Zum Inhalt springen

ADB:Löscher, Valentin Ernst

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Löscher, Valentin Ernst“ von Gotthard Lechler in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 19 (1884), S. 209–213, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:L%C3%B6scher,_Valentin_Ernst&oldid=- (Version vom 27. Dezember 2024, 10:09 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Loescher, Abraham
Band 19 (1884), S. 209–213 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Valentin Ernst Löscher in der Wikipedia
Valentin Ernst Löscher in Wikidata
GND-Nummer 118728830
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|19|209|213|Löscher, Valentin Ernst|Gotthard Lechler|ADB:Löscher, Valentin Ernst}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118728830}}    

Löscher: Valentin Ernst L., war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Vorkämpfer der lutherischen Orthodoxie gegenüber dem Pietismus. Geb. am 29. December 1673 zu Sondershausen, als der Sohn des Superintendenten daselbst, und Sprößling eines Predigergeschlechts, genoß er den ersten humanistischen Unterricht zu Zwickau, wohin sein Vater 1679 als Superintendent berufen worden; seit 1687 aber besuchte er die Schule zu Wittenberg, nachdem sein Vater eine theologische Professur daselbst erhalten hatte. Im 17. Jahre bezog er die Universität daselbst, studirte in den ersten Jahren ausschließlich Philologie und Geschichte, und wandte sich nur auf Andringen seines Vaters der Theologie zu, promovirte 1692 zum Magister und hielt mit glänzendem Erfolge sofort philosophische Vorlesungen. Ein längerer Aufenthalt in Jena 1694 begeisterte ihn für Theologie, insbesondere für Kirchengeschichte. Im J. 1695 f. machte er eine gelehrte Reise nach Braunschweig und Hamburg, wo Joh. Friedr. Mayer in ihm Interesse für die Polemik gegen den Pietismus erweckte; sodann besuchte er die Niederlande und Dänemark, und kehrte über Rostock, wo er sich mit D. Fecht befreundete, nach Wittenberg zurück. Er eröffnete seine Vorlesungen wieder, sah jetzt die Vertheidigung der reinen Lehre [210] als seine heiligste Aufgabe an, ließ sich aber wiederum von seiner Neigung zu vielseitigen Studien hinreißen.

Die Berufung zum Pfarrer und Superintendenten in Jüterbogk veranlaßte eine innere Wendung. Am 29. December 1698 trat er sein Amt an. Nun widmete sich der gewissenhafte Mann den Pflichten desselben in erster Linie, und wurde allmählich für Kirche und Theologie als seinen Hauptberuf gewonnen. Im J. 1701 wurde er in einen größeren Wirkungskreis versetzt durch Berufung zum Pfarrer und Superintendenten in Delitzsch. Seitdem er aber nach Deutschmann’s Tod (1707) als Professor der Theologie nach Wittenberg berufen war und diesem Rufe folgte, erwachte aufs neue die ursprüngliche Vorliebe für rein wissenschaftliche Arbeiten. Aber schon nach zwei Jahren berief ihn nach Dresden zum Pastor der Kreuzkirche der Rath der Stadt, während ihm die Regierung die Superintendentur und eine Assessorstelle im Oberconsistorium antrug. Nach schwerem innerem Kampf folgte er 1709 diesem Rufe, und blieb in dieser Stellung, ungeachtet der ehrenvollsten Berufungen nach Hamburg, Holstein etc., fast volle 40 Jahre bis zu seinem Tode. Schon in seinem ersten geistlichen Amte, zu Jüterbogk, hielt er Katechismusexamina und führte dieselben in der ganzen Diöcese ein; der Katechismusunterricht war aber durch Spener wieder belebt worden. Er erkannte auch in den (von Spener ausgesprochenen) Klagen über den gesunkenen Stand des Christenthums Wahrheit, räumte vollständig ein, daß bloßes Wissen von den Glaubensartikeln und äußerlich rechtschaffener Wandel noch nicht den Christenstand ausmachen; es gehöre dazu heilige Andacht, der Geist der Gnade und des Gebets nebst Selbstverleugnung; dem entsprechend hielt er auch eine Herzenstheologie, d. h. eine gesunde theologia mystica, wie Luther und Joh. Arndt sie gehabt, für unentbehrlich. Ja selbst collegia pietatis hielt er, unter gewissen Bedingungen, für heilsam und wünschenswerth. Lauter Stücke, die von Spener und dem Pietismus geltend gemacht und in Uebung gesetzt waren. Obige Ansichten sprach L. öffentlich