ADB:Lüthy, Urs Joseph
Johann Kaspar Lavater in Zürich und trug dem im Zenithe seines Ruhmes stehenden Schriftsteller seine Freundschaft und fortdauernden Briefwechsel an. Lavater wies ihn ernst-freundlich zurecht, nahm sich aber seiner an und brachte ihn in Verbindung mit den litterarischen Kreisen [695] in Zürich, insbesondere mit seinem Secretär Armbruster. Dies wurde entscheidend für Lüthy’s Lebensschicksale. Armbruster gab damals sein „Schwäbisches Museum“ heraus. Er drängte den Freund um einen Beitrag und L., gerade damals in seinen Plänen für weitere Ausbildung zurückgestoßen, machte seinem Unwillen in satyrischen Briefen Luft, welche Armbruster, trotz dem wiederholten Abmahnen des Verfassers, unter dem Titel „Theodorus Rabiosus über den schweizerischen Freistaat Solothurn“ in den ersten Band seines Museums (Kempten 1785) aufnahm. Der Aufsatz mit seinen harten Ausfällen gegen Regierung, Schule und Leben mußte in Solothurn einen Sturm hervorrufen. Auf Ansuchen des Rathes wurde Armbruster in Zürich verhaftet und nach dem Verfasser inquirirt. L., welcher sich zur Ausbildung in der französischen Sprache nach Dijon begeben hatte, stellte sich im März 1786 freiwillig in Solothurn zur Bestrafung und wurde zu einjähriger Zuchthausstrafe und zu achtjähriger Verbannung aus der Eidgenossenschaft verurtheilt. Wegen Kränklichkeit nach einem Vierteljahre aus dem Zuchthause entlassen, verließ L. am 5. Juli 1786 die Vaterstadt, um an der Universität Wien den Rechtsstudien obzuliegen. Noch vor seiner Verurtheilung hatte L. in Verbindung mit schweizerischen und deutschen Dichtern (J. G. Jacobi, Armbruster, Hegner, Salis u. A.) in Basel 1785 den „Schweizerischen Musenalmanach“ herausgegeben. Im Zuchthause hatte er fort gesammelt und gedichtet, ohne einen zweiten Jahrgang zu Stande zu bringen. In Wien gab er 1787 seine „Fabeln“, 1788 seine „Scherzhaften Gedichte“ heraus, Poesien in der Manier von Lichtwer, Gleim und Jacobi; in Wien machte er auch die Bekanntschaft des verdienten P. Michael Denis, der ihn auf den Werth der alten Volkslieder hinwies. Im J. 1789 durfte der Verbannte nach Luzern, 1791 in die Vaterstadt zurückkehren. In Solothurn arbeitete sich L. in die juristische Praxis ein; er war 1794 Notar und bald ein geachteter Geschäftsmann. Daneben pflegte er die Poesie mit gleichgesinnten Freunden in dem von dem geistreichen Buchdrucker Franz Jos. Gaßmann herausgegebenen „Solothurnischen Wochenblatt“ (1788–1795), und bei dem von Frankreich ausgehenden Ideenumschwunge wurde das litterarische Kränzchen zum politischen Patriotenclub, der mit Freunden in und außer der Schweiz an einer Umgestaltung derselben arbeitete. Im Februar 1798 wurde er mit seinen Freunden verhaftet und erst am 2. März bei der Einnahme Solothurns durch das französische Heer aus dem Gefängnisse befreit. Damit erfolgte die Einsetzung einer provisorischen Regierung. L. wurde ihr Generalsecretär, der Festredner bei Aufrichtung des Freiheitsbaumes und nach Einsetzung der helvetischen Einheitsregierung Mitglied des Senates in Aarau, Luzern und Bern, und mehrmals Präsident dieser Behörde. L. gehörte mit P. Usteri und J. K. Escher zu den Führern der spottweise genannten Gelehrten und Grundsätzler, die mit idealem Streben für Bildung und Freiheit den in damaligen Umständen aller Anerkennung werthen Muth verbanden, selbst der jedes Unabhängigkeitsgefühl erdrückenden Mutterrepublik Frankreich und den Gewaltthätigkeiten der französischen Beamten und Generale entgegenzutreten. L. trat in Opposition gegen diesen rücksichtslosen Unitarismus der Directoren Ochs und Laharpe und ebenso gegen Föderativgelüste; er trat als Redner auf, wo es höheren Interessen galt oder wo ein Wort edler Mäßigung und Leidenschaftslosigkeit Noth that; er nahm 1800 thätigen Antheil am Sturze des helvetischen Directoriums und wurde der erste Präsident des neuen gesetzgebenden Rathes; er betheiligte sich bei der Redaction des helvetischen Tagblattes und des Freiheitsfreundes, war Mitglied der Commission zur Anlegung der Nationalbibliothek und der im Juli 1800 zu Bern gegründeten Gesellschaft, um Pestalozzi’s neue Unterrichtsmethode in Burgdorf näher zu prüfen. Nach den politischen Umgestaltungen vom Herbste 1801 wurde L. zum Regierungsstatthalter des Kantons Solothurn und nach drei Monaten zum Mitglied der Verwaltungskammer [696] gewählt. Im September 1802 ward er Präsident des solothurn’schen Erziehungsrathes, und diese Stelle bekeidete er 35 Jahre lang bis zu seinem Tode, durch die politischen Veränderungen der Mediations- und Restaurationszeit hindurch, in welchen beiden Perioden er als Mitglied des Großen und Kleinen Rathes und des