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ADB:Rößler, Constantin

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Artikel „Rößler, Constantin“ von Max Lenz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 514–522, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:R%C3%B6%C3%9Fler,_Constantin&oldid=- (Version vom 16. Oktober 2024, 01:02 Uhr UTC)
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Rößler: Constantin R., geboren am 14. November 1820 zu Merseburg, † am 14. October 1896 zu Berlin.

R. stammte aus dem thüringischen Theil des Königreichs Sachsen, das nach den Freiheitskriegen an Preußen gekommen war; fünf Jahre war die Provinz im Besitz der hohenzollernschen Krone, als er das Licht der Welt erblickte. Aber es hat wenige Männer gegeben, die sich so sehr als Preußen gefühlt und bekannt haben, als Constantin Rößler. Sohn eines Predigers, wuchs er in seiner Vaterstadt auf bis zu seinem Abgang zur Universität. Das Dom-Gymnasium, das er vom Sommer 1834 ab besuchte, regierte damals Karl Ferdinand Wieck, der geistvolle Pädagoge, dem Ranke als Schüler der Schulpforta, wo Wieck damals Adjunct war, nach seinem eigenen Zeugniß fast das Beste verdankt hat; auch R. hat für alle Zeit seines Lebens entscheidende Einflüsse durch ihn erhalten. Im Herbst 1839 ging er nach Leipzig, um Theologie zu studiren, vertauschte aber bald die altsächsische Universität mit der altpreußischen in Halle, und die Theologie mit der Philosophie, zu der er dann die Staatswissenschaften hinzunahm. Schon auf der Schule (1837) hatte er den Vater verloren. So kam es, daß er nach beendigtem Studium zunächst nach Leipzig ging, wo seine Mutter nach dem Tode ihres Gatten lebte, um sich dort auf die Promotion und die Habilitation, die er ins Auge faßte, vorzubereiten. Im December 1845 promovirte er in Halle auf Grund einer Dissertation über den Philosophen Friedrich Heinrich Jakobi; ging darauf noch für ein Jahr nach Tübingen, um schließlich in Leipzig die Vorbereitungen zur Habilitation zu beendigen. Im nächsten Jahr ging er nach Jena, um sich zu habilitiren, ein Plan, der durch eine längere Erkrankung verzögert wurde und erst im Juli 1848 zur Ausführung kam. Auch dann aber kam R. nicht dazu, das Katheder zu besteigen, denn nun ergriff ihn die Bewegung des großen Jahres und riß ihn unwiderstehlich in ihre Kreise hinein; er erbat Urlaub, um publicistisch thätig zu sein. Zunächst trat er in die Redaction der „Grenzboten“ ein, zur Seite Gustav Freytag’s, mit dem ihn bis ans Ende enge Freundschaft verbunden hat. Danach ging er nach Berlin, an die von Hansemann und Weill begründete constitutionelle Zeitung. [515] Erst im October 1849 nahm er die Vorlesungen in Jena über philosophische und staatswissenschaftliche Fächer auf. Nach acht Jahren stiller Arbeit, in denen ein größeres Werk, „System der Staatslehre. Allgemeine Staatslehre“ (Leipzig 1857), reifte, wurde R. an seiner Universität zum außerordentlichen Professor der Philosophie ernannt. Er hätte nun wohl gleich Anderen eine sichere Laufbahn als Universitätslehrer vor sich gehabt. Aber gerade jetzt ergriff ihn der Drang, politisch zu wirken, aufs neue. Es war der Moment, da die nationale Bewegung nach den Jahren der Unterdrückung und dumpfer Gährung wieder in Fluß kam. Die Erkrankung König Friedrich Wilhelms IV., seine Vertretung durch den liberaler gerichteten Bruder und bald die Regentschaft desselben erweckten von neuem alle Hoffnungen und Anstrengungen der Patrioten, die von Preußen die Erhebung der Nation erwarteten. Drei Jahre noch hielt R., der sogleich mit mehreren Broschüren in den Kampf eingriff, es auf dem Katheder aus; Ostern 1860 aber brach er endgültig die Brücken zum Lehrfach ab; einer Aufforderung des Ministeriums Auerswald folgend, das ihn für die Vertheidigung der Grundsteuern gewann, siedelte er nach Berlin über und ward Publicist.