aus in seiner Schrift: „Edle Andachtsstücke“. Noch nie seit dem Auftreten des Pietismus hatte ein Mann von orthodoxer Gesinnung so weit, als L., Grundgedanken der pietistischen Bewegung als wahr und berechtigt anerkannt. Ja L. schrieb als Superintendent in Delitzsch Abhandlungen, die er selbst seine „Pia desideria“ nannte (in den „Unschuldigen Nachrichten“, 1703, der ersten kirchlichen Zeitschrift, die je erschienen ist): es genüge nicht, blos der Wahrheit dienen zu wollen; veritas et pietatis, Wahrheit und Gottesfurcht solle unser beständiges Symbolum bleiben. An allen drei Ständen: Lehrstand, Obrigkeit und Hausstand, liege die Schuld des kirchkichen Verfalls. Die Geistlichen sollten viel mehr, als der Fall sei, mit einander durch das Band der Liebe verbunden sein. Zu diesem Behufe suchte er die Pastoralconferenzen neu zu beleben. Dem Verfall der Kirchenzucht in der lutherischen Kirche würde merklich abgeholfen werden, erinnerte er, wenn man die beiden ersten Stufen der Admonition, das solus solum admone, und das coram testibus admone, gewissenhafter üben wollte. Um aber einen Nachwuchs frommer, treuer Prediger heranzubilden, müsse das Leben der Theologie Studirenden auf den Universitäten ein anderes werden. Darauf hinzuwirken sei die Pflicht der akademischen Lehrer. Diese bittet er dringend, dessen eingedenk zu sein. Ferner erinnert er, die Consistorien sollten Kirchenvisitationen in geistlicher und nicht blos äußerlicher Weise, wieder anstellen. Er war überzeugt, dadurch würden die Kirchenregimente wieder mehr in die Kirche selbst sich eingliedern. In den Gemeinden aber (Hausstand), meint er, sollte die Diakonie wieder hergestellt werden. Lauter Gedanken, welche einerseits das Gesunde am Pietismus sich angeeignet haben, andererseits die innere Mission der Gegenwart weissagend vorbilden, während L. bei alle dem seine kirchliche Gesinnung [211] unentwegt festhält. Vom Jahre 1703–24 nahm ihn der Kampf gegen die preußischen Unionsversuche, beziehungsweise gegen die Reformirten, in Anspruch. Im J. 1703 hatte König Friedrich I. ein Unionscollegium in Berlin eingesetzt, um zwischen der lutherischen und reformirten Kirche zu unterhandeln. Spener lehnte den Eintritt in das Collegium ab, theils aus persönlichen Gründen, theils weil er einen Unionsversuch nicht für opportun hielt, im Gegentheil nur schlimmeren Zwiespalt davon voraus sah. Unter dem Namen eines Mitgliedes dieser Commission, des Domdiakonus Joh. Joseph Winckler zu Magdeburg, erschien nun eine Schrift: Arcanum regium, welche auf Grund des absolutistisch gefaßten jus episcopale des Landesherrn, von pietistischen Anschauungen aus die Union befürwortete. L., zu Delitzsch, nahe der preußischen Grenze, versuchte anfangs lutherische Prediger in der Kurmark zu öffentlichen Protesten anzuregen; aber Niemand hatte den Muth dazu. Da entschloß er sich, ungeachtet seine Neigung dem widerstrebte, für die lutherische Kirche und gegen den preußischen Unionsversuch aufzutreten in der 1703 anonym erschienenen „Allerunterthänigsten Adresse – die Religionsvereinigung betreffend“. Er bezeichnete das Unternehmen an sich, die beiden evangelischen Kirchen zu vereinigen, als ein wahrhaft königliches Werk, bekämpfte dagegen sowol die politischen Hintergedanken der einen als die schwärmerischen Gesinnungen der anderen (pietistischen) Freunde der Sache, und hob die wesentlichen Lehrgegensätze zwischen der lutherischen und reformirten Kirche hervor. Diese Schrift wirkte. Winckler sagte sich von dem Arcanum regium los. Das Unionscollegium in Berlin wurde aufgelöst. Reformirte Theologen traten gegen die „Adresse“ auf. Dem reformirten Professor der Theologie Bekmann in Frankfurt a. d. O. gegenüber gab L. zu seiner Rechtfertigung Forschungen heraus über die Debatten zwischen lutherischer und reformirter Kirche von Luther an, seine „Ausführliche Historia motuum“ etc., wovon drei Theile 1707, 1708, 1724 erschienen. Der letzte Theil, aus Anlaß der Befürwortung einer Union von Seiten der Württemberger Theologen Chr. Klemm und Kanzler Pfaff herausgegeben, hatte zum Anhang die „Friedfertige Anrede und Ermahnung an die reformirten Gemeinden in Deutschland“.

