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ADB:Glarean, Heinrich

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Artikel „Glareanus, Henricus“ von Ludwig Geiger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 210–213, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Glarean,_Heinrich&oldid=- (Version vom 21. Dezember 2024, 23:11 Uhr UTC)
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Glareanus: Henricus G., mit seinem eigentlichen Namen Heinrich Loriti aus Glarus, geb. im Juni 1488 im schweizerischen Canton Glarus, † am 27. März 1563 in Freiburg im Br., ein bedeutender Humanist, Musikkenner und Geograph, dessen eigenthümliche selbständige Entwicklung sich von der seiner meisten Genossen vortheilhaft unterscheidet. G. wurde von seinen Eltern in seinen jungen Jahren zum Viehhüten gebraucht, empfing den ersten Unterricht, auch in der Musik, in der Schule des Michael Rubellus in Bern, mit welchem er nach Rottweil übersiedelte und bezog im Juni 1506 die Kölner Universität. Seine anfängliche Neigung, Theologie zu studiren, gab er bald auf und begann an dieser Universität, die damals eine Stätte gesunder geistiger Entwicklung war, während sie später als Heerd krankhafter Bestrebungen und geistloser Verkümmerung verketzert werden sollte, humanistische Studien. Er war von Hermann Busch und dessen Gedicht Flora (vgl. oben Bd. III. S. 638) [211] begeistert, das er 1554 neu herausgab und betheiligte sich, nachdem er anfangs mit Ortuin Gratius und dessen Genossen gut gestanden hatte, lebhaft an dem größtentheils gegen dieselben gerichteten Reuchlin’schen Streite (1514). Diese seine Betheiligung bestand hauptsächlich in Werbung von Freunden, heftigen Declamationen gegen die Feinde, Ergebenheitsversicherungen an Reuchlin, wegen deren er auch in den Reuchlinistencatalog gesetzt wurde. Daß G. auch eine Schrift gegen die Theologen gerichtet: „Contra sentimentum Parrhisiense“, wie Böcking, Opp. Hutt. (VI. 318 ff., VII. 380) behauptet, ist nicht wahrscheinlich (vgl. Gött. gel. Anz. 1871, S. 62). Zwei Jahre vor seiner Antheilnahme am Reuchlin’schen Streite 1512 hatte er, bei Anwesenheit des Kaisers Maximilian in Köln ein Gedicht veröffentlicht: „In divi Maximiliani imperatoris laudem et praeconium“ (1512), das ihm großes Lob und vom Kaiser den poetischen Lorbeerkranz verschaffte, den er hochhielt und Anderen zu ertheilen noch in späten Jahren Miene machte. Das Verhalten der Kölner in dem genannten Streite hatte ihm den Aufenthalt in Köln verleidet und veranlaßte ihn, 1514 nach Basel zu ziehen. Dort traf er mit Erasmus zusammen, der auf ihn, wie auf so viele andere Jünglinge von mächtigem Einflusse war. Trotzdem das persönliche Verhältniß Beider zwischen begeisterter Anhänglichkeit, lauer Gleichgültigkeit, ja bisweilen gehässiger Abneigung schwankte, so daß G. 1519 den Erasmus geradezu eines litterarischen Diebstahls, nämlich der Veröffentlichung seiner Mittheilungen über die richtige Aussprache des Griechischen bezichtigte und Erasmus den G. in seinem Testamente 1536 nicht mit der geringsten Gabe bedachte, ein Schwanken, das sich durch die Unverträglichkeit der beiden Charaktere, der keinen Widerspruch und keine Selbständigkeit duldenden Eitelkeit des Erasmus und Glareanus’ raschen und jähzornigen Wesens erklärt, so wird Glareanus’ geistige Richtung von nun an vollkommen und beständig durch Erasmus bestimmt. Durch ihn wurde er zu der einseitigen Pflege der humanistischen Studien geführt, welche die Jünger des Erasmus von den übrigen Zeitgenossen so wesentlich unterscheidet; durch ihn zur Abneigung gegen die reformatorischen Tendenzen, weil dieselben die Entfaltung der Wissenschaften gefährdeten und den Gelehrten aus der stillen Studirstube zum lauten Kampfe mit streitlustigem Volk herausriefen. Diese Abneigung hat G. sein Leben lang behalten, sie in Briefen, Reden und Gesprächen zum lebhaftesten Ausdruck gebracht, selbst nahe Verwandte, die der Neuerung verdächtig waren, bitter gehöhnt, intime Freunde, die in der Reihe der Reformatoren kämpften, verlassen: z. B. Ulrich Zwingli, dem er seit 1508 innig ergeben war, dem er alle seine Gedanken und Bestrebungen in Briefen mitgetheilt, eine kleine Schrift („Duo elegiarum libri“) 1516 gewidmet, noch bei dem ersten Zürcher Religionsgespräch zugejubelt hatte, und Oswald Mykonius, den er etwa seit 1517 zum Vertrauten erhoben und den er