R. gehörte also zu den deutschen Professoren, die aus ihrem Studium selbst die Gedanken schöpften, in denen sie die belebenden Kräfte der Nation erkannten und deren Durchführung in dem Aufbau des nationalen Staates sie fast den besten Theil ihrer Lebensarbeit widmeten. Aber sein Wesen und Wirken unterscheidet sich doch, wie verwandt es sein mag, von seinen Mitkämpfern. Sybel und Treitschke, Droysen und Häusser, Duncker und Mommsen, und wie sie alle heißen mögen, waren Historiker oder Rechtsgelehrte, durchweg Jünger der historischen Schule, die im Gegensatz zu den Einflüssen stand, unter denen R. groß geworden war. R. war in ihrem Sinne weder Historiker noch Staatstheoretiker. Er hat niemals eine historische Arbeit gemacht, wie die Zunft sie verlangte, weder eine kritische Untersuchung, noch eine Quellenedition, noch eine größere oder geringere Darstellung specieller Natur; auf solche Arbeiten der Kleinkritik sah er mit einer gewissen Geringschätzung herab. Litterarisch-ästhetische Untersuchungen zogen ihn mehr an. Schon unter den Thesen seiner Dissertation erscheint eine, welche auf solche Studien ein Licht wirft: die Idee, so lautet sie, welche Shakespeare in der Fabel vom König Lear geleitet habe, scheine ihm von den Kritikern nicht richtig erfaßt zu sein. Auf diesem Felde hat R. bis in sein Alter gerne kleine Arbeiten unternommen, die sich zum Theil in kritisches Detail verlieren: ich nenne die geistreichen Aufsätze über Kleist’s Robert Guiskard und die Entstehung des Faust; oder die feinsinnige Analyse des Ringes der Nibelungen von Richard Wagner (Leipzig 1874, unter dem Pseudonym Felix Calm). Aber dies und anderes waren für ihn doch nur Parerga: das Centrum seiner Studien war immer die Philosophie gewesen, und zwar diejenige Philosophie, gegen welche die historische Schule ihre Kämpfe geführt hatte, die Philosophie Hegel’s. Ihr ist R. auch treu geblieben als Politiker und Publicist, ja das war recht eigentlich der Sinn, den er in alle seine Arbeiten für den deutschen Staat hineinlegte: die Ideen des großen Philosophen in die Wirklichkeit überzuführen, seine Gedanken zur That zu erwecken, Staat und Kirche mit ihrem Geiste zu erfüllen.

Schon auf der Schule war R. in ihren Bann gezogen worden. Als Wieck mit Leopold Ranke den Thucydides und die griechischen Tragiker las, war Hegel’s Gestirn erst vor kurzem am Firmament der deutschen Bildung erschienen; auch der junge Adjunct an der Pforta war wohl noch nicht von seinen Strahlen getroffen gewesen; Ranke’s Jugendbildung stand noch ganz unter [516] dem Zeichen des Rationalismus. Später aber ist Wieck ein begeisterter Anhänger des großen Philosophen geworden. R. hat uns das Bild seines Directors, als dessen ältester Schüler, wie er sagt, Ranke, als der jüngste Ernst Häckel genannt werden könne, überaus lebendig und anmuthend gezeichnet. „Die empfänglichen unter seinen Schülern“, so schreibt er, „bewahren ihm ein aus Staunen und Pietät gemischtes Andenken. Dieser Mann glich einem Propheten, einem Seher. Er hatte uns Primanern schon die Lehre Hegel’s von den Momenten auseinandergesetzt. Sein vorzugsweise gewähltes Beispiel war das Verhältniß der Jehova-Religion zur Christus-Religion. In wahrhaft flammenden Worten entwickelte er uns, wie der Stammesgott des Volkes Israel nach und nach unter den erhabenen Gesichten der Propheten, gestützt auf die jüdische Zähigkeit, zu der überweltlichen Persönlichkeit, die alles Kreatürliche von sich abstreift und sich zum Herrn aller Kreatur macht, entwickelt worden. Aber der beständige Widerstand der Kreatur macht diesen Herrscher mit seiner schrankenlosen Macht zum ewig zornigen, ewig strafenden Richter. Die wahrhaft weltüberwindende Macht ist nur die Liebe, von Christus offenbart, die aber als Voraussetzung, als aufgehobenes Moment, des Gedankens der schrankenlosen, über alle Kreatur erhabenen Macht bedurfte. Denn die weltumfassende Liebe haftet nicht am Kreatürlichen. Wieck schloß diese Ausführung zuweilen mit der Frage: Verstehen Sie nun das Wort Christi: ehe denn Abraham war, war ich?“[WS 1]

