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ADB:Sedlnitzky, Leopold Graf von

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Artikel „Sedlnitzky, Graf Leopold von“ von David Erdmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 531–553, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sedlnitzky,_Leopold_Graf_von&oldid=- (Version vom 15. November 2024, 18:20 Uhr UTC)
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Sedlnitzky: Graf Leopold v. S., ehemaliger Fürstbischof von Breslau, der erste deutsche Bischof seit der Reformation, der zur evangelischen Kirche übergetreten ist, war mit seinem Leben und Wirken in seinem bischöflichen Amt in die Anfänge des Kampfes zwischen der neueren römisch-katholischen Kirche und dem Staat verflochten. Er ging aus diesem Kampf hervor nicht als ein Besiegter, [532] sondern als ein Sieger in dem inneren Kampf des Glaubens, indem er unter der Fahne des reinen lauteren Evangeliums den Frieden fand, der höher ist denn alle Vernunft, und in seiner inneren Lebensführung zu dem Leben in Gott gelangte, nach welchem er, das Auge dem Licht der evangelischen Wahrheit zugewendet, in heiligem Ernst gerungen hatte. Ein lebendiges Glied der evangelischen Kirche geworden, hat er, fern von dem Getriebe der Welt, in stiller Zurückgezogenheit als ein Mann des Friedens gelebt. Er hat nie aufgehört, auch des Guten sich zu freuen, welches er in der von ihm gewissenshalber verlassenen Kirche fand. Er war stets beflissen, seinen Glauben durch Werke der Liebe zu bethätigen, mit denen er der evangelischen Kirche zur Förderung ihres inneren Lebens nach Kräften zu dienen suchte. Er bezweckte dabei stets nichts höheres, als seinem Gott und Herrn das Opfer des Dankes für den in der evangelischen Wahrheit erlangten Herzensfrieden darzubringen.

Graf S. war am 29. Juli 1787 auf dem väterlichen Stammschloß Geppersdorf in Oesterreich-Schlesien geboren. Sein Vater war Joseph Odrowoncz, Reichsgraf v. Sedlnitzky (Siedlnicky) zu Geppersdorf, Nassedl, Iwronin, Löwitz; die Mutter Maria Josepha, geb. Gräfin v. Haugwitz. Er erkennt es als eine große Gnade des Herrn, für die er ihm nicht genug danken könne, daß seine Eltern ihren Kindern in wahrer Gottesfurcht und Frömmigkeit und in der Liebe und Treue, in der sie innig vereint eine musterhafte Ehe führten, das beste Beispiel gaben. Mit allem Ernst dem römisch-katholischen Glauben zugethan, in dem sie allein den Weg des Heils sahen, und dabei doch nicht weniger liebevoll gegen Andersdenkende sich verhielten, übten sie auf die religiös-sittliche Entwicklung des Knaben mindestens einen ebenso tiefen und nachhaltigen Einfluß aus, wie die Geistlichen, denen sie seine Unterweisung und Erziehung im Hause übergaben, und in deren Umgebung er, von allem großen Gesellschaftsleben fern gehalten, einen großen Theil seiner ersten Jugend verlebte. Die schroffen Gegensätze in ihrem Unterrichtsverfahren hatten eine große Ungleichmäßigkeit in seinem geistigen Bildungsgange zur Folge. Der eine, ein noch junger unerfahrener Mann, suchte ihn nach einem von ihm selbst theoretisch construirten Unterrichts- und Erziehungssystem gleichzeitig in allen Unterrichtsfächern ohne Berücksichtigung seiner Individualität zu einer gleichmäßigen Höhe geistiger Ausbildung emporzuschrauben und behandelte ihn, als der Erfolg seinem Drängen und Treiben nicht entsprach, mit Ungeduld und Härte. Desto geringer wurden die Fortschritte, desto bedrückter und mißmuthiger fühlte sich der Knabe. Da trat ein Ereigniß in sein Kindesleben, welches für die Bildung seines Charakters leicht recht nachtheilig hätte werden können. Er war erst 11 Jahre alt, als sein Vater nach der damaligen mißbräuchlichen Sitte in den hohen adligen Familien für ihn eine Domherrnstelle in dem Breslauer Hochstift nachsuchte und erhielt. Mit großer Feierlichkeit wurde er in der benachbarten Pfarrkirche von dem damaligen Weihbischof v. Schimonsky, dem späteren Fürstbischof von Breslau, dessen Nachfolger er im Bischofsamt einst werden sollte, am 25. August 1798 in sein Canonikat unter Empfang der ersten Tonsur eingeführt. Mit dem Kreuz und Domherrnanzuge ausgestattet, wurde er von den Seinigen mit stolzer Freude, von der natürlich auch er in dem Bewußtsein erfüllt war, nun ein Mitglied der hohen Geistlichkeit zu sein, begrüßt. Aber der großen Meinung von seiner Würde als Domherr hielt doch das Gegenwicht die geringe Meinung, die ihm sein Lehrer wegen seiner geringen Fortschritte im Wissen von ihm selbst beibrachte. Diese Demüthigung, bekennt er später, sei gewiß unter solchen Umständen das heilsamste gewesen, was ihm widerfahren konnte. – Nach zwei Jahren empfing er einen anderen Lehrer, einen älteren Geistlichen, der bei seinem Unterrichts- und Erziehungsverfahren einen ganz entgegengesetzten Weg einschlug, indem er seinem Schüler freien Spielraum [533] ließ, sich ganz seinen Lieblingsfächern hinzugeben. Besonders folgte er, aus der bisherigen geistigen Gebundenheit und Bedrückung zu schrankenloser Entfaltung seiner Neigungen freigelassen, von seinem Lehrer dabei unterstützt, dem ihm von frühester Jugend eigenen Zuge zu der Natur, deren Schönheit in dem heimathlichen Thale und nahen Gebirge einen mächtigen Zauber auf ihn ausübte. Die Freude an der Natur trieb ihn zu Darstellungen in Zeichnungen und Worten, aber auch zu fleißiger eifriger Beschäftigung mit verschiedenen auf die Natur bezüglichen Wissenschaften, mit Naturgeschichte, Physik, mathematischer Geographie und später sogar auch mit Astronomie. Dabei aber ließ ihn sein religiöser Sinn keinen Augenblick über der Herrlichkeit der Schöpfung die des Schöpfers vergessen. Die religiöse Richtung meiner ganzen Umgebung, sagt er, besonders der Eltern und Lehrer, drängte mein Inneres dahin, die Herrlichkeiten und den Reichthum der Natur auf ihren Schöpfer zu beziehen, seine Größe, Weisheit, Allmacht und Liebe mir anschaulich zu machen und mein Herz ihm zuzuwenden. Als die Fortschritte, die er auf diesen Gebieten des Wissens machte, indem er seiner Lieblingsbeschäftigung in solcher Einseitigkeit oft ohne Wissen seiner Eltern und Lehrer nachhing, ihm das Lob und die Bewunderung derselben einbrachten, fühlte er sich dadurch freilich im Gegensatz zu der früher erfahrenen harten Behandlung und Beurtheilung erfreut und gehoben. Der junge Leopold, an dessen Fähigkeiten man zuvor verzagt hatte, galt jetzt für ein kleines Genie. Aber er entging auch hier der Versuchung zur Selbstüberhebung, indem er im Blick auf seine von seinen ungezügelten Neigungen abhängige einseitige Bildung sich durch jene lobende Anerkennung und Bewunderung weit mehr gedemüthigt fühlte, als durch den Tadel und die harten Aussprüche, die ihm früher zutheil geworden waren. Er sah bei seinem aufrichtigen frommen Sinn eine göttliche Fügung darin, daß er in einem Zeitraum von wenigen Jahren den Wechsel von Demüthigung und unverdienter Erhebung erfahren mußte. „Ich verehre“, bekennt er, „in Beidem die weise Führung Gottes, die Kleines und Großes mit liebender Vaterhand ordnet“. Durch solche Gesinnung wurde der erst an der Schwelle des Jünglingsalters stehende Graf Leopold auch ferner vor Eitelkeit und Hochmuth bewahrt, als ihm am 24. Mai 1802 von dem Fürstbischof von Breslau, Joseph Fürsten von Hohenlohe, noch die Investitur für ein Canonikat bei der Collegiatkirche zu Neisse ertheilt wurde.

Auf die Entwickelung seiner kirchlichen Anschauungen übte derselbe Erzieher, der seiner eifrigen Beschäftigung mit den Naturwissenschaften freien Lauf ließ, einen tiefgehenden Einfluß aus, indem er ihm die Herrlichkeit, Macht und Einheit der katholischen Kirche vor Augen stellte und die Liebe zu derselben ins Herz pflanzte. In noch höherem Maße erfuhr er eine solche Einwirkung von Seiten mehrerer sein elterliches Haus besuchenden Geistlichen, welche in Seminarien gebildet geeignet waren, durch ihr Wort und Beispiel ihm eine lebendige Anschauung von der das ganze Menschenleben in allen seinen Grundbeziehungen von der Geburt bis zum Tode beherrschenden Macht der Kirche zu vermitteln und eine hohe Vorstellung von der seelsorgenden Wirksamkeit und den Heilserfolgen der Kirche beizubringen. Ohne eine Spur von Intoleranz wurden diese Vorzüge durch den Vergleich mit der protestantischen Kirche noch sehr gesteigert. Die vielen Parteien derselben ließen ihm dieselbe gegenüber der äußeren Einheit und Geschlossenheit der katholischen Kirche als unzusammenhängende Gemeinschaften, die auf den subjectiven Verstandesreflexionen einzelner unvollkommner Menschen beruhten, erscheinen. Mit ihren kahlen nüchternen Gottesdiensten, ihren meist völlig schmuck- und geschmacklos erbauten Gotteshäusern, ihren trockenen moralisirenden Lehrvorträgen, ihrem Mangel an eifriger seelsorgerlicher Wirksamkeit, ihren häufig leichtfertigen Ehescheidungen, besonders nach dem preußischen Landrecht, trat in seinen Augen die protestantische Kirche weit zurück hinter die katholische [534] Kirche mit ihrem die Phantasie ansprechenden Cultus, ihren mit künstlerischem Schmuck ausgestatteten Gotteshäusern, ihrer oft mit großer Aufopferung verbundenen geistlichen Seelsorgethätigkeit in der Schule, in der Familie, an Kranken- und Sterbebetten, ihrer Sacramentsverwaltung und ihrer Unauflöslichkeit der Ehe, so daß er sich in seiner kirchlichen Anschauung die katholische Religion und Kirche gegen die protestantische „so vorstellte, daß sie auf dem innersten Grund des Gemüths in der Kraft des heiligen Geistes ruhe“.

Aber frühzeitig wurde bei ihm die Liebe zu den Naturwissenschaften durch einen neuen Lehrer, der auch katholischer Geistlicher und noch mehr mit diesen Wissenschaften vertraut war, auf Kosten der übrigen Fächer, namentlich der Geschichte und der alten Sprachen weiter genährt. Alles andere erschien ihm „ganz untergeordnet in Vergleich mit der unendlichen Größe, Gesetzmäßigkeit, Unwandelbarkeit und Schönheit der göttlichen Schöpfungen“. Ueberall schaute er bei weiterem, tieferem Eindringen in die Natur mit religiösem Sinn die Herrlichkeit Gottes in immer neuerem Licht. „Mich beseelte, sagt er, die tiefste Verehrung vor dem Schöpfer, der Myriaden von Welten aus dem Nichts hervorgerufen und sie in wunderbarer Weise leitet, der die Unendlichkeit seiner Geschöpfe mit Liebe umfaßt und jedes seinem Ziele zuführt“.