häufig zu seinem Mitarbeiter zu machen gewünscht hatte. Der Pflege der humanistischen Studien blieb er gleichfalls während seines ganzen Lebens treu und zwar theils durch Ausgaben von und Anmerkungen zu römischen und griechischen Schriftstellern, unter denen seine Arbeiten über Livius (1531 Zeitrechnung des Livius, 1540 Anmerkungen zu demselben, über deren Werth er 1555 mit seinem Angreifer Paulus Sigonius in einen litterarischen Streit gerieth, später wurden Glareanus’ Bemühungen von Drakenborch und Niebuhr anerkannt) besonders hervorragen, theils durch Unterricht, den er privatim jungen Leuten ertheilte, die er in sein Haus aufnahm, im Auslande besonders Schweizern, die sich zu ihm, so lange er jung war, drängten, theils durch öffentliche Vorlesungen an der Universität. So lebte er 1514–17 in Basel, seinen dortigen Aufenthalt nur durch ein kurzes Verweilen in Pavia unterbrechend, wo er ein versprochenes Stipendium des Herzogs von Mailand vergeblich erwartete, bis 1522 in Paris, durch ein königl. [212] Stipendium unterstützt, wo er z. B. den belehrenden Umgang des Wilhelm Budaeus genoß, dessen Unterweisungen er später in seinem „Liber de geographia“ benutzte (Bemerkungen über das römische Maß) und ein kleines Büchlein „De supputandi usu“ für seine schweizer Schüler schrieb, das er erst viele Jahre später veröffentlichte, und die Professur des Faustus Andrelinus angeboten erhielt, aber nicht annahm (Brief an Bruno Amerbach, 1518, Basel, Handschr.). Von 1522–29 lebte er in Basel, ohne die rechte lebhaft von ihm gewünschte Fühlung mit der Universität und durch die Durchführung der Reformation zum Scheiden aus dieser Stadt veranlaßt, von 1529 bis zu seinem Tode in Freiburg im Br., wo er als Professor der Poesie angestellt war, stets als heftiger Gegner der religiösen Neuerungen sich zeigte und erst als 72jähriger, 1560 von seiner öffentlichen Thätigkeit zurücktrat. Er hatte sich 1522 verheirathet und trat, nachdem seine erste Frau 1539 gestorben war, 1543 in die zweite Ehe und zwar mit der Wittwe des früher von ihm verspotteten Basler Dr. Wonnecker, hinterließ aber aus beiden Ehen keine Kinder. An Stelle der von ihm verlassenen Freunde wurde in seinen letzten Lebensjahren Aegidius Tschudi der vertraute Freund und innig verbundene Gesinnungsgenosse Glareans. G. unterscheidet sich, obwol er, wie wir sehen, selbst eifrig den humanistischen Ideen ergeben ist, von den übrigen Humanisten durch drei Punkte, 1) durch seinen specifisch schweizerischen Patriotismus, 2) durch seine wissenschaftliche Bearbeitung der Geographie und 3) durch seine Pflege der Musik. Gegenüber dem urdeutschen Patriotismus der übrigen Humanisten verleugnet G. selbst in seinem Lobgedicht auf den Kaiser Maximilian den Schweizer nicht, indem er den Kaiser wegen seines Bündnisses mit den Schweizern beglückwünscht; während jene gerne von einer Vergrößerung Deutschlands träumten, hofft er, daß das rechte Ufer des Rheines und der Schwarzwald noch einmal der Schweiz zufallen würden; schon 1510 begann er ein größeres Heldengedicht über eines der bedeutendsten Schweizer Nationalereignisse, den Sieg der Schweizer bei Näfels, hat aber freilich sein Gedicht weder vollendet noch veröffentlicht. Durch diesen seinen Patriotismus wurde er dazu geführt, sein Land geographisch zu beschreiben. Er that dies in der kleinen poetischen Schrift „Helvetia descriptio et in laudatissimum Helvetiorum foedus Panegyricum“, die zuerst Basel 1515 erschien und mit einem Commentar des Oswald Mykonius auch in Schard, SS. rer. Germ. abgedruckt ist. Als ein erster Versuch ist der erste, nach dem Muster Strabo’s gearbeitete Theil der Schrift anerkennenswerth, als Ausdruck patriotischer Gesinnung ist der zweite Theil löblich; in dem ersteren ist die sagitta des „Guilielmus“ erwähnt, der dann im zweiten gelegentlich mit Brutus verglichen wird, in dem letzteren ein ideales Bild der Schweizer gegeben und der Schilderung mancherlei Mahnungen und Rathschläge beigefügt. Bedeutender als diese erste, ist Glareanus’ zweite Schrift „De Geographia liber unus“ (zuerst Basel 1527), aus der wol die „Compendiaria Asiae. Africae. Europaeque descriptio“. Paris 1554, ein Auszug ist. Denn eine solche Beschreibung macht in der That die zweite kleinere Hälfte des genannten Buches aus, eine Beschreibung, die strenge Ptolemäus und Strabo folgt und nur wenig eigene Zusätze macht, die