtigste Abschnitt in Fichte’s philosophischer Entwicklung. Mit seiner Bedeutung und Wirkung verbinden und steigern sich die Conflicte. Der erste derselben erhebt sich schon in dem zweiten Semester. Um in seinen öffentlichen Vorlesungen über Moral jede Collision mit andern akademischen Vorlesungen zu vermeiden, hatte F. eine Sonntagvormittagsstunde gewählt und dadurch Beschwerden und Anklagen von Seiten der kirchlichen Landesbehörde hervorgerufen, in Folge deren ein herzogliches Rescript die Fortsetzung jener Vorträge „einstweilen“ untersagte. Die wichtigsten Stimmen des Senats erklären sich für F., und der Herzog Karl August, nachdem er die Vorträge selbst eingesehen und ihren Nutzen „vorzüglich“ gefunden, gestattet deren Fortführung in einer Nachmittagsstunde nach geendigtem Gottesdienst. So war die Sache für F. entschieden, und er konnte den 3. Februar 1795 seine Vorträge wieder aufnehmen.

Aber schon war ein zweiter Feldzug im Gange, wobei F. zwar den moralischen Sieg behielt, aber für einige Zeit das Feld räumen mußte, denn gegen ihn tobten wilde und aufgeregte Studentenmassen. Das wüste, abgesonderte und allen höheren geistigen Lebenszwecken abgeneigte Studententhum hatte sich in den sog. Orden förmlich organisirt und blühte in Jena, wo es drei solcher Orden gab, die Consentanisten, Unitisten und schwarzen Brüder. In seinen öffentlichen Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten hatte F. diesen unwürdigen [763] Charakter des deutschen Studentenlebens getroffen und erschüttert. Eines Tages erschienen bei ihm die Vertreter der Orden und erklärten, daß sie ihre Verbindungen auflösen, in seine Hand den Entsagungseid leisten und ihm die Ordensbücher ausliefern wollten. Für F. durfte die ganze Angelegenheit keine amtliche und geschäftliche, sondern nur eine moralische Bedeutung haben; ihm konnte nichts daran liegen, auf welche Art die Studenten den alten Adam auszogen, wenn sie nur den neuen annahmen; doch hatte er die Unklugheit, sich auf das Geschäft einzulassen und es in officielle Verhandlungen hinüberzuleiten, welche die akademischen Behörden und die Regierung selbst ins Spiel brachten und wobei er die Rolle einer Zwischenperson übernahm, während er doch zu nichts weniger taugte, als zum diplomatischen Vermittler. Die Sache wurde verschleppt, die Studenten gegen F. mißtrauisch und argwöhnisch gemacht, als ob dieser grundehrliche Mann sie getäuscht und verrathen habe; jetzt kam die Rache des Edlen, man störte seine Vorlesungen, überfiel in der Neujahrsnacht (1795) sein Haus, beleidigte seine Frau und gefährdete seine Sicherheit, ohne daß ihm genügender Schutz zu Theil wurde. Er war wirklich genöthigt, sich für einige Zeit von Jena zu entfernen, und blieb den Sommer 1795 im Dorfe Osmannstädt bei Weimar. Gegen die Orden bildete sich aus Fichte’s Anhängern eine „Gesellschaft freier Männer“, die der Anfang einer zeitgemäßen Reform des deutschen Studentenlebens war.

Nach drei ruhigen Jahren, in denen Fichte’s Wirksamkeit ihren Höhepunkt erreichte, brach ein dritter Conflict aus, der durch sein Object wie seinen Umfang die größte Bedeutung gewann und eine cause célèbre der Philosophie wurde. Es ist der berühmte „Atheismusstreit“ der J. 1798 und 1799. Die Veranlassung kam durch zwei Aufsätze im „Philosophischen Journal“, das F. mit Niethammer seit 1795 herausgab. Hier hatte Forberg einen Aufsatz „Entwicklung des Begriffs der Religion“ veröffentlicht, worin er aus Kantischen Grundsätzen nachzuweisen suchte, daß die Religion mit der sittlichen Ueberzeugung und dem guten Lebenswandel zusammenfalle und keine besondere Geltung für sich beanspruchen könne. F. stimmte mit dieser Ansicht keineswegs überein und gab die seinige als Correctiv in dem gleichzeitig veröffentlichten Aufsatze: „Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“ (1798). Bald erschien das anonyme „Sendschreiben eines Vaters an seinen studirenden Sohn über den Fichte’schen und Forberg’schen Atheismus“, dessen nichtswürdiger Verfasser nie entdeckt worden ist (wahrscheinlich war es der Mediciner Gruner in Jena). Die Denunciation hatte den gewünschten Erfolg. Die kursächsische Regierung confiscirte das Philosophische Journal und verbot es in Zukunft, sie erließ ein zweites Schreiben an die Erhalter der Universität Jena, worin sie die Bestrafung der Herausgeber des Journals forderte und mit dem Verbot der Universität Jena drohte. Das Confiscationsedict ist vom 19. November, das Requisitionsschreiben vom 18. December 1798. Gegen die Confiscation richtete