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ADB:Händel, Georg Friedrich

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Artikel „Händel, Georg Friedrich“ von Friedrich Chrysander in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 12 (1880), S. 777–793, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:H%C3%A4ndel,_Georg_Friedrich&oldid=- (Version vom 18. November 2024, 21:47 Uhr UTC)
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Händel *): Georg Friedrich H. wurde am 23. Febr. 1685 in Halle a/S. geboren als Sohn des Barbiers und Wundarztes Georg H. aus seiner zweiten Ehe mit Dorothea Tauft, der Tochter des Pastors Georg Tauft zu Giebichenstein bei Halle. Der Vater stand damals bereits im 63. Lebensjahre. Er bestimmte seinen Sohn zum Juristen. In diesem erwachte aber der Musiksinn schon in den frühesten Kinderjahren mit solcher Gewalt, daß der Vater um seine Lebenspläne besorgt wurde und die Musik nach Kräften niederhielt. Die ersten Uebungen konnte der kleine H. daher nur verstohlen an einem Spinett auf der Bodenkammer machen. Eine Anwesenheit in Weißenfels offenbarte den dortigen Hofmusikern, sowie dem Herzoge die erstaunliche Kunst des Kleinen, worauf Vater H. von dem musikliebenden Fürsten ermahnt wurde, der Musik wenigstens einen geordneten Unterricht neben den übrigen Lehrfächern angedeihen zu lassen. Friedrich Wilhelm Zachau, Organist an der L. Frauen- oder Hauptkirche in Halle, ein namhafter Organist und Componist, wurde sein Lehrer, als H. gegen 11 Jahre alt war. Die Reife des Schülers, als er zu Zachau kam, war bisher nicht zu ermessen, ist es aber jetzt durch die 1879 von mir als Bd. XXVII. der Ausgabe der deutschen Händelgesellschaft publicirten 6 Trios, welche componirt wurden unmittelbar bevor er bei Zachau Unterricht nahm. In diesen [778] Stücken, die gleich bewundernswerth sind durch contrapunktische, wie durch melodische Kunst, ist das von Mozart im selben Alter Geschaffene nicht nur erreicht, sondern sogar noch überboten. Er hatte erst kurze Zeit Zachau’s Unterricht genossen als er (wahrscheinlich gegen Ende 1696) mit seinem Vater eine Reise nach Berlin unternahm, wo damals am kurfürstlichen Hofe von namhaften Italienern Opern aufgeführt wurden. Hier traf der kaum 12jährige Knabe mit Attilio Ariosti und mit Giovanni Bononcini zusammen, die später in London seine Rivalen wurden, und bewies sich in der Ausführung eines von dem hochfahrenden Bononcini ihm vorgelegten Basses als ein solcher Meister im Accompagnement, daß allgemeine Verwunderung entstand. Der Kurfürst erbot sich, den Knaben zur Ausbildung nach Italien zu schicken; doch Vater H. lehnte dies ab, denn die juristische Laufbahn stand ihm als die einzig wünschenswerthe vor. Bald nach der Rückkehr von dieser denkwürdigen Reise starb Georg H. in Halle am 11. Februar 1697, im 75. Lebensjahre. Der Sohn verfolgte trotzdem den von dem Vater vorgezeichneten Lebensweg, ohne die Musik hintanzusetzen. Der vier Jahre ältere Telemann erzählt in seiner Autobiographie (gedruckt in Mattheson’s „Ehrenpforte“ S. 354 ff.), wie er 1701 bei seiner Reise durch Halle „mit dem damals schon wichtigen“ H. bekannt wurde und von diesem „beynahe wieder Notengift eingesogen hätte“; es fehlte nicht viel, so wäre er seinem Vorsatze, die Musik ganz aufzugeben, wieder untreu geworden – ein merkwürdiges Geständniß, wenn man bedenkt, daß H. erst 16, Telemann aber schon 20 Jahre alt war. Als dieser ihn kennen lernte, war er Primaner; im nächsten Jahre hatte er das Gymnasium durchlaufen und am 10. Februar 1702 wurde er bei der dortigen Universität als stud. jur. immatriculirt. Zugleich übertrug man ihm das Amt eines Organisten an der reformirten Schloßkirche in seiner Vaterstadt. Die steigende Entwickelung einer unerhörten musikalischen Kraft überzeugte endlich die Seinen, daß der Finger Gottes ihn unverkennbar nur auf dieses Gebiet hinwies. So wurde denn das juristische Studium definitiv aufgegeben, und er zog in die Welt, um zu lernen und zu reifen.

Aber nicht zunächst nach Italien lenkte er seine Schritte, denn es gab damals in Deutschland einen glänzenden Mittelpunkt, auf den alle musikalischen Kräfte des Vaterlandes ihr Auge richteten. Dies war die Oper in Hamburg, für welche Reinhard Keiser der allbewunderte tonangebende Componist war. Hier langte H. im Sommer 1703 an, besuchte die Organisten, spielte auf ihren Instrumenten, sah sich nach Lectionen um und nahm im Opernorchester die Stelle eines zweiten Violinisten an, wobei er sich stellte, „als ob er nicht auf fünfe zählen könnte, wie er denn von Natur zum dürren Scherz sehr geneigt war“, wie Mattheson versichert, der hinzu setzt: „Als es aber einsmahls am Clavierspieler (im Opernorchester) fehlte, ließ er sich bereden, dessen Stelle zu vertreten, und bewies sich als ein Mann“. Auch mit dem berühmten Operntextdichter Postel wurde H. bekannt, dessen Text zur Johannispassion er im J. 1704 in Musik setzte, als das erste größere Werk, welches in Hamburg entstand (gedruckt als Bd. IX der Ausgabe der Händelgesellschaft). Die Unreife in den Sologesängen, wie in der Gruppirung eines größeren Ganzen überwand er dann schnell durch die Vorbilder der Oper, namentlich durch die Stücke von Steffani und Keiser. Bald erhielt er auch den Text einer Oper „Almira“, von dem Cand. der Theologie Feustking nach dem Italienischen deutsch bearbeitet, zur Composition. Die Aufführung sollte vor Weihnacht 1704 stattfinden, als ein Duell mit dem ersten Sänger Johann Mattheson hindernd dazwischen trat, bei welchem H. nur durch einen breiten Rockknopf vor tödtlicher Verwundung bewahrt wurde. Die Oper „Almira“ (gedruckt Bd. LV der Ausgabe) wurde im Januar 1705 gegeben und verbreitete einen solchen Glanz, daß sie das Gestirn [779] Keiser’s momentan verdunkelte. H. componirte dann noch „Nero“ (1705) und etwas später die Doppeloper „Florindo“ und „Daphne“, zog sich aber von dem wüsten hamburgischen Bühnenleben immer mehr zurück. Als seine letzte Oper hier gegeben wurde (Januar und Februar 1708), hatte er sich bereits in Italien einen Namen gemacht. Weil er Hamburg mit einer überlegenen Kunst betrat und dort weder im Contrapunkt, noch im Orgelspiel oder Accompagnement seines gleichen fand, wurde ihm dieser Ort außerordentlich lehrreich; denn bei einer Ueberfülle neuer Gedanken und Ausdrucksweisen machte sich an jener Bühne zugleich eine Formlosigkeit geltend, deren letzter Grund nur in der mangelhaften musikalischen Durchbildung der Tagescomponisten zu suchen war. Unter ihnen ragte Reinh. Keiser hoch hervor; sein eifrigster und heimlichster Schüler war H., für den er als eine unerschöpfliche Fundgrube musikalischer Gedanken und zugleich als ein Conglomerat von Fehlern aller Art eine außerordentlich interessante Erscheinung war. Die hamburgische Oper, sehr schnell in die Höhe geschossen, zeigte sich damals weiterer Entwickelung unfähig; mit Händel’s Abgang begann ein Zustand langsamen Hinsiechens. Von Anfang an eine Nachahmung der italienischen Singbühne, mischte sie namentlich in der letzten Zeit regelmäßig Arien mit italienischen Worten in den deutschen Text. Auch Händel’s Opern folgten diesem sprachlichen Mißbrauche. Eine jede deutsche Oper enthielt damit verschiedene Meilenzeiger nach einem Lande hin, dessen Kunst der heimischen Production damals auf allen Gebieten überlegen war. Wie sollte also nicht ein H. eilen, so bald wie möglich dorthin zu gelangen, da er, wie schon seine frühesten Versuche aus Halle zeigen, dieser Kunst mit einem offeneren Verständniß entgegen kam, als irgend einer seiner Zeitgenossen.

