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ADB:Salis-Seewis, Johann Gaudenz Graf von

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Artikel „Salis-Seewis, Johann Gaudenz von“ von Adolf Frey in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 30 (1890), S. 245–248, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Salis-Seewis,_Johann_Gaudenz_Graf_von&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 20:43 Uhr UTC)
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Band 30 (1890), S. 245–248 (Quelle).
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Salis-Seewis: Johann Gaudenz v. S. wurde am 26. December 1762 in dem Schloß Bothmar bei Malans geboren als der Sproß der Linie Salis-Seewis, welche sich von dem in die Geschicke Graubündens engverflochtenen Geschlechte derer von Salis im sechzehnten Jahrhundert abgezweigt hatte. Der Vater, Johann Ulrich, im Geiste der Aufklärungszeit philosophisch und durch den französischen Fremdendienst weltmännisch gebildet, ließ dem Sohn eine sorgfältige [246] Erziehung geben, wie sie den fortgeschrittensten Begriffen seiner Standesgenossem entsprach und wie sie die sensible, nach der Mutter (Jakobea v. Salis-Bothmar) geartete Seele des weichen phantasievollen Knaben gerne aufnahm. Er verlebte eine glückliche Jugend, durch die Lehrer Conradi, Schulze, Lehmann, besonders aber durch den später im preußischen Schulwesen bekannt gewordenen Hilmer unterrichtet und erzogen, welcher ihn 1778 in eine Pension nach Lausanne begleitete und den weltmännischen und gelehrten Bildungselementen der Gesellschaft und der Akademie die seiner privaten Bemühungen beifügte. Mit Marianne Porta verband den Jüngling damals ein poetisch zartes, unausgesprochenes Liebesverhältniß, dem er 1779 durch seine Abreise nach Paris entrissen wurde, wo er im August als Fähndrich in die Schweizergarde eintrat; schon im November wurde er zum Officier ernannt. Der leichte, durch kürzeren und längeren Urlaub in die Heimath unterbrochene Dienst ließ ihn auch jetzt noch seiner Bildung, der Geselligkeit und der erwachenden Muse beinahe unbehindert leben und eine Reihe von Verbindungen mit litterarisch oder sonst bedeutsamen Persönlichkeiten anknüpfen, so mit Pfeffel, Lerse, Sophie la Roche, Reichard, Johann Caspar Schweizer, Mirabeau, in der Heimath mit Füßli, Lavater, Geßner, Banfi, mit dem ihn durch lange Jahre ein Briefwechsel verband, u. A. m. Litterarisch oder auch persönlich kam er später fast zu allen bekannten Namen des schriftstellernden Deutschlands in Beziehung, wie zu Voß, Klopstock, Wieland, den beiden Jacobi, Schubart, Miller und den Weimaranern; denn seine geistige Heimath sah er in Deutschland und fühlte sich von französischen Einflüssen kaum gestreift. Seine poetischen Erstlinge erschienen vom Jahre 1783 ab in deutschen und schweizerischen Zeitschriften, im „Göttinger Musenalmanach“, „Leipziger Almanach“, „Hamburger Musenalmanach“ und „Schweizerischen Almanach“ und fanden schnellen und weitverbreiteten Beifall. Da alle Versuche, die Hauptmannsstelle in der Erbcompagnie der Salis-Seewis bei der Schweizergarde zu erhalten, scheiterten, so trat der Dichter im September 1786 als Hauptmann in das zu Arras liegende Linienregiment Salis-Samaden; den Aufenthalt in der Provinz verschönte ihm ein inniger Freundschaftsbund mit dem Basler Remy Frey, reichliche, besonders Rousseau zugewendete Lectüre, die für seine socialen und politischen Ansichten und dadurch für eine nahe Schicksalswendung entscheidend wurde, und die langsam wiederertönende Leier. Der Spätherbst 1787 fand ihn in der Heimath, wo er während eines längeren Urlaubs seine nachherige Frau, Ursina von Pestalozzi, kennen lernte, die „Berenice“ seiner Lieder, nach Marianne das einzige geliebte Weib und das einzige, welches der edel und tief fühlende Dichter besang, den Sittenreinheit, Feingefühl, Bescheidenheit und Schönheit zu einem Liebling der Frauen machten. Die Verbindung hinderte