F. seine „Appellation an das Publicum wegen der Anklage des Atheismus, eine Schrift, die man zu lesen bittet, ehe man sie confiscirt“; gegen die Requisition richtete er seine „Gerichtliche Verantwortungsschrift gegen die Anklage des Atheismus“; die erste Schrift wurde dem Herzog den 19. Januar, die zweite den 18. März 1799 mitgetheilt. In Weimar hatte man die besten Absichten. Man wollte die Universität gegen ein Verbot und zugleich die Lehrfreiheit der Professoren schützen, der ganze Handel sollte mit einer verweisenden Maßregel ohne jeden Eingriff in die Lehrfreiheit beigelegt und still aus der Welt geschafft werden. Daß F. die Sache an die große Glocke schlug, war ihm ebensowenig zu verdenken, als der weimarischen Regierung, daß sie es ungern sah, da sie ihre Absichten auf diese Weise erschwert fand. Ueber diese Stimmungen in Weimar läßt [764] ein Brief Schiller’s an F. (26. Januar 1799) keinen Zweifel. Nun aber erschwerte F. nicht blos, sondern kreuzte die Absichten der weimarischen Regierung durch ein völlig unzeitiges und unmotivirtes Schreiben, das er den 22. März 1799 an den Curator der Universität richtete. Er habe gehört, daß man ihm einen Verweis zudenke, den er anzunehmen unter keinen Umständen gesonnen sei, er drohte mit der Abgebung seiner Dimission, der Veröffentlichung dieses seines Schreibens, dem Weggange der bedeutendsten Docenten von Jena. Eine solche Drohung wollte die Regierung nicht hinnehmen, auch Goethe votirte im Staatsrath gegen F. Unter dem 29. März 1799 wurde den Herausgebern des Journals ein Verweis und in einem Postscriptum dem Professor F. die geforderte Dimission ertheilt. Ein zweiter Brief Fichte’s, der fast einem Widerruf gleichkam, vermochte diese Entscheidung nicht zu ändern, ebensowenig wiederholte Bittschriften der Studirenden. Selbst der Aufenthalt in Rudolstadt wurde, wie es scheint auf Wunsch der weimarischen Regierung, F. nicht gewährt; dagegen wurde ihm der Aufenthalt in der Hauptstadt Preußens gestattet.

Die Begründung und Ausführung der Wissenschaftslehre fällt in die jena’sche Periode (1794–799). Das Programm gab F. in der Schrift „Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre“ (1794). Während seiner ersten Vorlesung ließ er die „Grundlage[WS 1] der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer“ (1794) drucken; in Osmannstädt schrieb er den „Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen als Handschrift für seine Zuhörer“ (1795), „Die Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre“ erschien 1796, „Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre“ 1798. Die Anfänge seiner Religionslehre sind genannt. Die beiden Einleitungen in die Wissenschaftslehre, die er im Philosophischen Journal 1797 gab, sind Meisterstücke didaktischer Klarheit und Kunst.

Den 3. Juli 1799 kam F. nach Berlin, wo er sich der vertrauten Freundschaft mit Fr. Schlegel und des Umgangs mit Schleiermacher erfreute. Jeden Zweifel, ob er in Berlin bleiben dürfe, entfernte ein königliches Wort Friedrich Wilhelms III. Die ersten hier verfaßten Schriften sind theils der folgerichtigen Fortbildung seiner Rechtslehre, theils der Verdeutlichung seines Standpunkts überhaupt gewidmet; in der ersten Absicht entsteht die merkwürdige Schrift „Der geschlossene Handelsstaat, ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik“ (1800), in der zweiten schrieb er „Die Bestimmung des Menschen“ (1800) und den „Sonnenklaren Bericht an das größere Publicum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie“, mit dem charakteristischen Zusatz: „Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen“ (1801). Die Wissenschaftslehre verhält sich zu unserem gewöhnlichen und thatsächlichen Bewußtsein wie die Demonstration eines Uhrwerks zum Uhrwerke selbst, die Demonstration ändert nichts im Gange der Uhr, sondern erklärt ihn; das haben die platten Gegner Fichte’s, die Leute des sogen. gemeinen Menschenverstandes niemals gefaßt, sie fühlen sich ganz befriedigt mit der Uhr in der Tasche. Unter diesen Gegnern war der selbstzufriedenste Fr. Nicolai, der gegenüber der Wissenschaftslehre immer auf die Westentasche schlug, wo die Repetiruhr steckte. F. würdigte ihn in einer ebenso treffenden als groben Satire: „Fr. Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen“ (1801). Das Thema, das F. am tiefsten bewegte, war von jetzt an die Religion. Was er in Jena, veranlaßt durch den Atheismusstreit, begonnen hatte, wollte er in der „Bestimmung des Menschen“ weiter geführt haben. Sein Beruf war, öffentlich zu lehren. Er entbehrte schmerzlich den akademischen Lehrstuhl, Berlin hatte noch keine Universität, eine Restitution in Jena hoffte er vergebens, er dachte an [765] Heidelberg, die Berufung an die russische Universität Charkow zerschlug sich. Durch Altenstein’s Einfluß erhielt er eine eigenthümliche Stellung an der damals preußischen Universität Erlangen, er sollte hier während des Sommers lesen und im Winter Vorlesungen in Berlin halten. Nur ein Semester (Sommer 1805) hat er in Erlangen „Ueber das Wesen des Gelehrten“ eine öffentliche Vorlesung gehalten. Bei F. steht alles im Zusammenhang. Die Erlanger Vorlesung bildet ein Glied in einer planmäßig gegliederten Gruppe von Vorträgen, die sich in ein Thema theilen: es handelt sich um die Aufgabe der Menschheit und deren Lösung im religiösen Leben, dessen umfassende Geltung ein Zeitalter „vollendeter Rechtfertigung“ ausmacht. Das Ziel will mit Bewußtsein erkannt und erstrebt werden, in ihm gipfelt die Entwicklung des Geistes: die Entwicklungsstufen, im Großen gedacht, sind die Zeitalter, das Ziel ist die Religion, der planmäßige Weg, die richtig geleitete Entwicklung ist die Erziehung, die universelle, die von einem Volke ausgehen muß (Nationalerziehung) und von keinem andern ausgehen kann, als dem deutschen. In dieser Erziehung liegt die tiefste Aufgabe des Gelehrten. Jetzt entfaltet sich die Wissenschaftslehre zur Geschichtslehre, Religionslehre, Erziehungslehre; Fichte’s Vorträge gliedern sich daher zu einer Tetralogie: 1) „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“, 2) „Ueber das Wesen des Gelehrten“, 3) „Die Anweisungen zum seligen Leben oder auch die Religionslehre“, 4) „Reden an die deutsche Nation“. Sie fallen in die Jahre von 1804–1808 und werden, mit Ausnahme der Erlanger Vorlesung, sämmtlich in Berlin gehalten, die erste im Winter 1804/5, die zweite im Sommer 1805, die dritte im J. 1806, die letzte und berühmteste im Winter 1807/8. Die Reden an die deutsche Nation sind von den vorhergehenden Vorträgen durch eine weltgeschichtliche Epoche geschieden, obwol sie in den Plan der Gruppe gehören und „Die Grundzüge“ fortsetzen. In diesem Fall machte die Kluft zugleich den Uebergang. Das römische Reich deutscher Nation war in den Abgrund gesunken, Preußen lag zu den Füßen des Eroberers; in der kurzen Spanne eines Jahres hatte das deutsche Volk alle Stufen der Erniedrigung durchlaufen, von der Gründung des Rheinbundes bis zum Frieden von Tilsit. Die Schmach war verdient; die Fremdherrschaft war nicht wie ein Fatum über Deutschland gekommen, sondern als die Folge seiner eigenen tiefverschuldeten Schwäche; die Schuld lag in der vaterlandslosen Gesinnung, in dem Mangel an jedem großen Gemeinsinn, in der maßlosen Geltung particularistischer und egoistischer Interessen, die das ganze öffentliche Leben in Fäulniß verwandelt hatten und die förmliche Signatur des Zeitalters ausmachten. Die Selbstsucht war auf den Gipfel gestiegen, nicht in diesem oder jenem, sondern in allen; sie war das Grundübel der Zeit, darum hatte F. in den „Grundzügen“ die Gegenwart geschildert als „das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit“, in welchem das Vernunftgesetz, welches die Gattungszwecke fordert, nicht mehr aus Instinct, nicht mehr aus Autorität, noch nicht aus Einsicht, sondern gar nicht gilt. Diesem Zeitalter war das Vaterland innerlich abhanden gekommen, es war nothwendig und gerecht, daß es ihm auch äußerlich zu Grunde ging. Die Charakterzüge des gegenwärtigen Zeitalters hatte F. geschildert vor der Schlacht bei Austerlitz und dem Frieden von Preßburg, die Reden an die deutsche Nation hielt er nach der Schlacht von Jena und dem Frieden von Tilsit. Eben darin besteht zwischen beiden sowol die Kluft als der Uebergang. Wie ein Prophet hatte F. aus den Grundzügen der Gegenwart den Untergang geweissagt. Als sich erfüllt hatte, was er vorausgesehen, empfand er das Unglück des Vaterlandes mit dem tiefsten Schmerz, zugleich mit dem männlichsten, der sich die Schuld klar macht. Die Einsicht in die Ursachen des Uebels ist die erste Bedingung der Abhülfe und Besserung; diese Einsicht war unmöglich, so lange man in der Verblendung der Selbstsucht lebte, jetzt sind die [766] Augen geöffnet, da man die Folgen vor sich sieht in dem ungeheuren Verlust. Das deutsche Volk ist gefallen nur durch seine eigene Schuld; nur durch seine eigene Kraft kann es sich wieder erheben. Das Thema der Grundzüge war die Schuld, das Thema der Reden an die deutsche Nation ist die Erhebung. Deshalb bezeichnet