ADB:Rückert, Heinrich
*): Karl Albrecht Heinrich R., Geschichtsforscher und Germanist, geboren zu Koburg am 14. Febr. 1823, † zu Breslau am 11. Sept. 1875. Er war der erste Sohn Friedrich Rückert’s, vgl. oben S. 445. Seine erste Erziehung erhielt er im Hause der Eltern des Vaters zu Koburg, wo er auch die Stadtschule und kurze Zeit das Gymnasium besuchte. Nach dem Tode des Großvaters kam er zu den Eltern nach Erlangen, um dort unter Döderlein’s Leitung seine Gymnasialstudien fortzusetzen und abzuschließen. Herbst 1840 verließ er mit einem Zeugniß erster Classe das Gymnasium. Studirte von da ab bis in den Herbst 1844 zu Erlangen, Bonn, Berlin, vom Vater früh für die Sprachwissenschaft begeistert, vorwiegend classische und deutsche Philologie und Alterthumskunde. Auf Grund seiner Dissertation „De Ebonis archiepiscopi Remensis vita“ erhielt er am 5. August 1844 in Berlin die philosophische Doctorwürde. Mit der Schrift „De commercio regum Francorum cum imperatoribus orientis usque ad mortem Justiniani“ habilitirte er sich dann am 5. Mai 1845 zu Jena für deutsche Geschichte und Alterthumskunde. Er hielt dort aus beiden Gebieten Vorlesungen. Je politischer die Zeiten wurden, desto mehr lenkte er von der politischen Seite der Geschichtsforschung ab und vertiefte sich immer mehr in deutsche Philologie und Alterthumskunde, deren wissenschaftliche Behandlung er in Jena erst einbürgerte. Am nachhaltigsten wirkte er dort wie später in Breslau durch seine Privatissima. 1848 wurde er Extraordinarius ohne Gehalt. Nachdem sein Gesuch um einen festen Gehalt 1852 abschlägig beschieden worden, bewarb er sich um die durch den Tod Theodor Jacobi’s erledigte Professur für deutsche Philologie in Breslau. Er wurde als außerordentlicher Professor mit einem Jahrgehalt von 400 Thalern nach Breslau berufen und trat seine neue Stellung Ostern 1852 an. Seine Gesundheit, die er schon in Jena durch übermäßige Arbeit angegriffen, wurde in Breslau unter dem Einfluß der mißlichen äußeren Verhältnisse immer mehr erschüttert: trotz namenloser Qualen und Hemmnisse docirte und producirte er unermüdlich weiter. Vergebens waren seine Gesuche um Gehaltszulagen und Beförderung. Nachdem er 15 Jahre als Extraordinarius gewirkt, wurde er endlich am 4. Mai 1867 zum ordentlichen Professor ernannt. Mehrfach unterbrach Krankheit seine Lehrthätigkeit, oft mußte er sich beurlauben lassen, so suchte er auch im Frühjahr 1874 Erholung in der Schweiz. Seine treue Gattin begleitete ihn, um ihn zu pflegen. Am 12. Juni ward sie ihm durch einen plötzlichen Tod entrissen, fast 24 Jahre hatte sie ihn beglückt. Das brach auch seine Widerstandskraft. Scheinbar gekräftigt traf er in Breslau wieder ein, nahm seine Arbeit in ihrem vollen Umfange wieder auf, aber rasch schwanden seine Kräfte, am 11. September 1875 erlöste ihn ein sanfter Tod von seinen schweren Leiden.
