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ADB:Nitschmann

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Artikel „Nitschmann“ von Hermann Arthur Lier in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 709–715, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nitschmann&oldid=- (Version vom 30. Dezember 2024, 17:39 Uhr UTC)
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Nitschmann. In der Geschichte der erneuerten Brüderkirche nimmt die überaus weit verzweigte Familie dieses Namens, welche bis heute wenigstens in einem Gliede noch fortlebt, eine besonders hervorragende Stellung ein. Dieselbe hatte im Anfange des vorigen Jahrhunderts ihre Wohnsitze in den mährischen Dörfern Kunewalde und Zauchtenthal und gehörte zu den letzten Abkömmlingen der alten böhmischen Brüder. Der Vorname David war besonders häufig in dieser Familie, so daß es schwer fällt, die verschiedenen David auseinander zu halten. So kennen wir einen David N., welcher nach dreijähriger Gefangenschaft im Jahre 1729 den Märtyrertod im Kerker zu Olmütz starb. (Nachrichten aus der Brüdergemeine 1840. Heft 1. S. 79–85.) Ein anderer D. N., seines Zeichens Schuster, erscheint als Aeltester und Oberältester der Gemeine, wieder ein anderer D. N., dem Berufe nach Wagenbauer, wird uns als einer der ersten Missionare, welche aus der Brüdergemeine hervorgegangen sind, genannt. Er war der Vater der Anna N. und ihrer beiden Brüder Melchior und Johann und starb 1758 zu Bethlehem in Pennsylvanien. (Nachrichten 1822. Heft 4. S. 616–628.) Außer den genannten sind dann noch zwei weitere D. N. hervorzuheben, der eine von Haus aus Zimmermann und später erster Bischof der erneuerten Brüderkirche (s. u.), der andere ein Zwillichweber, nachmals Missionar in Ceylon und schließlich Syndikus und Archivar der Gemeine († 1779 zu Zeist in Holland). Ueber alle diese Männer findet man Näheres bei (E. W. Cröger), Geschichte der erneuerten Brüderkirche, Thl. 1–3, Gnadau 1852–54.

Unter den Mitgliedern der Familie sind folgende hervorzuheben:

Anna N. war geboren am 24. November 1715 zu Kunewalde in Mähren. Schon frühzeitig erhielt sie in dem Hause ihrer frommen Eltern religiöse Eindrücke, da in ihrem achten Jahre (1724) die große Erweckung in Mähren begann. In ihrem väterlichen Hause sah sie damals oft Versammlungen von hundert bis zweihundert Personen. Des Sommers sang sie beim Hüten der Schafe und während der Arbeit auf dem Felde die Lieder der alten böhmischen Brüder und freute sich der Zeit, „wenn sie wieder freien Kirchgang haben würden“. Die Verfolgungen, denen sowol ihr Vater, David N. der Wagner, als ihr Bruder [710] Melchior N. († 1729 im Gefängnisse zu Schildberg, vgl. Nachrichten 1840, Heft 2, 269–284) von Seiten der kaiserlichen Behörden ausgesetzt waren, erschienen ihr überaus köstlich; sie beklagte es daher wol, daß sie nicht selbst mit ihnen das Gefängniß theilen durfte. Nachdem Vater und Bruder bereits in Herrnhut Unterkunft gefunden hatten, folgte ihnen Anna mit ihrer Mutter, einer geborenen Schneider aus Zauchtenthal, und ihrem Bruder Johann (s. u.) in die neue Heimath nach. Im Februar 1725 langten die Auswanderer wohlbehalten in Herrnhut an. Da es aber an Platz zu ihrer Aufnahme mangelte, mußten sie zunächst in dem benachbarten Berthelsdorf, dem Gute des Grafen Zinzendorf, untergebracht werden. Zwei Jahre darauf zog Anna nach Herrnhut und entfaltete hier bald einen solchen Glaubenseifer, daß sie bereits im J. 1730, also erst 15 Jahre alt, durch das Loos zur Aeltestin der Gemeine erwählt wurde. Als solcher fiel ihr die Aufgabe zu, „die Gemeine überhaupt und jedes Mitglied in Sonderheit auf dem Herzen zu tragen und die anderen Diener und Dienerinnen der Gemeine, welche geschäftig sein mußten, mit ihrem Gebete und Segen zu begleiten“. Noch in demselben Jahre stiftete sie im Verein mit ihrer Freundin Anna Schindler den Jungfrauenbund. Die Mitglieder desselben bezogen im J. 1733 ein eigenes Haus und lebten sogar eine Zeit lang in vollkommener Gütergemeinschaft, bis aufkeimender Argwohn es nothwendig machte, diese letztere Einrichtung wieder aufzugeben. Die folgenden Jahre wurden für die N. eine Periode eines überschwänglich gesteigerten Empfindungslebens, das zu mancherlei Gefühlsverirrungen führen mußte. Sie selbst nennt diese Zeit „die geistlichen Tölpeljahre“, die jedoch „zur wahren Jünglingsschaft“ führten.