Nach Spener’s Tod (1705) trat als lautester Wortführer und Vorkämpfer der Pietisten gegen die Orthodoxen Joachim Lange auf den Plan. Er war Rector eines Gymnasiums in Berlin, übernahm dazu noch ein Predigtamt daselbst, bis er 1709 Breithaupt’s Nachfolger als Professor in Halle wurde. Im J. 1706 erschien seine „Aufrichtige Nachricht von der Unrichtigkeit der sogen. Unschuldigen Nachrichten etc.“ Hiermit griff er nicht nur die von L. redigirte Zeitschrift und Löschern selbst, sondern auch die Orthodoxen überhaupt an, die er nur „Pseudoorthodoxe“ nannte. Diese Streitschrift Joachim Lange’s bildet eine Epoche in der Geschichte der pietistischen Streitigkeiten. Bis dahin hatten die Pietisten sich zu vertheidigen gehabt. Nun ergriff der Pietismus die Offensive und zwar der gemäßigte Pietismus, mit dem Anspruch auf Kirchlichkeit; dennoch war der Angriff Joachim Lange’s ein leidenschaftlicher und gehässiger. L. stürzte sich nicht unbesonnen in den Kampf. Er war inzwischen Professor zu Wittenberg geworden; neben den Pflichten des akademischen Amtes ließ er sich anfangs nur auf Vorarbeiten zum Angriff ein. Dann nahm er den Ruf nach Dresden an, wo ein geschäftsvolles dreifaches Amt ihn anfangs vollständig in Anspruch nahm und sein treues Wirken höchst erfolgreich wurde, für „Wahrheit und Gottseligkeit“, nach seinem Wahlspruch. Erst 1711 mit seinem Timotheus Verinus (Jahrg. 1711 f. der Unschuldigen Nachrichten), sodann mit dem „Vollständigen Timotheus Verinus“, I. 1718, II. 1722, führte er den Kampf gegen den Pietismus, jedoch in maßvoller, würdiger Weise, so daß ihm stets Verständigung und Ausgleichung der Gegensätze, als zu erstrebendes Ziel vorschwebte. [212] Im Mai 1719 verhandelte er mit Aug. Hermann Francke und Herrnschmidt in Merseburg persönlich, jedoch ohne Erfolg. Seit 1722 ließ er den Kampf gegen die Pietisten ruhen. – Die römische Kirche hatte L. von früh an scharf ins Auge gefaßt, die Geschichte des Papstthums studirt. Da aber in Folge der Richtung Calixt’s und des Pietismus Gleichgültigkeit gegen die Kirche überhand nahm, so hatte er, zumal nachdem er in Dresden einen endgültigen Beruf gefunden, unter einem zur römischen Kirche übergetretenen Fürsten, doppelte Veranlassung, dem immer kühneren Andringen des Romanismus entgegenzutreten. In gelehrten Abhandlungen und Volksschriften, wie die Gespräche „Der abgewiesene Demas“ und „Römisch-katholische Discurse vom evangelischen Jubeljahr etc. 1717“, weckte er das kirchliche Bewußtsein seiner Glaubensgenossen und ließ seinen Warnungsruf erschallen. Aus polemischem Interesse ging auch die umfassende Urkundensammlung hervor: „Vollständige Reformationsacta“ in 3 Theilen, 1720, 1723. 1729. Durch alles das erlangte er freilich keine Gunst nach oben: dreimal wurde, so lange er seine Aemter in Dresden verwaltete, die Oberhofpredigerstelle daselbst erledigt; jedesmal wurde L. übergangen und bequemere Männer dazu erwählt. Noch im J. 1737 erlebte er den Schmerz für die lutherische Kirche, daß sie aus der Schloßkapelle verdrängt wurde; er selbst, als Pastor der Kreuzkirche, hatte, altem Herkommen gemäß, am dritten Pfingstfeiertage jenes Jahres die letzte evangelische Predigt in der Kapelle