„Von solchen Erinnerungen unvergeßlicher Stunden erfüllt“, kam R. nach Halle, wo Johann Eduard Erdmann das philosophische Katheder beherrschte. Es war das Jahrzehnt nach Hegel’s Tode, in dem der Einfluß des großen Lehrers, von seinen Schülern, den Herausgebern seiner Schriften, verbreitet, sich weiter als jemals ausdehnte, zugleich aber auch durch das allseitige Vordringen der empirischen Erkenntnisse die Opposition, die sich bei Lebzeiten des Meisters erst kurz vor seinem Ende bemerkbar gemacht hatte, stärker anwuchs und in den Reihen seiner Anhänger selbst Abfall und Bürgerkrieg ausbrachen. Halle aber war der Boden geworden, auf dem der Kampf in der Schule selbst am heftigsten tobte; hier hatten sich die Junghegelianer, Arnold Ruge und seine Genossen, in den Hallischen Jahrbüchern das Organ geschaffen, in dem sie die Dialektik des Lehrers, statt sie zur Rechtfertigung „alles Bestehenden“ zu benutzen, vielmehr dazu anwandten, „um alles Bestehende auf seine Kraft und sein Recht, zu leben, mit unfehlbarer Sicherheit zu prüfen“. R. war bereits durch Wieck’s Unterricht und durch eigene Anlage so gefestigt, daß die bisweilen banale Form, in der Erdmann die conservativen Anschauungen, wie Hegel selbst sie vorgetragen hatte, gegen die jungen Stürmer vertheidigte, auch ihm Widerwillen erregte. Aber andererseits stießen ihn auch wieder die dialektischen Manipulationen, mit denen die Junghegelianer ihre religiösen und politischen Doctrinen ihren Hörern mundgerecht zu machen suchten, und die Plattheiten, in denen sie sich ergingen, ab. Die Kreise, in denen er seine Freunde fand, darunter vor Anderen Adalbert Delbrück, der Sohn des Curators der Universität, und Albert Ritschl, dessen Vater als Bischof in Stettin die pommersche Kirche gegen den Einbruch der neuen pietistisch-feudalen Orthodoxie vertheidigte, hielten sich ebenso fern von dem Radicalismus Ruge’s und seines Anhanges, wie von der orthodoxen Leidenschaftlichkeit eines Leo und Tholuck, und führten den jungen Studenten auf einen Boden, auf dem er, ohne dem Geist des Meisters untreu zu werden, den in Kirche und Staat sich aufdrängenden Fragen der Epoche mit entschlossenem und klarem Blicke entgegen ging. So bildete er schon damals die Kraft der Kritik in sich aus, die er später in glänzenden Streitschriften gegen die Verderber und Verächter der Hegel’schen Philosophie, [517] gegen die triviale Skepsis eines Strauß und den pessimistischen Hochmuth eines Schopenhauer entfaltet hat. R. hat in reiferen Jahren die studentische Kritik, die er an Erdmann’s Banalitäten übte, als „vorschnelles Urtheil“ bedauert, zumal da er das Verständniß der Hegel’schen Lehre an seinem Lehrer immer schätzte, dessen Reichthum an mannichfaltigen Kenntnissen wie an dialektischer Kunst er und seine Commilitonen doch kaum hätten ermessen können. Aber es war doch nicht bloß die Profanirung des Hegel’schen Tiefsinns und die dialektische Unbeholfenheit Erdmann’s gegenüber den Junghegelianern, was R. von diesem fern hielt, sondern mehr noch die ablehnende, oder besser indifferente und skeptische Haltung gegenüber den politischen Idealen Deutschlands, für die Erdmann als geborener Livländer von Haus aus keinen rechten Sinn besaß. Darin glich R. doch wieder den jüngeren Rivalen seines Lehrers, daß er, wie sie, das Hegelthum in die religiösen und politischen Probleme der Epoche hineinführen und diese im Geiste des Meisters gestalten wollte; den Quietismus der Althegelianer hat er vielleicht noch schärfer, und jedenfalls nachhaltiger bekämpft als jene.

