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ADB:Hirzel, Konrad Melchior

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Artikel „Hirzel, Konrad Melchior“ von Gerold Meyer von Knonau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 12 (1880), S. 494–497, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hirzel,_Konrad_Melchior&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 23:54 Uhr UTC)
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Hirzel: Konrad Melchior H., schweizerischer Staatsmann, geboren am 31. August 1793, † am 8. Juli 1843 in Zürich. Früh verwaist, hatte H. seine Erziehung zumeist außerhalb seiner Vaterstadt empfangen, in Heidelberg dann von den theologischen Studien hinweg den juristischen und philosophischen sich zugewandt. 1813 nach Zürich zurückgekehrt, widmete er sich zuerst einige [495] Jahre dem Berufe der Advocatur, arbeitete dann als Secretär des Justiz- und Polizeiwesens und hielt daneben juristische Vorlesungen am politischen Institut. 1823 übernahm H., als Oberamtmann für das Amt Knonau bestellt, die Leitung des südwestlichsten Theiles des Kantons und erhielt dabei die Gelegenheit, seine anregende Kraft und seine administrativen Talente zu bethätigen. Als Begründer einer gemeinnützigen Bezirksgesellschaft, als Förderer der Schule, des Gewerbfleißes, der Anlegung von Straßen, wohlthätig wirksam auf den verschiedensten Gebieten, wurde er mit Recht eine wirklich populäre Persönlichkeit. Aber daneben glühte der von humanen Ideen erfüllte Philanthrop auch für anderweitige Besserungen, und der unter seiner Mitwirkung geschaffene zürcherische Griechenverein trug ihm das hellenische Ehrenbürgerrecht ein. 1830 hielt er sich zunächst bei der Anbahnung der politischen Umgestaltung zurück, war dann aber schon im Winter auf 1831 Mitglied der die neue Verfassung vorbereitenden Commission und der Gesandtschaft an die außerordentliche Tagsatzung, 1831 nach Annahme der Verfassung Mitglied des neu bestellten Regierungsrathes. In demselben übernahm er das Erziehungswesen und warf sich nun mit seiner ganzen Arbeitskraft und schwärmerischen Begeisterung auf dieses Feld, auf dem er, unterstützt durch vorzügliche anderweitige Kräfte, in allen Theilen des Unterrichts bis zur Spitze der 1833 geschaffenen Hochschule hinauf eine gründliche, über die kantonalen Grenzen hinaus wirksam anregende Aenderung zu Stande brachte. Außerdem bestellte ihn der Große Rath 1832 (s. d. Art. J. Heß) zum ersten Bürgermeister. Auch auf dem Boden der allgemein eidgenössischen Fragen war seine Hand spürbar; mit Kasimir Pfyffer und den Vertretern der anderen neu gestalteten Kantone auf der Tagsatzung in Luzern rief er im Frühjahr 1832 das Concordat über die gegenseitige Garantie der regenerirten Verfassungen in das Leben, ein Vorgehen, das durch die große Mehrheit des zürcherischen Großen Rathes, unter Anknüpfung des Danks an die Tagsatzungsgesandten, in der Annahme dieses Siebener-Concordates am 11. April anerkannt wurde, und zugleich verbanden sich hiermit die Pläne einer Neugestaltung der Bundesverfassung. Nachdem dieselbe am 17. Juli durch die Tagsatzung beschlossen worden, sah sich H. als Vertreter Zürichs unter die 15 Glieder der Revisionscommission gewählt; innerhalb derselben schloß er sich der Gruppe an, welche für eine Reform nach größeren Umrissen eintrat. Allein nachdem schon durch die Tagsatzung der Bundesentwurf Einschränkungen erlitten hatte, wurde der Revision im Jahr 1833 durch die mißglückte kantonale Abstimmung in Luzern der Boden vollends entzogen, und der Versuch eines vorörtlichen Kreisschreibens mit der Eröffnung verschiedener Perspectiven für das folgende Jahr 1834, in welchem H. das Bundespräsidium übernahm, zeigte