Staatsrathes, als oftmaliger Tagsatzungsgesandter und Abgeordneter zu wichtigen Conferenzen für die Eidgenossenschaft und den Kanton, namentlich für Organisation der kantonalen Rechtsverhältnisse und des Erziehungswesens, einflußreich thätig war. Je weniger der durch die Revolutionsstürme geläuterte, gereifte Mann an den Parteikämpfen Antheil nahm, welche besonders in den Jahren 1814 und 1815 den Kanton Solothurn ergriffen, um so mehr wandte er seine Thätigkeit neben den Verbesserungen im Erziehungswesen litterarischen Bestrebungen zu. Auch in den politisch bewegten Zeiten der Helvetik war seine Vorliebe für Poesie nicht gelähmt. Er trug im helvetischen Senate darauf an, dem Dichter Wieland das nationale Ehrenbürgerrecht zu schenken; er ließ von seinen eigenen Gedichten in Zeitschriften und poetischen Sammlungen erscheinen und suchte in dem während vieler Jahre von ihm herausgegebenen Solothurner Kalender, anerkannt dem besten schweizerischen Volkskalender damaliger Zeit, in Belehrung und Unterhaltung veredelnd auf das Volk zu wirken. Insbesondere aber war L. für schweizerische Geschichtsforschung thätig. Mit seinem jüngeren Freunde, dem schweizerischen Geschichtschreiber Robert Glutz gründete er 1810 das „Solothurnische Wochenblatt“, und als Glutz bald zurücktrat, redigirte L. 1810–1834 dasselbe und legte darin, mit Hülfe theilnehmender Freunde aus mehreren Kantonen der Schweiz, insbesondere des Arztes Peter Ignaz Scherer in Solothurn, einen Schatz von gegen 4000 meistens ungedruckten Urkunden aus dem 10. bis 16. Jahrhundert nieder, welche über die Geschichte der nordwestlichen Schweiz reiche und vielfach neue Aufschlüsse geben. In den früheren Jahrgängen, welche fast ausschließlich die Geschichte des Kantons Solothurn behandeln, sind die Urkunden in historische Aufsätze, mit vielen kleineren Miscellen, verwoben; in den späteren Jahrgängen sind sie, oft ohne alle Einleitung und Bemerkungen, in Sammlungen mit zuweilen humoristischen Titeln chronologisch an einander gereiht. Aber nicht nur in den engeren Kreis hauptsächlich der westlichen oder burgundischen Schweiz bannten sich seine Forschungen. „Ein neues Feld“, sagt der Geschichtschreiber Jos. Eutych Kopp bei Beurtheilung von Lüthy’s Verdiensten um die schweizerische Geschichte, „eröffnete sich allmählich dem weiter schauenden Auge; durch eine Reihe vieler Jahrhunderte rollten sich die Schicksale der Kaiser und Könige ab; im Vordergrund späterer Zeit werfen auch die Geschicke der Herzöge von Oesterreich ihren Schatten auf das Land. Neben dem Gewichte solcher Gewalten standen die kleinen Ereignisse des täglichen Lebens; auch diese durften der Aufzeichnung des Forschers nicht entgehen. So hauchte L. einem unscheinbaren Blättchen seinen historischen Odem ein und wurde dadurch der Schöpfer der neueren Forschung für die schweizerische Geschichte“. Auch jetzt noch sind die 25 Jahrgänge des Solothurnischen Wochenblattes eine reiche urkundliche Fundgrube geblieben. In anstrengender Arbeit war L. vor der Zeit alt geworden. Wohl wurde er bei der Verfassungs- und Regierungsänderung von 1830 von seinen dankbaren Mitbürgern wieder zum Mitgliede des Großen Rathes und des neuen Regierungsrathes und zum Chef des Erziehungswesens gewählt; aber seine Kraft nahm ab und seine erblindenden Augen nöthigten ihn die Redaktion des Wochenblattes niederzulegen. Er starb nach kurzer Krankheit in der Nacht des 13. Januars 1837.
Lüthy: Urs Joseph L., schweizerischer Geschichtsforscher und Staatsmann. – Urs Joseph Fidel L. ist am 22. Octbr. 1765 in Solothurn geboren. Er war noch nicht fünf Jahre alt, als sein Vater, ein rühriger Bäckermeister, bei einem Uebungslager der solothurnschen Artilleristen von einer Kanonenkugel getödtet wurde. Der Broterwerb der Familie lag nun ganz der Mutter ob, welche ihre unmündigen Kinder in ernster Zucht und christlicher Frömmigkeit erzog. Da dem talentvollen Knaben von Geburt an die rechte Hand fehlte, zog er sich schon in früher Jugend von den Spielen seiner Altersgenossen zu seinen lieben Büchern zurück und in den Stadtschulen und an dem von Exjesuiten geleiteten Collegium der Vaterstadt zeichnete er sich vor allen seinen Mitschülern aus. In seiner Abgeschlossenheit bildete sich sein lebhafter Geist eine eigene ideale Welt, und es war sein eifrigstes Streben, sich über die ehrsame Handwerksinnung zu erheben, in die er durch Geburt und Vorurtheil der Zeit hinuntergedrückt war. So entwickelte er sich zu einer Frühreife, welche mit revolutionärer Bitterkeit gepaart war. L. wollte Schriftsteller, wollte Dichter werden und in diesem Sinne wandte sich der sechszehnjährige Jüngling in einem überschwenglichen Briefe an