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ADB:Mitterwurzer, Friedrich

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Artikel „Mitterwurzer, Anton Friedrich“ von Eugen Guglia in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 423–426, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Mitterwurzer,_Friedrich&oldid=- (Version vom 25. November 2024, 19:19 Uhr UTC)
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Mitterwurzer: Anton Friedrich M., Schauspieler, geboren am 16. October 1844 zu Dresden, † am 13. Februar 1897 zu Wien. Er stammte aus einer tirolischen Familie, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts zu Sterzing am Brenner ansässig war. Sein Vater, zuerst Schullehrer, widmete sich, von einem Oheim, der Capellmeister zu St. Stephan in Wien war, bestimmt, der Musik, wurde ein berühmter Sänger und eine Zierde des Dresdener Hoftheaters. Die Mutter, Anna Herold aus Basel, war als Schauspielerin gleichfalls an dieser Bühne thätig und die Lehrerin des Sohnes; sie studirte die ersten Rollen mit ihm ein. Als das schauspielerische Ideal seiner Jugend bezeichnete er selbst Emil Devrient; doch als er sich einmal, noch als junger Mensch, auf einer von Devrient entlehnten Geberde ertappte, war er unglücklich: „Ich bin ein Affe“, sagte er, „und kein Schauspieler“. Beeinflussung durch Davison wollen solche, die ihn in seiner Jugend sahen, bemerkt haben; er leugnete sie. 1862 oder 1864 ging er zum Theater, trat zuerst in Meißen in den „Unglücklichen“ des Kotzebue in einer kleinen Liebhaber- und Naturburschenrolle auf (Gustav Falk). Bei diesem Genre mußte er mehrere Jahre bleiben, obwohl er viel lieber ernste Charakterrollen gespielt hätte. Bei Maurice in Hamburg durfte er zuerst eine solche spielen, den Schulmeister in Mosenthals’s „Deborah“, aber er gefiel darin nicht. 1866 kam er nach Graz; hier hatte er auch in ernsten Rollen Beifall und erhielt nach und nach alle großen Helden- und Charakterliebhaber zugetheilt. 1867 gastirte er im Wiener Hofburgtheater (noch unter Laube’s Direction) als Hamlet, Tellheim, Petrucchio und Hauptmann Posert im Iffland’schen „Spieler“. Zu einem Engagement kam es nicht; er kehrte nach Graz zurück. Aber er hatte doch Laube ein solches Interesse eingeflößt, daß ihn dieser, als er bald darauf die Direction des Leipziger Stadttheaters übernahm, dorthin berief; auch hier bekam er größere Helden- und Charakterrollen: den Posa, [424] den Uriel Acosta, den Waffenmeister im „Wildfeuer“, die Titelrolle in Gottschall’s „Herzog von Weimar“, den Bastard in „König Lear“. 1871 engagirte ihn Dingelstedt fürs Burgtheater. Seine Antrittsrollen waren: Molière in Gutzkow’s „Urbild des Tartuffe“, Benedict in „Viel Lärm um Nichts“, Alba im „Egmont“. Mit einer kurzen Unterbrechung (1. Januar bis 31. August 1875) gehörte er nun dem Burgtheater bis zum Juni 1880 an. Dann war er am Wiener Stadttheater, am Ringtheater in Wien und wieder am Stadttheater engagirt. Im Herbst 1884 übernahm er die Direction des Carltheaters in Wien, dem er einen ernsteren Charakter zu geben suchte. Von 1886–1894 reiste er als Virtuose in Deutschland, Holland und Amerika. 1894 wurde er (ein noch nie dagewesener Fall) zum dritten Mal am Burgtheater engagirt (Direction Burkhard); seine Antrittsrollen waren diesmal Mephistopheles, Wallenstein und der Derblay im „Hüttenbesitzer“. Zum letzten Mal trat er am 4. Februar 1897 als Musikdirector Bergmann in dem „Lustspiel“ von Benedix auf.