Seit dem Jahre 1734 trat die N. in nähere Beziehung zu der jungen Gräfin Benigna von Zinzendorf. Auf diese Weise kam sie in das Haus des Grafen, mit dessen ganzer Familie sie bald die wärmste Freundschaft verband. Als Zinzendorf der Aufenthalt in Sachsen untersagt wurde und seine Tochter Benigna die Verbannung theilen wollte, reiste Anna mit letzterer nach Ebersdorf (1736). Hier schlossen sich die beiden Mädchen der vom Grafen gebildeten Pilgergemeine an und zogen mit ihr zunächst nach Marienborn und von da weiter nach dem wüsten Bergschloß Ronneburg in der Wetterau. Der N. fiel hier die Pflege der im Schlosse und in der Umgegend wohnenden Zigeuner-, Juden- und Vagabundenkinder zu; ihnen sang sie das Lied: „Du blutverwandte Liebe! errege deine Triebe in unsern Kinderlein.“ Schon damals erkannte Zinzendorf ihren männlichen Verstand und ihren thatkräftigen Geist und rühmte von ihr: „wenn man nicht wußte, was man thun sollte, so fand man bei ihr stets guten Rath.“ Im J. 1737 begleitete die N. die Gräfin Zinzendorf nach England. Um diese Zeit schrieb sie einen kurzen Abriß ihres Lebens nieder, dem wir hier folgen. Auch über die späteren Ereignisse ihres Lebens besitzen wir kurze eigenhändige Nachrichten. In Erinnerung an die treuen Dienste, welche die N. der Gräfin Benigna geleistet hatte, wurde ihr von den Eltern auch die Obhut über die in zartem Kindesalter stehende Schwester Anna Theresia anvertraut, welche jedoch bereits 1738 starb. Auf diese Weise frei geworden, erhielt die N. den Auftrag, ihren Vater auf seiner Missionsreise nach Amerika zu begleiten. In einem Schreiben vom 3. Juli 1740 nahm sie daher Abschied von der ihr über alles theuren Gemeine und legte in demselben das zehn Jahre hindurch geführte Aeltestinamt nieder, um sich ungehindert der ihr neu gestellten Aufgabe widmen zu können. Nach einer ungewöhnlich langen und beschwerlichen Seereise langten die Glaubensboten im December 1746 in Pennsylvanien an. Bis zur Ankunft des Grafen diente Anna hier als Magd bei einem Schwenkfelder Bauer und gewann durch die Innigkeit ihres eigenen Glaubens „nicht wenige Seelen für den Heiland“. Auf Zinzendorf’s dreimaliger Reise zu den [711] Indianern war sie nebst dessen Tochter Benigna seine beständige Begleiterin. Auch auf der Rückreise des Grafen nach Europa, die ihn über England und Holland durch Deutschland nach Riga führte, finden wir sie in seinem Gefolge. In Riga theilte sie seine neunzehntägige Gefangenschaft (24. December 1743 bis 12. Januar 1744). Das ruhelose Leben, das sie nun schon seit einigen Jahren führte, sollte jedoch noch nicht mit jener Reise nach Liefland enden, sondern vielmehr erst recht eigentlich beginnen. Wir können ihr jedoch hier nur nach den hauptsächlichsten Stationen folgen. Im J. 1747 war sie in Herrnhag Stellvertreterin der Generalältestin bei den Schwestern und fühlte sich in dieser Stellung überaus glücklich. „Selige Menschensohnestage! Ein schönes Jungfern-Chor und -Haus; ein unbeschreiblich seliges Jahr für mein Herz; in meinem ganzen Sterbensleben werde ich es nicht vergessen, was ich da gefühlt und erfahren habe! Ach die schönen Wunden-Homilien, die selige Charfreitagsfeier und unzählig viel schöne Sachen, die alle Tage vorkamen!“ – Aber bereits im J. 1748 heißt es: „In Herrnhag hatte ich ein schlechtes Gefühl, obwol ich nichts von den elenden Dingen wußte, die schon im Schwange gingen.