RückertBei seinen Lebzeiten hat R. nicht die Beachtung und Würdigung gefunden, die er vor vielen anderen als vielseitiger und geistvoller Germanist, Geschichtsforscher und Publicist verdiente. Er war eine überaus bescheidene und selbstlose Natur, trat nie mit seiner Persönlichkeit hervor, sondern vergaß über den Interessen seiner Wissenschaft fast ganz seine eigenen. Er gehörte – das rühmte er selbst an einem andern – zu jenen seltenen Menschen, denen der Ehrgeiz in der gewöhnlichen Fassung dieses Begriffes gänzlich fehlt, weil er sich bei ihnen zu etwas höherem, zu einer ganz mit dem Gewissen identischen Selbstachtung verklärt hat. Trotz seiner großen Kränklichkeit, deren Schwere nur Wenige würdigen können, war er unermüdlich thätig als Lehrer und Schriftsteller für die Förderung und Bereicherung seiner Wissenschaft und für die Verbreitung der Wahrheit im Dienste des nationalen [770] Gedankens, den er mit seltener Innigkeit erfaßt hatte. Sein ungemein reiches, auf langjährigen, sorgfältigen sprachwissenschaftlichen und historischen Studien beruhendes Wissen, besonders sein feines Verständniß der Stimmungen und Empfindungen der deutschen Volksseele befähigten ihn, der deutschen Alterthumsforschung neue Bahnen zu eröffnen, hätte nur der sieche Körper mit dem Riesengeiste gleichen Schritt halten können. Vor allem fühlte R. sich hingezogen zur Erforschung des unbewußten Geisteslebens des deutschen Volkes, wie es sich in Sprache und Litteratur, in Glaube und Sitte kund gibt, aber auch den Gestaltungen des öffentlichen und staatlichen Lebens des deutschen Volkes in Vergangenheit und Gegenwart wandte er seine volle Aufmerksamkeit zu, denn die deutsche Philologie, eine Schöpfung des allgemein wiedererwachenden Nationalbewußtseins in Deutschland, erschien ihm zugleich als politische Macht, die immer auf die reale Durchführung der nationalen Ideale den umnittelbarsten Einfluß geübt. Wie R. die gesammte deutsche Entwicklung im großen weltgeschichtlichen Zusammenhang zu erfassen gewußt hat, bezeugen seine „Annalen der deutschen Geschichte. Abriß der deutschen Entwicklungsgeschichte in chronologischer Darstellung“. Auch unter dem Titel: „Das deutsche Volk dargestellt in Vergangenheit und Gegenwart zur Begründung der Zukunft“, 3 Bde., Leipzig 1850, ferner seine „Culturgeschichte des deutschen Volkes in der Zeit des Uebergangs aus dem Heidenthum in das Christenthum“, 2 Bde., Leipzig 1853/54, endlich sein „Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung“, 2 Bde., Leipzig 1857.
Als R. seine germanistische Thätigkeit begann, hatte die neue Wissenschaft der deutschen Philologie gegen die offene Feindschaft und hochmüthige Mißachtung der seit Jahrhunderten gepflegten Disciplinen für ihre Lebensberechtigung zu kämpfen. Die Heftigkeit des Kampfes läßt sich aus mannichfachen, überaus scharfen Aeußerungen Rückert’s in seinen früheren Aufsätzen erkennen. R. erregte um so mehr Anstoß, weil er von jeher darauf bedacht war, seine Studien dem engen Bereiche der Schule zu entrücken und ihre Ergebnisse zum Eigenthum der Gesammtbildung der Nation zu machen. An typischen Beispielen suchte er in den gelesensten Zeitschriften dem größeren Publicum die geistigen Strömungen, welche das wissenschaftliche Treiben der Zeit beherrschten, verständlich zu machen. Er hatte eine bewunderungswürdige Fähigkeit, die wissenschaftlichen Fortschritte in ihrer Ganzheit und in ihrem Zusammenhange mit dem Gesammtgeiste und dem Gesammtstreben der Zeit aufzufassen. Es läßt sich nicht ermessen, wie große Verdienste er sich durch seine unzähligen populären Aufsätze um die allgemeine Bildung erworben hat. Von einem beschränkten Standpunkte aus kann man freilich bedauern, daß er nicht seine ganze kostbare Zeit im strengen Dienste der Wissenschaft verwandt hat, aber seine große Kränklichkeit hinderte ihn am stetigen, langandauernden Arbeiten: er war froh, wenn er wenige Wochen nicht bei voller Gesundheit, sondern nur mit dem vierten oder fünften Theil seiner Kräfte thätig sein konnte. So mußte er auf dem Gebiete der deutschen Litteraturgeschichte, für die er wie wenige andere befähigt war, fast nur Entsagung üben und auf die Ausführung großartiger Pläne verzichten, so unter andern auf eine beabsichtigte „Geschichte der Entwicklung der gesammten Epik des deutschen Mittelalters“. Vorausgehen sollte diesem Werke eine „Sammlung der kleineren althochdeutschen und späteren epischen und episch-lyrischen Stücke mit eingehenden litterarhistorischen und culturhistorischen Untersuchungen“. Es sollte sich darin deutlich zeigen 1) die Abzweigung der Lyrik von der Epik, 2) der Fortschritt von den gebundenen einfachen Formen des Gemüthslebens und der Phantasie der ältesten Zeit zu den reicheren der späteren. Ebenso wenig [771] kam R. dazu, die Ergebnisse seiner langjährigen sorgfältigen „Studien über die Technik der Kudrun in Composition und Versification“ zu veröffentlichen, die nach seiner eigenen Bemerkung allem widersprachen, was von Müllenhoff bis Bartsch darüber gesagt worden.