Wahrscheinlich verließ er Hamburg schon zu Ende des J. 1706. Nach Mattheson’s Angabe reiste er in Gesellschaft mit einem v. Bienitz, was aber nicht so zu verstehen ist, daß er auf dessen Kosten die Fahrt unternommen hätte, wie es damals unter Musikern allgemein bräuchlich war; er hatte sich in Hamburg 200 Ducaten erspart, die eine weite Strecke reichten. Er war entschlossen, und schon früh durch die Handlungsweise seines Vaters gewöhnt, den Weg selbstständig zu wählen; er lehnte es ab, als ein toscanischer Prinz, der um 1705 in Hamburg war, ihn in seinem Gefolge mitnehmen wollte. Aber die Einladung desselben an den dortigen Hof nahm er mit Freuden an und wandte sich daher zunächst nach Florenz. Hier, wo der Capellmeister Redi eine bedeutende Gesangschule leitete, konnte er italienische Kunst in aller Ruhe an der Quelle studiren und sich für die größeren Musikplätze vorbereiten. Zum Osterfeste wandte er sich nach Rom und componirte hier zunächst Psalmen und andere Kirchenstücke zu lateinischen Texten (Bd. XXXVIII. der Ausgabe), ging aber dann zu einem längeren Aufenthalte nach Florenz zurück, wo er mit „Rodrigo“ (Bd. LVI. der Ausgabe) seinen ersten glücklichen Versuch in der italienischen Oper machte. Außer dem Beifall des Hofes erwarb er sich durch seine Kunst und seine Jugend auch die Neigung der dortigen ersten Sängerin, der später berühmten Vittoria Tesi, die sich Urlaub erwirkte, um in seiner bevorstehenden Oper in Venedig die Hauptrolle zu singen. Im Januar 1708 war H. in Venedig, wo er in kurzer Zeit die Oper „Agrippina“ (Bd. LVII. der Ausgabe) schrieb, die ihn als Componisten zuerst in ganz Italien bekannt machte; das Werk wurde wochenlang jeden Abend gegeben und hielt sich zwanzig Jahre hindurch auf diesem Theater. Die stürmische Begeisterung, mit welcher er in Venedig gefeiert wurde, erweckte er auch in Rom, wohin er sich während der Fastenzeit 1708 zum zweiten Mal wandte. Eine Schaar von neuen Freunden gesellte sich zu den alten; alle wetteiferten, seinen jetzigen römischen Aufenthalt zu dem Glanzpunkte seiner ganzen italienischen Reise zu machen. Die ersten [780] Kunstmäcene Roms waren ihm und seiner Musik geneigt. Bei dem Fürsten Ruspoli, dem Haupte der römischen Schöngeister, nahm er Wohnung; hier beendete er am 11. April 1708 sein Oratorium „Resurrezione“ (Bd. XXXIX. der Ausgabe); hier schrieb er unmittelbar darauf eine noch merkwürdigere Composition, zu welcher Cardinal Panfili ihm den Text lieferte: „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“, die umgearbeitet 1737 in London wieder aufgeführt wurde (Bd. XXIV der Ausgabe), und abermals neu bearbeitet zu englischen Worten, als „Sieg der Zeit und Wahrheit, The Triumph of Time and Truth“ (Bd. XX der Ausgabe), dasjenige Oratorium bildete, mit welchem der Meister 1757 seine Laufbahn beschloß. Schon im Juni 1708 finden wir ihn in Neapel, wo er am 16. d. M. das Pastoral „Aci, Galatea e Polifemo“ beendete, einen Gegenstand, den er dann in seinem reizenden englischen „Acis and Galatea“ (Bd. III der Ausgabe) von Grund aus neu gestaltete. Hier schrieb er auch seine kunstvollen Gesangterzette (Bd. XXXII. der Ausgabe), große Cantaten, kleine Lieder und überhaupt Musik in allen Weisen. Sein Leben war beständig von Glück und Glanz umgeben, in jener Zeit und in jenem Lande, wo der Künstler von den vornehmsten Personen als ihres gleichen behandelt wurde. „Von Rom ging er nach Neapel – schreibt sein ältester Biograph –, wo er, wie an den meisten anderen Orten, einen Palast zu seiner Verfügung hatte, und mit freier Tafel, Kutsche und allen sonstigen Bequemlichkeiten wohl versorgt war. In dieser Hauptstadt machte er Acis und Galatea zu italienischen Worten – auf Ersuchen der Donna Laura, die einen wirklich königlichen Staat führte. Während er in Neapel war, empfing er Einladungen von fast allen Standespersonen, die dort und in der Umgegend wohnten; und glücklich wurde geschätzt, der ihn zuerst gewinnen und am längsten bewirthen konnte“. In Neapel, wo damals auch Alessandro Scarlatti als Director des Conservatoriums von Rom eintraf, verweilte er deshalb länger, als vielleicht seine Absicht war. Im übrigen genoß er das Gute wie eine Annehmlichkeit auf der Reise, verweichlichte nicht und war weit entfernt, in Italien bleiben zu wollen; alle Anerbietungen zu diesem Zwecke, wie auch ernsthafte Versuche, ihn zum Katholicismus zu bekehren, wies er beständig ab. Was er in Italien lernen wollte – die auf öffentliche Wirkung abzielende Leichtigkeit und Klarheit der Composition, die Macht und Reinheit des Gesanges, die stilvolle Ordnung der gesammten praktischen Musik, die Aeußerungen einer gleichsam angeborenen musikalischen Begeisterung bei den Hörern – alles das faßte er schnell und gründlich, wie niemals ein fremder Musiker, der nach Italien pilgerte; und als er sich in diesem Elemente soweit eingewohnt hatte, daß es ihm Natur geworden war, zog er wieder von dannen. Er brachte drei Gaben mit, durch welche er sofort unter Italienern heimisch und zugleich ein Gegenstand ihrer höchsten Bewunderung wurde: sein Clavier- und Orgelspiel, seine Kunst der Improvisation und seine Schnelligkeit im Componiren – beide letzteren waren Eigenschaften der Italiener, in denen sie einzig dazustehen glaubten und nun erleben mußten, daß sie darin von einem kaum dem Jünglingsalter erwachsenen Deutschen noch übertroffen wurden.

Vermuthlich war er um Weihnacht 1709 in Rom und mit Beginn des J. 1710 in Venedig, wo seine Agrippina aufs neue gegeben wurde. Hier machte er Bekanntschaft mit Engländern, die ihn nach London einluden, und zugleich mit hannöverschen Cavalieren, sowie dem Capellmeister Abbate Steffani, in deren Gesellschaft er an den dortigen Hof kam. Obwol er in Hannover die durch Steffani’s Abgang erledigte Capellmeisterstelle erhielt, nahm er doch sofort Urlaub, um (im Spätherbst 1710) nach England zu gehen. In London, wie überall, fand er durch sein wundervolles Clavier- und Orgelspiel schnellen Eingang. Er kam zur rechten Zeit, denn die großen englischen Componisten waren [781] gestorben und die seit 1705 dort bestehende italienische Oper lebte von dem aus italienischen Werken zusammengenähten Flickwerk. In wenigen Wochen componirte er die schöne Oper „Rinaldo“ (Bd. LVIII der Ausgabe), die sofort gegeben wurde (zu Anfang des J. 1711) und großen Enthusiasmus erregte, so daß man ihn den „Orpheus unserer Zeit“ nannte. Durch dieses Werk begann er in London jene denkwürdige Wirksamkeit, welche mit geringen Unterbrechungen gegen 50 Jahre währte.

Im Juli 1711 war er wieder in Hannover. Sein Vorgänger im Amt, Agostino Steffani, durch dessen Empfehlung er die Capellmeisterstelle zunächst erhalten hatte, stand ihm künstlerisch und persönlich näher, als irgend ein anderer Tonkünstler seiner Zeit. Steffani war ein feiner Sänger und tiefer Musiker; seine Kammerduette sind die Muster dieser Gattung, nach denen auch H. seine meistens in Hannover entstandenen großen italienischen Gesangduette (Bd. XXXII der Ausgabe) bildete. Weil aber die Opern, sowie andere größere Musikaufführungen seit längerer Zeit in Hannover ruhten, gab es hier für H. auf die Dauer wenig zu thun. Er erwirkte sich daher leicht die Erlaubniß zu einer zweiten englischen Reise.