“ Sie meint damit jene religiösen Verirrungen und Ausschreitungen, welche in der Gemeine nach Lucas 22, 31 als die Sichtungszeit bezeichnet werden. Es blieb der N. nicht erspart, die Auflösung der Gemeine zu Herrnhag mit anzusehen. Im J. 1749 und 1750 hielt sie sich an verschiedenen Orten in England auf, 1751 war sie wieder zum Besuch in Deutschland und reiste noch in dem gleichen Jahre mit Zinzendorf, dem Grafen Heinrich XXVIII. von Reuß und dessen Gemahlin durch die Schweiz und Frankreich wiederum nach England. Der Tod des Grafen Christian Renatus von Zinzendorf ging ihr sehr nahe (1752); nicht minder bedrückten sie die ökonomischen Verlegenheiten, in die in jenen Jahren der Graf und die Gemeine geriethen. Dennoch konnte sie am Schlusse des Jahres 1753 rühmen, daß sie in Lindseyhouse in Chelsea, welches der Graf für sich und die Seinen gepachtet hatte, „ein zwar schweres, aber seliges Jahr voller Wunder des Heilands im Leiblichen und Geistlichen“ erlebt habe. Die nahen Beziehungen, in welchen die N. zu Zinzendorf stand, sollten am Schlusse ihres Lebens noch innigere werden. Im J. 1756 starb die Gräfin Erdmuth Dorothea (s. A. D. B. VI, 193). Zinzendorf entschloß sich auf dringendes Anrathen seiner Mitarbeiter, sich zum zweiten Mal zu vermählen, und wählte die Anna N., seine langjährige Gehülfin im Dienste des Herrn, zu seiner Gemahlin. Die Trauung erfolgte am 27. Juni 1757 zu Berthelsdorf und zwar in demselben Saale und auf derselben Stelle, da der Graf vor fast 32 Jahren die N. „mit der Kohlenpfanne zum Räuchern gesehen hatte“. Wer bedenkt, daß die N. eine dem Stifter der Brüdergemeine congeniale Persönlichkeit war, wird diesen Schritt Zinzendorf’s, der von den gewöhnlichen Standesvorurtheilen frei war, nicht tadeln wollen; durfte er doch von seiner zweiten Gemahlin bekennen, sie sei „eine extraordinäre Magd Jesu Christi und von Jedermänniglich für das erkannt, was sie sei“. Auch nach der Vermählung begleitete die N. den Grafen auf seinen vielen Inspectionsreisen. Ihre Gesundheit war jedoch bereits infolge der vorhergegangenen übergroßen Anstrengungen erschöpft. Sie überlebte daher Zinzendorf nur um wenige Tage. Am 9. Mai 1760 erhielt sie die Kunde von seinem Hinscheiden, und bereits am 21. Mai desselben Jahres folgte sie, erst 45 Jahre alt, ihrem Gatten nach. In dem Schreiben, durch welches ihr Ende der Gemeine angezeigt wurde, heißt es: „Sie war ein außerordentliches Geschenk unseres lieben Herrn für die Brüderkirche, der sie zur Formirung seiner Gnadenhaushaltung unter uns und des Grundplans von Anfang an ganz vorzüglich mitgebraucht hat; sie war eine Mutter in Israel, eine treue Magd Jesu, dergleichen wir nicht mehr haben, eine dreißigjährige Dienerin seines Volkes, deren Gebet und Arbeit in der alten [712] und neuen Welt nie vergessen werden wird, und die ihre Gesundheit und Kräfte im Dienste ihres Herrn williglich verzehrt hat.“

Die zahlreichen Lieder der N. sind sämmtlich in den Jahren 1735–1748, die ersten in Herrnhut, einige später während ihres pennsylvanischen Aufenthalts (1740–1743), die meisten jedoch in der Wetterau gedichtet. In dem gegenwärtig im Gebrauch befindlichen kleinen Brüdergesangbuche, Gnadau 1870, 8°, gehören ihr die folgenden Lieder an: Nr. 341 „O wie ist mir doch so wohl!“, dessen letzte Strophe: „O! er bleib uns eingedrückt, unser Liebesbund, der schöne“ bei Gemeinfesten häufig angestimmt wird; Nr. 410: „In den ersten Gnadentagen wird man von dem Lamm getragen“; Nr. 444; 467, 4; 535, 1 und 3; 544: „Mit einem tiefgebeugten Sinn“, gedichtet 1738; Nr. 548, am 13. August 1741 entstanden; Nr. 560, 5; 571, 1. 3. 5 (1742); 573; 582; 601; 617, 2–5; 745; 759; 779: „Herein, Gesegneter des Herrn“; Nr. 865; 885; 922; 929; 934, 8–10; 935; 967, 3; 986, 2 und 3; 988, 1. 2. 4. 5. 7.