Ein günstigeres Geschick waltete über den Arbeiten Rückert’s auf dem Gebiete der deutschen Sprachforschung, hier war es ihm wenigstens vergönnt, einen Theil der Ergebnisse seiner großartigen Forschungen zu veröffentlichen. Unter denen, die nach J. Grimm grammatische Untersuchungen angestellt, haben Wenige so wie im Sinne dieses Meisters und mit vollem Verständniß des geistigen Lebens der Sprache gearbeitet. Mit besonderem Eifer und dem glücklichsten Erfolge erforschte R. die Grammatik der lebenden deutschen Mundarten, die er auf seinen vielen Reisen seit frühester Jugend genau kennen gelernt. Er hatte richtig erkannt, daß die deutsche Dialektforschung, je mehr sie sich zur Erkenntniß der geschichtlichen Entwicklung unserer Dialekte vertiefe, um so weniger mit der Untersuchung der eigentlich sprachlichen Einflüsse sich begnügen dürfe, sondern überall mit Hülfe der Culturgeschichte die sprachlichen Erscheinungen zu erklären habe. Als Vorbereitung für die entlegeneren und dunkleren Gebiete der Vergangenheit empfahl er, daß man sich das Auge schärfe an dem, was sich in der Gegenwart auf dem Gebiete der Dialekte so zu sagen handgreiflich vollziehe. Ein exacter Beobachter könne innerhalb eines Menschenalters zu den interessantesten Resultaten gelangen, an denen sich wenigstens die Methode und die Gesetze für die ältere Periode ableiten lassen würden, denn diese blieben immer dieselben, nur das Material sei ewigem Wechsel und einer scheinbaren Tausendgestaltigkeit unterworfen. R. war sich voll bewußt, daß er so der deutschen Dialektkunde Aufgaben stelle, wofür die allgemeine deutsche Sprachgeschichte noch nichts geleistet habe, allein er war der Ansicht, man müsse in jedem Falle großes fordern, wenn man auch nur bescheidenes erhalten wolle, ja es sei von directem praktischen Nutzen, wenn man sofort den vollen geistigen Gehalt des Arbeitsfeldes übersehen könne. Von den mundartlichen Arbeiten Rückert’s seien nur die bedeutendsten genannt. Wir verdanken ihm eine musterhafte Darstellung der Laut- und Flexionsverhältnisse der schlesischen Mundart, werthvolle Aufsätze über das Betonungsgesetz in der schlesischen Mundart und über das Verhältniß von Mundart und Schriftsprache. Das Problem der Entwicklungsgeschichte der deutschen Schriftsprache beschäftigte R. viele Jahre lang. Zu Anfang des Jahres 1870 gedachte er seine Studien über diesen schwierigen Gegenstand zu einem vorläufigen Abschluß zu bringen und in Zacher’s germanistischer Handbibliothek eine „Kritische Geschichte der deutschen Sprache“ erscheinen zu lassen, ein Handbuch mit vollständig wissenschaftlicher Grundlage und wissenschaftlichem Zweck, aber in präciser Form. Es ist nicht ersichtlich, weshalb er damals diesen Plan nicht ausgeführt, denn gerade in dem Kriegsjahre 1870/71 war er arbeitsmuthiger als je zuvor. Er war glücklich, daß er durch die allerhöchste Anspannung dessen, was er von sittlichem Pathos in seiner Seele habe, zugleich zu lebhaftester Arbeitsthätigkeit erhoben werde. Erst als er den Todeskeim schon im Herzen trug, entschloß er sich Hand ans Werk zu legen. Es war zu spät, es gelang ihm nicht mehr, das ganze ungeheure Material so zu bewältigen wie er sich vorgenommen; das großartig angelegte Werk, die „Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache“, blieb innerlich und äußerlich unvollendet. Es sollte 3 Bände umfassen, aber nur die beiden ersten erschienen und der 2. nur unvollständig. Es fehlen ihm nicht bloß einige Capitel, wie Scherer meinte, sondern die ganze 3. und 4. Abtheilung des 2. Buches, wie sich deutlich aus nachgelassenen Notizen Rückert’s ergibt. Das Gegebene ist höchst werthvoll.
[772] Am wenigsten sagte der Eigenart Rückert’s die Philologie im engeren Sinne, die philologische Textkritik zu, trotzdem daß er in K. Lachmann den genialsten Vertreter dieser Richtung persönlich kennen und schätzen gelernt hatte. In Lachmann’s 2. Ausgabe des Iwein sah er ein vorzügliches Muster für alle Textausgaben älterer deutscher Werke, mit der sich keine Arbeit auf dem Gebiete der antiken Philologie in wissenschaftlicher unerbittlicher Schärfe, Detailstudium und Eindringen in das Allerindividuellste des Schriftstellers messen könne. Von den kritischen Ausgaben R.’s ist die gelungenste die des „Wälschen Gastes von Thomasin von Zirclaria“, die selbst ein so strenger Kritiker wie M. Haupt wegen ihres Fleißes und ihrer Sauberkeit lobte. Weniger durchgearbeitet waren die späteren Ausgaben „Bruder Philipp’s des Carthäusers Marienleben“ und „Lohengrin“, die beide den Erwartungen nicht entsprachen, zu denen man nach der ersten berechtigt war. Leider konnte R. mit seinen umfassenden Vorarbeiten zu einer kritischen Ausgabe des „Renners von Hugo von Trimberg“ nicht zum Abschlusse kommen. Aus gelegentlichen brieflichen Aeußerungen Rückert’s über die Ergebnisse seiner Rennerforschung, die er in den letzten Lebensjahren wieder aufnahm, erkennt man, wie viel auch hier die Wissenschaft durch seinen frühen Tod verloren hat.