Im Herbst 1712 war er wieder in London und Ende November kam seine neue Oper „Il pastor fido“ (Bd. LIX der Ausgabe) heraus, welcher schon im Januar 1713 in „Teseo“ (Bd. LX der Ausgabe) eine zweite folgte. Hierdurch hatte sich H. bereits viele enthusiastische und einflußreiche Freunde erworben, namentlich auch in den Hofkreisen, die ihn um jeden Preis in England behalten wollten. Auf deren Veranlassung schrieb er zu dem Geburtstage der Königin Anna (6. Februar 1713) eine kunstvolle „Ode“ und erhielt dadurch den Auftrag, für die öffentliche Feier des Utrechter Friedens die Musik zu componiren. So entstanden die beiden prachtvollen Werke, bekannt als „Utrechter Tedeum und Jubilate“ (Bd. XXXI der Ausgabe), die am 7. Juli 1713 mit großem Pomp zur Aufführung kamen und alle Hörer in Erstaunen setzten. Die Königin gewährte ihm dafür als Componisten ihrer Kirchencapelle ein Jahrgehalt von £. 200. Soweit ging alles gut. Aber er hatte seinen Urlaub bereits überschritten, und was noch schlimmer war, der von ihm besungene Friede wurde unter Umständen und von Personen zu Stande gebracht, die seinem Dienstherrn in Hannover, dem Thronerben von Großbritannien, mißliebig und nachtheilig waren. Der Kurfürst zürnte H., und dieser zog vor, garnicht wieder zurück zu kehren. Die Nachtheile seines Vergehens wurden ihm schon im nächsten Jahre recht empfindlich, als Königin Anna plötzlich starb und der Kurfürst von Hannover als König Georg I. nach London kam. Doch im J. 1715 gelang es befreundeten Hofleuten, den König bei Gelegenheit einer Wasserfahrt, zu welcher H. die bekannte „Wassermusik“ componirte, mit seinem verlaufenen Hofcapellmeister auszusöhnen. Inzwischen lebte H. bei englischen Kunstfreunden, namentlich bei dem Grafen Burlington, und betheiligte sich an der Oper. Die um 1714 entstandene Oper „Silla“ (Bd. LXI der Ausgabe) scheint niemals aufgeführt zu sein; aber die 1715 componirte „Amadigi“ (Bd. LXII. der Ausgabe) kam sofort mit großem Beifall auf die Bühne.

Weil die Londoner italienische Oper bei ihrer nur von Privatspeculation abhängigen Existenz ins Stocken gerieth, benutzte H. im Sommer 1716 die freie Zeit zu einer längeren Reise nach Deutschland. Hier componirte er die von dem Hamburger Rathsherrn Brockes gedichtete „Passion“ (Bd. XV der Ausgabe), an welcher damals alle namhaften deutschen Tonsetzer sich versuchten, ohne daß einer von ihnen H. in der Schönheit und Tiefe der Sologesänge erreicht hätte. Als er (wahrscheinlich anfangs 1717) nach England zurückkehrte und die italienische Oper dort ganz ruhte, fand er eine höchst angenehme und fruchtreiche Beschäftigung [782] als Leiter der Capelle des Herzogs von Chandos, welcher in Cannons unweit London mit seltener Pracht und Freigebigkeit Hof hielt. Für diese Capelle, die hauptsächlich an der Kirchenmusik sich betheiligte, setzte er eine Reihe von Psalmen oder „Anthems“ in Musik, wie er solche schon 1713–14 für die königl. Capelle der Westminsterabtei begonnen hatte, – Compositionen, welche im Stil des Utrechter Tedeum und Jubilate an hohem Aufschwung und gestaltender Kraft die Werke der Zeitgenossen weit hinter sich lassen und, erfüllt von oratorischem Geiste, zu dem folgenden musikalischen Oratorium die direkte Vorstufe bilden (die gesammelten Anthems s. Bd. XXXIV–XXXVI der Ausgabe). Wie nah die Anthems zu seinem Oratorium hinan führten, wurde schon in Cannons offenbar, wo H. mit dem biblischen Stücke „Esther“ (Bd. XL der Ausgabe) und dem antiken Stoffe „Acis und Galatea“ (Bd. III der Ausgabe) um 1720 seine beiden ersten wirklichen Oratorien schrieb, und zwar als Grundmuster nach den beiden Seiten hin, die sein Oratorium umfaßt – das biblische und das classische Alterthum.

Sämmtliche Werke, welche die Eigenthümlichkeit und Größe dieses Mannes darstellen, waren hiermit in den Grundzügen bereits vorgelegt; es fehlte nichts als ihr weiterer Ausbau und ihr Eindringen in die große Oeffentlichkeit. Mit dem J. 1720 schließt daher die erste Hälfte seines Lebens und es beginnt eine zweite, welche das in ungeahnter Weise ausbildete, was die frühere in der Knospe zeigte: alles dies in unvergleichlicher Consequenz und innerer Nothwendigkeit, so daß die Entwickelung dieses Künstlers in ihrer Einfachheit denselben erhabenen Zug besitzt, welcher seiner Musik eigen ist.

Die zweite Lebensshälfte, von 1720–59, zerfällt wieder in zwei gleiche Theile, von denen die erste bis 1740 vorwiegend der Oper, die andere dem Oratorium gewidmet war.

Die italienische Oper war den Musikfreunden in England ein Bedürfniß geworden. Um nun aber an die Stelle der bisherigen wechselvollen Privatunternehmungen ein dauerhafteres Institut zu setzen, ähnlich dem der Pariser Académie de Musique entstand um 1720 zur Zeit des Südseeschwindels als eine der vielen Gründungen in London die „Royal Academy of Musick“. Drei Componisten, mehrere Dichter, die ersten Sänger und Instrumentisten wurden engagirt. Die Vorstellungen begannen am 2. April 1720, und Händel’s „Radamisto“ war die erste neue Oper, welche für dieses Institut geschrieben wurde. Bei der nächsten, „Muzio Scevola“, theilten sich die drei Componisten Pipo, Bononcini und H. in den drei Acten; H. erhielt den letzten Act und besiegte seine Genossen. Die Rivalität mit dem reichbegabten Bononcini hielt noch mehrere Jahre an; seit 1724 nahm H. aber, nachdem seine Oper „Julius Cäsar“ erschienen war, die erste Stelle ein, leitete auch vorwiegend die Aufführungen und componirte für das glänzende Institut in den neun Jahren seines Bestehens folgende 14 Opern: 1720: „Radamisto“ (Bd. LXIII der Ausgabe), 1721: „Muzio Scevola“ (Bd. LXIV der Ausgabe), 1721: „Floridante“ (Bd. LXV der Ausgabe), 1722: „Ottone“ (noch ungedruckt), 1723: „Flavio“ (Bd. LXVII der Ausgabe), 1724: „Giulio Cesare“ (Bd. LXVIII der Ausgabe), 1724: „Tamerlane“ (Bd. LXIX der Ausgabe), 1725: „Rodelinda“ (Bd. LXX der Ausgabe), 1726: „Scipio“ (Bd. LXXI der Ausgabe), 1726: „Alessandro“ (Bd. LXXII der Ausgabe), 1727: „Admeto“ (Bd. LXXIII der Ausgabe), 1727: „Riccardo“ (Bd. LXXIV der Ausgabe), 1728: „Siroe“ (Bd. LXXV der Ausgabe,), 1728: „Tolomeo“ (Bd. LXXVI der Ausgabe).

Durch die Größe der mitwirkenden Talente und künstlerische Haltung erhob sich diese Akademie schnell zu dem ersten Operntheater in Europa; Händel’s Opern wurden überall in Deutschland, auch in Italien und selbst in Paris gegeben. [783] Entsprechend ihrer Gründung, nahmen aber die Unternehmer nicht rechtzeitig auf einen soliden Unterbau der Akademie Bedacht, und so konnte dieselbe trotz ihres Glanzes und ihrer tonangebenden Bedeutung für die musikalische Welt dennoch im eigenen Lande nicht feste Wurzeln fassen. Bei der einseitigen Werthlegung auf den Sologesang, welche diese Oper mit allen Musikdramen jener Zeit theilte, wurde der Reiz hauptsächlich im Wechsel der Sänger gesucht. Als nun Gay’s „Bettleroper“ (Beggar’s Opera) und ähnliche Liederspiele um 1728 das Publikum an sich zogen, ließen die vornehmen Subscribenten ihre Akademie zusammenbrechen. Die letzte Vorstellung dieser „ausländischen Opern“ (wie der durch die Balladen-Operetten gestärkte Patriotismus sie jetzt nannte) fand am 1. Juni 1728 statt.

Nachdem man sich von der Bestürzung erholt hatte, welche die Bettleropern anregten, bildete sich eine neue Gesellschaft, die aber nur aus Subscribenten bestand, auf eine eigentliche Direction verzichtete und H. in Verbindung mit dem Theaterunternehmer Heidegger die Leitung überließ. Im Spätsommer 1728 trat H., begleitet von seinem Freunde Steffani, seine zweite italienische Reise an, blieb den Winter über in Italien, sah die Fortschritte der italienischen Musik, auch ihre Verirrungen in das einseitig Virtuosenhafte, und wählte Sänger für seine neue Oper. Im Juni 1729 war er einige Tage in Halle bei seiner erblindeten kranken Mutter, die er zum letzten Mal sah, denn sie starb am 27. December 1730, gegen 80 Jahre alt. Anfangs Juli traf er wieder in London ein. Am 2. December begannen die Vorstellungen mit seiner neuen Oper „Lotario“. Für dieses Unternehmen, welches vier Jahre bestand, schrieb H. sechs ausgezeichnete Werke: 1729: „Lotario“ (Bd. LXXVII der Ausgabe), 1730: „Partenope“ (Bd. LXXVII der Ausgabe), 1731: „Poro“ (Bd. LXXX der Ausgabe), 1732: „Ezio“ (Bd. LXXIX der Ausgabe), 1732: „Sosarme“ (Bd. LXXXI der Ausgabe), 1732: „Orlando“ (Bd. LXXXII der Ausgabe).