Daneben jedoch versäumte er nicht, sich mit Logik und Psychologie, welche nach dem damaligen Schulplan in den oberen Gymnasialclassen gelehrt wurden, zu beschäftigen. Mit besonderem Eifer trieb er das Studium der platonischen Dialoge, die ihm in der Uebersetzung des katholisch gewordenen, von ihm hoch verehrten Grafen Stolberg in die Hand fielen. Er staunte, wie ein Heide so tiefe Ideen mit solcher Klarheit aussprechen konnte. Ihm war bei diesem Studium zu Muthe, „als wenn ihm die Schuppen von den Augen fielen und ihm ein neues Licht aufginge“. Ihm war gewiß, daß Plato, wenn er das Christenthum kennen gelernt hätte, ein eifriger Jünger Jesu hätte werden müssen. Dieses Alles war nach seinem eignen Bekenntniß nicht ohne Einfluß auf seine weitere religiöse Entwicklung. Er täuschte sich aber dabei auch nicht darüber, wie seine Vorbildung an Einseitigkeit und Mängeln litt. Diese Erkenntniß ging ihm besonders durch seine platonischen Studien auf, indem ihm namentlich sein Mangel an sprachlichen und historischen Kenntnissen schmerzlich bewußt ward. In dem häuslichen Unterricht hatten seine Lehrer den Gang der Gymnasialbildung mit ihm durchzumachen. Er fühlte, wie viel ihm noch für das zum Abgang auf die Universität nothwendige Examen fehlte. So ließ er es sich denn gewissenhaft angelegen sein, die ihm noch gegebene Zeit zur Ausfüllung der Lücken in seinem Wissen anzuwenden. Dies gelang ihm in dem Maße, daß er das Examen nicht blos zur Noth bestand, sondern in auszeichnender Weise als reif für die Universität erklärt wurde, die er im October 1804 in Breslau 17 Jahre alt bezog.

Hier hatte er sich nach der bestehenden Studieneinrichtung in den zwei ersten Jahren mit den philosophischen, in den drei folgenden mit den theologischen Wissenschaften zu beschäftigen. Trotz der beengenden Formen des schulmäßig eingerichteten Studienlebens fühlte er Geist und Gemüth durch das tiefere Eindringen in den Geist und Sinn der römischen und griechischen Schriftsteller unter der Leitung eines ihm den vollen reichen Inhalt derselben erschließenden Lehrers kräftig angeregt und gehoben. Seine Liebe zu den Naturwissenschaften trieb ihn besonders zu weiterer Beschäftigung mit astronomischen Studien, wobei der betreffende Lehrer viel dazu beitrug, ihn „für die Wunder der göttlichen Allmacht bei Betrachtung des Weltgebäudes zu begeistern“. Aber die Erklärung der Naturerscheinungen durch materielle Mittel und mechanische Kräfte seitens desselben Lehrers und die lediglich deistische Auffassung des Verhältnisses Gottes zur Welt als einem von ihm aufgezogenen und ohne sein Eingreifen ablaufenden Uhrwerke [535] konnte seinem lebendigen religiösen Gefühl nicht genügen. Er konnte sich „nur eine vom Geist Gottes ganz und gar durchdrungene Schöpfung denken“, und so kam es, daß ihm die Ansicht seines Lehrers „als ein Angriff auf die Herrlichkeit Gottes erschien“. Neben der Herrlichkeit der Natur war es die Macht und Größe des neuen Geistes, welcher ihm in den Heroen der deutschen Litteratur entgegentrat. Er spricht von dem Zauber, den dieselben auf ihn ausgeübt hätten. Die bewundernswerthen Erzeugnisse des menschlichen Geistes in Kunst und Wissenschaft ließen ihn als göttlichen Ursprungs und Geschlechts erkennen. Indem er sich Gott in Einheit mit dem unendlichen Leben der Natur dachte, erfüllte ihn vor allem die überschwängliche Idee von der Einheit des Gottesgeistes mit dem Menschengeiste und trat ihm die Welt vorwiegend in ihrer Schönheit und Harmonie entgegen. Aber vor dem gefährlichen Sichverlieren in die Welt der Ideale wurde er durch die Erfahrung von der Wirklichkeit des Weltlebens, von der in derselben herrschenden Sünde und den aus ihr folgenden Uebeln, namentlich durch die Drangsale des Krieges und der öffentlichen Noth, bewahrt. Sein Vater ließ ihn nach Hause zurückkehren beim Eintreten der feindlichen Belagerung Breslaus. Diese Wendung in seinem Jugendleben und die Stille des Landlebens dienten ihm zur Erlangung einer tieferen Selbsterkenntniß und eingehenderen Kenntniß vom wirklichen Leben. „Je mehr ich, sagt er von seiner damaligen inneren Entwicklung, die wirkliche Welt kennen lernte, um so unermeßlicher erschien mir der Abstand zwischen dem, was der Mensch in der Gemeinschaft Gottes sein sollte und in der Wirklichkeit“ ist. Er betrachtete freilich das Böse nur von seiner negativen Seite als Unvollkommenheit und Mangel. Es war ihm „in das Geheimniß einer Naturnothwendigkeit gehüllt“. Aber er kam bald zu der Einsicht, daß dies mit der Heiligkeit Gottes unvereinbar sei, und daß die Sünde das freie Werk des menschlichen Willens und der Mißbrauch dieses Willens der Grund des Abfalls von Gott sei. Er kam zu der Erkenntniß, daß die Sünde allein der Urgrund aller Störung der Harmonie in der physischen und geistigen Welt sei, befand sich aber unter dem Einfluß des damals weitverbreiteten Cultus des Genius und gewisser katholischer Lehren über die Kraft des Willens und menschliche Verdienste in dem Irrthum, daß der Mensch durch seine eigene Kraft die nur auf die sinnliche Seite der Seele beschränkt gedachte Sünde mit ihren Folgen überwinden und durch eigene That und eignes Verdienst Gottes Beistand und Wohlgefallen sich erwerben könne. Mit tiefem sittlichem Ernst verfolgte er bei dem Nachdenken hierüber neben der Offenbarung Gottes in der Natur und in der inneren Stimme des Gewissens die unmittelbare Offenbarung Gottes in der Geschichte als Zeichen der Liebe Gottes, die dem sündigen Menschen mit Wort und That, Gesetz und Warnung zu Hülfe komme. Aber da er das Hauptgewicht auf das Menschenwerk und menschliche Verdienst legte, so faßte er die christliche Offenbarung wesentlich nur als Gesetz und Gebot, als Anweisung zu verdienstlichem Handeln und Abschreckung von sündhaftem Thun und die Kirche galt ihm als Organ dieser gesetzlichen Offenbarung.

Bei seinem theologischen Studium blieb ihm die heilige Schrift wegen der unlebendigen äußerlichen Methode in den gehörten exegetischen Vorlesungen ein verschlossenes Buch. Um so mehr betrachtete er die schriftliche Tradition in der Kirchenlehre als das Hauptfundament der christlichen Wahrheit. Um so eifriger wandte er sich dem Studium der Dogmatik und Moral zu. Aber die scholastische, „fast juristische Methode“ bei der akademischen Behandlung dieser Disciplinen konnte ihn trotz der dabei empfangenen Anregung zu ernstem Forschen und Nachdenken im tiefsten Grunde seines Herzens nicht befriedigen. Da erfuhr er eine bedeutsame, für seine ganze fernere religiöse Entwicklung entscheidende Wendung und Vertiefung [536] seines innern Lebens durch den Einfluß, den die Bestrebungen frommer süddeutscher Theologen um Förderung inneren Christenthums und lebendigen Glaubens, namentlich die Schriften Michael Sailer’s und seiner Schüler, auf ihn ausübten. Er gelangte dadurch allmählich zu einer tieferen Erkenntniß des Wesens der Sünde als einer den ganzen natürlichen Menschen beherrschenden Gottentfremdung. Er mußte bald deß inne werden, daß es dem Menschen unmöglich sei, aus eigener Kraft die Wahrheit in Gott zu erkennen und das Gesetz zu erfüllen. Je mehr er sich auf dem Wege ernster Selbstprüfung in sein eigenes Innere vertiefte, um so mehr wurde er von dem Gefühle der eigenen Sündhaftigkeit durchdrungen, desto schmerzlicher erfüllte ihn das Bewußtsein seiner Hülflosigkeit und Hülfsbedürftigkeit und des Mangels an Erkenntniß des wahren Heilswegs nicht blos im Blick auf sein eigenes Seelenheil, sondern auch auf seinen zukünftigen Seelsorgerberuf. Dieser tiefe Kummer seiner Seele trieb ihn, seine Zuflucht zu der heiligen Schrift zu nehmen. Er hatte sie bis jetzt meist nur als ein Gesetz- und Lehrbuch in der Absicht gelesen, um daraus die Belegstellen für die Sitten- und Pflichtenlehren und die kirchlichen Dogmen zu entnehmen. Jetzt fühlte er sich von der Herrlichkeit und Macht des Wortes Gottes hingenommen. Mit seiner Sehnsucht „nach Erleuchtung, Kraft und Hülfe“ vertiefte er sich unter Anregung und Förderung durch die in die heilige Schrift einführenden Vorlesungen des aus der katholischen Kirche zur evangelischen übergetretenen Professors Adalb. Bartholom. Kayßler, der seine Zuhörer ermunterte, das Wort Gottes in der Schrift mit kindlichem unbefangenem Sinn in Demuth und Andacht im Zusammenhang zu lesen, immer mehr in das Ganze der Schrift. In ihrem Lichte empfing er eine lebendige Erkenntniß von der Offenbarung Gottes im Leben und in der Geschichte der Menschheit vom Anfang der Schöpfung bis zur Erlösung durch Christum und zur Sendung des heiligen Geistes, aber auch Erleuchtung, Tröstung und Stärkung inbetreff des eignen Seelenheils und des Weges zum Heil und Frieden allein in Jesu Christo. Die Wahrheit von des Menschen Sünde und Schuld und von Gottes Heiligkeit und Gnade in Christo ging seinem Geistesauge immer heller im Licht der Ewigkeit auf. „Wie kann ein wilder Baum edle Früchte tragen“? ruft er aus. „Hiernach mußte mir immer mehr klar werden, wie der Mensch nur durch eine völlige Erneuerung, durch die Umwandlung des innersten Lebensgrundes, wie die Schrift sagt, durch die Wiedergeburt, das Anziehen eines neuen Menschen, gerettet und Gott wohlgefällig werden kann“.

Diese entscheidungsvolle Wendung seines inneren Lebens zum Licht des Evangeliums hin, wie es ihm aus der heiligen Schrift entgegenstrahlte, führte ihn auf den richtigen Weg zur Erkenntniß des Wesens und der Absicht der in Christo geoffenbarten Gnade Gottes „als seiner völlig unverdienten Liebe, in der er das von ihm abgefallene sündhafte Geschlecht nicht verläßt und auf wunderbare Weise sein Heil bereitet“, nachdem er sich in den verschiedenen Epochen seiner Entwicklung bald mehr vom Pelagianismus, bald mehr von der Augustinischen Lehre angezogen gefühlt hatte. Was er in den dogmatischen Lehrbüchern nicht gefunden hatte, das fand er in der heiligen Schrift: die Klarheit darüber, daß die in Gott ruhende freie Gnade im Evangelium wesentlich verschieden sei von der sogenannten Gnade, die unseren Werken und Verdiensten folgt. Er erkannte in ihrem Licht, daß diese mit Gottes heiliger Liebe gepaarte Gnade nicht bestimmt sein kann, den freien Willen im Menschen aufzuheben. Der Gegensatz zwischen Gnade und Freiheit löste sich ihm dadurch, daß ihm die Freiheit des Evangeliums „als eine Freiheit in höherem Sinn erschien, nämlich als die Aufhebung der Knechtschaft der Sünde und ihrer Folgen, als die Erhebung zur ewigen Wahrheit und Güte, als der Weg zur Kindschaft Gottes“. Mit dieser Freiheit sah er den Glauben [537] aufs innigste verbunden, den er im Licht des göttlichen Wortes als völlige Hingabe an Gott, als feste Zuversicht zu seiner in Christo geoffenbarten Liebe, als unbedingtes kindliches Vertrauen auf die Allmacht der Gnade erkannte, wodurch sie die Kraft zu allem Guten verleiht, zum Frieden in Gott und zu der Hoffnung der Seligkeit führt, – das Alles im Gegensatz gegen den bloßen Verstandesglauben und Auctoritätsglauben. Er erfuhr mit dieser Erkenntniß immer mehr an seinem eigenen Innern die Kraft dieses wahren lebendigen Glaubens als einer Frucht des Geistes und Herzens, des Gemüthes und Willens, des innern Menschen in seiner Totalität. Es wurde ihm aus eigenem Erleben immer klarer, daß der Glaube erst zur vollen Erkenntniß der tiefen Schuld und zur wahren Reue und Sehnsucht nach der Gnade führt. Er erkannte nun erst das wahre Verhältniß dieses Glaubens zu der Gnade Gottes. Wie er sich durch die in der Schrift bezeugte Gnade zu dem Glauben als der festen Zuversicht, die aus dem Quell des Lichts und der Wahrheit selbst entspringt, geführt sah, so erkannte er jetzt in der Gnade die heiligste Offenbarung der Liebe Gottes und den auf das Evangelium gegründeten Glauben als den Weg und das Mittel, um für das Empfangen der göttlichen Gnade fähig zu machen. Die Gnade wurde ihm durch diesen Glauben zur Gotteskraft, wodurch der Christ zur vollen Erneuerung und wahren Wiedergeburt gelangt. Mit diesem Glauben sah er sich auf den festen Grund der großen Gnadenthat Gottes, der Versöhnung und Erlösung des ganzen Menschengeschlechts durch Christum gestellt, und erkannte er immer mehr, wie durch die Offenbarung dieser Gnade in Christo ein neues Licht, eine neue Kraft in die Welt gekommen und der Anfang einer neuen Weltordnung erschienen sei. Er lernte jetzt das Wort des Herrn: „Ich bin das Leben“, immer mehr verstehen. Christus wurde ihm, wie, als Gabe Gottes an die Menschheit, die Erscheinung der Liebe Gottes gegen die Welt, so auch die Erscheinung der vollkommenen Liebe zu Gott und des alleinigen vollkommenen Liebesgehorsams, in welchem er sein heiliges Leben als Opfer für die Sündenschuld der Welt hingiebt und den Weg zur Kindschaft mit Gott und zu einem neuen, Sünde und Tod überwindenden Leben, zu einem neuen Leben in lebendigem Glauben und in der aus dem Gefühl der gemeinsamen durch Christum gestifteten Kindschaft mit Gott entsprungenen Liebe bereitet. Auf der Grundlage der in solchem Glauben ergriffenen Liebe Gottes in Christo sah er im Licht des neuen Testaments sich ein Leben vor Augen gestellt, das in voller Hingabe des Herzens und unbedingtem Gehorsam gegen Gott nur der Ehre und Herrlichkeit Gottes dienen und mit ihm vereint sein will, Christi leuchtendes Vorbild.