Indem er nun, gleich so vielen Akademikern, sein Leben der Arbeit für den nationalen Staat weihte, bewahrte er auch in der Art, wie er focht und wie er sich die Aufgabe und das Ziel des Kampfes setzte, die besondere Stellung, die wir bereits in seiner Entwicklung den Mitkämpfern gegenüber wahrnahmen. Jene blieben, so lebhaft sie an den politischen Kämpfen theilnehmen mochten, dennoch fast alle ihrem Katheder treu, oder traten, falls sie einmal die Lehrthätigkeit, immer nur auf Zeit, aufgaben, vor aller Welt auf, sei es auf der parlamentarischen Tribüne oder an der Spitze einer Zeitschrift oder, wie es in Frankfurt wohl vorkam und der Ehrgeiz Manches unter ihnen war, auf einem Ministerposten. Als Max Duncker im J. 1858 Leiter der halbamtlichen Presse unter dem Ministerium der Neuen Aera wurde, verknüpfte er damit die Stelle eines vortragenden Raths im Staatsministerium. Und Treitschke habilitirte sich gerade in dem Moment, wo er in die Reihe der Kämpfer erst eintrat; auf dem Katheder selbst wollte er für die allgemeine Sache wirken. R. aber brach alle Brücken hinter sich ab. Er verschmähte es, mit dem Namen selbst hervorzutreten; er tauchte völlig unter in dem Strom, den er dem Ziele entgegen lenken wollte: alle seine Broschüren, wie auch die weitaus meisten seiner politischen Artikel in Zeitschriften und Zeitungen sind anonym erschienen oder unter einem Zeichen, das nur den Eingeweihten bekannt war. Darin erfüllte er ganz seines Meisters Lehre, daß vor der wirkenden Kraft der Idee das Individuum, das nur wie ein zerstiebender Funke des allwaltenden Geistes ist, zurücktreten und verlöschen müsse: Niemand hat sie so ernst genommen wie er. Nicht daß R. den Werth der Persönlichkeit und die Nothwendigkeit ihres Erscheinens und Wirkens verkannt oder verachtet hätte. Vielmehr war es ein Hauptartikel seines philosophischen Katechismus, daß die reifende Idee sich eine Persönlichkeit, als das Gefäß ihrer Kraft, unfehlbar formen muß, und der Inhalt seines politischen Glaubens, daß der Messias Deutschlands vor der Thür sei. Für sich selbst jedoch nahm er nur die Kraft in Anspruch, daß er die Zeichen, die ihn verkündigten, deuten könne. Und das ist nun in der That der Ruhm, den die Nachwelt Constantin Rößler schuldet. Er ist wirklich der Prophet Bismarck’s gewesen, er hat früher und deutlicher als irgend ein Anderer die Stelle bezeichnet, wo der Stern der nationalen Hoffnung stand; und mehr noch, er hat den Stern selbst gefunden und seine [518] Bahn berechnet, als dieser auch für seine Mitkämpfer noch hinter dem reactionären Nebel und Gewölke ganz verdeckt war. Schon gleich zu Beginn der Neuen Aera entwickelte er in dem „Sendschreiben an den Politiker der Zukunft“ ein Programm, das sich mit der Politik des Frankfurter Gesandten deckte. Wie Bismarck in seinen Berichten so oft, so wendet sich R. gegen die allgemein herrschende, aus Furcht und Unkenntniß geborene Ansicht, daß Preußen mit England und Oesterreich zusammengehen müsse, um das Bündniß der romanischen und slavischen Nationen zu verhindern. Um nur einen Satz Bismarck’schen Gepräges hervorzuheben, so heißt es darin: „Ich gebe Ihnen zu, daß es strategische Positionen gibt, an deren Besitz unter gewissen Umständen das Schicksal der Welt hängt. Aber nur unter ganz bestimmten, nicht unter allen Umständen. Constantinopel in den Händen der Türken ist nichts weniger als ein herrschender Punkt, für den Augenblick nur eine defensive Stellung. Daß die strategischen Positionen das Schicksal der Welt entscheiden, dazu gehört, daß sie von den kräftigsten Nationen besetzt sind. Auch das reicht nicht aus, daß ein solcher Punkt durch Zufall in die Hände einer kräftigen Nation fällt. Das nur entscheidet, wenn ein mächtiges Volk sich der wichtigen Punkte wider den Willen und trotz der vereinigten Anstrengungen der übrigen Welt bemächtigt und sie behauptet. Ich kann das Schicksal Europas noch nicht für besiegelt ansehen, wenn es auch Rußland einmal gelänge, sich für einige Zeit in Constantinopel festzusetzen. Ich kann mich nicht überzeugen, daß Rußland die nachhaltige Kraft besitzt, diese Position unaufhaltsam vordringend auszubeuten, und also auch nicht glauben, daß es sie lange behaupten würde.“