F. die „Reden“ als die Fortsetzung der „Grundzüge“. In den letzteren hatte F. fünf Zeitalter unterschieden nach der Art und Weise, wie sich das menschliche Bewußtsein zu der Vernunft und den sittlichen Vernunftzwecken verhält: in dem ersten herrscht die Vernunft aus Instinct, im zweiten aus Autorität, im dritten gar nicht, vielmehr statt ihrer die Selbstsucht, im vierten gilt die Vernunft aus Einsicht, im letzten durchdringt und gestaltet sie das menschliche Leben wie ein Kunstwerk, daher hatte er diese Entwicklungsstufen bezeichnet als das Zeitalter des Vernunftinstincts, der Vernunftautorität, der leeren (weil blos individuellen) Freiheit, der Vernunftwissenschaft, der Vernunftkunst. Oder in religiöser Fassung: das Zeitalter der Unschuld, der beginnenden Sündhaftigkeit, der vollendeten Sündhaftigkeit, der anhebenden Rechtfertigung, der vollendeten Rechtfertigung. Von dem dritten Zeitalter handeln „die Grundzüge“, von dem letzten „die Anweisungen zum seligen Leben“, von dem vierten „die Reden an die deutsche Nation“.

Nach der Schlacht von Jena, bei Annäherung des feindlichen Heeres, verläßt F. Berlin (den 18. Oct. 1806) und geht nach Königsberg, wo er eine provisorische Professur erhält und im Winter 1806/7 über die Wissenschaftslehre liest. Es war eine Winterprofessur, wie zwei Jahre vorher seine Lehrstelle in Erlangen eine Sommerprofessur gewesen. Während des Sommers 1807 hält er keine Vorlesungen, sondern studirt Pestalozzi’s Schriften und erkennt darin „das wahre Heilmittel für die kranke Menschheit, sowie auch das einzige Mittel, dieselbe zum Verstehen der Wissenschaftslehre tauglich zu machen“. Den 13. Juni 1807, am Tage vor der Schlacht von Friedland, verläßt er Königsberg und geht nach einem kurzen Aufenthalt in Memel nach Kopenhagen, wo er den 9. Juli eintrifft und den Friedensschluß abwartet. „Gottes Wege“, schrieb er damals an seine Frau, „waren nicht die unseren, ich glaubte, die deutsche Nation müsse erhalten werden, aber siehe, sie ist ausgelöscht.“ Ende August 1807 kehrte er nach Berlin zurück, und jetzt hält er die Reden an die deutsche Nation, deren Plan und Thema ihm die Zeit und das Studium Pestalozzi’s eingab.

Die Epoche der Wiedergeburt Preußens begann. Der König war mit allen Patrioten von der Ueberzeugung durchdrungen, daß der Staat durch geistige Kräfte ersetzen müsse, was er an physischen verloren. Die Antwort gab er jener Deputation halle’scher Professoren, die im Sommer 1807 nach Memel gekommen war, um den König zu bitten, er möge die Universität Halle nach Berlin verlegen. Die Gründung einer neuen und zeitgemäßen Universität in der Hauptstadt Preußens wurde beschlossen. Auch Fichte’s Rath und Gutachten wurde verlangt, er gab beides in ausführlichster Weise in seinem „Deducirten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt“, einer Denkschrift, die er 1807 verfaßt hatte und die zehn Jahre später erschien. Sein Universitätsplan hängt genau zusammen mit den Ideen, die er in seinen Reden an die Nation öffentlich aussprach; er faßte die Universität als den Gipfel der Nationalerziehung, er wollte sie durchgängig nicht blos als Lehranstalt, sondern als eine Erziehungsanstalt organisirt wissen, womit der bisherige Charakter der Universitäten völlig aufgegeben und der akademischen Freiheit ein Gängelband angelegt wurde. W. v. Humboldt war entgegengesetzter Ansicht und F. blieb mit seinem Plan isolirt, die Universität sollte eine freie Lehranstalt sein. Auch Joh. v. Müller schrieb in diesem Sinn an Fichte: „Das Nationalerziehungswesen wird instituirt, die [767] Universität macht sich. Für diese ist es genug, daß jede Wissenschaft vom besten Professor vorgetragen werde.“

Im J. 1810 trat die Universität Berlin ins Leben. Den ersten Rector ernannte der König, die folgenden sollten gewählt werden. Der erste gewählte Rector war F. (1811/12), er gerieth bald mit der Mehrzahl seiner Amtsgenossen über die Frage der Studentendisciplin in einen erbitterten Streit, er wollte seinen pädagogischen Grundsätzen gemäß den Mißbrauch der akademischen Freiheit unterdrücken, das Unwesen der Landsmannschaften, der Zweikämpfe etc. ausgetilgt wissen. Unter seinen Gegnern war Schleiermacher, der jeden zu strengen Zwang scheute. Da F. sich in der Minderheit sah, forderte er wiederholt seine Entlassung als Rector (den 14. und 22. Februar 1812), das Gesuch wurde angenommen, der Minister Schuckmann hatte es dem Staatskanzler gerathen und dabei insinuirt, „daß F. wegen seiner Reden an die deutsche Nation ohnehin bei den