Mit der im wesentlichen evangelischen Glaubensstellung, die er für sein inneres Leben auf dem bisher geschilderten Wege gewonnen hatte, verband sich bei ihm die Erkenntniß von der Macht der Gnade in dem Erlösungswerk Christi, wie sich dieselbe auch in der Reinigung und Heiligung aller Lebensverhältnisse, in den natürlichen Stiftungen der Familie, Freundschaft, Geselligkeit und des Staatslebens offenbaren müsse. Aber die volle Offenbarung dieser alle gottgeordneten natürlichen Gebiete heiligenden Erlösungsgnade sah er erst in der innigen Gemeinschaft aller derer, die von ganzem Herzen wahrhaft an Christus glauben; und diese bis ans Ende der Zeiten dauernde Gemeinschaft derer, in denen sein Leben wohnt, ist ihm die Kirche. Er erfaßt in evangelischem Sinn das Wesen der Kirche von Seiten ihres inneren Lebens als die von dem Herrn zur Gründung seines Reiches auf Erden gesammelte Gemeinde der Heiligen, mit denen er als ihr Haupt in Ewigkeit verbunden sein will und die als Glieder seines Leibes von ihm Kraft und Leben empfangen sollen. Aber so nahe dem evangelischen Begriff von der unsichtbaren Kirche und von ihrem durch Wort und Sacrament in die Sichtbarkeit tretenden Gemeinschaftsleben fühlte [538] er sich doch an das römisch-katholische Dogma von der Kirche unzertrennlich gebunden. Mit vielen gleichgesinnten frommen Männern der römischen Kirche hielt er an der äußeren und der dieselbe begründenden Apostolicität der katholischen Kirche, die von den Bischöfen als den Nachfolgern der Apostel kraft der ihnen von Christus unmittelbar verliehenen Vollmacht regiert werde, unverbrüchlich fest.

Dadurch wurde nun auch sein Urtheil über die Reformation bestimmt, die er als aus einem subjectivistischen Streben, aus einem ungebührlichen und willkürlich geltend gemachten Anspruch auf persönliche Ueberzeugung und Untrüglichkeit hervorgegangen ansah. Er betrachtete und verurtheilte sie als einen Riß in die um jeden Preis festzuhaltende Einheit, als eine Störung der gottgewollten Entwicklung der Kirche. So fühlt er sich als ein treuer Sohn der in der Hierarchie organisirten und ihre äußere Einheit behauptenden Kirche, innerhalb deren er freilich auf gut evangelisch auch wieder eine wirklich vorhandene, im lebendigen Glauben an Jesum Christum verbundene Gemeinschaft unter ihm als dem unsichtbaren Haupt als Kirche erblickte. Bei dieser zwiespältigen Auffassung sah er sich unter dem Einfluß der Schriften von Pascal, Fenelon, Sailer und dessen Schülern in der Ueberzeugung bestärkt, daß die „katholische Kirche, auf dem apostolischen Grunde ruhend und nach Heiligkeit strebend allein die wahre sein könne, und daß sie von Gott bestimmt sei, einst alle Confessionen in sich wieder zu vereinigen“. Er verkannte zwar die Mängel und Mißbräuche in derselben nicht. Aber in jener Ueberzeugung sah er sich dadurch bestärkt, daß gegenüber dem in der Kirche vorhandenen Unglauben und weltlichen Wesen, sowie gegenüber dem rein äußerlichen Kirchen- und Christenthum über ganz Deutschland hin eine Anzahl von wahrhaft frommen Kirchenmännern in der katholischen Kirche bestrebt waren, das innere Leben in Christo zu pflanzen und zu pflegen. Im Zusammenhang damit glaubte er unter den über die Nation hereingebrochenen Strafgerichten Gottes und unter der schweren Noth der Zeit im Volk eine Umwandlung zum Besseren wahrzunehmen und hoffen zu können, daß in der Kirche ein neues Leben erstehe und dieselbe in steter Vervollkommnung fortschreiten werde. Dazu kam, daß nach seiner ausdrücklichen Aussage „die vorangegangene rationalistische Entwicklung in der protestantischen Kirche nicht wenig dazu beitrug, die katholische Kirche ihm in ihrem günstigsten Licht erscheinen zu lassen“. Mit dieser idealen kirchlichen Anschauung trat er in den kirchlichen Beruf ein.

Er empfing nach abgelegtem theologischem Examen die niederen Weihen (1809), und nach Beförderung zum Subdiakonat und Diakonat (1810) die Priesterweihe in der Collegiatkirche zum h. Kreuz in Breslau (1811). Es war zuerst seine Absicht, Landpfarrer zu werden, da er für die Wirksamkeit eines solchen eine besondere Vorliebe gefaßt hatte. Aber diese wurde in ihm bald überwogen durch den Eindruck, den die erfolgreiche Wirksamkeit mancher Professoren auf ihn gemacht hatte, und durch die Erwägung, daß die Vorbereitung junger Männer für den Kirchendienst und die Seelsorge doch noch ein größerer und einflußreicherer Wirkungskreis sei, als der eines einzelnen Pfarrers einer Gemeinde. So faßte er den Entschluß, sich dem theologischen Lehramt zu widmen. Er setzte zu diesem Zweck seine philologischen und philosophischen Studien fleißig fort, die er bisher neben den theologischen betrieben hatte. Er sah sich jedoch bald genöthigt, diese Absicht ganz aufzugeben und auch auf den Eintritt in irgend ein kirchliches Amt zu verzichten, als ihn eine schwere Brustkrankheit befiel, durch deren weitere Folgen er sich für jetzt die Aussicht auf eine amtliche Wirksamkeit, mit der eine Anstrengung der Lunge und Brust verbunden war, verschlossen sah.

Er folgte indessen nicht dem ihm gegebenen Rath, inbetracht dessen, daß er die Weihen noch nicht erhalten hatte, eine andere Lebensbahn einzuschlagen, sondern setzte in der Hoffnung auf völlige Genesung seine Studien in stiller Zurückgezogenheit [539] fort. Während dieser Zeit war es für sein inneres Glaubensleben, nach allem was bisher über dasselbe berichtet worden, von großer Bedeutung, daß er sich viel mit dem Lesen der heiligen Schrift beschäftigte. Dabei war es sein bleibender Wunsch, in irgend einer Weise der Kirche dienen zu können, wenn er auch die Hoffnung aufgeben mußte, dies in einem mit Anstrengung der Brust verbundenen Amte zu thun. Da erging nach kurzer Zeit 1811 unerwartet und ungesucht von dem Fürstbischof von Breslau, dem Fürsten Hohenlohe, an ihn der Ruf, eine Stelle als Assessor und Secretär im Vicariatsamt, der Behörde, welche die geistlichen Geschäfte der Diöcese leitet, anzunehmen. Mit Freuden folgte er diesem Ruf, der ihm wie eine Stimme von oben erschien. Indem er sich nun plötzlich aus einem contemplativen Leben in ein vielgestaltiges äußeres praktisches Wirken versetzt sah, lernte er erst das wirkliche Leben mit allen seinen Nöthen, Gefahren und Bedürfnissen recht kennen. Er erkannte in dieser Schule des Lebens immer mehr, wie wenig Gewicht auf eine nach außen glänzende Wirksamkeit und auf in die Augen fallende Erfolge zu legen sei, wie gar wenig dabei in Wahrheit erreicht werde und wie es bei solcher Amtsführung ganz besonders Noth thue, „in Demuth und Selbstverleugnung die Wege Gottes zu erforschen und ihnen in Kraft des Glaubens und der Liebe zu folgen“. In dieser demüthigen Gesinnung aufrichtiger Gottergebenheit folgte er dem Zuge seines Herzens zur Theilnahme an einem über die Grenzen seiner Kirche weit hinausragenden Werk, welches ihn in eine innige Verbindung mit gleichgesinnten Männern der evangelischen Kirche brachte und ihm Gelegenheit bot, seine Liebe zu der heiligen Schrift zu bethätigen und in weiteren kirchlichen Kreisen dem Wort Gottes, welches ihm bisher so viel Licht, Kraft und Trost gespendet, die Wege bahnen zu helfen. Bei einem Aufenthalt im väterlichen Hause erfuhr er aus den Zeitungen, daß sich eine Gesellschaft zur Verbreitung der h. Schrift unter Christen aller Confessionen gebildet habe. Ueberzeugt von der Nothwendigkeit, der Laienwelt, insbesondere allen ärmeren Christen, den Quell des Lebens im Worte Gottes möglichst zugänglich zu machen, entschloß er sich sofort, der Bibelgesellschaft beizutreten und neue Testamente, die mit bischöflicher Approbation versehen wären, zu verbreiten. Er theilte seinen Entschluß dem Bischof mit und erhielt von ihm unmittelbar sofort eine zustimmende Antwort. Aber bei seiner Rückkehr nach Breslau wurde er von seinen unmittelbaren Vorgesetzten deswegen übel aufgenommen und hart angelassen. Sie wiesen ihn gegen sein Vorhaben auf die bestehenden kirchlichen Verordnungen gegen das Bibellesen der Laien hin. Dagegen konnte er freilich eine große Anzahl von Beispielen aus allen Jahrhunderten geltend machen, mit denen dieses Verbot in entschiedenem Widerspruch stand. Da rückte man ihm die Einheit der Kirche vor, die durch das Bibellesen der Laien in Gefahr komme. Er sah sich mit dem Verlust seines Amtes bedroht, ließ sich aber trotzdem nicht bewegen, von seinem Vorhaben abzustehen, zumal er bei einigen seiner Amtsgenossen Beifall fand und die Widersacher unter ihnen nach einigem Besinnen es nicht für zeitgemäß hielten gegen ihn einzuschreiten. Indessen wurden ihm dabei die größten Schwierigkeiten bereitet. Er mußte es zu seinem Schmerz erleben, daß die heiligen Schriften, welche an das Vicariatsamt gesandt wurden, mit Beschlag belegt wurden, obgleich sie mit bischöflicher Approbation versehen waren. Er konnte nur die Exemplare vertheilen, die unmittelbar an ihn und seine Freunde geschickt waren. Trotz aller Widerwärtigkeiten blieb sein Name unter dem Aufruf stehen, mit welchem die Breslauer Provinzialbibelgesellschaft um Beiträge zu dem Werk der Bibelverbreitung bat, und das betreffende Einnahmebuch der Gesellschaft trägt noch heute auf dem ersten Blatt in dem Verzeichniß der Begründer der Gesellschaft seinen Namen. Die Bibelsache war ihm auf Grund seiner eigenen Erfahrung von der beseligenden Kraft [540] des Wortes Gottes eine wahre Herzenssache geworden. Denn er sah die heilige Schrift, wie er ausdrücklich bezeugt, „als das höchste von Gott verordnete Mittel an, den lebendigen Glauben in den Herzen der Gemeinde zu wecken und zu stärken, und dadurch auch die wahre Einheit des Einzelnen und der Gemeinde mit Christo zu fördern“. Zu seinem Trost konnte er wahrnehmen, daß die Bibelverbreitung nicht blos in den Städten, sondern auch auf dem Lande Beifall fand und besonders viele Geistliche, selbst die am meisten als streng orthodox bekannten, ihn unterstützten. So konnte er sich bei seinem Bemühen der Hoffnung hingeben, daß das Widerstreben gegen die Verbreitung der heiligen Schrift sich allmählich werde beseitigen lassen und die Zahl der Geistlichen sich mehren werde, welche auch für ihren Gebrauch in der Kirche und in Hausandachten sorgen würden.

