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ADB:Röhr, Johann Friedrich

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Artikel „Röhr, Johann Friedrich“ von Gustav Frank in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 30 (1890), S. 92–94, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:R%C3%B6hr,_Johann_Friedrich&oldid=- (Version vom 6. Oktober 2024, 16:57 Uhr UTC)
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Röhr *): Johann Friedrich R., in welchem der Rationalismus vulgaris seinen Patriarchen ehrte, ist als der Sohn eines mittellosen Schneidermeisters am 30. Juli 1777 zu Roßbach bei Naumburg geboren. Nach Absolvirung der Schulpforta studirte er mit Hülfe eines ihm von einer Großtante zugefallenen Vermächtnisses (1796) Theologie in Leipzig. Durch Reinhard (s. A. D. B. XXVIII, 32), bei welchem er sich durch sein Candidatenexamen empfohlen hatte, wurde er Hülfsprediger an der Universitätskirche in Leipzig, 1802 Collaborator in Pforta. Nachdem er von 1804–20 das Pastorat zu Ostrau bei Zeitz verwaltet, ward er an J. F. Krause’s Stelle (dessen Nachfolger in der Königsberger Professur zu werden, er ausgeschlagen hatte) als Oberpfarrer und Generalsuperintendent nach Weimar berufen. In diesem hohen Kirchenamt ist er verblieben bis an seinen Tod (15. Juni 1848). Röhr’s Bedeutung in der Theologie liegt darin, daß er mit nüchternem Sinn den nüchternen Rationalismus unentwegt und unentmuthigt vertreten hat sein Leben lang. Bereits in dem durch Reinhard’s „Geständnisse“ veranlaßten Consequenzstreit bekennt er sich in einer pseudonymen Schrift („Wer ist consequent? Reinhard oder Tzschirner? oder keiner von beiden? Beantwortet vom Prediger Sachse“ 1811), gegenüber einem von allem vernünftigen Untersuchungsgeist abstrahirenden Supernaturalismus, zum Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen, der indessen die hl. Schrift, von Anfang an das kräftigste Vorbereitungsmittel der gotteswürdigsten Religion, als Erläuterungs- und Bestätigungsurkunde religiöser Vernunftwahrheiten nicht ausschließt. Weil hiernach auch bei ihm Vernunft- und Auctoritätsgründe in einander fließen, so will R. sich ebensowenig für einen reinen Rationalisten ausgeben, wie er Reinhard für einen reinen Supernaturalisten halten mag. Er gab dann in seinen (ihm gleichsam abgedrungenen und etwas zu eilig geschriebenen) „Briefen über den Rationalismus“ (1813) dem Rationalismus eine Hauptschrift, sein ausgeführtes Programm. Das allein haltbare und consequente System ist der Rationalismus, welcher die religiöse Wahrheit auf die Vernunft d. i. den gesunden vorurtheilsfreien Menschenverstand stützt (vgl. dagegen: E. G. Bengel’s Archiv für die Theologie Bd. III, S. 119–55 und Chr. F. Zöllich, Briefe über den Supernaturalismus, 1821). In diesem System haben nur die Religionslehren Raum, welche den Charakter der Allgemeingiltigkeit und strenger Angemessenheit zu sittlichen Zwecken an sich tragen. Denn der letzte Zweck der Religion ist reine Sittlichkeit. Das Christenthum, von allem Localen und Temporellen befreit, enthält nichts weiter, als was der vernünftige Geist des Menschen überhaupt von religiöser Wahrheit auffinden kann, und konnte als Universalreligion keine positive Religion sein. Sein historischer Theil hat nur Geltung als Vehikel, die Vernunftreligion auf Erden zu erhalten und auszubreiten. Als Bestandtheile des theologischen Systems können nur Theologie und Anthropologie auftreten, aber nicht die Christologie. Denn wie kämen die Ansichten, die