Nachrichten aus der Brüder-Gemeine, 1844, Heft 4, S. 575–610. – Karl Friedrich Ledderhose, Fünf Lebensbilder. Basel o. J., S. 19–46. – (Christian Gregor,) Historische Nachricht vom Brüder-Gesangbuche des Jahres 1778, 2. Aufl., Gnadau 1851, S. 198. – Eduard Emil Koch, Geschichte des Kirchenliedes I, 5, Stuttgart 1868, S. 307–342.

David N., der erste Bischof der erneuerten Brüderkirche, war am 27. December 1696 zu Zauchtenthal geboren. Sein frommer Vater besaß viele lutherische und reformirte Schriften und stimmte mit den Seinigen fleißig die Lieder aus dem alten Brüdergesangbuche an. Auf diese Weise wuchs N., obwol mitten unter einer katholischen Bevölkerung lebend und gezwungen, sich wenigstens äußerlich den Forderungen der katholischen Priester zu fügen, unter evangelischen Einflüssen auf. In dem Drange, sich aus den drückenden Verhältnissen in seiner Heimath zu befreien, machte er im J. 1716 den Versuch, sich zum Soldaten anwerben zu lassen; er wurde jedoch wegen zu großer Jugend zurückgewiesen. Bald darauf suchte N. den Pfarrer Steinmetz in Teschen auf, welcher ihm die richtige Antwort auf seine Frage: „Was soll ich thun, daß ich selig werde?“ zutheil werden ließ. Der Besuch Christian David’s in Zauchtenthal bestärkte N. in seiner evangelischen Gesinnung noch mehr, während ihn das Beispiel eines gottseligen Lebenswandels, welches er bei seinen Verwandten in Kunewalde fand, zur Nachahmung anspornte. Um sich den auch über Zauchtenthal hereinbrechenden Verfolgungen von Seiten der kaiserlichen Behörden zu entziehen, beschloß er mit vier gleichaltrigen Genossen, die Heimath zu verlassen und ein Land aufzusuchen, in dem es ihm gestattet wäre, ungehindert seinem Glauben zu leben. Anfangs noch unschlüssig, ob sie sich nicht lieber zu den Resten der alten böhmischen Brüder in Polnisch-Lissa wenden sollten, entschieden sich die Auswanderer dafür, wenigstens zuerst die Brüder aus Mähren in der Lausitz aufzusuchen. Es war am 12. Mai 1724, als sie in Herrnhut anlangten, an eben dem Tage, da der Grundstein zum ersten Betsaal der neuen Gemeine gelegt wurde. N., dessen Vater durchaus nicht unbemittelt war, sah sich hier genöthigt, sein Brot durch seiner Hände Arbeit zu verdienen. Er trat daher als Lehrling bei dem Zimmermann Christian David ein und fühlte sich bald „bei der sehr schlechten Kost viel vergnügter als bei dem guten Leben in Mähren“. In den Jahren 1725–1728 machte er wiederholt Reisen zu den in der Heimath zurückgebliebemn Erweckten. Nach seiner Rückkehr von der letzten derselben erhielt er nebst zwei anderen Brüdern den Auftrag, sich nach England zu begeben, da Zinzendorf der Oberhofmeisterin der Königin von England, einer Gräfin von Schaumburg-Lippe, einen eigenen Bericht über die Brüdergemeine zu übersenden hatte. N. hat eine [713] fesselnde Erzählung von den Beschwerden dieser Reise entworfen, die von den drei Abgesandten mit einer Baarschaft von neun Thalern angetreten wurde. Die Noth wurde in Holland so groß, daß nicht viel zu dem Entschlusse fehlte, einen aus ihrer Mitte an die Seelenverkäufer für Ostindien zu verkaufen. Seit dieser ersten Reise im Auftrage des Grafen begegnet uns N. noch häufig als dessen Abgesandter und Vertrauensmann. Als im J. 1732 Leonhard Dober als der erste Bote des Evangeliums, der von den Brüdern an die Heiden ausgesendet wurde, nach St. Thomas zur Mission unter den Negersclaven sich begab, war N. sein Begleiter; mit seiner Zimmermannsarbeit verdiente er ihren gemeinsamen Unterhalt. Nach einem Aufenthalt von nur 14 Wochen wurde N. jedoch