Indessen machten ihm die dabei erfahrenen Widerwärtigkeiten den Austritt aus seiner bisherigen Stellung leicht, als an ihn die Aufforderung erging, eine Stelle an der königlichen Regierung in Breslau zu übernehmen, mit welcher auch die Arbeiten im Oberpräsidium und im Provinzialconsistorium verbunden waren, welche die Kirche und das höhere Schulwesen betrafen. Er glaubte darin einen Ruf Gottes zu erkennen, dem er zu folgen habe. Nach der damals bestehenden Einrichtung wurden alle Kirchen- und Schulangelegenheiten ohne Unterschied von den Räthen beider Confessionen unter dem Vorsitz des Oberpräsidenten behandelt. Auch die evangelischen Kirchenangelegenheiten wurden in derselben Session in Gegenwart der katholischen Mitglieder verhandelt, da ein besonderes Consistorium für die protestantischen Kirchensachen noch nicht bestand. Auf dem Gebiet des höheren Schulwesens glaubte er wahrzunehmen, daß die katholischen Gymnasien in Hinsicht auf die religiöse und sittliche Erziehung und Ausbildung der Jugend den protestantischen überlegen seien. Dagegen war es ihm unzweifelhaft, daß diese meistentheils vor jenen in wissenschaftlicher Beziehung den Vorzug verdienten. Er glaubte daher an seinem Theil dazu vor allem mitwirken zu müssen, daß die katholischen Gymnasien in wissenschaftlicher Hinsicht mit den protestantischen die gleiche Höhe erreichten. Er gerieth im Anfange dieser seiner Wirksamkeit in nicht geringe Bedrängniß und harte Kämpfe infolge der Collisionen, die zwischen den staatlichen und kirchlichen Behörden nicht ausbleiben konnten. Beiden gegenüber legte er bestimmt und rückhaltlos seine Grundsätze dar, nach seiner auf den Frieden gestimmten Natur immer beflissen, die Gegensätze zu mildern oder auszugleichen. Zu seiner Genugthuung gelang ihm das immer mehr. Bei aller Verschiedenheit der Ansichten stimmten beide Behörden doch darin überein, daß durch ein friedliches Zusammenwirken beider ein günstiger Erfolg am sichersten erreicht werde. Dadurch wurde es ihm bei allem Festhalten an seinen Grundsätzen immer leichter, die Collisionen zu beseitigen und den Frieden zu erhalten. Bei allem, was er in Regierung und Consistorium für das Schulwesen leistete, konnte er unter solchen Umständen zuletzt mit voller Freudigkeit arbeiten und das Bewußtsein haben, „daß es der Kirche wesentlich zu Gute komme, sowie daß, was er in der geistlichen Behörde wirkte, dem Staat in der Grundbedingung seines neuen Lebens förderlich sein müsse“. Es zeigt sich hier, mit welcher Entschiedenheit und mit welch klarem Blick er das Verhältniß und die enge Verbindung zwischen dem staatlichen und kirchlichen Interesse richtig erkannte und nach beiden Seiten hin Gerechtigkeit und Friedfertigkeit bei allen vorhandenen Unterschieden und Gegensätzen als die Hauptfactoren eines ersprießlichen modus vivendi et agendi geltend machte. Es fällt von dieser seiner Stellung und Haltung schon ein Licht auf sein späteres Verhalten in dem Streit zwischen Staat und Kirche, in den er sich durch seine weitere Lebensführung gegen seinen Willen gestellt sah. Für jetzt sah er sich durch seine amtliche Thätigkeit in den beiden Behörden, der staatlichen und kirchlichen, noch besonders genöthigt, sich [541] eine tiefere Einsicht in das Verhältniß zwischen der katholischen und evangelischen Kirche zu verschaffen, als es bisher geschehen war.

In seiner Ueberzeugung, „daß die Eine katholisch-apostolische Kirche allein die wahre sein könne, ausgestattet mit der Kraft, trotz scheinbarer Rückschritte in den Herzen der Gläubigen das Reich Gottes in zunehmender Reinheit und Heiligkeit zu bereiten“, ließ er sich freilich weder durch seine jetzigen Beziehungen und den Umgang mit den Regierungscollegen noch durch die Freundschaft mit wahrhaft frommen und gelehrten Protestanten wankend machen. Es blieb ihm angesichts des weiten Auseinandergehens der Ansichten der protestantischen Theologen selbst in wichtigen Punkten um so ausgemachter, daß die Grundbedingung der Kirche, die Einheit, in der protestantischen Kirche nicht zu erreichen sei. Um aber das Wesen der letzteren noch klarer zu erkennen, entschloß er sich, mit den symbolischen Schriften derselben sich eingehender zu beschäftigen.

Hier traten ihm vor allem zwei Hauptwahrheiten entgegen, die er von den Reformatoren besonders hervorgehoben sah und die er in der evangelischen Kirche ganz richtig als Hauptpunkte von wesentlicher Bedeutung erkannte. Das waren einerseits die Lehren von der dem Worte Gottes innewohnenden göttlichen Kraft, vermöge der jedem, der in kindlicher Demuth sich ihm hingiebt, die Gnade der Erleuchtung zutheil wird, deren er zur Erkenntniß der Wahrheit, zur Erweckung und Stärkung bedarf, – anderseits die Auffassung des Glaubens als eines lebendigen zuversichtlichen Vertrauens auf die Gnade, in welchem die Fülle der Liebe und Hoffnung nothwendig enthalten, und welches sowohl eine That des Gott zugewendeten Geistes und Herzens als auch eine Kraft Gottes zur Wiedergeburt durch die Gnade sei. Beiden Lehren konnte er in der Hauptsache von Herzen beistimmen. Aber in beiden Beziehungen glaubte er der protestantischen Kirche doch nicht einen wirklichen Vorzug einräumen zu können, da er sich vergegenwärtigte, wie doch auch in der katholischen Kirche lange vor der Reformation und in der jüngsten Zeit die gewichtigsten Auctoritäten das Ansehen der Bibel neben der Tradition geltend gemacht hätten und in der Gegenwart für die allgemeine Lesung der Schrift immer mehr werde gesorgt werde, – und andererseits in der protestantischen Kirche, wie schon zur Zeit der Reformatoren, so besonders bald darauf an die Stelle des wahren Herzensglaubens wieder eine Art Scholastik und todter Orthodoxie, verbunden mit leidenschaftlichem Streit über Lehrmeinungen und menschliche Satzungen und Verfolgungssucht, schließlich sogar der platte Rationalismus getreten sei. Durch die Betrachtung jener beiden Grundlehren der protestantischen Kirche sah er sich keineswegs in seiner Ueberzeugung, daß die katholische Kirche die Eine wahre Kirche Christi sei, erschüttert, sondern in der Ansicht, „daß der auf subjectiver Verstandesspeculation ruhende Dogmatismus einzelner nicht von Leidenschaften freier Reformatoren zu Unfrieden, zu Spaltung in der Kirche, zu Skepticismus und Rationalismus geführt habe“.

Dagegen verschloß er seinen Blick nicht, wie so viele Katholiken, gegen die Thatsache, daß die Verweltlichung der katholischen Kirche an Haupt und Gliedern, der Unglaube und Aberglaube, arge Mißbräuche und Verirrungen in den Zeiten der Reformation den höchsten Grad erreicht hatten. Er war zu wahrheitsliebend, als daß er die groben Mißbräuche und Irrthümer vor sich und andern hätte bemänteln wollen, die in seiner Kirche in dem wiederauflebenden Ablaßunwesen, in der Zunahme der Heiligenverehrung, in dem Umsichgreifen der Andachten vor angeblich wunderthätigen Bildern, in dem Glauben an die Wunderkraft von Amuletten, Rosenkränzen, Medaillen, im Ueberhandnehmen des Wallfahrtsunwesens hervortraten. Aber er war erfüllt von der idealistischen Hoffnung, daß alle diese Uebel und Mißstände durch richtige Darstellung der christlichen Lehre und ihre Anwendung im Leben, sowie durch Hebung des gesammten Unterrichtswesens, [542] durch Ausbildung einer tüchtigen, von christlichem Geist durchdrungenen Geistlichkeit in den geistlichen Seminarien und durch Concentration des theologischen Studiums zu einem gründlichen Schriftstudium allmählich, aber gründlich von Innen heraus wieder überwunden werden. – Wie sah er sich jedoch in dieser Erwartung getäuscht! Von seiner Meinung, daß die wiedererweckten Mißbräuche nur vorübergehenden Einfluß haben würden, mußte er bald zurückkommen, als er die religiösen und sittlichen Zustände im südlichen Deutschland und in Italien, sowie die Thätigkeit der römischen Curie genauer kennen lernte, deren Rückkehr nach Rom nicht eine Besserung der Zustände, sondern eine Verschlimmerung derselben zur Folge hatte. Im Widerspruch mit seinen Hoffnungen auf eine Erneuerung des kirchlichen Lebens, über deren alleinigen Quell und Ursprung in der Macht des lauteren Evangeliums er sich noch keineswegs klar geworden, sah er zu seinem Schmerz, wie alles Unheil in der Kirche, alle Irrthümer und Mißbräuche, alle Herrschsucht und Lüge im Klerus mehr und mehr in der Aufrichtung einer päpstlichen Allgewalt, und namentlich in der Herstellung des Jesuitenordens und der Ausbreitung seiner Macht über alles äußere und innere Leben der Kirche gipfelte. Er sah, wie die eifrigen Vertreter des Grundsatzes von der Alleinherrschaft des Papstes und die Vertheidiger der alten Mißbräuche begünstigt und befördert, dagegen alle die, welche im Sinn eines Johann Gerson, Bossuet, Fenelon, Noailles u. A. die katholische Apostolicität, die oberste Auctorität der Concilien und die die Freiheit der Kirche dem Papstthum gegenüber wahrnehmenden gallicanischen Artikel in Schutz nahmen und sich gegen die in die Kirche eingerissenen Mißbräuche erklärten, nur Tadel, Zurücksetzung und Strafen erwarten durften. „Es war mir klar, ruft er aus, daß bei der großen Macht des römischen Stuhls mit Hülfe der Curie, der Jesuiten und der Diplomatie die von Gott in seiner Kirche gestiftete apostolische Ordnung nochmals zerstört werden könnte, aber auf Kosten des Friedens der Kirche, des christlichen Staats und der christlichen Familie“. Aber trotz alledem, trotz der Erkenntniß von allem Staat und Kirche bedrohenden Unheil, hielt er doch noch an dem Glauben fest, daß der Herr seine Kirche nicht verlassen könne und alles Ueble und Arge nach seiner Weisheit, wenn auch nach schweren Prüfungen, ihr zur Läuterung und Stärkung werde dienen lassen.