In noch höherem Maße, als der früheren Akademie, waren dieser jetzigen die italienischen Sänger verhängnißvoll. Sie wurden in ihrer Unbotmäßigkeit bestärkt durch die politische Opposition, welche in dem vom Hofe begünstigten Tonsetzer zugleich den Hof und die Minister treffen wollte. Hierdurch verwickelte sich die Angelegenheit zu einem unlöslichen Knäuel. Die Entlassung des aufsässigen Castraten Senesino abseiten Händel’s führte die Katastrophe herbei. Die Akademie ging aus den Fugen. Von der Gegenpartei wurde mit großen Mitteln eine neue italienische Oper zu Stande gebracht, für welche sie das bisherige Theater in Haymarket in Anspruch nahm, Hasse, Porpora u. A. als Componisten, und den genannten Senesino, die Cuzzoni, später auch Farinelli als Sänger engagirte. H. bezog mit seiner Gesellschaft das Coventgarden-Theater, konnte seine Vorstellungen schon am 30. October 1733 eröffnen, früher als die Gegner, und brachte während der Dauer dieses Wettstreites folgende neun Werke an den Tag: 1734: „Arianna“ (noch ungedruckt), 1734: „Pastor fido“ geändert (noch ungedruckt), 1734: „Terpsichore“, Tanzspiel (noch ungedruckt), 1734: „Ariodante“ (noch ungedruckt), 1735: „Alcina“ (Bd. LXXXVI der Ausgabe), 1736: „Atalante“ (noch ungedruckt), 1737: „Giustino“ (noch ungedruckt), 1737: „Arminio“ (noch ungedruckt), 1737: „Berenice“ (noch ungedruckt).

Dieser thörichte, aber für H. unvermeidliche Wettlauf dauerte ebenfalls vier Jahre. Sein Ende war allseitige Ermattung. Am 1. Juni 1737 hörte Händel’s Oper in Coventgarden auf, am 11. die Gegenoper in Haymarket. Das bei den früheren Akademien Ersparte setzte H. bei diesem Unternehmen wieder zu und gerieth obendrein in Schulden. Schlimmer noch sah es bei den Gegnern aus, die ihr Theater am 11. Juni schließen mußten, weil Farinelli ihnen der leeren Häuser wegen davon gelaufen war. Hatte die Erfahrung gelehrt, [784] daß selbst eine italienische Oper in London auf die Dauer kaum bestehen konnte, so war das Schicksal von zweien leicht vorauszusehen.

Der alte grundsatzlose Praktiker Heidegger sammelte nun das, was durch den beiderseitigen Schiffbruch an den Strand geworfen war, und eröffnete am 29. Octbr. 1737 im Haymarket-Theater die Vorstellungen der italienischen Oper. Für diese schrieb H. mehrere neue Werke: 1738: „Faramondo“, 1738: „Alessandro Severo“, 1738: „Serse“ (Xerxes), 1739: „Jupiter in Argos“ (verschollen), 1740: „Imeneo“, 1741 „Deidamia“.

Hiermit nahm er von der italienischen Oper Abschied nach einer mehr als 30jährigen Wirksamkeit. Seine zahlreichen für die Bühne geschriebenen Werke enthalten die höchsten Muster des Kunstgesanges, welche überhaupt existiren; aber ihre Bedeutung liegt so ausschließlich im Sologesange, daß dadurch zur Genüge erklärt wird, warum keine einzige der Händel’schen Opern zur Zeit auf unsern Theatern gegeben werden kann. Die Vernachlässigung dieser Schätze nicht nur in der Theater- und Concertmusik, sondern selbst in den Kunstschulen ist wol das sicherste Zeichen von dem tiefen und allgemeinen Verfall der Kunst des Gesanges in der Gegenwart.

Die J. 1720–40 wurden von H. nicht ausschließlich bei der italienischen Oper verbracht; in dieser Zeit reifte vielmehr alles, was dann in seiner letzten oratorischen Periode zur Ernte kam. Während der Glanzzeit der ersten königl. Akademie entstanden 1727 die „Krönungshymnen“ (Coronation Anthems – Bd. XIV der Ausgabe) für den neuen König Georg II., Sätze, welche Kunst und Popularität glücklich vereinigen. In den Jahren der zweiten Akademie ereignete sich dann, daß seine Oratorien (und damit die Oratorien überhaupt) zuerst in die Oeffentlichkeit drangen und hier festen Grund gewannen, den ersten Schritt in dieser Richtung that Bernhard Gates, der Singmeister der königl. Capellknaben, indem er das Oratorium „Esther“ durch seine Schüler und Sänger im Kostüm aufführen ließ. Diese Vorstellung geschah im Februar 1731 in seinem Hause und wurde dann im Gasthause „Krone und Anker“ noch zweimal wiederholt, aber privatim vor Freunden und geladenen Zuhörern. Einer dieser Aufführungen wohnte H. bei und erzählte davon seiner Schülerin, der Prinzessin Anna, welche hierauf den Wunsch äußerte, das Stück von denselben Knaben und Sängern in derselben Weise im Opernhause aufgeführt zu sehen. Weil aber der damalige Bischof von London, Dr. Gibson, zu einer Aufführung mit Action und im Kostüm die Erlaubniß verweigerte, selbst wenn die Knaben mit dem Buche in der Hand agirten, so unterließ man die Vorstellung. Es blieb daher für H. nur die Aufführung in Form eines Concertes übrig. Als nun im nächsten Jahre eine Singgesellschaft seine „Esther“ für ein öffentliches Concert ankündigte, beeilte er sich, das plötzlich populär gewordene Werk in solcher Gestalt selber zu geben. Dies geschah am 2. Mai 1732 im Haymarket-Theater – ein denkwürdiger Tag, weil H. hiermit zum ersten mal ein Oratorium öffentlich aufführte. Bei der Ankündigung vergaß man nicht zu bemerken, daß es eine Concertaufführung ohne Kostüm und Darstellung sein sollte, denn es heißt dort: „Es wird keine Action auf der Bühne sein, aber man wird das Theater in einer passenden Weise für die Versammlung ausschmücken. Die Sänger und Musiker werden aufgestellt sein wie bei der Krönungsfeier“. Ein Zeitgenosse berichtet: „Hester, Oratorium oder heiliges Drama, in Englisch – alle Opernsänger in einer Art von Gallerie aufgestellt, keine Action, wurde sechsmal gegeben und war sehr voll“. Der Zulauf war so stark, daß Viele von heute auf morgen vertröstet werden mußten. Die neue Macht, welche hiermit in der Tonkunst auftrat, eroberte die Herzen im Sturm; durch diese Aufführungen der „Esther“ war das, was wir Oratorium nennen, in die Welt eingeführt. Diese [785] Weise, Oratorien zu geben, welche jetzt die allgemein übliche ist, erschien H. offenbar als die passendste, denn er machte auch später unter günstigeren Verhältnissen niemals einen Versuch, wirkliche Bühnenaction zu Hülfe zu nehmen.

Mit „Esther“ zugleich kam auch das zweite köstliche Erzeugniß in Cannons, das Pastoral „Acis und Galatea“, an die Reihe. Es waren ebenfalls Fremde, welche hier den Anfang machten. „Auf den Wunsch vornehmer Personen“ gab der Theaterdirector Rich es auf seiner Bühne am 26. März 1731, offenbar sehr unvollkommen. Darauf nahm die neue „englische“ Oper sich dieser „Pastoraloper“ an und versprach sie aufzuführen „mit all den großen Chören und sonstigen Decorationen, wie sie vor Seiner Gnaden dem Herzog von Chandos in Cannons zur Aufführung kam“, was auch am 17. Mai 1732 geschah. Diesem Unternehmen ließ H. auf dem Fuße folgen (am 10. Juni) „eine Serenata genannt Acis und Galatea. Es wird keine Action auf der Bühne stattfinden, aber die Scene wird in malerischer Weise eine ländliche Ansicht darstellen mit Felsen, Laubgängen, Quellen und Grotten, zwischen welchen ein Chor von Nymphen und Schäfern angebracht sein wird; die Kleider und alle sonstigen Decorationen dem Gegenstande angemessen“. Das kleine Werk wurde hier zu mehreren Acten erweitert durch Einfügungen aus seinem italienischen Acis und sonstigen Zusätzen; seit 1739 ging H. aber mit Recht wieder auf die ursprüngliche englische Composition zurück. Wichtig ist uns nur, daß er selbst hier die Aufführung des Pastoral als Oper ablehnte, nachdem sie ihm von zwei Bühnen vorgemacht war, und stets in den oratorischen Grenzen blieb.