bereits wieder von St. Thomas zurückberufen. Seine eigenhändigen Aufzeichnungen, die bis zu diesem Zeitpunkt reichen, zeichnen sich ebenso sehr durch ihre schmucklose Einfachheit als durch seltene Anschaulichkeit vortheilhaft aus. Nitschmann’s Schicksal erinnert wenigstens in Bezug auf die äußerlichen Erlebnisse lebhaft an das des Sebaldus Nothanker in Nicolai’s gleichnamigem Roman, und der Stil des Herrnhutischen Zimmermanns kann sich selbst mit demjenigen in den am besten erzählten Partien in dem Buche des Berliner Aufklärers wohl messen. – Nachdem N. im J. 1734 in Angelegenheiten der Gemeine in Holland gewesen war und in Kiel Verhandlungen über eine Brüderniederlassung im Holsteinischen gepflogen hatte, erhielt er am 13. März 1735 in Berlin von dem Senior und Bischof der böhmisch-mährischen Brüder in Groß-Polen, dem Oberhofprediger Daniel Ernst Jablonsky (s. A. D. B. XIII, 523), die Weihe zu einem Senior und Bischof der erneuerten Brüderkirche. Durch diesen Act wurde N. die Vollmacht übertragen, Visitationen in den neu begründeten Brüdercolonien und Missionsstationen vorzunehmen, die daselbst angestellten Pastoren und Kirchendiener zu ordiniren und allen den Verrichtungen, „die einem Senior und Antistes der Kirche gebühren“, sich zu unterziehen. Er begann seine bischöfliche Thätigkeit im J. 1736 mit einem Besuch der Brüder in Georgien. Auf der Rückreise kam er nach Süd-Carolina und nach Pennsylvanien. Im folgenden Jahre treffen wir ihn als Begleiter des Grafen Zinzendorf zuerst in England, dann in Berlin, wo er Jablonsky bei der Ordination des Grafen assistirte. Bei der Gründung neuer Gemeinen wurde N. wiederholt die Leitung der betreffenden Verhandlungen übertragen. So verhandelte er im J. 1738 mit der Büding’schen Regierung über die Anlegung von Herrnhag; 1740 kaufte er in Pennsylvanien den Grund und Boden für die Gemeine Bethlehem und legte bei der Erbauung der ersten Häuser selbst mit Hand an; 1742 kam er zum zweiten Mal nach St. Thomas. Als er im J. 1744 von Bethlehem zurück nach Europa reiste, gerieth er in spanische Gefangenschaft und wurde in das Gefängniß nach St. Sebastian gebracht. Sein rastloser Eifer für die Ausbreitung der Gemeine wurde jedoch durch solche Unfälle nicht gebrochen. Heute in Dänemark, morgen in Schlesien, dann wieder in England war er in ihrem Dienste unermüdlich geschäftig. Seit dem Jahre 1754 kehrte er nicht mehr nach Europa zurück, indem er den Rest seines Lebens in Amerika verbrachte. Hier wurde ihm noch die Freude zutheil, die ersten Anfänge der Gemeine in Litiz zu sehen. Die letzten Jahre seines Lebens hatte er seinen Wohnsitz in Bethlehem, wo er am 5. October 1772 gestorben ist. Als die Hauptaufgabe seines Lebens betrachtete er den äußeren und inneren Aufbau der Brüdergemeinen in den Vereinigten Staaten von Nordamerika; ihm hat er sich mit seltenem Pflichteifer und mit großem Geschick gewidmet. Bei aller Einfachheit und Anspruchslosigkeit seines Wesens verstand er es doch auch außerhalb der Gemeine, sich in weiten Kreisen Ansehen und Vertrauen zu erwerben. Um seiner Begeisterung für die Sache Gottes und um seiner umfassenden Wirksamkeit willen muß er zu den bedeutendsten Erscheinungen in [714] der Geschichte der erneuerten Brüderkirche gezählt werden. In den Gesangbüchern der Brüdergemeine findet sich nur ein Lied von N., das jedoch seinem Herzenswunsche, als ein brauchbares Werkzeug im Dienste des Heilandes erfunden zu werden, beredten Ausdruck verleiht. (Kleines Brüdergesangbuch Nr. 918: „Mein Heiland! schaffe mir zu wirken für und für“.)