französischen Behörden übel notirt sei“ (den 11. April 1812). Die Ironie des Schicksals wollte, daß noch in demselben Jahre mit dem russischen Feldzug Napoleon’s Stern sich zum Untergang neigte. Die neue Saat in Deutschland trug ihre Früchte in den glorreichen Tagen von Ende 1812 bis zum Ende 1813. Die Erhebung beginnt mit York’s Abfall und vollendet sich mit Blücher’s Uebergang über den Rhein. Dieses Jahr, das in den Siegen an der Katzbach, bei Kulm, Großbeeren, Dennewitz, Leipzig die deutsche Sache gerettet und Fichte’s prophetische Worte in den Reden an die deutsche Nation erfüllt hat, war das letzte, das er vollenden sollte. Er hatte vergeblich gewünscht, als Feldprediger mit in den Kampf zu gehen, er mußte in Berlin zurückbleiben und trat unter die Waffen des Landsturms. Während des Sommers 1813 las er „Ueber den Begriff des wahren Krieges“; gegen die Begeisterung der Eroberungssucht, die in Napoleon verkörpert sei, müsse sich die höhere Begeisterung der Freiheit und nationalen Unabhängigkeit in dem deutschen Volke erheben zu einem Kampf auf Leben und Tod. Die Siege von Großbeeren und Dennewitz hatten Berlin vor dem Einbruch des feindlichen Heeres geschützt und seine Militärhospitäler mit Verwundeten und Kranken überfüllt. Fichte’s Frau war unter den muthigsten und unermüdlichsten Pflegerinnen eine der ersten; den 3. Januar 1814 wird sie vom Lazarethfieber ergriffen, und die Aerzte verzweifeln an ihrer Rettung. Ueberzeugt sie nicht mehr zu finden, nimmt F. Abschied von der Kranken und beginnt seine Vorlesungen; als er zurückkehrt, ist eine wohlthätige Krisis eingetreten und die Frau gerettet. Jetzt ergreift die Krankheit ihn selbst und verzehrt schnell seine Kräfte. Er stirbt den 27. Januar 1814.

Man hat häufig geglaubt, daß in der Berliner Periode die Wissenschaftslehre eine völlige Umgestaltung erfahren habe und demgemäß Fichte’s Philosophie in zwei grundverschiedene Systeme zerfalle, ein früheres und späteres. Diese Ansicht ist falsch und sachunkundig, F. selbst hat ihr sehr nachdrücklich widersprochen. In Wahrheit findet von Anfang bis zu Ende (1794–1814) eine ununterbrochene Entwicklung statt, die wol Veränderungen, aber keinen Abbruch einschließt. Was F. in Jena gegründet und aufgebaut, hat er nie zerstört: die Entwicklungslehre des Geistes oder des Bewußtseins. Nur die Fundamente wurden tiefer gelegt: das theoretische Ich wird auf das praktische, dieses auf das religiöse gegründet; das theoretische Ich ist weltenschauend und in diesem Sinne weltbildend, es reproducirt mit Bewußtsein, was ohne Bewußtsein producirt worden. Darin besteht alles Erkennen. Das religiöse Ich erkennt sich als Glied einer sittlichen Weltordnung, die unabhängig von seinem Willen und seinen Willenserfolgen besteht und in sich gegründet ist, es erkennt sich als Organ oder „Bild Gottes“ und Gott als das allein wahrhaft wirkliche Sein. Von hier aus das ganze System in einem Guß darzustellen, hat F. beabsichtigt, aber nicht geleistet; wir [768] lassen hier die Möglichkeit dieser Leistung dahingestellt. Versucht hat er diese so veränderte Darstellung der Wissenschaftslehre schon im J. 1797, dann 1801, 1804 und in seinen Vorlesungen aus den Jahren 1810–1813. Nur eine dieser Darstellungen hat er selbst herausgegeben: „Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umriß“ (1810). Aus seinem Nachlaß erschienen gesondert: „Der Universitätsplan“ (1817); „Die Vorlesungen über die Thatsachen des Bewußtseins aus dem Winter 1810/11“ (1817) und „Die Staatslehre oder über das Verhältniß des Urstaates zum Vernunftreiche“ aus dem Sommer 1813 (1820), den zweiten Abschnitt derselben bildet „Der Begriff des wahren Krieges“. Diese Vorlesung hängt mit den „Grundzügen“ und den „Reden“ genau zusammen, sie will jenen Widerstreit der Rechtslehre lösen, nach welchem das Freiheitsgesetz als Zwangsgesetz herrscht, der Zwang widerspricht der Freiheit, es muß daher ein Mittel geben, den Zwang entbehrlich zu machen durch Beseitigung der strafwürdigen Motive, dieses Mittel besteht allein in der Erziehung. Wie einst Lessing diesen Begriff angewendet hatte auf die geoffenbarte Religion, so wendet ihn F. an auf die ganze Entwicklung der Menschheit und insbesondere auf den Staat. Zwanzig Jahre nach Fichte’s Tode erschien sein Nachlaß in 3 Bänden, herausgegeben von dem Sohn J. H. Fichte (Bonn 1834). Eine Gesammtausgabe in 3 Abtheilungen und 8 Bänden (zu denen der eben erwähnte Nachlaß hinzukommt) erschien in einer wenig kritischen Ordnung von der Hand des Sohnes, Berlin 1845. 46.