nach des scharf beobachtenden Baumgartner Urtheil „wohl gute Meinung, politische Weisheit wenig“, sodaß ein Antrag, im Frühling 1834 von dem durch H. geführten Vororte eingebracht, schon fast einem Aufgeben der Revision überhaupt gleich kam. Auch die schwankende Nachgiebigkeit in der Angelegenheit der Fremden, welche die Diplomatie nur zu gesteigerten Forderungen aufmunterte, wurde H. zum Vorwurfe gemacht. Wenn auch die Tagsatzung im Juli den gewählten Maßnahmen zustimmte, so war dagegen Hirzel’s eigener College Heß (s. d. Art.) durch „des Collegen heftiges, stürmisches, gehorsames Treiben zu Gunsten der sogenannten Wohlfahrt des Landes, unter der Alles verstanden wird, nur nicht Ehre und Unabhängigkeit“, tief gekränkt, und der durch die äußeren Fragen herbeigeführte Hader mit Bern legte nun die Bundesrevision vollends lahm. Aber auch im Schoße der zürcherischen Regierung selbst waren in diesem Jahre über den Fragen der vorörtlichen Politik tiefere Meinungsverschiedenheiten hervorgetreten, welche ihre Nachwirkung in der Zukunft auch auf anderen Gebieten fanden, und [496] die geistigen Führer des Großen Rathes, die Juristen Keller und Ulrich mit ihrer Parteigruppe, setzten sich mehrfach in bewußten Gegensatz gegen H. und dessen Leitung der Regierungsangelegenheiten. In einer wichtigen Frage freilich gelang es hinwieder H., sich mit der Majorität der öffentlichen Meinung im Kanton in besserer Fühlung zu erhalten, als diese in erster Linie für die Capacitäten der zürcherischen Regeneration sich ansehenden Politiker. Indem nämlich 1837, in dem verfassungsmäßigen Revisionsjahr, wo H. neben Heß zweiter Bürgermeister war, die Frage der Einführung gänzlicher Rechtsgleichheit zwischen Stadt und Landschaft spruchreif wurde, trat er entschieden für dieselbe ein. Jene radicalen Doctrinäre dagegen, obschon sonst ihren städtischen Mitbürgern denkbar stark entgegengesetzt, stemmten sich zugleich mit diesen stadtzürcherischen Elementen wider jene Verfassungsänderung als eine ochlokratische Gefahren in sich bergende Maßregel, so daß sie sich selbst der bisherigen weitreichenden Einwirkung auf die öffentliche Meinung beraubten und, als diese Demokratisirung dennoch durchging, 1838 bei der Integralerneuerung des Großen Rathes nur noch durch die indirecten Nachwahlen in die früher von ihnen beherrschte Legislative hineingelangten. – Für einen anderen Wendepunkt der kantonalen Entwickelung hatte freilich H. nunmehr ebenso wenig eine richtige Einsicht in die Situation. Die eifrig neuentwickelnde, schöpferische Thätigkeit der Regierung war allmählig die Quelle von allerlei Bedenken, von Regungen des Zweifels über die Zweckmäßigkeit, von Mißmuth und Unzufriedenheit geworden. Jener Widerwille gegen die leitenden Kräfte, wie er 1838 in den erwähnten Neuwahlen hervortrat, galt andererseits in steigendem Maße einem gerade von H. glühend eifrig erfaßten Gebiete: gegen das von ihm in überfließendem Schaffensdrange besorgte Unterrichtswesen war Abneigung theils erwachsen, theils genährt, und man war sehr geneigt, die von Furcht erfüllten Gesinnungen, voran gegen die neue Volksschule und ihren Mittelpunkt und Meister, das Lehrerseminar in Küßnach und dessen Director Scherr, einen jener in das Land gezogenen und mit Mißtrauen betrachteten „Fremden“, auch auf H. zu übertragen. Dazu kam, daß in einem Momente, wo ohnehin der Vorrang zwischen Kirche oder Schule hinsichtlich der Beachtung von staatlicher Seite in Frage lag, H. selbst, entgegen einer früher getroffenen Entscheidung, sich bestimmt voranstellte. Während nämlich 1836, als es sich darum handelte, als bedeutende Kraft für die Hochschule neben Schönlein und Oken auch den Verfasser des Lebens Jesu für den Ausbau der