Nachrichten aus der Brüdergemeine 1832, Heft 3, S. 394–415.

Johann N. der Jüngere, Prediger und Liederdichter der Brüdergemeine (Bruder der Anna N.), war am 25. September 1712 in Kunewalde in Mähren geboren (nicht, wie Gregor angibt, in Zauchtenthal). Infolge der Verwendung des Grafen Balthasar Friedrich von Promnitz auf Halbau, Burau etc., durch dessen Einfluß die Brüder die Generalconcession Friedrichs II. zur Niederlassung in dem ganzen Königreich Preußen, namentlich aber in Schlesien, erhielten, wurde N. im Alter von 13 Jahren der Waisenhausschule und später dem Gymnasium zu Sorau übergeben, um sich für das Studium an einer Universität vorzubereiten. Entgegen seiner Neigung verlangte Zinzendorf von ihm, daß er in Halle studiren solle, da ihn der Graf von Promnitz als Prediger anzustellen willens war. Im J. 1728 bezog daher N. die Universität Halle, gab aber bereits im Frühjahr 1731, weil ihm das pietistische Treiben in jener Stadt nicht zusagte, seine Studien wieder auf, um sich nach Herrnhut zu wenden, wo er ein Jahr lang (1732) die Kinder im Waisenhause unterrichtete. Zinzendorf wußte ihn jedoch noch einmal zu bestimmen, nach Halle zurückzukehren und dort medicinische Vorlesungen zu hören. In Halle fand N. diesmal Aufnahme bei Spangenberg, den er im J. 1733 bewog, mit ihm nach Herrnhut überzusiedeln, nachdem jener infolge von Streitigkeiten mit den Hallenser Theologen aus seiner Stellung entlassen worden war. N. wurde nun Geheimschreiber bei Zinzendorf. Im Anfange des Jahres 1734 wurden von Herrnhut aus Missionare nach schwedisch Lappland abgeordnet; N. gehörte zu den Auserwählten, vermochte aber ebensowenig wie seine zwei Genossen unter der bereits in große Kirchspiele eingetheilten und lutherischen Geistlichen zugewiesenen Bevölkerung etwas auszurichten. Infolge dessen kehrte N. im Januar 1736 nach Herrnhut zurück und wurde im Mai desselben Jahres nach der Ronneburg in der Wetterau, wo Zinzendorf mit der ihn begleitenden Pilgergemeine Aufenthalt genommen hatte, zum Lehrer für die „armen Bettler- und Zigeunerkinder“ berufen. Seit dieser Zeit war N. mit der übrigen Pilgergemeine immer auf der Wanderschaft. Wir finden ihn der Reihe nach in Frankfurt a. M., Marienborn, Berlin, Marienborn, Heerendyk (in Holland) und wieder in Marienborn. Hier erhielt N. den Auftrag nach Liefland zu reisen, wo er eine reiche Thätigkeit unter den erweckten Deutschen, Schweden und Ehsten entwickelte. 1744 kam er nach Marienborn zurück und wurde 1745 zum Diakonus der Brüdergemeine geweiht. Während der sogenannten Sichtungszeit stand er der Gemeinde in Herrnhag als Gemeinhelfer und Ehechorspfleger vor. Als dieselbe im J. 1750 durch das Isenburg-Büding’sche Emigrationsedict aufgelöst wurde, erhielt N. eine gleiche Stellung in der Muttergemeine Herrnhut, welche er zehn Jahre lang inne hatte. Hier schuf N. die erste „Diaspora-Einrichtung“ (1754), welche eine Verbindung zwischen der Brüdergemeine und den ihr befreundeten Gläubigen innerhalb der einzelnen Landeskirchen bezweckt. Im J. 1758 erhielt N. die Weihe zum Bischof der Brüderkirche. Als solcher fiel dem unermüdlich thätigen Mann noch die Lösung zweier größeren Aufgaben zu. Er