Die Aufführungen der „Esther“ veranlaßten zunächst 1733 das Oratorium „Debora“ (Bd. XXIX der Ausgabe), und die bei der ersten Vorstellung desselben angesetzte Preiserhöhung gab der feindlich gesinnten, nämlich der italienisch-englischen und politisch oppositionellen Opernpartei Gelegenheit, mit aller Gehässigkeit gegen den Tonsetzer loszubrechen, was dann die vorhin erwähnte Spaltung der italienischen Oper in zwei verschiedene Theater zur Folge hatte.

Im Sommer d. J. folgte H. einer Einladung nach Oxford, um den Glanz der Universitätsfeierlichkeiten durch Musikaufführungen zu erhöhen. Zu diesem Zwecke componirte er das Oratorium „Athalia“ (Bd. V der Ausgabe) und führte es daselbst am 10. Juli 1733 zuerst auf. Auch seine sonstige oratorische und kirchliche Musik brachte er hier in mehreren Concerten und mit so aufregendem Beifall zu Gehör, daß dieses Universitätsfest dadurch für Oxford das glänzendste und merkwürdigste des Jahrhunderts wurde. Die gelehrte Körperschaft beabsichtigte damals auch, dem berühmten Manne den Titel eines Doctors der Musik zu verleihen, was er indeß ablehnte, da er in seiner einfachen Denkungsart an Apoll’s Lorbeer genug zu haben vermeinte und im übrigen nichts sein wollte, als ein Musiker unter seines Gleichen. Die sich hierin offenbarende Charakterstärke lernt man erst schätzen, wenn damit verglichen wird, wie Andere unter ähnlichen Verhältnissen sich benommen haben. Zu „Athalia“ steht die italienische Serenata „Parnasso in festa“ (Bd. LIV. der Ausgabe) in naher Beziehung, weil ein erheblicher Theil der Musik in diesem Stücke benutzt wurde; H. führte die Serenata im März 1734 in London auf zur Vermählungsfeier der Kronprinzessin Anna mit dem Prinzen der Niederlande.

Als solches geschah, war die italienische Gegenoper der „wahren Liebhaber der Musik“ – wie die gemischte Gesellschaft der Unternehmer derselben sich betitelte – bereits im vollen Gange. In diesen Jahren, den mühe- und sorgenvollsten seines Lebens, traten bei H. jeder Schwierigkeit gegenüber stets neue Kräfte hervor, durch welche er in dem ungleichen Kampfe wenigstens musikalisch der unbestrittene Sieger blieb. Während der Fastenzeit 1735 führte er in 14 Concerten seine bisherigen Oratorien wieder vor. Das Neue, was er hinzu [786] brachte, waren die Orgelconcerte, welche er in den Zwischenacten der Oratorien vortrug (gesammelt Bd. XXVIII der Ausgabe), eine Praxis, die er begründete und lebenslang in seinen oratorischen Aufführungen beibehielt. Ueber die zauberhafte Gewalt seines Spiels ist unter Allen, die ihn hörten, stets nur eine Stimme gewesen; der Stil seiner Orgelmusik ist durchweg der concertirende und unterscheidet sich dadurch von der contrapunktischen Weise Bach’s.

Bedeutender noch war die Neuigkeit, mit welcher H. in der nächsten Saison hervortrat. Er griff zurück auf die alten englischen Cäcilienfeste, welche in den Tagen des großen Henry Purcell glänzend begangen wurden, und wählte sich die damals von Dryden gedichtete Ode: „Alexanderfest“. Dieselbe componirte er im Winter 1735/36 und führte sie am folgenden 19. Februar auf (Bd. XII der Ausgabe). Diese Composition gehörte bald zu den weitest verbreiteten; ihre musikalische Vortrefflichkeit wurde sprichwörtlich. 1739 setzte H. auch noch das andere Gedicht von Dryden in Musik, welches unter dem Namen der „Kleinen Cäcilienode“ bekannt ist (Bd. XXIII der Ausgabe), und brachte es am Tage dieser Heiligen (22. November 1739) in Gemeinschaft mit dem „Alexanderfest“ zu Gehör. In der musikalischen Behandlung ist die kleine Ode der großen durchaus ebenbürtig; es sind Züge darin, die an Erhabenheit nicht übertroffen werden.

Durch diese Anstrengungen und beständigen Aufregungen schienen seine Kräfte vorläufig erschöpft zu sein; in der letzten Opernsaison 1736/37 fand er nicht mehr die Freudigkeit, ein neues oratorisches Werk zu produciren; nur fruchtlose Mühen, Aergernisse und Verluste harrten seiner. Endlich wankte selbst seine starke körperliche Gesundheit, und diese schien den Geist mit sich zu ziehen, da man Spuren von Irrsinn bei ihm zu bemerken glaubte; Schlaganfälle lähmten die Glieder. Nur mit vieler Mühe gelang es Freunden, einen Mann, der anscheinend den Weg verloren hatte und nun in seiner Hülflosigkeit doppelt eigensinnig war, zu einer ordentlichen Kur zu bewegen. Endlich entschloß er sich, nach Aachen zu gehen, wo er Schwitzbäder gebrauchte, aber nach seiner Art mit Gewalt und auch mit wunderbar schnellem Erfolge. Als er die Geschmeidigkeit der Glieder wieder erlangt hatte, brachte er für die Heilung im dortigen Dom alsbald ein Dankopfer dar durch ein Orgelspiel, welches noch lange in Erinnerung blieb. Anfangs November 1737 von Aachen zurückgekehrt, fand er bald Gelegenheit, seine neu gewonnene Kraft noch auf andere und herrlichere Weise zu bethätigen, als durch jenes Orgelspiel. Am 20. November starb die liebenswürdige Königin Karoline; zu den Begräbnißfeierlichkeiten componirte H. im Laufe einer Woche die berühmte „Trauerhymne“ („The Funeral Anthem“ – Bd. XI der Ausgabe), welche Burney fast als das vorzüglichste seiner Werke anzusehen geneigt war und von welcher Reichardt behauptete: „das genaue Studium dieses einen Werks könnte ein ächtes Genie zum Componisten bilden“. In Deutschland war letzteres schon deshalb nicht möglich, weil man sich dieses Anthem durch einen Text über „Empfindungen am Grabe Jesu“ verunstaltet hatte.

Wie die Krönungsanthems von 1727 zu den seit 1731 folgenden ersten öffentlichen Oratorien in enger Beziehung standen und zum Theil ihnen einverleibt wurden, so eröffnete auch dieses Begräbnißanthem eine neue, aber noch weit größere oratorische Bahn. Das erste neue Werk dieser Art war das Oratorium „Saul“. Es entstand im Spätsommer 1738 und wurde am 19. Jan. 1739 aufgeführt, stets reichlich mit Orgel- und Instrumentalconcerten ausgestattet. Dieses Datum ist geschichtlich bedeutsam, weil H. hiermit jene zwölf Oratorien-Aufführungen anfing, die er dann fast ohne Unterbrechung bis zu seinem Tode alljährlich fortsetzte; mit diesem 19. Januar beginnt daher seine [787] große oratorische Periode. Als H. dieses Werk schrieb, an welchem er ungewöhnlich lange, nämlich neun Wochen, arbeitete, war sein Arm noch nicht völlig wieder diensttüchtig, wie die Handschrift zeigt; der Geist aber producirte ein Werk, welches zu seinen mannigfaltigsten und schönsten gerechnet werden muß. Die Charakteristik der Personen ist ausgezeichnet gelungen, und in der Darstellung des geistig-geschichtlichen Gehalts der behandelten Begebenheit offenbart sich Händel’s ganze Größe. Die letzten Scenen, den Klaggesang über Saul und Jonathan enthaltend, zählen zu dem besten, was er geschrieben hat; zu ihnen gehört auch der weltberühmte Trauermarsch in C-dur.