Während seiner ersten beiden Burgtheaterengagements spielte er hauptsächlich Episodenrollen: alte Väter, Lebemänner und Wüstlinge, ernste und heitere Liebhaber, Tyrannen, Intriguanten und Bösewichter aller Art, Fanatiker, Kraftmenschen, komische Chargen, verlotterte Gesellen und verlorene Existenzen, eifersüchtige Ehemänner, die ihre Ehre rächen, feine Diplomaten, schwankende Charaktere, wie den König Eduard in „Richard III.“, den Leicester in der „Maria Stuart“, einfache, edle Menschen wie den Sultan im „Nathan“, den Burgund in der „Jungfrau“, Repräsentations- und Sprecherrollen wie den Questenberg im „Wallenstein“, den Fürsten in „Romeo und Julia“, den Bischof im „Demetrius“. Von ersten Partien wurden ihm außer dem Molière im „Urbild des Tartuffe“ anfangs nur der Fiesko zutheil, den Faust spielte er einmal als Lückenbüßer; in seinem zweiten Engagement durfte er auch in großen Zwischenräumen neben Lewinsky und Sonnenthal den Shylock, den Franz Moor, den Jago, den Marinelli, den Wurm, den Carlos im „Clavigo“, den König Philipp im „Don Carlos“, den Macbeth, den Mephistopheles, den Narciß, den Lord Rochester in der „Waise von Lowood“ spielen, den Caliban im „Sturm“ creirte er. Im Episodenfach von Publicum und Kritik fast einstimmig als ausgezeichnet anerkannt, fand er in Darstellungen erster Rollen nur etwa als Jago und Caliban ungetheilten Beifall, in einigen wurde er geradezu zurückgewiesen, so als Mephisto. Am Stadttheater spielte er mit großem Erfolg Bonvivants und heitere Liebhaber, so den Conrad Bolz in den „Journalisten“; von ernsten Rollen den Pfarrer von Kirchfeld und den Coupeau in der dramatischen Bearbeitung von Zola’s „Assomoir“. Auf seinen Wanderungen trat er wieder in allen großen Rollen auf wie einst in Graz. In seiner letzten Zeit, da er als großer Künstler fast einstimmig anerkannt war, von 1894–97 am Burgtheater, spielte er neu den Giboyer in der „Oeffentlichen Meinung“ und im „Pelikan“ des Augier, den Derwisch im „Nathan“, den Fox in Gottschall’s „Pitt und Fox“, den Bolingbroke in Scribe’s „Glas Wasser“, den Präsidenten im „Urbild des Tartuffe“, den alten Moor, den Müller in Raupach’s „Müller und sein Kind“, den Holofernes in Hebbels „Judith“, komische Rollen in alten Benedix-Stücken, wie den Doctor Wespe, den Doctor Hagen, den Musikdirector Bergmann; er creirte für Wien den Reisenden Keßler in Sudermann’s „Schmetterlingsschlacht“, den Allmers in Ibsen’s „Klein Eyolf“, den Tabarin von Catulle Mendès, den Röcknitz in Sudermann’s „Glück im Winkel“, die Titelrolle in der französischen Posse „Der Ministerialdirector“, zuletzt den Fechtmeister in Rostand’s „Romantischen“. Rollen, die er schon früher gespielt hatte, schuf er ganz oder theilweise um, so den Richard III., den Franz Moor, am meisten den König Philipp, am wenigsten [425] den Mephistopheles. Auf einer Gastspielreise im Winter 1896 spielte er (in Köln) zum ersten Mal den Lear. Die letzte Rolle, die er studirte, war der Swengali in dem Effektstück „Trilby“.