man von der Individualität des ersten Verkündigers einer Universalreligion hat, in diese Religion selbst? Jesus, der bescheidene und liebenswürdige Weise von Nazareth, war ein Mensch wie wir, aber ein einziger Mensch, ein unverdorbener Natursohn, durch die größten und erhabensten Eigenschaften ausgezeichnet, darum dem damaligen Zeitalter als wunderbare Gestalt erscheinend. Wenn dem Verfasser der „Briefe“ von befreundeter Seite vorgehalten wurde, daß er sein System nicht plausibel genug vorgestellt habe, so hat R., diesem Mangel abzuhelfen und der ungebundenen Glaubenswillkür zu begegnen gesucht in seinen „Grund- und Glaubenssätzen“ (vgl. J. Schultheß, De principiis [93] constitutivis ecclesiarum evangelico-protestantium a Roehrio adumbratis. 1835 und Chr. G. Ficker, Ueber die von R. vorgeschlagenen Grund- und Glaubenssätze. 1836). Dieselben sind an 14 theologische Facultäten versendet, in vier Auflagen für Gelehrte von Fach (1832, 4. Aufl. 1860) verbreitet und, den protestantischen Freunden Ziel und Grenze zu setzen, sowie einen Maßstab für die deutschkatholischen Bestrebungen darzubieten, 1845 in eine „gemeinverständliche und schriftgemäße Darstellung“ umgesetzt worden. Als einzige, sichere und ausreichende Richtschnur des christlichen Glaubens und Lebens wird das Wort Gottes oder das Evangelium hingestellt, darunter aber die von Christo selbst ursprünglich ausgegangene Religionslehre verstanden (dagegen: „Röhr und Bretschneider als Vertheidiger des normativen Ansehens der Bibel“ 1842). Volle Glaubens-, Gewissens- und Lehrfreiheit soll in der Kirche herrschen, jedoch mit der Beschränkung, daß das Evangelium sprachlich und geschichtlich, nach Vernunft und Gewissen ausgelegt und gelehrt werde. An diese constitutiven Grundsätze reihen sich die regulativen Glaubenssätze. Jesus, der vollkommenste Mensch, das Ideal unseres Geschlechts, hat durch außerordentliche Thaten und Schicksale, Tod, Auferstehung und Hingang in die unsichtbare Welt, gleichwie durch seine Lehre ein Reich Gottes gestiftet. Seine Lehre als erleuchtende läßt uns den Einen wahren Gott, den gemeinsamen Vater aller Menschen, als den Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt, und den Erzieher der Menschen und aller vernünftigen Geister erkennen; als veredelnde gibt sie dem stark zum Bösen hinneigenden Menschen die sittliche Kraft zu einem edlen Leben und einer reinen Gesinnung; als beseligende erweist sie sich durch den Trost im Leiden, durch die Sündenvergebung nach aufrichtiger Reue und Besserung und durch die Aussicht auf ein ewiges und vergeltendes Dasein nach dem Tode. Dieses neue Symbol, durch dessen Einführung als Kirchengesetz der Rationalismus Kirchenlehre geworden wäre, fand geringen Anklang selbst bei Röhr’s Gesinnungsgenossen, wiefern diese überhaupt eine symbolische Fessel scheuten. Der Verfechtung seines rationalistischen Standpunktes diente sein Journal, die „Kritische Predigerbibliothek“ (1820 bis 1848, früher unter dem Titel „Predigerlitteratur“ erschienen). Darin wurden scharf bekämpft in erster Linie die frömmelnden Obscuranten und orthodoxirenden Stabilitätstheologen. Wie er schon 1801 gegen die die freie Gnade Gottes in Christo wieder hervorhebende Reformationspredigt Reinhard’s vom 31. Oct. 1800 ein „Sendschreiben“ erlassen hatte, so wendet sich sein Journal gegen alle späteren Träger dieser Richtung, wie Harms, Hengstenberg, Sartorius, Rudelbach u. s. w. Aber der Zorn der Kritischen Predigerbibliothek traf noch eine zweite Richtung, die als