Für diese Klage über Sauls und Jonathans Tod gedachte er anfänglich einen großen Theil der königlichen Trauerhymne zu verwenden. Bald aber entdeckte er einen passenderen Ort dafür. Saul wurde am 27. September in der Composition beendet. Schon nach vier Tagen, am 1. October 1738, machte er sich an eine neue Arbeit, welche die Ueberschrift erhielt „Moses Song. Exodus, Chap. 15“, beendete sie am 11. d. M. Bei Davids Klaggesang hatte er aufs neue die Gewalt erfahren, welche die biblischen Poesien auf seine Töne ausübten: so wählte er nun den Preisgesang der Israeliten, wie er im 15. Kapitel des zweiten Buches Mose steht, und setzte ihn wörtlich in Musik. Durch die unerhört großartige Weise, in welcher solches geschah, machte sich gleichsam von selber das Bedürfniß geltend, für die in der Musik entstandene lebendige Handlung die entsprechende historische Unterlage zu gewinnen. Deshalb ließ H. dem Siegesliede voraufgehen die Plagen Aegyptens nebst dem Auszuge der Israeliten, und diesen wieder die Todtenklage über Joseph. Zu der letzteren wurde nun die vorjährige Trauerhynme benutzt als erster Theil dieses neuen oratorischen Werkes; den zweiten Theil, welcher vom 15.–28. October 1738 geschrieben wurde, bildeten die Plagen nebst dem Auszug; der zuerst componirte Siegesgesang machte dann als dritter Theil den Beschluß, und das Ganze war in dieser Gestalt am 1. Novbr. 1738 völlig beendet. Auf solche Weise entstand eines der wundervollsten Erzeugnisse musikalischer Kunst und das größte cyclische Chorwerk, welches existirt, das Oratorium „Israel in Aegypten“ (Bd. XVI der Ausgabe). Den Text des zweiten und dritten Theiles, also des eigentlichen Werkes, wählte H. ohne fremde Beihülfe aus dem zweiten Buch Mose und den Psalmen: hieraus ist die irrthümliche Nachricht entstanden, er habe sich den Text zum „Messias“ selber zusammengestellt. Die königliche Trauerhymne besteht aus lauter mehrstimmigen Gesangstücken, von denen die meisten im vollen Chor gesungen werden. Der große geschichtliche Gegenstand, aus welchem einzelne Persönlichkeiten kaum hervorragen, veranaßte den Componisten, sich auch für die Darstellung desselben in einem Umfange des Chores zu bedienen, wie noch niemals bei einem oratorischen Werke. Mit unerhörter, fast erschreckender Gewalt brach der Tonstrom hervor, als H. nun endlich rückhaltlos die Schleusen seiner Kunst öffnete, und man sah mit Staunen, daß er die größten harmonischen Massen so leicht zu führen wußte, wie den Einzelgesang, und daß er im ausgedehntesten und kunstvollsten achtstimmigen Chore so deutlich, so einfach und so ausdrucksvoll sprechen konnte, als ob die Worte nur einer einzigen Person in den Mund gelegt wären. Bei einer solchen Ausdrucksfähigkeit wird durch die Größe der aufgewandten Kunstmittel eine entsprechende Größe des Gegenstandes erzeugt; deshalb thürmen sich diese Israel-Chöre vor der Anschauung des Hörers auf wie Bergriesen, und die zu Grunde liegende biblische Geschichte erhält durch sie eine Ausprägung in so erhabener und verklärter Gestalt, daß man damit an der Grenze dessen angelangt ist, was musikalischen Kräften überhaupt möglich scheint. Die Begebenheit, durch welche Israel aus schimpflicher Knechtschaft befreit wurde, ist mit vollendeter Geistesfreiheit in ihrer ganzen Tiefe erfaßt; wol konnte ein damaliger [788] Hörer ausrufen: „wenn der Geschmack an dieser Musik sich allgemein im Volke verbreiten sollte, dürfe dasselbe vorkommenden Falls auch eine ähnliche Befreiung erlangen, wie die war, welche diese Preislieder feiern“. Aber nur Wenige vermochten sich damals zu einer solchen Höhe zu erheben; die meisten waren an die bisherige Weise der Musik gewöhnt und nach den heftigen musikalischen Erregungen der letzten 20 Jahre stellte sich jetzt eine Uebersättigung ein, unter welcher eben die besten Künstler am schwersten zu leiden hatten. Als daher „Israel“ am 4. April 1739 zur Aufführung kam, machte er auf die Gesammtheit einen befremdlichen Eindruck. Die vielen Chöre verursachten bei der großen Länge des Werkes Monotonie; H. suchte diesen Uebelstand durch Einfügung von Solosätzen zu beseitigen, aber ohne sonderlichen Erfolg, so daß das Werk bei seinen Lebzeiten überhaupt nur achtmal zur Aufführung kam und nichts davon im Druck erschien. Der Sologesang tritt in „Israel“ an einigen Stellen auf die herrlichste Weise hervor, steht aber im Ganzen hinter den Chören zurück, und wenn es als eine der Aufgaben des Oratoriums bezeichnet werden muß, Chor- und Sologesang möglichst ins Gleichgewicht zu setzen, so ist dieselbe in diesem Riesenwerke nicht völlig gelöst. Der theilweise Mißerfolg desselben war ein Wink, den H. bei allen seinen späteren Oratorien beachtet hat.

Gleich die nächstfolgende Composition liefert den Beweis hiervon. Der Krieg mit Spanien raubte um 1739 den musikalischen Aufführungen auch den letzten kleinen Rest der noch erhaltenen Theilnahme und gewährte dem Tonsetzer viele unfreiwillige Muße für neue Pläne und Arbeiten. Wie H. jetzt auf die Musik der Vorzeit zurückging und sie vielfach für seine Oratorien umbildete, so sah er sich auch nach neuen Quellen der Dichtung um, die er in der Bibel, bei den Klassikern und bei den brittischen Dichtern fand. Ein vermögender Kunstfreund, Charles Jennens, machte ihn wahrscheinlich auf Milton’s „Frohsinn und Schwermuth (L’Allegro ed il Pensieroso)“ aufmerksam, denn derselbe schrieb dazu einen dritten Theil über die „Mäßigung (ed il Moderato)“ zur Versöhnung und Ausgleichung der von Milton als einfach gegensätzlich behandelten Stimmungen. Dieses dreitheilige Werk componirte H. zu Anfang des J. 1740 in 22 Tagen und trat damit schon am 27. Februar vor die Oeffentlichkeit. Es wurde eine seiner beliebtesten Compositionen, wie es eine der originellsten und köstlichsten ist. Die ganze Scala der menschlichen Stimmungen wie auch die der Vorgänge in der Natur wird hier durchlaufen, vorwiegend in den reizendsten Sologesängen, die aber überall von den trefflichsten Chören eingerahmt sind. Als eine Schilderung des Lebens in und mit der Natur steht dieser „Allegro“, auf hoher idealer Warte, einzig in seiner Art da.

Die Zeitverhältnisse blieben aber künstlerischen Unternehmungen in London andauernd so ungünstig, daß, als H. den „Allegro“ und die kleine Cäcilienode am 8. April 1741 aufführte, es in der Ueberzeugung geschah, dieses werde sein letztes Concert in England sein. Wirklich ging er damals mit der Absicht um, den Boden seiner 30jährigen Wirksamkeit für immer zu verlassen. Er richtete seine Augen vorübergehend wol nach Berlin, wo der Tonkunst plötzlich durch König Friedrich II. eine glänzende Freistätte bereitet war, und die Geschichte der deutschen Musik würde eine andere Gestalt erhalten haben, wenn H., den Friedrich d. Gr. als den ersten Tonkünstler seiner Zeit schätzte, an den preußischen Hof gezogen wäre. Wie fest er aber mit seiner Kunst bereits im englischen Leben wurzelte, zeigte sich bei diesem Wendepunkte. Nicht in seinem Geburtslande fand er bei eintretendem Schiffbruch den schützenden Nothhafen, sondern im fernen Irland. Der Vicekönig wiederholte jetzt dringend frühere Einladungen, nach Dublin zu kommen und dort Concerte zu geben. In Dublin fand man damals London wieder, ohne seine augenblicklichen Wirrnisse und Mängel; eine [789] reine aufrichtige Musikliebe hatte sich hier erhalten und war nahezu in alle Kreise gedrungen. Verschiedene Chorgesellschaften waren vorhanden, die Aufführungen zu wohlthätigen Zwecken veranstalteten, für Schuldgefangene, Waisen und sonstige Bedürftigkeit. Derartige Vereinigungen, welche die gesellschaftlichen Uebel mit Hülfe der Musik zu lindern strebten und sich damals in England gleichsam auf Grund der Händel’schen Werke und unter seiner thätigen Beihülfe bildeten, wurden später in allen Ländern nachgeahmt. Die Dubliner Kirchen- und Chorvereine erboten sich in Händel’s Concerten mitzuwirken, falls er dafür ein Concert zu ihrem Besten veranstalten werde, und er versprach ihnen darauf, in einem solchen Concert „etwas von seiner besten Musik“ aufzuführen. Wie sehr er Wort gehalten hat und mit welcher Freudigkeit der tief humane Mann an diesen wohlthätigen Bestrebungen theilnahm, möge man daraus erkennen, daß er für jenes Wohlthätigkeitsconcert ein neues Werk schrieb, und zwar den „Messias“. Er componirte dieses Oratorium in London vom 22. August bis zum 14. September 1741, also in 23 Tagen. Den Text, ein Meisterstück seiner Art, hat der beim „Allegro“ betheiligte Ch. Jennens aus Bibelworten zusammengestellt.