Ein halbes Jahr später ward Preußen vor die Versuchung gestellt, vor der R. soeben gewarnt hatte; und man weiß, wie nahe die Regierung des Regenten daran gewesen ist, Oesterreich in Italien zu helfen, um dafür den hohen Preis der deutschen Hegemonie zu erringen, und wie eifrig die Liberalen bemüht gewesen sind, den Staat auf diesen Weg zu stoßen. Da hat R. abermals seine Stimme erhoben in einer Flugschrift, „Preußen und die italienische Frage“, mit dem Motto, das er dem Fürsten Felix v. Schwarzenberg entliehen hatte: „Die Welt soll erstaunen, wie vortrefflich wir uns auf den Undank verstehen.“ Es ist die Schrift, von der damals alsbald gesagt wurde, daß sie von Herrn v. Bismarck, der soeben nach Petersburg versetzt war, herrühre, und von der dieser erklärt haben soll, sie sei zwar nicht von ihm, aber sie entspreche ganz seiner Auffassung. Es ist in der That erstaunlich, wie sehr sich der Gedankeninhalt dieser Broschüre mit den vertrautesten Briefen Bismarck’s aus der damaligen Zeit deckt. Man lese z. B. einen Satz, wie diesen: „Das ganze Gewicht des Kampfes wäre sofort an den Rhein zu legen und den Kampf hätte Preußen allein zu führen, denn Oesterreich hätte sich an Sardinien zu rächen, müßte die befreundeten italienischen Regierungen gegen die Revolution beschützen, müßte seine russische Grenze decken, dürfte seine eigenen Provinzen Galizien, Ungarn, die Südostgrenze nicht zu sehr entblößen. Unsere, die preußische Küste aber würde von der französischen Flotte blockirt“ – und vergleiche ihn mit dem bekannten Briefe Bismarck’s an den Geheimrath Wentzel in Frankfurt vom 1. Juli: „Man wird zuletzt losschlagen, um die Landwehr zu beschäftigen, weil man sich genirt, sie einfach wieder nach Hause zu schicken. Wir werden dann nicht einmal Oesterreichs Reserve, sondern wir opfern uns grades Wegs für Oesterreich, wir nehmen ihm den Krieg ab. Mit dem ersten Schuß am Rhein wird der deutsche Krieg die Hauptsache, weil er Paris bedroht, Oesterreich bekommt Luft, und wird es seine Freiheit benutzen, uns zu einer glänzenden Rolle zu verhelfen?“ Ist es nicht, als ob [519] R. Bismarck bei diesem Briefe über die Schulter gesehen habe? Wie Bismarck, verlangt auch R., daß Preußen Oesterreich den Kampf in Italien allein bestehen lasse, so daß den Italienern die Einheit unverkümmert bleibe, um welche sie kämpfen; man dürfe nicht den Habsburgern helfen, Venezien zu behalten. Als eine unsittliche Politik brandmarkt er es, daß Deutschland für sich die nationale Einheit erhalte und sie dem fremden Volke verkümmere. Er ruft, wie Bismarck so oft, den Schatten Friedrich’s des Großen an, „die Heldenweisheit, welche uns auf die erhabenen Pfade der Geschichte geführt und die wir heute verleugnen sollen aus leerer Besorgniß, daß man sie gegen uns anwende und das linke Rheinufer uns nehme.“ „Wenn wir nicht Sorge tragen“, so ruft er aus, „unsere Kraft so zu pflegen, daß wir den Rhein jederzeit behaupten oder nach jedem augenblicklichen Verlust wiedergewinnen können, so werden wir ihn trotz der Verträge mit Recht verlieren.“ Wenige Wochen darauf, im April, hatte R. Gelegenheit, mit Duncker die Frage zu besprechen. Er traf ihn auf der Reise nach Berlin, wohin Duncker auf seinen neuen Posten eilte, und hatte während der Fahrt und dann die nächsten Tage in Berlin mit ihm die lebhaftesten Auseinandersetzungen. Aber vergebens suchte er den Leiter der officiösen Presse zu seinem Plan zu bekehren. Der neue Geheimrath ließ sich nicht von der Ansicht abhalten, daß Preußen nach einigen Wochen der Neutralität, während Napoleon den Krieg in Italien eröffne, Südwestdeutschland besetzen, den Krieg an Frankreich erklären, den Oberbefehl über die deutschen Streitkräfte ohne weiteres an sich nehmen, und dafür nach einem siegreichen Frieden sich die dauernde Führung Deutschlands ausbedingen müsse.