Aufgabe und Thema der Fichte’schen Lehre erhellen aus der Kantischen. Was Kant, indem er die Thatsache der Erkenntniß in ihre Bedingungen auflöste, inductiv gefunden, soll jetzt deductiv hergeleitet werden; die Vernunftvermögen, die in der Thatsache der Erkenntniß als ihrem gemeinsamen Producte zusammentreffen, müssen aus einem gemeinsamen Vernunftprincip hervorgehen. Diese Deduction ist die Aufgabe, die C. L. Reinhold, Sal. Maimon, Sig. Beck vorschwebte und die F. in ihrem ganzen Umfange ergreift und zu einer entscheidenden Lösung bringt. Sein Thema ist die Entstehung und Entwicklung des Bewußtseins, des Wissens, des Geistes. Darum nennt er seinen Standpunkt, den er mit dem Geiste der Kantischen Philosophie völlig identificirt, „Wissenschaftslehre“. Nun besteht alle Entwicklung des Geistes darin, daß derselbe, was er ist und thut, auch einsieht und durchdringt; er verwandelt seinen Zustand in seinen Gegenstand und erhebt sich dadurch von einer niederen Stufe seines Handelns auf eine höhere nur dadurch. In einer solchen fortschreitenden Erhebung besteht das geistige Entwicklungsgesetz; es gilt vom Einzelnen, wie vom Ganzen, von den geistigen Lebensstufen des Individuums, wie von den Culturstufen der Menschheit, von den Lebensaltern wie von den Weltaltern. Dieses Entwicklungsgesetz hat F. entdeckt, die Begründung und Durchführung desselben bildet den Inhalt seiner ganzen Lehre, die in diesem Punkte, der die Hauptsache ist, stets dieselbe geblieben. Das Entwicklungsgesetz selbst ist höchst einfach. Um sein eigenes Sein und Handeln zu erkennen, muß man auf das eigene Thun reflectiren. Das Entwicklungsgesetz ist daher gleich dem Reflexionsgesetz. Es ist in einer Thätigkeit begründet, die sich selbst zum Gegenstand hat, die auf sich selbst zurückgeht, wodurch allein ein Subject zu Stande kommt, für welches jeder seiner Zustände Gegenstand wird, das in dem, was es ist oder thut, auch für sich sein will. Ein solches Subject, das sich selbst einleuchtet, ist allein das Selbstbewußtsein oder Ich. Daher ist das Ich oder die ursprüngliche Thathandlung, wodurch es entsteht, das Princip der Fichte’schen Wissenschaftslehre. Was das Ich ist oder thut, muß es für sich sein, es muß sich selbst gleichkommen, daher auf seine Thätigkeit reflectiren und diese Reflexion steigern, bis es sich selbst vollkommen einleuchtet. Daher kann jenes Entwicklungs- oder Reflexionsgesetz [769] auch in der Formel: “Ich=Ich“ ausgedrückt werden. Diese Formel enthält eine Reihe nothwendiger Handlungen oder Entwicklungsstufen, die auszurechnen die Aufgabe, gleichsam das ABC der Wissenschaftslehre ist. Daher heißt ihre Grundfrage: Welche Handlungen sind nothwendig zum Ich? Welches sind die Handlungen, ohne welche das Ich, das Selbstbewußtsein in seinem vollen Umfange nicht zu Stande kommen kann? Was Kant in Rücksicht auf die Thatsache der Erfahrung frägt und beweist, genau dasselbe frägt und beweist F. in Rücksicht auf die Thathandlungen, die das Ich oder Selbstbewußtsein ausmachen und die Thatsache der Erfahrung oder des empirischen Bewußtseins erzeugen. Es ist leicht zu sehen, daß eine Thätigkeit, die auf sich selbst reflectirt, in einer nothwendigen Entgegensetzung besteht und die Auflösung dieses in ihr enthaltenen Gegensatzes zur Aufgabe hat; demgemäß muß die Wissenschaftslehre, indem sie die Handlungen des Ich darstellt, ihre Methode einrichten, deren fortgesetztes Schema daher in Setzung, Entgegensetzung und Vereinigung (Thesis, Antithesis und Synthesis) besteht. Es ist damit nichts anderes ausgedrückt als die Grundform aller Selbstentwicklung: das Gesetz der Entwicklung ist der Inhalt, die Methode der Entwicklung die Form der Fichte’schen Philosophie.