wurde im J. 1761 zum Provinzialhelfer, d. h. Vorsteher der Brüdergemeinen, in England und Irland ernannt und erhielt den Auftrag, nicht nur die bereits bestehenden Gemeinen zu visitiren, sondern auch eine Anzahl neue Niederlassungen zu begründen. In Gemeinschaft mit Johann Töltschig † 1763) wurden von ihm in den Jahren von 1763–1765 fünf Ortsgemeinen [715] eingerichtet und gleichzeitig der Grund zu einer Art von englischer Diaspora gelegt. Das in England bewährte Organisationstalent veranlaßte seine Versetzung nach Sarepta an der Wolga im südlichen Rußland, wo 1765 ein Brüderetablissement angelegt worden war, um als Stützpunkt für die Mission unter den Heiden der südrussischen Steppe zu dienen. Im März 1766 trat N. von England aus die Reise über Holland nach Petersburg und Sarepta an, das er im September desselben Jahres wohlbehalten erreichte. Unter seiner Leitung wuchs die kleine Gemeine bis zum Jahre 1769 auf 100 Mitglieder an, obwol mancherlei schwere Bedrängnisse zu bestehen waren. Als im J. 1774 Pugatschew mit seinen Schaaren das südliche Rußland verwüstete, mußte N. mit dem größeren Theil der Gemeine auf der Wolga nach Astrachan flüchten. Nur 65 Brüder blieben in dem Orte zurück, sahen sich jedoch gleichfalls genöthigt, der Uebermacht des Empörers zu weichen, dessen Kosacken in Sarepta schrecklich hausten und plünderten. Trotzdem gelang es, in kurzer Zeit den erlittenen Schaden wieder zu ersetzen. Sarepta blühte neu empor und war kräftig genug, die Verkündigung des Evangeliums auch aus seinen Mauern hinauszutragen. N. machte zweimal Besuche bei den deutschen Colonisten in Saratof, deren er sich als Seelsorger annahm. Langsamer ließen sich die Kalmücken für das Christenthum gewinnen, obwol sie anfänglich eine freundliche Haltung gegen die Bewohner von Sarepta angenommen hatten. Doch hatte N. noch die Freude, im J. 1781 den Erstling aus den Kalmücken, ein blindes Mädchen, das zum Christenthum übertrat, zu taufen. Zwei Jahre darauf, am 30. Juni n. St. 1783, starb er an dem Orte, dem er die letzten 17 Jahre mit besonderer Liebe und Treue gedient hatte. N. gehörte zu den ausgezeichnetsten Männern, welche im Anfange der Brüdergemeine für die Ausbreitung und innere Gestaltung derselben thätig gewesen sind. Als Liederdichter dagegen ist er von geringer Bedeutung. Das Brüdergesangbuch von 1788 enthält sechs Lieder von N.; in das heute im Gebrauch befindliche kleine Gesangbuch sind davon nur fünf aufgenommen worden (Nr. 432, 1. 3 und 5, Strophe 4 ist von Zinzendorf; 535, 2; 750, 3. 789 mit Ausnahme von Strophe 6, welche von Gregor herrührt, und 1191).

Nach einem im Archive zu Herrnhut aufbewahrten handschriftlichen Lebenslaufe (R. 22 Nr. 20 c), für welche zahlreiche von N. selbst herrührende Notizen benutzt wurden. Die Angaben bei (Gregor), Nachricht u. s. w. sind darnach zu berichtigen. Vgl. Ludwig Christian v. Schweiniz, Lebensbeschreibungen und Charakterschilderungen brüdergeschichtlich merkwürdiger Personen. 1. Sammlung Nr. 47, S. 223–226 (handschriftlich im Archive zu Herrnhut R. 24 B. 61). Ueber N.’s Thätigkeit in Sarepta siehe: Alexander Glitsch, Geschichte der Brüdergemeinde in Sarepta. Nisky 1865, S. 48 ff.