Ein Mann wie R. konnte natürlich auch nicht anders als mit vollem Nachdruck für die Militärreorganisation im Sinne der Regierung eintreten. Er hat es noch im Juli 1862 gethan, unmittelbar vor dem Ausbruch des Verfassungsconflicts in Preußen. In der Flugschrift: „Die bevorstehende Krisis der preußischen Verfassung“, schlug er die Bildung eines Ministeriums vor, in dem neben Georg v. Vincke und General v. Roon Bismarck den Platz des Auswärtigen Ministers einnehme, denn der habe das echte Gefühl für die Ehre Preußens und wolle die Politik dieses Staates auf die selbständige Kraft desselben stellen. Beide Dinge seien unter den bisherigen preußischen Diplomaten etwas so Ungewöhnliches gewesen, daß sie eine außerordentliche Erwartung rechtfertige. Die Zweifel dagegen scheinen ihm sehr leicht zu wiegen: „Es kommt nur darauf an, daß den Deutschen die Gelehrsamkeit, die sie bei so vielen Gelegenheiten zeigen, auch zur rechten Zeit einfalle. Hat nicht Pitt, der große Tory, als Whig begonnen, und Fox, der große Whig, als Tory? War Peel, der Zerstörer der Torypartei, nicht zuvor ihr Führer? Und ist Palmerston’s staatsmännische Jugend nicht einst die Hoffnung der Tories gewesen? Die Einseitigkeit eines Standpunktes überwindet eine zur Freiheit befähigte Natur am sichersten durch die Kraft, mit der sie sich in ihn hineinlebt.“ Herr v. Bismarck habe einst erklärt, er wolle den Namen des Junkers, wie einst die holländischen Geusen den ihren, zu Ehren bringen; er sei vielleicht nahe daran, sein Versprechen zu erfüllen. R. ließ sich auch nicht beirren, als Bismarck im September seine Laufbahn als der Minister der Reaction begann. In der Broschüre: „Preußen nach dem Landtage 1862“, wagt er es, „eine Ueberzeugung auszusprechen, unberührt von dem Aufschrei des Widerspruchs, welchen sie hervorrufen wird. Wenn Herr v. Bismarck der Regierung, an deren Spitze er steht, den Impuls zu einer kühnen, fortreißenden That in der deutschen Frage geben kann, so wird in wenig Tagen vergessen sein, was er noch heute und gestern gesprochen, gethan oder zugelassen hat. Dann ist es mit der Reaction zu Ende, aber auch mit der Opposition. Unter anfänglichem [520] Widerstreben wird lawinenartig durch die deutschen Provinzen der Ruf einer Nation sich fortpflanzen, welche durch das Reden zur Verzweiflung gebracht ist. Der veränderte Ruf eines verzweifelnden Tyrannen, welcher angstvoll fragte: „Ein Pferd! Ein Königreich für ein Pferd!“ – Die deutsche Nation wird jubelnd rufen: „Eine Dictatur für einen Mann!“

Wie R. im J. 1863, als Bismarck den Glauben der Preußenfreunde an den Staat Friedrich’s des Großen auf die stärkste Probe stellte, über ihn gedacht hat, kann ich nicht sagen; es fehlen mir dafür die Unterlagen. Jedenfalls haben ihn, wenn er sich überhaupt von ihm entfernt hat, Düppel und Alsen alsbald zu seinem Helden zurückgeführt. Und nun kam auch für ihn der Moment, der ihn persönlich mit Bismarck verknüpfte. Ostern 1865 erhielt er von dem Minister den Antrag, nach Hamburg zu gehen, theils um die Handelsverhältnisse Hamburgs einer möglichen politischen Veränderung in Norddeutschland gegenüber zu studiren, theils um die Entwicklung in den Herzogthümern unter dem preußisch-österreichischen Condominat zu beobachten. Im Herbst 1868 von Hamburg nach Berlin zurückgekehrt, privatisirte R. wiederum längere Zeit, von dem Ertrage seiner Feder lebend. Drei Jahre, von 1868 bis Ende 1871, war er Mitarbeiter am Staatsanzeiger, gab diese Stelle aber, da sie ihm die persönliche Freiheit zu sehr beschränkte, wieder auf. Erst im Januar 1877 nahm er eine feste Stellung an, als Leiter des Litterarischen Bureaus, also das Amt, welches einst Duncker einige Jahre verwaltet hat. R. jedoch verband damit nicht eine Stellung als Ministerialrath; erst nach Bismarck’s Entlassung ist er, im März 1892, indem er jene Stelle aufgab, als Legationsrath in das Auswärtige Ministerium eingetreten. Am 1. Januar 1894 ward er bei seinem vorgerückten Alter auf sein Ansuchen mit dem Charakter eines Geheimen Legationsrathes in den Ruhestand versetzt.