Aus diesen einfachen Grundzügen, die den Typus der Fichte’schen Philosophie bestimmen und nur selten richtig gewürdigt werden, läßt sich die Bedeutung der Lehre und des Philosophen erkennen. Die gewöhnliche Auffassung und Darstellung treibt sich in dem „Ich“ und „Nicht-Ich“ herum, ohne zu wissen, was diese Dinge bedeuten. Das Ich ist eine Entwicklungsgeschichte, die Wissenschaftslehre ist deren Darstellung oder Abbild; sie verhält sich zu ihrem Object, wie der Historiograph zur Historie. Wenn das Ich, was es ist oder thut, mit einem Male durchschauen und sich erleuchten könnte, so wäre alles mit einem Schlage klar, und es gäbe keine Entwicklung; aber, in einer Thätigkeit begriffen, können wir nicht zugleich auf dieselbe reflectiren: darum zerlegt sich das Ich in eine Reihe von Entwicklungsstufen; auf der höheren wird ins Bewußtsein erhoben (intelligirt), was auf der niederen reflexionslos geschah oder producirt wurde. Hier ist eine der wichtigsten und originellsten Einsichten der Fichte’schen Philosophie: die bewußtlose Production (das Unbewußte) gehört zum Ich. Kein Ich ohne Entwicklung, keine Entwicklung ohne bewußtlose Production; die letztere ist, in ihrem ganzen Umfange genommen, Natur, sie ist im Unterschiede vom Ich als Selbstbewußtsein Nicht-Ich. Die Natur gehört in die Entwicklung des Geistes als eine nothwendige Stufe, sie bildet einen Theil oder eine Periode dieser Entwicklung. Sie ist das werdende Ich, der bewußtlose Geist, die Production der Intelligenz. Jetzt sieht jedermann, was es in der Wissenschaftslehre mit der Setzung des Nicht-Ich, mit dem „Nicht-Ich im Ich“, mit dem „theilbaren Ich und Nicht-Ich“ für eine Bewandtniß hat: diese „Theilbarkeit“ ist nichts anderes als die Entwicklungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Geistes, der aus der Natur als seiner eigenen bewußtlosen Thätigkeit hervorgeht. Das Ich ist theilbar, d. h. es zerlegt sich in Stufen; eine Reihe dieser Stufen besteht in der Natur, im Nicht-Ich, d. h. in der objectiven Welt, die das selbstbewußte Ich sich gegenüberstellt oder von sich unterscheidet. Was außer dem Bewußtsein (Ich) ist, ist das Unbewußte, das nothwendig zum Bewußtsein gehört. Daher gibt es nichts von Ich Unabhängiges. In diesem Sinne gilt der Satz: „Das Ich ist Alles.“

Aus der Wissenschaftslehre gehen zwei große Probleme hervor, die mit voller Deutlichkeit in ihr angelegt und enthalten sind: die Entwicklungsgeschichte der Natur und die des Geistes (der Menschheit), jenes ist das naturphilosophische, dieses das geschichtsphilosophische Problem; die erste Frage bildet das ursprüngliche [770] Thema Schelling’s, die zweite das durchgängige Thema Hegel’s, die beide auch in der methodischen Lösung dieser Aufgaben von der Wissenschaftslehre ausgehen und von ihr abhängig sind. F. selbst hat das naturphilosophische Problem nicht, das geschichtsphilosophische nur in den ersten Umrissen zu lösen gesucht. Sein Thema zerlegt sich in vier Hauptfragen, die in ihrer Reihenfolge zugleich die Entwicklungsgeschichte des Philosophen selbst enthalten, denn er beginnt nicht mit einem fertigen System, sondern seine Lehre entwickelt sich mit ihm selbst, indem sie sich immer tiefer begründet. Alle Veränderung, welche die Lehre erfährt, ist zunehmende Vertiefung. Jene Hauptfragen sind: 1) Worin bestehen die ursprünglichen Handlungen, die das Wesen des Ich ausmachen? 2) Worin besteht die Entwicklung des vorstellenden oder theoretischen Ich? 3) Was treibt diese ganze Entwicklung? 4) Wie vollendet sich dieselbe? Die erste Frage wird gelöst in der „Grundlegung der gesammten Wissenschaftslehre“, die zweite in der „theoretischen“, die dritte in der „praktischen Wissenschaftslehre“, auf welche die „Rechts“- und die „Sittenlehre“ sich gründen, die vierte in der „Religionslehre“.