Bei fleißig fortgesetztem Studium der Kirchengeschichte wurde ihm immer klarer der fundamentale Gegensatz des in der Kirche vorhandenen Verderbens gegen die Hoheit und Herrlichkeit der apostolischen Zeit, und namentlich der Widerspruch des alle Herrschaft, geistliche und weltliche, in der Lehre von den zwei Schwertern und in Ueberhebung über alle weltliche Fürstenmacht und bischöflich-geistliche Organisation sich anmaßenden Papstthums mit dem Geist und der Lehre Jesu Christi, des unsichtbaren Herrn der Kirche. Von dem kirchlich-politischen Standpunkt konnte er in der alle kirchlichen und staatlichen Potenzen in sich aufhebenden Alleinherrschaft des Papstthums nur eine Aufhebung „der selbständigen, auf göttlichem Recht ruhenden Stellung erblicken, welche die deutschen Kirchenfürsten bei dem westfälischen Friedensschluß und nach demselben einnahmen, um die für den Frieden der Confessionen und Staaten unentbehrlichen Observanzen und Ordnungen einzurichten“.

Diese durch Geschichte und Erfahrung gewonnenen Grundsätze konnten nicht verborgen bleiben. Die Folge davon zeigte sich, als er nach dem Tode des Fürstbischofs v. Schimonsky als der älteste Prälat und als Propst des Domcapitels von diesem zum Bisthumsverweser gewählt wurde. Er war weit davon entfernt anzunehmen, daß die Bischofswahl auf ihn fallen könnte. Er hielt sich bei seiner hohen Meinung von diesem Amte und in so schweren Zeiten dessen nicht würdig und fähig, zumal als er wegen seiner körperlichen Schwachheit sich [543] außer Stande sah, das Predigtamt zu üben, welches er doch für einen wesentlichen Theil des bischöflichen Amtes ansah. Auch konnte er wohl trotz des Vertrauens, von welchem ihm der Minister v. Altenstein wiederholt Beweise gegeben hatte, wegen der entgegengesetzten starken Einflüsse kaum hoffen, daß, wenn dieser ihn auch wirklich dem Könige für den fürstbischöflichen Stuhl empfehlen würde, seine Wahl zu Stande kommen würde. Außerdem hatte er bereits wenige Jahre zuvor dem Wunsch des Königs gegenüber, daß er ein benachbartes Bisthum übernähme, sich aus Gewissensgründen ablehnend erklärt, indem er versicherte, daß er bei dieser Ablehnung weit davon entfernt sei, die Wahl für das Breslauer Bisthum zu wünschen oder im Fall der Wahl dieselbe anzunehmen. Er hütete sich daher, bei der interimistischen Verwaltung desselben mit Neuerungen vorzugehen oder auch nur den Schein solcher Absicht zu erwecken, um nicht dem zu wählenden Bischof vorzugreifen.

Trotzdem wurde er alsbald zunächst wegen seiner Freundschaft mit Protestanten als ein gefährlicher Neuerer und unkatholischer Mann verleumdet. In diesem Ton wurden in Pamphlets und Zuschriften gegen ihn allerlei Beschuldigungen erhoben, unter denen besonders darauf, daß er die Einheit und Katholicität der Kirche nicht gehörig anerkenne, das Hauptgewicht gelegt wurde, obgleich er vielfach durch Wort und That für beides Zeugniß genug abgelegt zu haben glaubte. Sehr schmerzlich mußte ihn das hinterlistige feindliche Treiben seiner Widersacher berühren, die unter dem Schein der Frömmigkeit und des Eifers für die Religion gewissenlos zu den schlechtesten Mitteln griffen, um ihn als Bischof unmöglich zu machen, indem sie allerlei Verleumdungen gegen ihn ausbreiteten, unwahre Aeußerungen ihm andichteten, und lügenhaft ihm Handlungen zur Last legten, an die er nie gedacht. Es war ihm unter solchen Umständen trostreich und stärkend, daß er doch auch von mehreren Seiten, insbesondere von älteren, an Erfahrung reicheren Männern die rührendsten Beweise der Anhänglichkeit und Anerkennung erfuhr. Und das ermuthigte ihn, zu hoffen. daß es trotz aller im Finstern schleichenden Umtriebe ihm doch mit Gottes Hülfe gelingen würde, die Bisthumsverwaltung in Frieden und mit einigem Segen dem künftigen Bischof übergeben zu können. Da sah er sich trotz aller Feindseligkeiten wider seinen Wunsch und sein Erwarten plötzlich vor die ernsteste und schwerste Entscheidung seines Lebens gestellt, als der Minister v. Altenstein bei ihm anfragte, ob er die Wahl zum Bischof von Breslau, wenn sie auf ihn fallen sollte, anzunehmen geneigt sein werde, und zugleich ihm zu erkennen gab, daß dies der ausdrückliche Wunsch des Königs sei. Es verursachte ihm dies einen schweren inneren Kampf. Er konnte in tiefer Angst seines Herzens nur zu Gott beten, daß Er ihn erleuchten und Seinen Willen ihm kund thun wolle. Er legte die Angelegenheit ganz in Gottes Hand und nahm sich vor, nichts zu thun, was Gottes Wegen hätte entgegen sein können. In diesem Sinne antwortete er dem Minister, freilich mit dem Wunsch, daß es Gott gefallen möge, ihn von einer so schweren Aufgabe zu entbinden.

Da geschah, was weder er noch seine Freunde erwartet hatten. Trotz aller Intriguen und Machinationen wurde er vom Capitel einstimmig durch Acclamation, was bis jetzt nicht vorgekommen war und als Ausdruck des größten Vertrauens gelten mußte, zum Bischof gewählt (1835). Zur Verhütung einer möglichen Uebereilung des Capitels fühlte er sich in seinem Gewissen gedrungen, demselben die oben erwähnten Bedenken und Gründe gegen seine Berufung zu einem so hohen, verantwortungsvollen Amte in aufrichtiger Demuth und Bescheidenheit vorzutragen, und dabei besonders hervorzuheben, daß er bei dem päpstlichen Stuhle angeschwärzt sei und deshalb besorgen müsse, daß er eine ersprießliche Wirksamkeit nicht würde üben können, und daß dem Capitel dadurch [544] allerlei Verwicklungen und Verlegenheiten entstehen könnten. Das Capitel widerlegte diese Gründe und bestätigte seine Wahl durch wiederholte Acclamation. Er glaubte nun darin die Stimme Gottes zu erkennen und sich seinem Willen im Vertrauen auf seinen Beistand unterwerfen zu müssen.

Aber die Widersacher setzten ihre Verfolgungen fort und boten alles auf, um einen Mann, der sich nicht als gefügiges Werkzeug brauchen lassen wollte, in aller Weise zu verdächtigen, indem sie jede von ihm getroffene Maßregel auf das gehässigste deuteten, und dabei bis zum römischen Stuhl hinauf ihre Beziehungen hatten und nicht ohne Erfolg auf die Curie ihren Einfluß auszuüben suchten. Man fuhr fort, ihn als einen Neuerer und Friedensstörer mit allerlei Verleumdungen und Beschuldigungen zu verfolgen. So wurde ihm in gehässiger Weise als eine Verirrung ausgelegt, daß er in seinem Titel nicht „von Gottes und des apostolischen Stuhles Gnaden“ schrieb, sondern allein „von Gottes Gnaden“. Er mußte sich hierüber infolge der deshalb höheren Ortes gegen ihn erhobenen Anklage selbst bei dem Ministerium verantworten. Er konnte aber demselben nachweisen, daß der bei weitem größte Theil seiner Vorgänger und die meisten Bischöfe seit einem Jahrhundert „die päpstliche Gnade“ weggelassen hätten, und zwar wohl wegen der unschicklichen Gleichstellung der päpstlichen Gnade mit Gottes Gnade. Man traut seinen Ohren nicht, wenn man den wahrheitsliebenden, treuen, gewissenhaften Mann darüber klagen hören muß, daß im engsten Vertrauen von ihm gethane Aeußerungen schriftlich und mündlich verbreitet, selbst geheime Schriftstücke auf das ärgste mißbraucht und mehrere Erlasse, ehe sie erschienen, öffentlich besprochen und verkehrt ausgelegt wurden, und er sich deshalb genöthigt sah, mehrere, wie z. B. seinen bereits entworfenen Hirtenbrief, auf bessere Zeiten zurückzuhalten, weil er wußte, daß die unschuldigsten Aeußerungen falsch gedeutet und selbst auch darin nicht Gesagtes als Grund zu Anklagen und zur Erregung der Gemüther benützt werden würde. So mußte er sich in seinem Umgang in jeder Beziehung immer mehr Vorsicht auferlegen und auch zu seinem tiefen Bedauern vieles Gute und Zweckmäßige unterlassen, um nicht Anlaß zu falschen Deutungen zu geben.

Indem er im Protestantismus die Fähigkeit, eine Kircheneinheit zu bilden, vermißte, ließ er sich angelegen sein, so viel als möglich die Einheit des Glaubens und der Liebe mit evangelischen Gläubigen zu pflegen und das Streben nach dem Ziel der Wiedervereinigung zu fördern, ohne einer weltklugen Religionsmengerei das Wort zu reden, indem er dabei das Beispiel des Apostels Paulus sich vor Augen stellte, der mit tiefer Weisheit in der Liebe selbst an das, was im Heidenthum gut war, die Lehre des Heils angeknüpft habe. In Bezug auf dieses freundliche und friedliche Verhalten zu den Christen in der evangelischen Kirche sagt er: „Ganz verderblich für beide Theile, am meisten für die Glieder der eigenen Kirche, muß es sein, wenn man das, was zu loben und dem Christenthum gemäß ist, an dem andern Theil herabzusetzen sucht und gar aus politischen Motiven die Wahrheit verleugnet, um die Kluft zu vergrößern, welche die Christen trennt.“ Von diesem Standpunkt aus konnte er die in verschiedenen päpstlichen Bullen enthaltene Anweisung, die Geistlichen anzuhalten, ihren Gemeinden einzuschärfen, daß Niemand außerhalb der römischen Kirche selig werden könne, als durchaus verderblich ansehen. „Um der äußeren Einheit willen“, sagt er, „wird so das innere Leben der Kirche und ihre Einheit mit Christo zerstört.“ Bei solcher Anschauung und dem ihr entsprechenden[WS 1] Verhalten wußte er sich, wie er ausdrücklich erklärt, mit den frömmsten und weisesten Männern in Deutschland und den benachbarten Ländern, die seit Jahrhunderten so gedacht, völlig eins. Aber von der Curie, der diese seine Stellung nicht verborgen blieb, wurde er als ein Zerstörer der Einheit der Kirche betrachtet. Sein Dissensus [545] mit der römischen Kirchenherrschaft mußte sich nach jenen Grundsätzen vor allem in der Angelegenheit der gemischten Ehen herausstellen. Sein den Staatsgesetzen entsprechendes pflichtmäßiges und gewissenhaftes Verfahren und Verhalten in Bezug auf die Behandlung der Mischehenfrage wurde bald ein Gegenstand feindseliger Angriffe seitens der clerical-papistischen Partei und die Ursache eines folgenschweren Conflicts mit der Curie.