zunächst der Widerstand seines Vaters, bald aber auch die durch die französische Revolution völlig veränderte äußere Lage des Dichters. Als S. in den ersten Junitagen 1789 nach Paris zurückkehrte, fand er sein Regiment bereits in der Nähe der Stadt consignirt, und es begann eine Zeit wochenlanger aufreibender Marsch- und Schlagbereitschaft, während welcher S. mehr als eine für die Volksstimmung bezeichnende Scene erlebte, aber unter Aufregungen und Strapazen, Allarmen und stundenlangen zwecklosen Märschen, Hunger und Schlaflosigkeit den entschlossenen Muth und die Besonnenheit gegenüber dem Hohn und den Thätlichkeiten des fanatisirten Pöbels bewahrte. Wenig fehlte, so hätte er am 14. Juli die Vertheidigung der Bastille zu übernehmen gehabt, zu welcher dann eine kleinere Abtheilung unter seinem Lieutenant von der Flüe befehligt wurde, während er am Pont tournant stand, dazu verdammt, die Angriffe des Pöbels unerwidert auszuhalten. Als die Schweizer aus Paris gezogen wurden, kam sein Regiment nach Rouen; er erlebte in der mäßig revolutionirten Stadt die auslaufenden [247] Wellenschläge der hauptstädtischen Bewegung, leitete die militärische Bedeckung der Kornfuhren nach Paris und legte schließlich nach manchen inneren und äußeren Erlebnissen, welche ihn zum begeisterten Anhänger der Freiheit gemacht hatten, am 3. Juli 1791 den Treueid an die Nation ab (worin der König nicht inbegriffen war), nachdem er sich vor seiner Compagnie über diesen Schritt erklärt hatte. Mißhelligkeiten mit seinem Vorgesetzten, dem Oberstlieutenant von Bachmann, eine Folge der freiheitlichen Gesinnungen des Dichters, trieben ihn nach Paris, um Recht zu suchen, und er wurde, auf seinem Zimmer verborgen, Zeuge der furchtbaren Schicksale der Landsleute am 10. August und in den ersten Septembertagen 1792. – Sein Aufenthalt in Rouen (1789–1792) wurde durch kleinere Expeditionen nach Givet, Elboeuf, eine sechswöchentliche Versetzung nach Havre, besonders aber durch eine fast halbjährige Bildungsreise nach den Niederlanden und Deutschland (1789–90) unterbrochen; drei Wintermonate lag er im Haag, wo ihn ein ernstliches Nervenfieber wochenlang festhielt und den Genesenden manches Freundschaftsband fesselte, so vor andern an David Heß, den späteren Caricaturenzeichner und Biographen Joh. Caspar Schweizer’s. In Deutschland – er reiste über Münster, Paderborn, Kassel, Gotha – lernte er besonders den Weimarer Litteraturkreis und Schiller kennen, auf der Rückreise aus der Heimath nach Paris war es ihm – ein inniger Briefwechsel hatte den Verkehr eingeleitet – endlich vergönnt, Matthisson in Montreux zu sehen, mit dem ihn von da an die wärmste Freundschaft und die Verwandtschaft der poetischen Eigenart fürs Leben verband.

Eine entscheidende Wendung seines Schicksals brachte die Entlassung aus dem Fremdendienst, welche er infolge jener Vorgänge mit Bachmann 1792 in Paris erreichte, und der Uebertritt in die Armee Montesquiou’s, wo er als Generalstabsadjutant eintrat – seine Hauptmannsstelle beim Regiment Salis–Samaden (das übrigens, wie die andern Schweizertruppen, kurz darauf aufgelöst wurde) blieb ihm mit allen Pensionsansprüchen reservirt. Allein die schwankende Stellung Montesquiou’s und die drohende Aussicht, gegen schweizerische Truppen kämpfen zu müssen, veranlaßten ihn nach einigen Wochen, seinen Abschied zu nehmen und für immer in die Heimath zurückzukehren. Hier war es ihm am 26. December 1793 endlich beschieden, seine geliebte Ursina heimzuführen. Der glücklichen Ehe mit der zarten, überaus sensiblen, an praktischem Blick dem Gatten überlegenen Frau entsproßten zwei Söhne (Johann Jakob und Johann Ulrich) und zwei Töchter (Meta und Sina); Ursina starb 1835. Schon nach wenigen Monaten und auf eine Reihe von Jahren erlitt die häusliche Zurückgezogenheit des Dichters mannigfache Störungen durch die verwirrten und äußerst schwierigen politischen Verhältnisse Graubündens, in welche der freisinnige, entschieden für den Anschluß an die helvetische Republik eintretende Patriot immer mehr verwickelt wurde. 