Auch als Beamter Bismarck’s ist R. in der alten Stellung und Thätigkeit geblieben. Er hatte neben dem Amt, die Presse zu verfolgen und die Zeitungsausschnitte für den König und die Minister zu besorgen, den Auftrag oder die Erlaubniß, im Sinne der Regierung die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Zahllose Artikel hat er an den verschiedensten Stellen, namentlich über die auswärtige Politik, geschrieben. Weithin bemerkt wurden seine Leitartikel in der „Post“; er war der Verfasser der Kometenbriefe in den „Grenzboten“, deren „Zickzack-Bahnen“ Treitschke’s Kreise mehrfach störten, und vom Juli 1884 bis zum November 1887 der W-Artikel in den „Preußischen Jahrbüchern“. Da ist es nun höchst bemerkenswerth, daß, trotz seiner amtlichen Stellung, und obschon er seine Information von der leitenden Stelle erhielt, nach Form und Inhalt Rößler’s Aufsätze niemals controllirt wurden. Wenn man bedenkt, wie eifersüchtig Bismarck bei seinen Diplomaten darüber wachte, daß sie keine Politik auf eigene Hand betrieben, und wie er Persönlichkeiten in ähnlicher Stellung, z. B. einen Moritz Busch, ausnutzte, um seine Gedanken in die Presse zu bringen, oft an denselben Stellen, wo R. arbeitete (man denke an die „Grenzboten“-Artikel von Busch, welche Bismarck soufflirte), so muß man wirklich erstaunen, daß der Fürst R. völlig freie Hand ließ und andererseits niemals von ihm verlangt hat, ihm seine Feder direct zu leihen. Sogar Arbeiten, wie den „Krieg-in-Sicht“-Artikel der „Post“ 1875, der in ganz Europa das weiteste Aufsehen erregte und allgemein als von Bismarck inspirirt galt, oder den andern, „Auf des Messers Schneide“ 1887, hat R. auf eigene Faust geschrieben. Bismarck sagte sich wohl, daß er Rößler’s Feder verlieren würde, sobald er sie in Bahnen zwänge, die ihr widerstrebten; auch wußte er, daß sie niemals ganz aus seiner Bahn weichen würde, während die Ideen Rößler’s doch wieder zu eigenartig formulirt waren, ich möchte [521] sagen, zu speculativ, zu pointirt, um dem großen Praktiker ganz nach dem Herzen zu sein: genug, der Meister hat diesem Diener (ehrenvoll gewiß für beide Theile) die Freiheit gelassen, ohne welche er kein Wort hätte schreiben können.

Vor allem an einer Stelle, in einer Phase der Bismarckischen Politik hat R. Bahnen verfolgt, die, wie von denen seiner Freunde, so auch von denen Bismarck’s, so verwandt sie ihnen waren, dennoch weit hinwegführten und ihn abermals auf eine einsame Höhe gebracht haben. Ich meine die Art, wie er den Culturkampf aufgefaßt hat. Er hat ihm, da er auf dem Gipfel war, 1875, also nicht lange bevor er Bismarck’s specieller Diener wurde, eine größere Schrift gewidmet, das zweite seiner Bücher: „Das Deutsche Reich und die kirchliche Frage“. Ein Werk, in dem R. die Summe seiner Speculation, seines philosophischen und religiösen Glaubens, wie seiner historischen Erkenntniß des Weltbildes niedergelegt hat. In ihm hat er den Zusammenhang zwischen dem Leben des Staates und des Geistes in der deutschen Nation, so wie er ihn sich dachte, geschildert: die Linie, welche von Luther zu Leibniz, von Leibniz zu Kant, von Kant zu Hegel hinleite, wie Hegel Kant’s Ideen zur Vollendung gebracht habe und mit ihm und Leibniz eine Trias bilde, welche die Principien des Protestantismus fortgeführt habe. Von da aus gibt er eine Kritik aller Systeme und Parteien, die sich im deutschen Staats- und Geistesleben emporgethan haben, ordnet er die Linien an, auf denen das neue Leben, der neue Geist der Nation im Kampf gegen alle Mächte des Unglaubens zum Siege vordringen müsse. Den Anlaß zu dem Kampf führt er, für Bismarck wie für seine Gegner, vor allem auf die auswärtigen Verhältnisse zurück; den Grund aber sieht er in der Fortentwicklung unseres Volkes seit der Reformation, in dem Drange unseres Genius, sich die Formen zu schaffen, die den von Gott in ihn gelegten Kräften entsprechen. Weit ab weist er die platte Auffassung des Staates als einer Rechtsordnung, welche ohne Religion sei und sein könne. Auf dem Grunde der Reformation ruht derselbe, wie alle Bildung und alle wahre Kunst unseres Volkes. Sein Zweck umschließt die Sittlichkeit, denn sonst hätte er ja nur das Amt, die sittlichen Kräfte gewähren zu lassen, aber nicht sie zu lenken. Er kann nicht ohne Glauben sein und die Religion kann ihn nicht zur Neutralität verdammen wollen; denn es gibt nur einen Glauben und außer ihm ist alles Unglaube, Aberglaube. Darum kann der Kampf gegen die katholische Kirche nur dann zum glücklichen Ziel kommen, wenn die Evangelischen sich aufmachen und ihre Missionare in die von ihren eigenen Hirten verlassenen katholischen Gemeinden schicken, um ihnen das Evangelium zu predigen. Wird unsere Kirche die Geisteswaffen besitzen: diese Kirche, „die dem Rüstzeug ihres Glaubens wie einem Haufen von Antiquitäten gegenübersteht, dem ein Dienst, so geistlos wie der katholische Reliquiendienst gewidmet wird?“ Die Frage schließt für R. schon die Antwort ein. „Niemals“, so lautet sie, „hat das Schiller’sche Wort eine traurig schlagendere Anwendung gefunden: „aber der große Moment findet ein kleines Geschlecht“.