Höheren Werth als die bloß kritischen haben die Ausgaben mit erklärenden Anmerkungen in der „Sammlung der deutschen Dichter des Mittelalters von K. Bartsch“, der „König Rother“ und der „Heliand“. Dem Plan der Sammlung entsprechend ist bei diesen der streng wissenschaftliche Charakter absichtlich vermieden, die eigentlich schulmäßige Ergänzung dazu, der gelehrte kritische Apparat in der weitesten Bedeutung des Wortes sollte in den von Bartsch projectirten „Kritischen Beiträgen zu den deutschen Dichtern des Mittelalters“ nachträglich geliefert werden. Es war nicht Rückert’s Schuld, daß es nicht dazu kam. In seinem Sinne fehlte so beiden Ausgaben ein wichtiger Haupttheil, um so mehr da in beiden mit Rücksicht auf den festgesetzten Umfang vieles gestrichen werden mußte, so in der Einleitung zum Rother alles was sich „auf die eigentlich poetische Substanz und Construction des Werkes bezog“. In den Anmerkungen berücksichtigte R. nicht bloß sprachliches und metrisches, sondern auch sachliches, um dem Leser die nicht geringe culturhistorische Bedeutung des Gedichtes zu eröffnen. Statt des von ihm beabsichtigten Specialglossars, für welches er 6–8 Bogen beanspruchte, mußte er ein kurzes Wortregister auf 22 Seiten geben.
In ähnlicher Weise bearbeitete R. später den Heliand, nur daß hier die Anmerkungen von viel mannichfaltigeren und tiefer greifenden Gesichtspunkten aus anzubringen waren. Er wollte durch sie einen fortlaufenden Commentar geben, der bis dahin ganz fehlte, und eine Menge der wichtigsten Punkte, die bis dahin ganz übersehen worden, ebensowohl linguistischen wie archäologischen und ästhetischen Gehalts, zum ersten Mal behandeln. Als der Druck schon begonnen war, mußten auch diese Anmerkungen wesentlich gekürzt werden, was R. nur ungern zugab, da er meinte, daß die relativ vollständige Begriffsentwicklung der einzelnen Wörter in den Anmerkungen dem beabsichtigten Lexikon ebenso viel erspare. Das Wörterbuch hatte R. entworfen, aber noch nicht ausgearbeitet, da er durch die schlimmen Erfahrungen gewitzigt, erst genau wissen wollte, wie viel Raum ihm für dasselbe bewilligt werde. So blieb es unbearbeitet, denn mitten im Drucke des Heliand starb R. Die Heliandausgabe Rückert’s zeigt am deutlichsten, wie geistvoll R. altdeutsche Dichtungen in ihrer Individualität zu erfassen und aus ihr heraus zu erklären verstand. Hier kam seine ganze Eigenart und vielseitige Begabung am besten zur Geltung. Man kann von ihm sagen, er war zum Erklärer geboren. So [773] haben denn auch die zahlreichen exegetischen Vorlesungen, die R. am liebsten hielt, unberechenbaren Nutzen gestiftet. Seine vielen Zuhörer haben von ihm die Kunst der Erklärung poetischer Erzeugnisse gelernt und werden stets in dankbarer Gesinnung seiner gedenken.
- Uebersicht der gesammten litterarischen Thätigkeit Rückert’s im 2. Bande der Kleinen Schriften H. Rückert’s, Weimar 1877, 403 ff. – Nekrologe von Bartsch, Germania XVIII, 122 ff.; Friedr. Pfeiffer, Zeitschr. für deutsche Phil. VIII. 95 ff.; Fortlage, Grenzboten, 1876, Nr. 6. – Ausführliche Biographie: A. Sohr, Heinrich Rückert in seinem Leben und Wirken, Weimar 1880. – Al. Reifferscheid, H. Rückert’s Bedeutung als Germanist. Verhandlungen der 35. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner zu Stettin 1880, Leipzig 1881, 212 ff.; Ueber H. Rückert’s kleinere Schriften. Wismar 1878 (als Mscr. gedruckt).
*) Zu S. 453.