1798 mußte er mit der unterliegenden Patriotenpartei flüchten und wandte sich mit Heinrich Zschokke u. A. an die helvetische Regierung nach Aarau und Luzern, von welcher er mit dem Inspectorat der Schaffhausener und Züricher Milizen betraut und beim Ausbruch des Feldzuges 1799 zum Generaladjutant und Generalstabschef der Schweizer Milizen ernannt wurde. Mehr als einmal im Feuer, ersetzte er bei Frauenfeld (25. Mai) den gefallenen General Weber und kämpfte in der ersten Schlacht von Zürich mit, fast immer an Massena’s Seite. Nach der Auflösung des schweizerischen Milizheeres erhielt auch er die lange ersehnte Enthebung von der überaus mühevollen und schwierigen Doppelstellung als Generalstabschef und Commandeur. Er kehrte zunächst in sein Milizinspectorat zurück und wohnte mit seiner durch mancherlei Mühsale und Entbehrungen gegangenen Familie in Zürich, bis sich nach einem kurzen Aufenthalt in Graubünden, wohl durch die [248] Vermittlung des bekannten Ministers Reinhard, eine neue Thätigkeit im Dienste der Helvetik zu Bern aufthat; er wurde im September 1800 Mitglied des gesetzgebenden Rathes, 1801 der helvetischen Tagsatzung und 1802 des obersten Gerichtshofes. Die Mediationsacte bewirkte die Entlassung aller helvetischen Behörden, so daß auch S. in die graubündische Heimath zurückkehren konnte. Die zweite Hälfte seines Lebens war hier ganz der Häuslichkeit, der Erziehung der Kinder und Verwaltung seiner Güter, besonders aber einer Unzahl von unentgeltlichen Ehrenämtern auf beinahe allen Gebieten der Verwaltung und Regierung und dem eidgenössischen Militärwesen gewidmet. Mit alten und neuen litterarischen Freunden knüpften sich Verbindungen, und eine schwache dichterische Nachblüte stellte sich ein. Durch mancherlei körperliche Beschwerden heimgesucht, aber hochangesehen und im glücklichen Familienkreis starb der Dichter am 29. Januar 1834 in Malans, etwas über 71 Jahre alt.

Salis’ Gedichte sind, von Matthisson bevorwortet, zum erstenmal 1793 und nachher in einer Reihe von Auflagen wieder erschienen. Er ist mit Matthisson der stärkste Repräsentant der sentimentalen naturschildernden Richtung in der Poesie des vorigen Jahrhunderts und vielleicht der einzige, der als Poet nicht nur die Schwelle des unseren überschritten, sondern auch – der beste Beweis für die Wahrheit und Gesundheit seiner Lyrik – bis in die Gegenwart gedauert hat. Seine Vorgänger sind in gewissem Sinne Klopstock und vor allem Hölty, an den sich bestimmte Anlehnungen nachweisen lassen, von welchem ihn aber die angeborene schwermüthige Stimmung unterscheidet. Eine vielleicht einzig dastehende Aehnlichkeit hat seine Poesie mit der Matthisson’s, doch geht sie nachweisbar nicht auf Entlehnung oder Nachahmung, sondern auf die große Verwandtschaft der poetischen Individualitäten zurück. Immerhin zeichnet ihn vor dem mit anspruchsvollerem und künstlicherem Apparat wirkenden Freund die größere Ursprünglichkeit und Wahrheit aus. So sehr er sich auch in der Landschaft, die er bevorzugt – Ebene mit stillen Weihern und Fichten-, Buchen- und Birkenwäldern und zitternde Espen – an ein damals beliebtes Modeschema hielt, so sehr sind die Gefühle, die er singt, erlebte Wahrheit, so rein ist die Stimmung, so ernst und gewissenhaft die künstlerische Arbeit, so streng die Beschränkung auf den seinem Talent allein entsprechenden Stoffkreis. In späteren Jahren machte sich ein Ueberwiegen der Reflexion vor der Schilderung geltend, und man empfindet hier den merkbaren Einfluß Schiller’s und Goethe’s.

W. G. Röder, Der Dichter Joh. Gaudenz v. Salis-Seewis. St. Gallen 1863. – Adolf Frey, Joh. Gaudenz v. Salis-Seewis (Kürschner’s deutsche Nationallitteratur, Bd. 41, 2. Abthg.); – Derselbe, Die Helvetische Armees und ihr Generalstabschef J. G. v. Salis-Seewis im J. 1799. Zürich 1888; – Derselbe, J. Gaudenz v. Salis-Seewis. Frauenfeld 1889.