Wir sagten, daß Rößler nicht eigentlich zu den Historikern gehört habe, wenigstens nicht zu ihrer Zunft. Dieses Buch aber lehrt uns, daß er historisch denken gelernt hat, und erklärt es, weshalb er ein Bewunderer Ranke’s geworden ist, so sehr, wie es jene Historiker von Fach, obschon sie sich Schüler Ranke’s nennen konnten, niemals gewesen sind. Denn in der That, die Anschauungen, welche R. in diesem Buche entwickelt und die er in allen seinen Schriften wiederholt oder doch niemals verleugnet hat, machen ihn zu einem Geistesverwandten Ranke’s. Wenn sie Beide Schüler Konrad Ferd. Wieck’s [522] gewesen sind, so mögen auch darin vielleicht Keime des Einflusses fortgewirkt haben, den sie von dem geliebten Lehrer empfingen. R. hat, obschon er schwerlich je ein historisches Seminar besucht hat (ein Glück, das ja auch Ranke, wie man weiß, nicht genossen hat), in Arbeiten wie der große Essay „Graf Bismarck und die deutsche Nation“ den Charakter und die Politik des großen Staatsmannes in wahrhaft Ranke’scher Weise gedeutet; er hat Jahre hindurch auch eine specifisch historische Aufgabe in der Leitung der „Zeitschrift für Preußische Geschichte“ erfüllt, und hat über Bücher wie Sybel’s Deutsche Geschichte und Ranke’s Weltgeschichte Referate und Kritiken geschrieben, die jeder Fachzeitschrift zur Ehre gereicht hätten.

R. lebte in einfachen Verhältnissen. Spät erst gelangte er dazu, einen Hausstand zu gründen. Aber es geschah im Jahre des Sieges, der Erfüllung seiner politischen Hoffnungen, 1866, und er hat dann an der Seite einer geliebten Frau, der treuesten Arbeitsgefährtin, und im Besitz guter Kinder noch dreißig Jahre des reinsten Glückes genossen.

Wenn die Wahrheit einer Lehre erst durch das Leben erhärtet werden kann, und wenn das Werk des Lebens auch das Glück des Lebens in sich schließt, so hat die Philosophie Hegel’s niemals eine bessere Bestätigung gefunden, als durch das Leben Constantin Rößler’s. Es war in ihm, wie Gustav Freytag dem Siebzigjährigen schrieb, „eine Verbindung von Enthusiasmus und Milde, die sich in der schwierigsten Stellung gegenüber Verkennung und gegenüber mächtiger Zumuthung bewährte und dem Vielbeschäftigten, mit amtlicher Arbeit Ueberhäuften, mitten im politischen Streit die Freudigkeit und die belehrende Einwirkung auch auf anderen idealen Gebieten des deutschen Schaffens bewahrte“. Religion und Philosophie fielen für Constantin R. zusammen. „Denken und Glauben“, sagt er einmal, „sind Geschwister“. So hat er es schon in den Sententiae controversae seiner Doctordissertation, die wie ein schöner Kranz das Denken und Fühlen, das Soll und Haben seines ganzen Lebens in seiner Blüthezeit zusammenfassen, ausgesprochen. In der zweiten unter ihnen behauptet er, daß Hegel die Philosophie Kant’s erst zur Vollendung geführt habe. In der dritten nennt er den Geist frei in jeder Phase des historischen Progresses. Die fünfte widerstreitet denen, welche von Spinoza’s Lehre sagen, daß sie mit dem Geiste des Christenthums nichts zu schaffen habe. In der achten These nennt er Cartesius, Spinoza und Leibniz eine Trias, die mit der Grundidee des Protestantismus zusammenhänge. An der Spitze aber steht das Bekenntniß, dem er sein ganzes Leben hindurch treu geblieben ist:

Nemo philosopho religiosior.
Unter den Nekrologen auf Constantin Rößler sind hervorzuheben die von Hans Delbrück in den Preuß. Jahrbüchern, Novbr. 1887, und von Gustav Schmoller (Jahrbuch f. Gesetzgebung etc. XXVI, 3. Heft). Benutzt wurden ferner biographische Daten von Rößler’s eigener Hand für Brockhaus’ Konversationslexikon, 14. Auflage, und Erinnerungen, die er in die Essays über Joh. Ed. Erdmann (Preuß. Jahrbücher, Septbr. 1892) und über Max Duncker (ebenda Septbr. 1891) eingestreut hat. Dazu die andern Schriften. – Eine kleine Auswahl von Essays Rößler’s gab der Sohn, Walter Rößler, heraus (Berlin 1902, XXXVI, 535 Seiten); darin auch der Nekrolog Delbrück’s.


Anmerkungen (Wikisource)

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