des königl. Schlosses zu halten; eine Aufgabe, der er sich mit ebenso viel Weisheit als tiefem Ernst und innigem Gefühl entledigte. – Den philosophischen Indifferentismus hatte L. von Anfang an wachsam beobachtet. Nachdem sein Kampf gegen den Pietismus beendet war und die Verweisung Christian Wolffs von Halle (1723) Aufsehen erregt hatte, die Wolff’sche Philosophie aber immer allgemeineren Beifall fand, trat L., nach mehr denn zehnjährigem Studium der Leibnitz-Wolff’schen Philosophie, 1735 mit einem wohlüberlegten Warnungsruf: „Quo ruitis?“ an die akademische Jugend heran. Er wies nach, in welchen Stücken der Glaube durch Wolff’sche Principien gefährdet werde. Allein sein prophetisch warnendes Wort verhallte fruchtlos. – Mit Graf Zinzendorf und der Brüdergemeinde kam L. in persönliche und amtliche Berührung. Als Mitglied einer landesherrlichen Commission, welche 1736 nach Herrnhut abgesandt wurde, hat L. an Ort und Stelle schließlich den guten Stand der Gemeinde öffentlich gerühmt, und sie unter Thränen gebeten, bei der evangelisch-lutherischen Kirche zu bleiben. Jedoch 1745 lehnte er die Bitte des Grafen ab, sich aus Anlaß einer neuen Untersuchung für die Brüdergemeinde zu verwenden. – Als Superintendent in Delitzsch hatte er sich verehelicht mit Elisabeth Krausold, der Tochter eines Hofraths zu Merseburg. Elf Kinder wurden ihm geschenkt, von denen jedoch fünf nach den ersten Monaten starben. Sein Familienleben war ein glückliches, seine Gesundheit bis ins 66. Jahr ungestört. Von da an trafen ihn leichte Schlaganfälle, jedoch konnte er am ersten Advent 1748 sein 50jähriges Amtsjubiläum, unter herzlicher Theilnahme von Hoch und Niedrig, Stadt und Land, begehen. Aber von da an nahmen seine Kräfte ab; am 12. Febr. 1749 starb er mit klarem Bewußtsein und herzlichem Gebet.

Valentin Ernst L. war von seinem 25. Jahre an ein halbes Jahrhundert lang eine Säule der deutschen evangelisch-lutherischen Kirche, treu ihrem Bekenntniß, mannhaft für ihr Recht, unermüdet in Wort und Schrift für ihr Bestes arbeitend, mit Treue im Kleinen und umfassendem Gesichtskreis, streitbar gegen alle Gegner der Kirche zur Rechten und zur Linken, ein Vorkämpfer der Kirche wie wenige. Viele Gedanken und Gesinnungen des Mannes sind zu seiner Zeit wenig beachtet worden, haben aber etwas Prophetisches für unser Jahrhundert. Ganz besondere Bedeutung hat namentlich die Stellung, welche [213] L. zum Pietismus eingenommen hat. Zwar war er mindestens ein Jahrzehnt lang der Hauptkämpfer Namens der lutherischen Kirche gegen den Pietismus. Dessen ungeachtet war sein Wahlspruch: „Veritas et Pietas“. Hat er doch selbst „Pia desideria“ geschrieben, und manche Arbeiten, die zuerst Spener unternommen und empfohlen hatte, selbst in die Hand genommen und gefördert. Gottseligkeit und Leben zu pflanzen und zu pflegen, bei aller Treue gegen die Kirche und ihr Bekenntniß, das war seines Lebens Zweck. Es ist schwerlich zu viel gesagt, wenn wir behaupten, L. sei derjenige gewesen, der, bei aller Wachsamkeit gegen den üblen Einfluß des Pietismus, das Gesunde, Wahre und Gute, was in diesem war, anerkannt, und in die evangelisch-lutherische Kirche hineingeleitet hat, ihr zu gute.