Es wurden in Rom Denunciationen verschiedener Art gegen ihn erhoben und gern angenommen. Ganz unerwartet erhielt er eines Tages ein Schreiben mit der Handschrift einer ihm bekannten Gräfin auf dem Umschlag, unter diesem wieder ein Schreiben von einer ihm nicht nahe stehenden Herzogin und unter diesen beiden Couverts ein Schreiben, mit „Gregor XVI.“ unterzeichnet. Dieser sonderbare Weg, auf dem dieses Schreiben ihm, im Gegensatz zu der in Preußen und Oesterreich bestehenden Einrichtung und Ordnung, nach welcher die Correspondenz mit dem päpstlichen Stuhl nur durch das Ministerium vermittelt werden durfte, zugestellt wurde, ließ ihn die Unechtheit desselben als zweifellos annehmen. Es schien ihm nach seinem Inhalt und der Form der Zusendung des Oberhauptes der Kirche nicht würdig. Es stellte sich jedoch leider bald als unzweifelhaft heraus, daß es echt war. Infolge jener Denunciation wurde der Fürstbischof S. ohne vorangegangene Untersuchung darin beschuldigt, daß er die Pflichten seines Amtes vernachlässige, ein Anhänger und Begünstiger der Irrlehren des Hermes sei, dessen Bücher doch bekanntermaßen vom päpstlichen Stuhl proscribirt seien, und entgegen dem Beispiel seiner Mitbischöfe, ungeachtet vieler Vorstellungen aus der Mitte seines Clerus, in der Angelegenheit der gemischten Ehen eine den Grundsätzen und Gesetzen der Kirche widerstreitende Praxis festhalte. Dieses päpstliche Schreiben war vom 18. Januar 1839 datirt. Die ausführliche Beantwortung desselben erfolgte erst am 18. Juli desselben Jahres. In betreff des ersten Punktes konnte er wohl in aller Demuth bekennen, daß Niemand mehr unzufrieden mit seinen Leistungen sein könne, als er selber, und das er nur beklagen könne, durch seine Gesundheit und die traurigen Zeitverhältnisse an der Erfüllung seiner[WS 2] Pflichten in dem von ihm gewünschten Umfange gehemmt zu sein, obwohl man in Rom recht gut wußte, daß er ungeachtet dieser Hindernisse in der bisherigen kurzen Zeit seiner Amtsverwaltung mehr geleistet habe, als manche in Rom begünstigten Vorgänger in viel längerer Zeit. Wegen der Beschuldigung des Hermesianismus konnte er erklären, was gleichfalls in Rom bekannt sein mußte, daß er sich wiederholt gegen diese Irrlehren ausgesprochen habe, und daß er, wenn er den wenigen Männern, die Anhänger der Lehre des Hermes seien, mit andern Bischöfen ein gutes Zeugniß geben müsse, er doch deswegen ihre Lehre nicht billige. Die Hauptsache aber war, daß er von der bisherigen Praxis in der Angelegenheit der gemischten Ehen nicht abgehen wollte. Und in diesem Hauptpunkt erklärt er, den päpstlichen Vorschriften nicht Folge leisten zu können, da er den Eid auf die gewissenhafte Befolgung der betreffenden staatlichen Gesetze geleistet habe.

Mit dieser Mischehenfrage hatte es folgende Bewandtniß. Nach dem dreißigjährigen Kriege wurde in den deutschen Landen auf Grund der in den Familienverhältnissen als Bedingung des Friedens anerkannten Parität festgesetzt, daß in der Mischehe beiden Theilen völlig gleiche Rechte bei der Verehelichung, der Trauung und Kindererziehung zuerkannt werden mußten. Hinsichtlich der letzteren wurde als allgemeine Regel festgesetzt und festgehalten, daß die Söhne der Confession des Vaters, die Töchter der der Mutter folgen sollten. Eine Verordnung Kaiser Karl’s VI. vom Jahre 1716 verordnete dies ausdrücklich für Schlesien. Nachdem Schlesien preußisch geworden, fand auf Grund mehrerer [546] Beschwerden und Anträge eine Berathung mit dem Fürstbischof und dem Domcapitel statt, deren Ergebniß war, daß auf dem Grund der bisherigen Praxis in einem Edict vom 8. August 1750 bestimmt wurde, daß, wie bis zeither, die Söhne der Religion des Vaters, die Töchter der Religion der Mutter folgen sollten und keine Antenuptialverträge zulässig seien. Der damalige Bisthumsverweser sah sich veranlaßt, dem römischen Stuhl über diese Verhältnisse zu berichten, obwohl man dort mit demselben vollständig bekannt war, und erhielt vom Papst Benedict XIV. die Antwort: „er könne es nicht positiv billigen, aber ignoriren; daß er, der Papst, Kunde davon habe, müsse zur Beruhigung seines Gewissens hinreichen, wie denn in dieser Materie es sich nicht um einen Gegensatz gegen göttliches oder natürliches, sondern nur gegen ein kirchliches Gesetz handle.“ Die Bischöfe waren also vollkommen berechtigt und verpflichtet, nach jener lange bestandenen Praxis, insbesondere nach der alten österreichischen, und der späteren preußischen, die dem römischen Stuhl vollkommen bekannt war, zu verfahren. Das allgemeine preußische Landrecht schloß sich diesem Grundsatz mit voller Parität an, indem es jene Bestimmung mit dem Zusatz, daß, so lange beide Eltern am Leben und über die Erziehung der Kinder einig seien, ein Dritter sich nicht einmischen dürfe, aufnahm; und nur im J. 1803 erfolgte eine Modification jener Bestimmung mit der Declaration, daß in Mischehen sämmtliche Kinder der Religion des Vaters zu folgen haben.

Im Widerspruch mit diesen gesetzlichen Bestimmungen verordnete ein päpstliches Breve vom 25. März 1830, daß die kirchliche Einsegnung gemischter Ehen hinfort von dem Versprechen der katholischen Erziehung sämmtlicher Kinder abhängig zu machen sei. Während die anderen preußischen Bischöfe dem päpstlichen Gebot Folge leisteten, verfuhr der Fürstbischof S. den bestehenden staatlichen Gesetzen gemäß, wie es seine Vorgänger unter stillschweigender päpstlicher Zulassung gethan hatten. Es bestärkte ihn darin die Wahrnehmung der Wirren, die durch den am Rhein hierüber entbrannten Streit entstanden und die Gefahr, von welcher er infolge jener päpstlichen Bestimmung den Frieden der Kirchen und Confessionen bedroht sah, wenn in dieser Angelegenheit von Rom aus die Aufhebung der Parität und der alten in Deutschland bestehenden Praxis und Gesetzgebung erfolge. Er erklärte daher in seiner Antwort auf das päpstliche Schreiben vom 18. Januar 1839 unter Abweisung der gehässigen Denunciationen, die man gegen ihn als einen sein Amt „saumselig und gleichsam schläfrig“ verwaltenden Bischof erhoben hatte. daß er nur das Verfahren seiner Vorgänger in Befolgung der staatlichen Gesetze beobachtet habe und gemäß dem von ihm nach dem Beispiel seiner Vorgänger geleisteten Eide, den staatlichen Gesetzen gehorsam zu sein, in seinem Gewissen und um des Friedens und Gedeihens der Kirche willen sich verpflichtet fühle, den staatlichen Gesetzen gehorsam zu sein.

In seinem Antwortschreiben vom 10. Mai 1840 hält der Papst zunächst an allen gegen S. erhobenen Klagen und Anklagen fest, als handelte es sich um ausgemachte Sachen. Er bringt ihm dann in Erinnerung, daß er durch seine am 10. December 1837 gehaltene Allocution öffentlich und feierlich jede Praxis in betreff der gemischten Ehen, die im preußischen Staat unerlaubter Weise eingeführt worden sei, verworfen habe. Er macht dem Fürstbischof den Vorwurf, daß er sich hinter seinen, dem Staatsgesetze geleisteten Eid flüchte, „als ob dieser auch auf jene Gesetze bezogen werden könnte, welche den Lehren und Vorschriften der h. Kirche widersprechen, oder als ob du in keiner Weise kraft eines anderweitigen, mächtiger geheiligten eidlichen Bandes der Kirche selbst und diesem heiligen Stuhle verpflichtet wärest“. S. antwortete darauf am 10. Juni desselben Jahres mit Wiederholung seiner Erklärung vom 18. Juli v. J., in der er mit Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit dargelegt habe, wie seine [547] Handlungsweise durch sein Gewissen und sein der Kirche Christi geweihtes Leben geboten werde. Und dann fährt er fort, daß er lieber alles aufzuopfern bereit sei, als die heiligsten Gebote Jesu Christi wissentlich zu verletzen und dadurch die allerschwerste Verantwortung vor dem Richterstuhl Gottes sich zuzuziehen. Endlich erklärt er dem Papste, er wolle aus diesem Grunde nicht säumen, seine bischöfliche Würde ohne allen Rückhalt niederzulegen.

Daß er diesen ernsten Schritt nur mit tiefem Schmerz thun konnte, versteht sich nach der hohen Auffassung von den Pflichten des bischöflichen Amtes und seiner treuen Hingebung an dieselben von selbst. Aber er erachtete es für eine schwere Sünde, wenn er seine Hand zu Maßregeln böte, welche er für die ihm anvertraute Diöcese in äußerer Beziehung als gefährlich, für ihr inneres Leben aber als entschieden verderblich erkannte. Der inzwischen zur Regierung gekommene König Friedrich Wilhelm IV. ließ ihm, als dieses Antwortschreiben zur Uebermittelung an den Papst bei dem geistlichen Ministerium eingegangen war, seinen Wunsch zu erkennen geben, daß er die seinen Rücktritt betreffende Stelle aus demselben weglassen möge, da er die Ueberzeugung hege, daß die von ihm für die alte Praxis angeführten Gründe nicht unbeachtet bleiben würden. Aber der König überzeugte sich durch Sedlnitzky’s Ausführungen bald, daß dieser aus guten gewichtigen Gründen seine Resignation beschlossen habe und gab ihm das in einer Cabinetsordre vom 29. Juli 1840 unter voller Anerkennung seiner Grundsätze und Praxis in betreff der Herstellung eines wahrhaft paritätischen Verhältnisses beider Kirchen, unter dem Ausdruck aufrichtigen Bedauerns über seinen Rücktritt und unter Ertheilung seiner Genehmigung zu demselben zu erkennen. Zugleich sprach er den Wunsch aus, daß der Austritt Sedlnitzky’s aus seinen kirchlichen Verhältnissen die Stellung nicht verändern möge, in der derselbe bisher zu seinem Vertrauen und zu der Vertretung der katholischen Kirche in seinem Rathe sich befunden habe. Er ernannte ihn zu seinem Wirklichen Geheimen Rathe mit der Verpflichtung, auch ferner an den Berathungen des Staatsrathes Theil zu nehmen, und mit Zuweisung einer Remuneration von 5000 Thalern als Entschädigung für die durch seinen künftigen Aufenthalt in Berlin verursachten Ausgaben. Da S. auf das Bisthum ohne Vorbehalt irgend einer Competenz oder Entschädigung verzichtet hatte, so nahm er diese der Remuneration der auswärtigen Mitglieder des Staatsraths entsprechende Entschädigung an. Zu bemerken ist noch, daß er im Rückblick auf die mit dem König wegen seines Rücktritts geführten mündlichen Verhandlungen sich gedrungen fühlte, ausdrücklich zu versichern, daß er nie von demselben geschieden sei, ohne die Klarheit seines Geistes und noch mehr die Tiefe seines vom Glauben durchdrungenen Gemüths zu empfinden. Von Rom aus erfolgte nach einigen Monaten die Antwort mit Annahme seines Rücktritts, die er dem Domcapitel mittheilte, von dem, wie von den bischöflichen Behörden, er sich darauf unter Entbindung derselben von ihren Verpflichtungen gegen ihn verabschiedete. Er spricht in rührenden Ausdrücken von dem tiefen unbeschreiblichen Schmerz, den ihm die durch sein Gewissen gebotene Trennung von der Diöcese verursache, findet aber zugleich einen guten Trost darin, daß er nie einen Wirkungskreis aus eigener Willkür gesucht habe, vielmehr im Annehmen und Ablehnen der ihm stets deutlich kund gewordenen göttlichen Führung gefolgt sei. Trotz der Befürchtungen, die er für die bevorstehende Zukunft der katholischen Kirche hegen mußte, hielt er doch fest an dem Glauben, „daß oft der Irrthum und das Böse von Gott geduldet werde, um die Wahrheit desto heller ans Licht zu führen und durch desto reinere Fülle der Liebe sein Reich auf Erden zu fördern“. Indem er dem von der römischen Curie eingeschlagenen Wege ohne Verletzung seines Gewissens nicht folgen konnte, trennte er sich, wenn auch mit tiefem Schmerz, doch in [548] solcher Hoffnung und solchem Vertrauen „auf die unmittelbare Leitung des Herrn in seiner Kirche“ von seinem Amte.