Am 18. November d. J. langte H. in Dublin an. Nachdem er mehrere Concerte von seiner bisherigen Musik gegeben hatte, bei denen sowol die Art der Ausführung wie der allgemeine Beifall alles übertraf, was man dort bisher erlebte, führte er am 18. April 1742 in einem neu erbauten Concertsaale zum erstenmal den Messias auf, für die drei hauptsächlichsten Wohlthätigkeitsanstalten jener Stadt. „Nach dem Urtheil der besten Kunstkenner übertrifft diese Musik weit alles von ähnlicher Art, was hier oder in irgend einem Lande gehört war“ – so lautete das Urtheil in Dubliner Zeitungen nach der Aufführung; man erklärte das Werk deshalb „für die vollendetste musikalische Composition“, deren Eindruck zu schildern die Worte fehlten. Groß wie der geistige Gewinn für die Zuhörer war auch der äußerliche für die wohlthätigen Gesellschaften, und so bewährte dieses wunderbare Tonwerk, welches wie ein Licht der Offenbarung plötzlich hervortrat und auch dem poetischen Genie des jungen Klopstock die Wege wies, schon beim ersten Auftreten seine doppelseitige Wirkung. In London gab H. das Werk später jährlich für die Gründung des edlen Coram, das Findlingshospital. Der Messias, durch dessen glückliche Vereinigung von Solo- und Chorgesang eine ebenso künstlerische als wirkungvolle Harmonie hergestellt war, brach dieser Kunst allgemeinhin die Bahn. Was bisher nur die Angelegenheit einiger Kreise und für den Autor ein nicht immer erfolgreicher Gegenstand mühevollen Ringens gewesen war – das Oratorium –, mit dem Messias drang es in die große Welt ein und wurde Sache der Menschheit. Auch als religiöses oder christliches Tonwerk nimmt der Messias dadurch den Mittelpunkt ein, daß er den Gegenstand nach Worten und Musik in einer von allem Confessionalismus gänzlich freien Erhabenheit behandelt.

Nach einem Aufenhalt von neun Monaten trat H. Ende August 1742, körperlich und geistig gekräftigt, die Rückreise an. Der vergangenen Opernzeit gegenüber bilden die nun folgenden letzten 17 Jahre seines Lebens die große Oratorienperiode. Schon bei den zwölf Aufführungen des nächsten Jahres, die am 18. Februar 1743 begannen, konnte er sich überzeugen, daß jetzt auch in London die frühere Mißstimmung einer frischen Empfänglichkeit gewichen und damit der glückliche Wendepunkt eingetreten war, den er lange vergebens erhofft hatte. Er eröffnete die Saison mit einem neuen Werke, und zwar mit „Samson“ (Bd. X der Ausgabe). Dieser leistete für London, was der Messias für Dublin gethan hatte, denn von den zwölf Aufführungen, welche H. in der Fastenzeit veranstaltete, kamen allein auf Samson acht. So groß war mitunter der Zulauf, [790] daß nach den Worten einer Dubliner Zeitung „mehr Leute hier aus Mangel an Raum abgewiesen werden mußten, als in der gleichzeitig gespielten italienischen Oper überhaupt anwesend waren“. Von der Composition des Samson war am 29. September 1741 der erste Act fertig, also 14 Tage nach Vollendung des Messias; beendet wurde dieselbe am folgenden 29. October. Hieraus ergibt sich, daß die beiden Riesenwerke zusammen in zehn auf einander folgenden Wochen entstanden, und diese Thatsache ist wol noch staunenswerther als die unglaublich kurze Zeit, welche der Meister für jedes dieser Werke in Anspruch nahm. Neben Samson führte er den Londonern in dieser Saison dreimal den Messias vor und es wurde sehr eifrig darüber gestritten, welches der beiden Werke das größte sei.

H. stand bereits im 58. Lebensjahre, als er von Dublin nach London zurückkehrte. Aber so unerschöpflich schien sein Genie, daß er nach allem Voraufgegangenen noch die folgende Reihe von Oratorien produciren konnte: 1743: „Semele“ (Bd. VII der Ausgabe), 1743: „Dettinger Te Deum und Anthem“ (Bd. XXV und XXXVI der Ausgabe), 1743: „Joseph und seine Brüder“ (wird Bd. XLII der Ausgabe bilden); 1744: „Belsazar“ (Bd. XIX der Ausgabe), 1744: „Hercules“ (Bd. IV der Ausgabe); 1746: „Gelegenheits-Oratorium“ (wird Bd. XLIII der Ausgabe bilden), 1746: „Judas Makkabäus“ (Bd. XXII der Ausgabe); 1747: „Josua“ (Bd. XVII der Ausgabe), 1747: „Alexander Balus (Bd. XXXIII der Ausgabe); 1748: „Salomon“ (Bd. XXVI der Ausgabe), 1748: „Susanna“ (Bd. I der Ausgabe); 1749: „Theodora“ (Bd. VIII der Ausgabe); 1750: „Wahl des Hercules“ (Bd. XVIII der Ausgabe); 1751: „Jephtha“ (wird Bd. XLIV der Ausgabe bilden); 1757: „Sieg der Zeit und Wahrheit“ (Bd. XX der Ausgabe).

In der langen Reihe dieser Werke klingt nun der Ton voll aus, der durch das Voraufgegangene sich bereits die Bahn gebrochen hatte. Der Oper gegenüber kommt hier das Oratorium zur Geltung, als ein Neues der Kunst, und H. maß mit seinen Werken das neu erworbene Gebiet in ganzer Tiefe und Breite aus; dies ist es, was ihm in demselben die Herrschaft verliehen hat und für alle Zeit sichern wird. Die verschiedenen Zweige der musikalischen Kunst in Stoffen und Formen waren zu Händel’s Zeit so weit ausgewachsen, über ihre alte Heimath hinaus, daß sie in einer neuen Verbindung ihre Reife erlangen konnten. Den ernsten Fugensatz, welcher nur der Kirche anzugehören schien, den vollentwickelten Sologesang, dieses glänzende Produkt der Oper, die einfachsten Töne harmlos natürlicher Ausdrucksweise, vollendete contrapunktische Kunst, dramatische Lebendigkeit, hohes Pathos, unerreichte Gewalt des Ausdruckes, den schönsten Gesang und die glücklichste Gabe der Gemeinverständlichkeit: alles das vereinigte er zur Darstellung großer geistiger Wahrheiten oder geschichtlicher Ereignisse von bleibender typischer Bedeutung. Bei H. stehen die beiden Seiten der Lebensauffassung, welche in der Musik als Geistlich und Weltlich seit Jahrhunderten neben einander hergingen, in einem so harmonischen, innerlich verbundenen Gleichgewicht, daß sie sich gegenseitig stärken, veredeln und verschönern. Ein solches Verhältniß findet sich nicht zum zweiten Male im Bereiche der Tonkunst wieder, und diese mit vollendeter Geistesfreiheit verbundene Harmonie der Grundkräfte ist es namentlich, welche für die bleibende Bedeutung der Händel’schen Tonwerke den Ausschlag geben wird.