Der Nerv des Systems liegt in der dritten Frage. Was die Entwicklung des Ichs treibt, begründet sie auch: der Trieb zur Entwicklung, der die Reflexion steigert, die Vorstellung erhöht und von jeder gegebenen, Stufe losreißt, bis das volle Selbstbewußtsein und mit ihm die Geistesfreiheit erreicht ist, dieser Trieb ist ein fortgesetztes unendliches Streben, Wille, praktisches Ich. Daher ist das praktische Ich der Grund des theoretischen, die sittliche Welt das eigentliche Element der Fichte’schen Philosophie und die Sittenlehre deren Hauptgebäude. Frägt man nach dem Ziele des Strebens, so kann dieses nur die Freiheit von der Welt, die absolute Lauterkeit der Gesinnung und des Willens sein, die das Wesen nicht bloß des sittlichen, sondern des „seligen oder religiösen Lebens“ ausmacht. Daher die Religionslehre die Vollendung des Ganzen. Das Thema der Welt ist Geistesentwicklung und Geistesläuterung, mit einem Worte Befreiung. Zur Läuterung gehört als nothwendige Voraussetzung die Gebundenheit und Unfreiheit des Geistes, als nothwendiges Ziel die Lauterkeit; daher ist die Natur (Sinnenwelt) die Bedingung, die Religion die Vollendung.

In der Grundlegung der Wissenschaftslehre ist F. der Schüler Kant’s, in seiner Entwicklungslehre der Vorgänger Schelling’s und Hegel’s, in seiner Religionslehre berührt er sich mit Jacobi und Schleiermacher, in der Lehre von der bewußtlosen Production, die das Wesen der Natur und des Genies ausmacht, liegt seine Geistesverwandtschaft mit Fr. Schlegel und den Romantikern. Darin, daß F. zuerst den Willen als Entwicklungstrieb, als den Factor erkannt hat, der das vorstellende Leben (Intellect) hervorruft und steigert, ist er nicht blos der Vorgänger, sondern der Begründer derjenigen Lehre, die für Schopenhauer’s Originalsystem gilt.

Auf die geistige Entwicklungslehre gründet sich die menschliche Erziehungslehre und Erziehungskunst, denn diese erfüllt nur dann ihre Aufgabe, wenn sie die natur- und vernunftgemäße Entwicklung des Geistes planmäßig und richtig leitet. Wir verstehen ein Object nur in dem Maße, als wir im Stande sind, dasselbe zu erzeugen und in unsere eigene Thätigkeit zu verwandeln, welche letztere uns unmittelbar einleuchtet oder Gegenstand unserer „Anschauung“ ist. Daher ist aller wahre Unterricht Anschauungsunterricht, alle wahre Erziehung ein planmäßiges Steigern der Anschauung. Hier ist der von F. tief und energisch empfundene Zusammenhang zwischen ihm und J. H. Pestalozzi, zwischen der Wissenschaftslehre und der Reform der Volkserziehung. Was Pestalozzi nur in Absicht auf das niedere, verwahrloste Volk bezweckt und geleistet hatte, wollte F. in erweitertem Sinne anerkannt und angewendet wissen auf die gesammte Nation. Der Plan einer neuen Nationalerziehung, der von innen heraus den deutschen [771] Volksgeist erneuen und ausrichten sollte, bildete das Thema seiner „Reden an die deutsche Nation“. Ueberhaupt herrscht in Fichte’s Gemüthsart und Lehre ein mächtiger Erziehungsdrang, dem die Kantische Philosophie wie gerufen kam und der bei der Ueberkraft seiner Natur mitunter auch gewaltsam ausbrach, weniger erziehend als zwingend. Er bezweckte von Anfang an durch seine Lehre eine sittliche Steigerung der Welt, eine Charaktererhöhung des Zeitalters, insbesondere der studirenden Jugend und der Gelehrten; er hat dieses Ziel immer als die höchste seiner Wirkungen und Pflichterfüllungen erstrebt und zuletzt in der Wiedergeburt des deutschen Volkes gesucht und gefunden. Diese Absicht und diese Kraft hat seiner Lehre einen unwiderstehlichen Schwung verliehen, sie hat diesen Denker, einen der schwierigsten und unverstandensten Philosophen, zum großen Redner, zum unvergeßlichen Patrioten, zu einem der populärsten Männer gemacht, den die Nachwelt nie aufhören wird zu feiern.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. in der Vorlage: Gundlage