dogmatisch-allegorische bezeichnet wird. In diese Kategorie wurden Daub und Marheineke, aber auch Schleiermacher, Twesten und alle reicheren Geister geworfen. Als nun R. mit fast hierarchischer Zähigkeit seinen Rationalismus als allein berechtigt gegen jede höhere Entwicklung geltend machte, da führte diese dogmatische Befangenheit zu dem denkwürdigen Streit zwischen ihm und Hase. Letzterer hat in seinem „Anti-Röhr“ dem Rationalismus den Todesstoß gegeben. Marheineke redete vom kritischen Armensünderstuhl, auf welchem das sichtbare Oberhaupt der Rationalisten throne. Ein Anderer war schon 1834 der Meinung, mit Nächstem werde man der Mühe überhoben sein, von dieser Richtung noch Notiz zu nehmen. R. aber stand noch lange ruhig lächelnd und des endlichen Sieges gewiß auf den Trümmern seines Systemes, die er als Trümmer nicht anerkennen wollte. Wie der Rationalismus mit dem Predigerberuf zu vereinigen sei, ohne dem Vorwurf der Heuchelei und Lüge zu verfallen, darauf ertheilt R. die Antwort: „Der ehrliche Mann hält das (wunderbare) Factum als solches fest und macht davon die religiöse und sittliche Anwendung, zu welcher [94] es ihm ausschließlich gegeben ist. Ueberhaupt stellt er die Wunderthaten Jesu der Gemeinde in demjenigen Lichte dar, welches der religiöse Bildungsgrad derselben und die Lehrweisheit zuläßt. Auch die wunderbaren Schicksale desselben finden an ihm keinen ungläubigen Bestreiter.“ R. hat insbesondere in Jesu Auferstehung den großen Wendepunkt oder, wie er sich auch ausdrückt, blendenden Lichtpunkt seines Daseins erkannt, und gerade daß Jesus den Kreuzestod erlitt, durch welchen kein zum Leben nothwendiges Organ zerstört wird, erschien ihm providentiell. Ueberall in seinen Predigten, davon verschiedene Sammlungen vorliegen, waltet der klare Verstand. Er hat (nach Stiebritz, Zur Geschichte der Predigt, S. 59) gewaltig zu predigen verstanden. Seine geistvolle Textbenutzung, seine Beobachtungsgabe, seinen Freimuth, seine sittliche Strenge und anregende Kraft der Darstellung haben auch theologische Gegner anerkannt. Einzelne seiner Predigten machten großes Aufsehen und riefen selbst Gegenschriften hervor. So seine zwölfmal gedruckte Reformationspredigt vom Jahre 1838 mit scharfer Polemik gegen den Fürsten der Finsterniß (dagegen: „Stimme aus der kleinen katholischen Kirchengemeinde Weimar-Jena unter der Geißel des Generalsup. Röhr.“ 2. A. 1839. „Betrachtungen über die neuesten Angriffe auf die Ehre der katholischen Kirche.“ 1839). Ihm war auch beschieden, Goethes unsterbliche Seele der Barmherzigkeit Gottes zu befehlen („Trauerworte bei v. Goethe’s Bestattung in Weimar am 26. März 1832 gesprochen“). In seinem „Magazin für christliche Prediger“ (seit 1828) sammelten sich die homiletischen Producte, die „am Mondlichte des common sense gereift“ waren.

Außer einer Sammlung „kleiner Schriften“ (1841) hat Röhr für weitere Kreise ein „Lehrbuch der Anthropologie“ (2. A. 1819), eine „Historisch-geographische Beschreibung des jüdischen Landes zur Zeit Jesu“ (8. A. 1845), ein „Leben Luthers“ (2. A. 1828) und eine „Kurze Geschichte der Reformation“ (2. A. 1833) herausgegeben. Er ist für „die gute Sache des Protestantismus“ (1842) eingetreten, und hat anonym berichtet: „Wie Karl August sich bei Verketzerungsversuchen gegen akademische Lehrer benahm“ (1830). Vgl. B. Hain im Neuen Nekrolog der Deutschen, Jahrg. 26 (1848), Th. 1, S. 451–61 und die Artikel „Röhr“ vom Unterzeichneten in den beiden Auflagen von Herzog’s R.-E.


[92] *) Zu Bd. XXIX, S. 62.