freien Wissenschaft heranzuziehen, H. in seiner Stellung als Präsident des Erziehungsrathes gegen die Berufung von Dr. Strauß sich erklärt hatte, wog nun in dem Manne das Gefühl einer andern Stimmung vor. Als am 26. Jan. 1839 die Frage über die Wiederbesetzung der Professur der Dogmatik im Erziehungsrathe zur Abstimmung kam, gab H. bei Stimmengleichheit als Präsident den Ausschlag für die Berufung von Strauß, und damit war für den längst vorauszusehenden Sturm das allgemeine Schlagwort gefunden. Als nach wenigen Tagen Antistes Füßli im Großen Rathe der Kirche einen gesetzlichen Einfluß auf die Wahl der Theologie-Professoren zu erringen sich anschickte, stellte sich H. vollends in der Discussion, in langem Vortrage eine neue Reformation der zürcherischen Kirche verkündigend, dem „Buchstabenglauben“ gegenüber. Doch gegen den von ihm proclamirten „Denkglauben“ richtete sich gleich mit Mitte Februar, gestützt auf eine immer allgemeinere populäre Zustimmung, eine wohl gegliederte Verbindung „zur Sicherung des christlichen Glaubens in Kirche und Schule“. Daß in H. als dem zweiten Bürgermeister des Jahres die dergestalt angefeindete Sache der Berufung von Strauß ihren unmittelbaren Ausdruck fand, daß auf ihn in erster Linie, so als er seinen ungehört verhallenden Ruf an seine „Mitmenschen im Kanton Zürich“ erließ, Haß und Spott in wohl berechneter [497] Weise gehäuft wurden, mußte das Ansehen der Regierung vollends erschüttern. Mochte nun auch, nachdem die Regierung die Berufung von Strauß bestätigt hatte, zuerst die Verschiebung der wirklichen Einberufung des Professors, dann, gegen die Einsprache des Erziehungsrathes, dessen Pensionirung beschlossen werden, es halfen diese Mittel nicht mehr gegen die siegreiche gegnerische Stimmung: diese specielle Frage war das Signal für die politische Situation geworden, und nur Abdankung des Großen Rathes und der Regierung hätten den bei steigender Erhitzung unvermeidlichen Ausbruch der Leidenschaft verhindern können. Schon im März hatten die von einer Riesenpetition des Centralcomité’s gestützten erweiterten Begehren an den Großen Rath bewiesen, wie sehr das bisher herrschende System zur Vereinzelung gebracht worden sei. Als dann im August die Regierung ungeschickt erst mit amtlichen Widerstandsmitteln hervortrat, hernach alsbald zurückwich und so den Sturm beschleunigte, der am 6. September das System der Regeneration hinwegfegte (s. d. Art. J. J. Heß), stand H. in der ersten Linie der politisch unmöglich gewordenen Persönlichkeiten. Von Luzern, wohin er, flüchtig gleich anderen Häuptern der gestürzten Partei, zuerst gegangen war, zwar bald heimgekehrt, trat er in das Amt eines Procurators zurück. Wol entriß ihn das mit dem Jahre 1842 beginnende Wanken des September-Erfolges durch die Wahl in den Großen Rath wieder der Zurückgezogenheit des Privatlebens; aber zu spät, erst kurz vor seinem Tode, traf ihn die Ernennung in das Obergericht. – H. repräsentirt wol in erster Linie den idealen Schwung, mit seinen Vorzügen und Irrthümern, wie er der neuen Aera von 1830 an, in der Arbeit der Regeneration der schweizerischen Kantone, eigenthümlich war. Baumgartner charakterisirt H. in scharfen Worten als einen „Mann von vielen ausgezeichneten Eigenschaften, der für einen Staatsmann in hoher Stellung doch nicht solid und praktisch genug war“, als eine Erscheinung „von vielseitiger wissenschaftlicher Bildung, frohen und gemüthlichen Wesens, leicht im Auffassen, beflügelt für das Projectiren, enthusiastisch eingenommen für Reformen im Sinne der Fortschrittsideen des Tages und unermüdlich thätig für Ausführung dahin zielender Pläne“.

Einen größeren Nekrolog enthält: Neuer Nekrolog der Deutschen, XXI. Jahrg. 1. Thl. S. 630–635.