Vom Jahre 1840 an hatte er nun ständig seinen Wohnsitz in Berlin mit Ausnahme der Sommermonate, die er auf seinem Besitz Gr. Sägewitz in Schlesien zubrachte. Seine Kränklichkeit nöthigte ihn besonders in den fünfziger und sechziger Jahren theils Badereisen, theils Ausflüge zur Erholung zu machen, auf denen er die Bekanntschaft hervorragender evangelischer Männer machte, und wissenschaftliche Anstalten, wie die des Tübinger theologischen Stifts, Erziehungs- und Unterrichtsanstalten, wie die Zeller’sche in Beuggen, und das Rauhe Haus in Horn bei Hamburg, wo Dr. Wichern’s Wirksamkeit auf dem Gebiet der innern Mission ihn mächtig anregte, besuchte. Er trug sich damals schon mit Plänen, wie er seinerseits etwas zu der für die Zukunft unseres Volkes so wichtigen Heranbildung eines jüngeren Geschlechts, worin eine gründliche geistige Bildung mit christlichem Sinn und Leben sich vereint, beitragen könnte. Seine Freigebigkeit gegen Arme und Nothleidende kannte kaum eine Grenze; bei Vereinen und Anstalten christlicher Barmherzigkeit bewies er sich stets als treuer Mithelfer. Treu und mannhaft schlug sein Herz auch für das politische Wohl seines Vaterlandes. In dem Revolutionsjahr 1848 nahm er an den Bestrebungen zur Erhaltung von Thron und Altar lebhaften Antheil und noch im J. 1850 opferte er den halben Jahresbetrag seiner Besoldung zum gemeinen Besten. Er verschmähte es, in müßiger Verborgenheit seine Tage zu vollbringen; die öffentlichen Interessen des politischen und kirchlichen Lebens nahmen ihn aufs lebhafteste in Anspruch.

Am tiefsten und innerlichsten aber bewegten ihn die großen Fragen des evangelischen Glaubens und Bekenntnisses, nicht bloß wie sie auf der Tagesordnung der kirchlichen Verhandlungen standen, sondern mit aller Macht im Zusammenhang mit seiner bisherigen inneren Entwicklung seinem Herzen und Gewissen, seiner Selbsterkenntniß und seinem Wahrheitssinn sich aufdrängten.

Er hatte für die Erneuerung seiner Kirche seine Hoffnung auf einen mit dem Papstthum innerlich geeinigten geisterfüllten Episcopat gesetzt, in welchem er eine göttliche Anordnung zur Leitung und zum Wohl der irdischen Kirche, die nothwendige äußere Darstellung der Einheit derselben und des in ihr vorhandenen Liebesgeistes sehen wollte. Desto betrübender mußte es ihm nach seiner Amtsniederlegung sein, wahrzunehmen, wie das papistische System immer straffer angezogen ward und die Bischöfe aus ihrer ursprünglichen Stellung immer mehr herausgedrängt und zu willenlosen Werkzeugen des ultramontanen Papismus degradirt wurden. Seine früheren Hoffnungen auf eine Besserung und Hebung des kirchlichen Lebens durch einen lebensvollen Episcopat mußten in dem Maaße schwinden, in welchem er in den Jahrzehnten nach seinem Austritt aus dem bischöflichen Amt den unheilvollen Plan, alle Garantieen und Bedingungen eines freundlichen Zusammenlebens beider Confessionen zu stürzen, in der katholischen Kirche sich verwirklichen sah. In seinen Augen befand sich die römische Curie, durch die Zeitverhältnisse begünstigt, auf einer Bahn, die zu den Zeiten zurückzuführen drohte, in denen die äußere Macht und Herrlichkeit der Kirche am größten, das innere Leben aber am tiefsten gesunken war. Noch mehr erschütterte ihn in seiner Hoffnung auf eine Wendung zum Besseren die von den Jesuiten endlich nach langen und vielen Praktiken erreichte Publication des Dogmas von der unbefleckten Empfängniß Mariä, eine Thatsache, in welcher er die „Grundlage des Christenthums, die Versöhnung durch Christum allein und die apostolische Einsetzung des Episcopates aufgehoben“ sah. Als traurige Folgen und Zeichen der immer weiter gehenden Abirrung von dem rechten Wege mußte er es ansehen, wenn unter dem Einfluß des ultramontanen Fanatismus [549] selbst in Deutschland die Leichen evangelischer Christen auf den Kirchhöfen, wo sie neben ihren katholischen Verwandten ruhten, ausgegraben und von ihnen entfernt wurden, – wenn namentlich im Süden von Deutschland und in Italien auf die äußeren Werke, auf Ablässe, Processionen, Wallfahrten, Anbetung der Heiligen, ihrer wunderthätigen Bilder und Reliquien, Kasteiungen und äußere Opfer, wieder das Hauptgewicht gelegt wurde, – wenn das arme Volk, zum Vertrauen auf die Kraft solcher Dinge und den daran sich anschließenden Wust von Mißbräuchen und Irrglauben verleitet und immer mehr entwöhnt wurde, nach innerer Heiligung, nach wahrer Frömmigkeit und Sittenreinheit zu streben, und immer tiefer in Unsittlichkeit versinken mußte, – wenn das Verbot der Bibel sich immerfort wiederholte und besonders in katholischen Gegenden bis zur größten Strenge gehandhabt wurde. Alle diese betrübenden Wahrnehmungen ließen ihn erkennen, daß sich in der katholischen Kirche durch den ultramontanen Papismus immer mehr das Reich Gottes in ein Reich der Welt mit seinem irdischen Stellvertreter umgestalte, und daß damit die Zunahme der Herrschaft menschlicher Satzungen und der Geringschätzung der ohnehin nur als ein bloßes Lehr- und Gesetzesbuch angesehenen heiligen Schrift verbunden sei. Als die traurigste Folge der Zeit mußte er erkennen, daß durch dieses Alles das göttliche Wort verhindert wurde, seine Kraft auf die Herzen auszuüben, und diesen der Weg verschlossen wurde, zur Wahrheit zurückzukehren.

Trotz alledem hielt er an der Hoffnung fest, daß der Herr seine Kirche, diese Kirche, nicht verlassen könne. Aber diese Hoffnung sollte sich für ihn auf andere Weise, als er bisher geglaubt, und zwar auf dem Wege einer völligen Umwandlung seines Kirchenbegriffs und eines bei ihm zum völligen Durchbruch kommenden evangelischen Glaubens erfüllen. Er fand mehr und mehr nach biblischem Begriff, daß das Wesen der Kirche einfach in der Gemeinschaft der an Jesum Christum Glaubenden, und das Wesen der Einheit der Kirche nicht mehr in der Einerleiheit bloß äußerer Formen, in der angeblichen apostolischen Succession der Bischöfe und in dem Gefüge des hierarchischen Systems, sondern in dem Besitz des Einen reinen Wortes und in dem durch dieses Wort gewirkten gemeinsamen Glauben an den einigen Herrn und Heiland und in der Gemeinschaft der durch den Glauben mit ihm dem Haupt und unter sich als Gliedern unter diesem Haupt verbundenen wahren Christen bestehe; wie Christus selbst diese Einheit und Gemeinschaft Johannes 17, 20 bezeuge mit den Worten: „auf daß sie Alle eins seien (die durch der Jünger Wort an ihn glauben werden), gleichwie Du Vater in mir und ich in Dir, daß auch sie in uns eins seien.“

Unter den Nachwirkungen der tiefen Eindrücke, die er von dieser in der Brüdergemeinde sich darstellenden Einheit und Gemeinschaft in dem Herrn noch vor der Niederlegung seines Bischofsamtes durch den Besuch einer Brüdergemeinde und durch Verkehr mit Freunden derselben, wenn auch in einem der großen Gemeinschaft einer Volkskirche entgegengesetzten engen und beschränkten Kreise empfangen hatte, unter fortgesetztem Studium der Kirchengeschichte und insbesondere der Reformationsgeschichte und der Schriften Luther’s, unter stetem Arbeiten an der Fortbildung und Vertiefung seiner christlichen Erkenntniß bei fleißigem Forschen in der Schrift, durch die Pflege freundschaftlichen Verkehrs und Gedankenaustausches mit bedeutenden evangelischen Männern[WS 3] in Kirche und Staat, durch die genauere Bekanntschaft mit dem Leben der Kirche in ihrem Cultus, in ihrer theologischen Wissenschaft, ihrer Liebesthätigkeit, ihrer inneren Mission gelangte er im Gegensatz gegen seinen früheren Standpunkt, auf dem er die evangelische Kirche wegen ihrer inneren Zerrissenheit als Kirche nicht anerkennen wollte, zu der Erkenntniß, daß dieselbe trotz der Spaltungen und Abweichungen in ihren einzelnen Abtheilungen und trotz des Mangels der der [550] römischen Kirche zu Gebote stehenden äußeren Mittel zur Herstellung einer äußeren Einheit „in den Grundlehren des Christenthums eine große Uebereinstimmung in sich mit der apostolischen Kirche und mit dem Wort der Offenbarung bewahrt habe“. Je mehr er ihre Geschichte vom Ursprung bis auf die Gegenwart verfolgte, desto mehr mußte er „ihren Zusammenhang mit der Zeit der Apostel und in der sich offenbarenden Uebereinstimmung die göttliche Leitung erkennen“. Es zeugt von dem völligen Umschwung, der sich in seiner Erkenntniß in Bezug auf das Wesen und die Einheit der Kirche vollzogen hatte, wenn er das Ergebniß seiner in dieser Hinsicht gemachten Glaubensverfassung mit folgenden Worten ausspricht: „Als das höchste und wahrste Kennzeichen dieser Einheit in Christo (Joh. 17, 20) erschien mir die Uebereinstimmung mit dem geoffenbarten Wort; und eben hierin schien mir die evangelische Kirche ihre Einheit am besten zu bewähren.“ Er gelangte dazu, daß er als „das wahre Fundament und Band der Einheit für die Kirche den Glauben an die freie Gnade Gottes in Christo“, wie er in der h. Schrift verkündet ist, erkannte. Wiederholt bezeugte er mündlich, daß er im Gegensatz gegen seine frühere Meinung, der Protestantismus könne es zu einer Kirche nicht bringen, jetzt einsehe, daß die Rechtfertigung durch den Glauben, den er aber nie von der Heiligung gesondert dachte, das rechte Band der kirchlichen Einheit sei. Von dem so gewonnenen kirchlichen Standpunkte aus war die Nothwendigkeit der episcopalen Verfassung überhaupt zur Darstellung der Einheit der Kirche für ihn aufgehoben. Und von der festen Glaubensstellung, zu der er auf dem Felsen des göttlichen Worts gelangt war, gab es für ihn angesichts der absoluten Auctorität der heil. Schrift keine entscheidende Auctorität der Concilien mehr, wie er sie früher gegen die päpstliche Allgewalt geltend gemacht hatte. Nur mit tiefster Entrüstung konnte er daher später in der Proclamation des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes die Zuspitzung aller päpstlichen Autokratie, die äußerste Consequenz der Verblendung der römischen Curie erblicken. Er hatte für sein inneres Leben einen festen Grund in der Wahrheit von Gnaden- und Glaubensgerechtigkeit gefunden, deren mannichfaltige Verkündigung in den evangelischen Gottesdiensten in Berlin, im Universitätsgottesdienst durch Nitzsch, in der Marienkirche durch Müllensiefen, und in der Werder’schen Kirche durch Stahn, durch die Hofprediger im Dom, durch Wünsche in der Brüdergemeinde, ihm auf dem Grunde des Wortes Gottes dazu half, daß er zu einem immer tieferen und vollendeteren evangelischen Glaubensleben gelangte und von einer Klarheit zur andern in seiner Erkenntniß fortschritt.