Schweiz gar nicht erwähnt, in Deutschland nur die Städte: Nürnberg, Erfurt, Prag, Breslau, Lübeck nennt, bei England Heinrich VIII. und seines günstigen Einflusses auf die Kultur gedenkt (man sieht den Einfluß des Erasmus), Roma als caput Europae bezeichnet und von Afrika meldet: Ad sectionem Nili, ubi Delta efficit, Babylon est. Nur das Schlußcapitel handelt „De regionibus extra Ptolemaeum“: hier eine Erwähnung Amerikas, aber wirklich nur mit einem Worte; die Frage, ob in einigen Versen (Virgil’s Aeneide, Buch 6) diese Länder angedeutet sind, interessirt unsern Verfasser mehr als die Entdeckungen selbst, ferner [213] die Inseln Java, Madagaskar. Der erste größere Theil des Buches enthält das, was wir mathematische und physische Geographie nennen; letztere wird mit einem Worte abgethan, unter Verweisung auf das Werk des Freundes Joh. Cochläus; erstere wird ausführlich besprochen und Erd- und Himmelsbeschreibung durch größere und kleinere Zeichnungen und Tabellen (z. B. über geographische Länge und Breite verschiedener Punkte, für Deutschland Köln und die Rheinmündung) erläutert. Doch ist die Darstellung ziemlich unklar und wimmelt von Fehlern, deren Aufzählung Raumverschwendung wäre. Die Schrift ist dem Joh. v. Lasko, einem Freunde des Erasmus gewidmet. Noch wichtiger ist sein musikalisches Werk: „Dodekachordon“ (Basel 1547), ein stattlicher Foliant. G. bemühte sich in demselben, die herrschende Meinung, daß es nur 8 Tonarten gäbe, zu bekämpfen und die Existenz von 12, welche den Arten der alten griechischen Musik entsprächen, zu beweisen und hat diese Aufgabe mit großer Gelehrsamkeit, mit liebevoller Hingabe an den Stoff gelöst. Er widmete sein Werk dem Cardinal Otto v. Waldburg und hob in seinem Widmungsschreiben besonders hervor, daß er nicht eine neue Theorie vorbringe, sondern eine alte, aber vernachlässigte und verdunkelte lehre. Er theilte sein Werk in drei Bücher, gab in dem ersten eine vollständige Umarbeitung seiner vor 30 Jahren erschienenen Schrift „Isagoge in musicen“ (Basel 1516), nämlich eine Auseinandersetzung der alten Lehre von den üblichen 8 Tönen; in dem zweiten seine Bekämpfung der älteren Ansicht und die Darlegung der seinigen; in dem dritten vornemlich eine Sammlung von Proben aus den Componisten des 15. und des 16. Jahrhunderts, eine Sammlung, die wegen der Seltenheit jener Compositionen für die Geschichte der Musik von außerordentlichem Werthe ist. Unter diesen Compositionen befindet sich auch die einiger horazischer Oden, die von G. selbst herrührt (S. 181), wie er denn auch, nach seinem eigenen Bericht (S. 48), ein musikalisches Instrument construirt hat; als Beigabe findet sich ein Gedicht an Joh. Cochläus, den G. als seinen Lehrer rühmt (S. 194); auf die Widmung folgt ein interessantes Verzeichniß der benutzten Schriftsteller, unter welchen natürlich Erasmus nicht fehlt. Gern erwähnt er die Musiker, die er persönlich kannte, z. B. den Franzosen Joh. Mouton, er verwahrt sich ausdrücklich gegen alle frivolen und leichtfertigen Gesänge; den ernsten und gottgeweihten erhebt er als den einzig würdigen. Glareans Werk erlangte sehr großen Beifall, es wurde schon bei seinen Lebzeiten und dann nach seinem Tode vielfach benutzt; lateinische und deutsche Auszüge aus demselben verfertigt. Zu einer von ihm vorbereiteten Ausgabe der Werke des Boetius, die aber erst nach seinem Tode, 1570, erschien, hat er musikalische Zeichen hinzugefügt. Der Vollständigkeit wegen mag auch seine Schrift: „De sex arithmetica practicae speciebus“ erwähnt sein. Außer seinen wissenschaftlichen Leistungen ist G. noch durch seine stark ausgebildete Persönlichkeit bemerkenswerth: er war heftig, aufbrausend, voll Witz und seltsamer Launen, sodaß seine Witzworte und Späße gesammelt und weitererzählt wurden. Kampflustig und streitgewandt, trotz seiner großen Bildung abergläubisch, trotz seiner wirklich großen Gelehrsamkeit bescheiden, bezeichnete er doch selbst einmal die „Mittelmäßigkeit“ als die ihn in allem charakterisirende Eigenschaft, trotz seines deutsch-schweizerischen Patriotismus nur Anhänger der lateinischen und Verächter der deutschen Sprache, die er nur zum Schimpfen für gut genug hielt.

H. Schreiber, Heinrich Loriti Glareanus, seine Freunde und seine Zeit, Freiburg 1837. Derselbe, Geschichte der Universität Freiburg im Br., I. Bd. 1868, S. 178–84. Fétis, Biogr. un. IV. S. 19–23.