Er war ein großer stattlicher Mann, die linke Schulter etwas in die Höhe gezogen, der Gang häufig etwas vorwärts geneigt, wie zum Sprung ausholend, doch konnte er sich auch kerzengerade und steif halten. Seine Stimme war in der Mittellage nicht ganz voll und rein, sie trug aber weit und war vortrefflich für scharfe Auseinandersetzung, eindringliche Rede, Spott und Sarkasmus. Starke Wirkungen brachte er im Affekt durch Stammeln und Lallen, ein unheimliches Flüstern, ein zitterndes Hervorpressen und Herausringen der Worte hervor. Aber die Stimme konnte auch zum Donner anschwellen, einzelne Worte grell wie Blitze sich entladen. Nur rein rhetorische und lyrische Wirkung war ihr versagt. Entschieden war der Mimiker dem Redner bei ihm überlegen, sein machtvollstes Mittel war das Auge: es hatte „etwas Zwingendes; er liebte es zu verschleiern. Schlug er es dann mit seinem stählernen Leuchten auf, so war das, als verbreite sich eine Helle überall hin“. Von seiner Persönlichkeit schien ein geheimnißvoller Zauber auszugehen, den die Jugend zuerst verspürte und dem sie sich ganz ergab, als die Kritik sich noch sehr ablehnend verhielt: „man sah ihn mit Spannung auf den Brettern erscheinen, sich darauf bewegen, noch ehe er den Mund aufthat. Jede seiner lässigen und dennoch federnden Bewegungen verkündigte einen, der hier aus eigenem Rechte Herr und heimisch ist … er warf im zerstreuten Licht der Bühne seinen eigenen Schatten“ (David). Es geschah wol, daß man bloß für ihn – den Lauschenden, Zusehenden, Stummen – Interesse hatte und die das große Wort führten, darüber völlig vergaß (Scene zwischen Posa und dem König).

In der ersten Hälfte seiner Laufbahn erregte er durch seine Verwandlungsfähigkeit Aufsehen; in der Kunst der Maske war er virtuos. In seinen letzten Jahren legte er hierauf keinen großen Werth; er ließ fast immer sein wirkliches Gesicht sehen, nur mit leisen, feinen Strichen deutete er die Verschiedenheiten an. Gemeinsam war allen seinen größeren Partien ein gewisser nervöser Grundton: „wenigstens in einem Moment trat er hervor, man empfing dann den Eindruck einer hochgradigen Nervenerregung, die bisweilen die Grenzen des Wahnsinns streifte; ihre physiologischen Symptome waren ein grelles Funkeln des Auges, ein eigenthümliches Dehnen aller Körpermuskeln, die Gestalt schien über ihr gewöhnliches Maß hinauszuwachsen, Arme und Hände geriethen in fast chiragrische Bewegungen, um zuletzt mit krampfhaft geschlossenen Händen in die senkrechte Lage überzugehen, convulsivische Schauer durchzitterten den Leib, die Stimme wurde oft erstickt von einem nervösen Lachen: alles dies dauerte bisweilen nur einen Moment, war aber nie bloße Nachahmung, immer elementare Offenbarung innerer Exaltation.“

Sowohl in der Gesamtauffassung einer Gestalt wie in den einzelnen Zügen mied er beinahe ängstlich das Traditionelle und ganz besonders die Art unmittelbarer Vorgänger. So kehrte er, wie einst Seydelmann, in seinem Mephistopheles das Dämonische, die Incarnation des Bösen, den grimmigen Höllensohn hervor, da Lewinsky und Lobe in Wien hauptsächlich den Geist, der stets verneint, zur Anschauung gebracht hatten, obwol auch diese Auffassung von ihm sehr wohl hätte durchgeführt werden können. In seiner Frühzeit war es nicht immer ganz leicht, in der bunten Fülle seiner Einzelzüge das verbindende Grundelement auszufinden und ein Lieblingsvorwurf der Kritik gegen ihn war damals, daß er seine Rollen in eine Masse unvermittelter Details auflöse. In der Regel gab er sich über diese selbst Rechenschaft, freilich oft spitzfindig genug, oft aber ergaben sie sich ihm erst während des Spiels, [426] kamen einmal und nicht wieder. Eben dies verlieh seiner Darstellung einen neuen Reiz, daß er seine Rollen nie so unabänderlich fertig hatte, wie andere bedeutende Schauspieler: man wußte bei ihm nie, wie bei diesen, voraus, was nun kommen würde.