Die Folge von diesem Entwicklungsgange seines inneren Lebens war zunächst natürlich die allmähliche Loslösung auch von der äußeren Beziehung zur römischen Kirche. Anfangs pflegte er nach seiner Amtsniederlegung wohl noch an hohen Festen seiner bischöflichen Würde gemäß die Messe zu celebriren. Bald aber stellte er das ein und legte er auch seine bischöfliche Tracht ab. Mit der gewonnenen evangelischen Ueberzeugung konnte er es dann auch nicht mehr vereinigen, am Sacrament des Abendmahls in der römischen Kirche Theil zu nehmen; und doch konnte er, immer noch ein Glied derselben, an der evangelischen Feier sich nicht betheiligen. Er durfte nach seinem Gewissen jetzt nicht mehr auf halbem Wege stehen bleiben; er mußte sich zu dem entscheidenden Schritt des Uebertritts zu der Kirche, der er innerlich bereits angehörte, entschließen. Nach zuverlässigen Nachrichten verhält es sich mit seinem Uebertritt durch erstmalige Theilnahme an der evangelischen Feier des h. Abendmahles nicht ganz so, wie in der von Dorner herausgegebenen Selbstbiographie Sedlnitzky’s (S. 147) in einem Schreiben des verstorbenen Consistorialraths Stahn angegeben ist, daß er nämlich am 12. April 1863 in der Werder’schen Kirche [551] durch Theilnahme an der Communion übergetreten sei. Nach seiner eigenen verbürgten Aussage ist er schon ein halbes Jahr früher, ohne daß es Jemand erfuhr, am 1. Advent 1862, in der Marienkirche zu Berlin, wo er Müllensiefen’s Predigten gern hörte, durch erstmalige Betheiligung an dem h. Abendmahl zur evangelischen Kirche übergetreten. Er wollte so die erste Abendmahlsfeier ganz in der Stille begehen, ohne Aufsehen zu machen. Die Communion, an welcher er am Sonntag Quasimodogeniti den 12. April 1863 in der Friedrichs-Werder’schen Kirche, welche er wegen der weiten Entfernung der Marienkirche später häufiger besuchte, Theil nahm, und nach welcher er erst als einer der Communicanten erkannt wurde, war die zweite Abendmahlsfeier, die er beging und die dann in die Oeffentlichkeit kam, obwohl er auch hier jedes Aufsehen nach außen zu vermeiden beflissen war. Eine Hülle nach der anderen war von seinen kirchlichen Anschauungen und seinem inneren Leben gefallen, bis er zu einer völligen Ruhe und Klarheit und zu einem tief gegründeten Frieden in dem evangelischen Glauben gelangt war, der ihn davon abhielt, nach Art mancher Convertiten Klagen und Anklagen gegen die verlassene Kirche zu häufen und irgend welche persönliche Gereiztheit und leidenschaftliche Erregtheit gegen seine einstigen Kirchengenossen in sich aufkommen zu lassen. Dies zeigte sich besonders in einem Fall, in welchem der Fürstbischof Förster von Breslau in einem Schreiben vom 17. Februar 1863 ihm vorhielt, daß er nach seiner Amtsniederlegung nach und nach aufgehört habe, seine Zusammengehörigkeit mit der katholischen Kirche zu erkennen zu geben, ja daß er dem Vernehmen nach durch Beiträge statt katholische Interessen protestantische Bestrebungen unterstütze und auch protestantische Gottesdienste besuche; man sage sogar, daß er der Gemeinschaft der mährischen Brüdergemeinde beigetreten sei. Da er öffentlich noch als Glied der katholischen Kirche gelte, so ergehe an ihn die Bitte, sich über seine kirchliche Stellung auszusprechen. Sein Schweigen auf diese Bitte würde er als ein Zeugniß seines Ausgetretenseins aus der Kirche, die auch sein Taufgelöbniß empfangen und das feierliche Bekenntniß des katholischen Glaubens von seinen Lippen vernommen habe, ansehen müssen. S. antwortete sofort am 20. Febr., daß er allerdings, von dem hohen Werth des evangelischen Glaubens überzeugt, sich in seinem Gewissen gedrungen gefühlt habe, sich der Gemeinschaft der evangelischen Kirche anzuschließen. Er könne versichern, daß er durch den evangelischen Glauben sich nicht weniger zu der Erfüllung seines Taufgelübdes angeregt fühle und sich durch den Bund der Taufe um so mehr verpflichtet fühle, den Glauben zu bekennen, der auf Gottes Offenbarung allein beruhe. Er werde nie aufhören, für das Heil der Diöcese, von der er sich nach Gottes weisem Rathschluß habe trennen müssen, sowie für deren würdiges Oberhaupt mit treuem Herzen zu Gott zu beten.

Seinen evangelischen Glauben bethätigte er zum Dankopfer für die durch das reine Evangelium empfangenen Gnadensegnungen durch warme Theilnahme an den Werken der barmherzigen Liebe, durch Unterstützung der verschiedensten Vereine für innere Mission. Besonders lag ihm daran, nach Kräften dazu beizutragen, daß ein tüchtiger Nachwuchs von jungen christlich gesinnten Männern zum Dienst für Staat, Kirche und theologische Wissenschaft herangebildet werde. So begründete er zunächst im J. 1862 in Berlin eine nach dem Apostel Paulus „Paulinum“ genannte Pensionsanstalt für Gymnasiasten, in welcher unter der Leitung eines classisch und pädagogisch gebildeten Inspectors 24 Zöglinge Leitung und Förderung bei ihren Studien, wie christliche Erziehung und die Segnungen eines wohlgeordneten christlichen Familienlebens empfingen. Er übergab das Curatorium dieser Anstalt in der Person des Dr. Wichern dem Centralausschuß für innere Mission, unter dessen Leitung sie sich als Vorbild [552] für derartige, besonders in großen Städten nöthige Anstalten eines frischen Gedeihens erfreut. – In der Erwägung, daß die Ausbildung junger tüchtiger Kräfte für das geistliche Amt eine der hauptsächlichsten Bedingungen für das Wachsthum und Gedeihen des kirchlichen Lebens sei, suchte er auch für einen hoffnungsvollen jungen theologischen Nachwuchs sorgen zu helfen. Und so begründete er 1869 in Berlin in einem nahe bei der Universität gekauften Hause unter dem Namen Johanneum einen Convict für Theologie Studirende mit der Bestimmung, 20 bis 30 jungen Theologen während ihrer Studienzeit in der zerstreuungs- und geräuschvollen Großstadt den Segen eines stillen, ungestörten Studien- und Gemeinschaftslebens unter angemessener Leitung, die einem Verwaltungsrath übertragen ist, in dem neben einem theologischen Professor als Ephorus noch ein Professor aus der philosophischen und juristischen Facultät und ein Geistlicher aus der Stadt sein sollte, aber ohne Beschränkung der akademischen Freiheit, zu gewähren, eine Anstalt, die schon eine Reihe bester Erfolge aufweisen kann. – Zu gleichem Zwecke vermachte er testamentarisch einen bedeutenden Theil seines Vermögens zur Begründung eines theologischen Studentenconvictes in Breslau, in welchem unter der Leitung eines theologisch-wissenschaftlich gebildeten Inspectors bis jetzt etwa 20 Studirende freie Wohnung und ökonomische Versorgung Morgens und Abends haben, Anleitung zu wissenschaftlichen Studien empfangen, und den Segen einer christlichen Hausordnung genießen. Das Curatorium der Anstalt besteht aus einem theologischen Professor als Ephorus, dem jedesmaligen Decan der theologischen Facultät, dem Generalsuperintendenten der Provinz und einem oder zwei juristischen Mitgliedern. Die Anstalt ist nach dem Willen des Stifters nicht eine bloße Wohlthätigkeitsanstalt für Bedürftige, sondern gewährt „jungen Theologen von ernst christlicher Gesinnung und wissenschaftlichem Streben neben einer materiellen Erleichterung ihrer oft drückenden Lage den Segen eines häuslich geordneten, die akademischen Studien unterstützenden und ohne beengende Formen in christlichem Geist geführten Gemeinschaftslebens.“ Bemitteltere zahlen wohl auch eine mäßige Pension. – Durch ein anderes Vermächtniß hat er dafür gesorgt, daß das schlesische Consistorium unbemittelte Geistliche auf ihre Anträge hin mit wissenschaftlichen Werken versieht, die sie für ihre weitere theologische Ausbildung in einzelnen, ihnen besonders wichtigen Disciplinen bedürfen. Für die preußische Hauptbibelgesellschaft in Berlin stiftete er ein Capital, dessen Zinsen zur Versorgung armer Diasporagemeinden mit Bibeln verwendet werden. – Endlich trägt noch eine Stiftung seinen Namen, die er dazu bestimmt hat, daß aus den Zinsen des vom Evangelischen Oberkirchenrathe in Berlin verwalteten Capitals junge tüchtige Theologen nach ihrer Studienzeit und nach abgelegten Prüfungen als Vicare bei tüchtigen Geistlichen angestellt werden, theils um unter deren Leitung sich praktisch für das geistliche Amt auszubilden, theils um denselben die nöthige Unterstützung in ihrer Amtsthätigkeit zu leisten. Dieser Sedlnitzky’sche Vicariatsfonds schloß sich in dankenswerther Weise den schon vorhandenen Vicariatseinrichtungen in Schlesien an. Alle diese Stiftungen und Anstalten werden sein Andenken in Segen bewahren und ihm ein dankbares Gedächtniß in der evangelischen Landeskirche Preußens, besonders in seiner schlesischen Heimath, sichern.

Aus seinen drei letzten Lebensjahren liegen verschiedene Briefe von ihm vor, aus denen ersichtlich ist, wie tief er von den Bewegungen der Zeit auf dem kirchlichen und politischen Gebiete ergriffen war. Mit steigendem Schmerz verfolgte er die Gefahren, die der katholischen Kirche aus dem überall um sich greifenden Ultramontanismus erwuchsen. Im Gegensatz gegen die auf diesen von gewissen Seiten gesetzte trügerische Hoffnung bemerkt er: „Der überall herrschende Materialismus wird durch den Ultramontanismus nicht gedämpft, sondern [553] gefördert werden.“ Ihm blieben nicht verborgen die Gefahren, die von dem Unfehlbarkeitsdogma nicht blos für die evangelischen Kirchen und Staaten, sondern noch mehr für die katholischen Staaten und Regierungen sich ergeben würden. In seinem Gefolge erblickte er die größte Verwirrung der Gewissen, die Zerstörung der inneren Verbindung mit dem wahren Haupte, und somit die Untergrabung aller von Gott geordneten Verhältnisse.

Den Ausbruch des französischen Krieges erlebte er in Ems, acht Tage, nachdem er in tiefem Frieden dort angekommen war. In dem frevelhaften Verhalten des französischen Kaisers sieht er das Bestreben, unter Benutzung der göttlichen Auctorität des Papstes als seines Alliirten, seine Macht durch Vereinigung der romanischen Völker und Lähmung aller germanischen, insbesondere protestantischen Völker und Regierungen, zu vergrößern. Er verlebte nach der in Ems durch den Krieg unterbrochenen Kur mehrere Wochen in Suderode im Harz in Gemeinschaft mit Tholuck, Dorner und der gräflich Harrach’schen Familie, mit welcher er durch engste Verwandtschaftsbande und gleiche christliche Gesinnung innig verbunden war. Mit jugendlicher Begeisterung verfolgte er den beispiellosen Siegeslauf des deutschen Heeres. Wenige Wochen vor seinem Tode konnte er noch in einem Briefe vom 2. März 1871 die eben empfangene Friedensbotschaft als „eine überschwengliche Gnade Gottes“ preisen. Trotz der Aussichtslosigkeit in Bezug auf gute Wahlen in Berlin ging er noch am 6. März desselben Jahres in treuer Erfüllung seiner Bürgerpflicht an die Wahlurne zur Beschämung von Tausenden aus den höheren Ständen, welche durch ihre Trägheit oder Feigheit den unheilschwangeren Parteien immer mehr Vorschub leisteten. Nach kurzer Krankheit, die er sich durch eine heftige Erkältung in der Kirche zugezogen hatte, entschlief er am 25. März 1871. Der Oberhofprediger D. Kögel, der über den Sterbenden gebetet hatte, hielt ihm die Leichenrede. Sein Leichnam sollte nach seinem Willen in schlesischer Erde ruhen. So wurde er denn auf dem Friedhof in Rankau bestattet. Seine letzten Worte in jenem Briefe lauten: „Möge Deutschland einig bleiben und ein Land des Friedens und der Gottseligkeit werden, welches nie vergißt, was der Herr an ihm gethan und was es ihm schuldig ist.“

Selbstbiographie des Grafen Leopold Sedlnitzky, Fürstbischofs in Breslau. Nach seinem Tode aus seinen Papieren herausgegeben mit Actenstücken (von Dr. Dorner). Berlin 1872.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: entsprechendrn
  2. Vorlage: seinee
  3. Vorlage: Männnern