Einer solchen Stellung entsprechend schaute H. allerseits nach Stoffen aus für sein Oratorium und entnahm dieselben gleicherweise dem weltlichen wie dem geistlichen Gebiete. Bezeichnend ist in dieser Beziehung, daß seine beiden ersten wirklichen Oratorien, „Esther“ und „Acis und Galatea“, gleichzeitig und für dieselben Verhältnisse und Zuhörer geschrieben wurden. Zu Esther gesellte sich dann die glänzende Reihe der biblischen und christlichen Werke; an Acis und Galatea [791] schlossen sich die Cäcilienoden, die beiden Herkules, Semele, Sieg der Zeit und Wahrheit und andere. Der musikalische Stil ist im Großen und Ganzen für alle Werke derselbe; die auftretenden Verschiedenheiten sind lediglich Modifikationen der Ausdrucksweisen, durch den Charakter und die Eigenthümlichkeiten des betreffenden Werkes bedingt. Will man Händel’s Kunst auf den Grund sehen, so muß man ihn als Charakterzeichner beobachten, sowol in der einzelnen Gestalt wie in dem ganzen Werke, denn er markirt nicht nur die verschiedenen Personen mit festen Strichen, sondern wölbt über ihnen auch die behandelte Geschichte zu einer höheren Gesammtgestalt, in welcher das einzelne Glied seine Stelle und sein Verständniß findet. Nach der Natur des jeweiligen Gegenstandes modificirt er seine Kunstmittel; eine wirkliche Scheidung dieser Werke kann daher auch nur nach solchen inneren Kennzeichen vorgenommen werden, nicht aber nach der Rücksicht, ob der Stoff dem weltlichen oder geistlichen Gebiete angehöre. Durch die Aufnahme, welche Händel’s Oratorien seit den verflossenen 150 Jahren in der Welt gefunden haben, ist dieser Gesichtspunkt aber nicht entfernt zu seinem Rechte gekommen. Die geistliche Seite jener Werke, theils an eingelebte religiöse Vorstellungen, theils an die aus dem kirchlichen Gebiete herüber genommenen musikalischen Formen sich lehnend, ist vielmehr so dabei in den Vordergrund getreten, daß man das Oratorium sogar schlechtweg als geistliche, d. h. als untergeordnet kirchliche Musik auffaßt. Dadurch wird diesem Kunstzweige sein eigentlicher Werth sowie die Wirkung, welche derselbe auf die Menschheit auszuüben berufen ist, verkümmert, und daher kommt es auch, daß unser musikalisches Leben sich noch immer in den beiden auseinander gehenden, innerlich unverbundenen Richtungen hier der Kirchen-, dort der Theatermusik bewegt. Händel’s Oratorium hat zuerst und in höchster Weise sowol in den Mitteln und Ausdrucksarten der musikalischen Kunst, wie auch in der Auffassung des menschlichen Lebens die Harmonie hergestellt; diese nun allgemeinhin zur Geltung kommen zu lassen ist die Aufgabe, welche uns an jenen Werken noch zu lösen bevorsteht.

Nach der Rückkehr von Irland begann für H. eine verhältnißmäßig ruhige Epoche, andauernd bis zu seinem Tode. Nur einmal noch, im Winter 1744/45, regte er die alten kunstfeindlichen Mächte wieder heftig gegen sich auf, als er mit dem Plane hervortrat, die Zahl seiner jährlichen Oratorienaufführungen von 12 auf 24 zu erhöhen; und der Mißerfolg veranlaßte ihn, nicht wieder über die 12 Aufführungen während der Fastenzeit hinaus zu gehen.

Die letzte seiner oratorischen Compositionen ist „Jephtha“. Am 21. Januar 1751 begann er dieselbe. Als er an den Chor „How dark, O Lord, are thy decrees! all hid from mortal sight (Wie dunkel, Herr, sind deine Rathschlüsse, menschlicher Einsicht verborgen!“) gelangt war, welcher den zweiten Theil beschließt, befiel ihn ein Augenübel, in Folge dessen zuerst das linke Auge erblindete, später auch das rechte. Eine schmerzhafte Operation, welcher er sich unterwarf, war erfolglos, und so mußte er, gleich seiner Mutter, die letzten Lebensjahre in Blindheit verbringen. Seine gewohnte musikalische Thätigkeit erlitt dadurch nur geringe Unterbrechung. Nach wie vor veranstaltete er seine Fastenaufführungen und erfreute die Hörer mit seinem wundervollen Orgelspiel zwischen dem zweiten und dritten Theil des Oratoriums; die zauberische Macht, welche er durch dieses Spiel auf die Gemüther ausübte, blieb ihm lebenslang eigen. Mit der musikalischen Direction betraute er in diesen Jahren der Blindheit seinen Schüler J. Chr. Schmidt, welcher auch nach seinem Tode die Oratorienaufführungen fortsetzte; eine ergreifende Scene war es immer, wenn bei der Arie des Samson „Tief dunkle Nacht! nicht Sonn’, nicht Mond erfreut mein Angesicht“ – dem blinden Meister, der still neben der Orgel saß, die Thränen flossen. Nur eine [792] größere Composition förderte er noch während seiner Blindheit, die englische Bearbeitung des italienischen „Sieg der Zeit und Wahrheit“, seines gehaltvollsten Jugendwerkes. Im J. 1759 gab er wie bisher seine Oratorienconcerte und nach seinem edlen Brauche gedachte er dieselben mit der Aufführung des Messias im Findlingshospital abzuschließen, als er nach dem Concert am 6. April plötzlich erkrankte. Am Sonnabend zwischen Charfreitag und Ostern, am 14. April 1759, morgens um 8 Uhr, im 75. Lebensjahre, starb er in einem viele Jahre lang von ihm bewohnten Hause in Brook Street in London und wurde in der Westminster Abtei begraben, wo sein von Roubiliac angefertigtes Denkmal zu den bedeutendsten Monumenten gehört, welche jene berühmte Kathedrale besitzt. H. selber ist auch in der That eine der größten Gestalten seines Jahrhunderts, der merkwürdigste Beweis, wie die Macht der Töne in dem Bereiche einer allseitig harmonisch durchgebildeten Kunst zu der Größe des Charakters emporwachsen kann. Und als Musiker nimmt er diejenige Stellung ein, welche dem Punkte im Centrum des Kreises gebührt. Die größten Componisten neben und nach ihm haben solches anerkannt. Gluck widmete ihm als seinem Meister und höchsten Vorbild eine fast religiöse Verehrung; „Das ist das Wahre“, und „In einer Monarchie weiß man wer der Erste ist“ sagte der geistesverwandte Beethoven mit Bezug auf ihn. Erst die zerrütteten musikalischen Verhältnisse der letzten fünfzig Jahre haben den Blick getrübt für das Grundwesen der Musik und damit ist auch Händel’s Bild zeitweilig verdunkelt.

Von seinen Werken gelangte ein großer Theil unmittelbar nach der Aufführung durch die damals bedeutenden Londoner Musikpressen (besonders von Walsh) zum Druck, obwol sehr mangelhaft; später besser und in vollständigerer Partitur von Randall. Die 100jährige Gedächtnißfeier 1784 veranlaßte nicht nur eine größere Verbreitung der Händel’schen Werke in Deutschland, sondern reifte auch in London unter den Auspicien des für H. begeisterten Königs Georg III. den Plan einer Gesammtausgabe derselben, welche dem Dr. S. Arnold übertragen, von diesem aber höchst nachlässig und etwa nur zur Hälfte ausgeführt wurde. Einen neuen Versuch diese Werke zu drucken machte man in London um 1840 mit der „Handel Society“, welcher aber noch weniger gelang und bereits mit dem 14. Bande aufgegeben wurde. Im J. 1856 gründete der Unterzeichnete mit Gervinus und einigen Anderen die „Deutsche Händelgesellschaft“ zur Herstellung einer vollständigen Gesammtausgabe. Mit der Redaction fielen mir nach und nach fast alle übrigen Arbeiten allein zu, selbst die technischen. Als es für die Sicherung der Ausgabe nöthig wurde, richtete ich zu diesem Zwecke eine besondere Notendruckerei ein; und so, mit Darangabe meines Lebens, unter sehr mäßiger, obwol fester Betheiligung von musikalischen Vereinen und Kunstfreunden, ist es bis jetzt wirklich gelungen ein in England mehrfach gescheitertes Unternehmen im Heimathlande Händel’s durchzuführen. Mit Hinzunahme des kleineren Drittels, welches zur Zeit noch ungedruckt ist, wird diese Gesammtausgabe auch dem Umfange nach größer sein als die irgend eines anderen Componisten. Inwiefern und wie bald die hierauf gerichteten Bestrebungen auch tiefer in die Kunst eingreifen und zunächst diesen Werken selbst in ihrer Praxis wieder den echten reinen Grund gewinnen werden, muß die Zukunft lehren. Augenblicklich ist das Interesse der tonangebenden musikalischen Kreise noch vielmehr gegen als für H., denn die gesammte musikalische Bildung der Gegenwart ist aus nichthändelschen Quellen geflossen. Nur soviel kann man von diesen Werken, wenn man ihre bisherigen Schicksale geschichtlich versteht, mit Sicherheit weissagen: Was sie in der Welt bereits gewirkt haben, wird nichts sein gegen das, was sie noch zu wirken berufen sind.

[793] (Mainwaring), Memoirs of the life of the late G. F. Handel. London 1760, 8°, deutsch von Mattheson, Hamburg 1761, 8°. – Burney, Commemoration of Handel, and Sketch of his life. London 1785, 4°, deutsch von Eschenburg, Hamb. 1786, 4°. – (Coxe), Anecdotes of G. F. Handel and J. Chr. Smith. London 1799, 4°. – V. Schölcher, Life of Handel. London 1857. 8°. – Fr. Chrysander, G. F. Händel. 1. Bd. Leipz. 1858. 2. Bd. 1860. 3. Bd. 1. Hälfte 1867/8. (Der Schluß dieser Biographie ist noch nicht erschienen).

[777] *) Zu Bd. X. S. 500. Es war der Redaction nicht möglich, das Manuscript dieses Artikels früher zu erlangen.