Nicht richtig ist, ihn als Bahnbrecher einer neuen realistischen Richtung zu bezeichnen, wie es wol früher öfters geschah. Eine natürliche, ungezwungene Sprechweise war im Burgtheater im Lustspiel wie im Schauspiel in Prosa seit langem heimisch. Neu war er nur vielleicht darin, daß er diese natürliche Sprechweise auch in die Jambentragödie übertrug: er konnte wol auch gar nicht deklamiren. Aber weder im Ton noch in der Geberde verfiel er in einen gemeinen Naturalismus, wie ihm einer seiner Bewunderer mit Recht nachrühmt: eine feingezogene Linie trennte ihn stets von der gewöhnlichen Wirklichkeit.

Auch der Schauspieler der sogenannten Moderne, war er nicht. Ibsen hat ihm eine Reihe mehr interessanter als dankbarer Aufgaben geliefert, aber er stand diesem Dichter skeptisch gegenüber und machte keinen Hehl daraus, daß er Benedix lieber spielte. Er war auch kein litterarischer Schauspieler und las fast nichts im Caféhaus als die Zeitungen. Als er dem Schreiber dieser Zeilen einst eine Scene aus dem „Tell“ vorspielen wollte, mußte er sich dazu erst das Buch kaufen, natürlich in der Reclam’schen Ausgabe.

Im Leben hatte er manche Sonderbarkeit. Er bewegte sich gern in Contrasten, ohne darum in ein komödiantenhaftes Wesen zu verfallen. Bald trug er sich als eleganter Weltmann, bald höchst einfach, ja vernachlässigt. Seine Laune wechselte zwischen tiefer Melancholie, die nicht gemacht war, und einer ausgelassenen grotesken Lustigkeit. Gern betonte er seine Zugehörigkeit zu allem fahrenden Volk, zu „Seiltänzern, Schlangenmenschen und Feuerfressern“, seine Abneigung vor der conventionellen Geselligkeit der Soireen und Bälle. Seine tirolische Abkunft verrieth er in einer entschieden kirchlichen Frömmigkeit, die er in jüngeren Jahren mit Exaltation zur Schau trug. Oefters sprach er die Befürchtung aus, in Wahnsinn zu enden, und da seine Großmutter väterlicherseits sowie eine Tante an religiösem Irrsinn gelitten hatten, sein Vater zuletzt gleichfalls geisteskrank war, so mochte er wol an einer erblichen Belastung getragen haben. Je älter er wurde, desto mehr suchte er darum in heiteren Rollen und in heiterer Lectüre gleichsam eine Zuflucht; in seinen letzten Jahren trat er wiederholt und mit dem größten Erfolg als Vorleser von Kindermärchen auf. Geheimnißvoll wie seine Persönlichkeit war sein plötzlicher Tod: einige sprachen von Selbstmord, die Section ergab Vergiftung durch ein Medicament, das, zum Gurgeln bestimmt, von ihm eingenommen wurde, doch mochte dies auch nur die Folge eines Irrthums gewesen sein.

S. meinen Artikel „Mitterwurzer“ im Biogr. Jahrbuch u. Deutschen Nekrolog, II. Bd. (1898), 109 f., wo auch die wichtigste Litteratur über ihn verzeichnet ist. Neu hinzugekommen sind seitdem Monographien von J. J. David (XIII. Bd. der Hagemann’schen Sammlung „Das Theater“, 1905). Besonders die Schilderungen seines König Philipp, Marinelli, Hjalmar Ekdal, Galomir, alten Moor sind hier bemerkenswerth, und die etwas später erschienene (1906) von Max Burkhard (diese, welche sich in erster Linie vorsetzt „das Bild des Menschen Mitterwurzer festzuhalten und richtigzustellen“, ist besonders werthvoll durch die Benutzung und Mittheilung zahlreicher Briefe M.’s an seine Braut und spätere Frau, sowie durch 2 Bildnisse aus M.’s Frühzeit).