Zum Inhalt springen

ADB:Sinner, Johann Rudolf Freiherr von

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Sinner, Johann Rudolf“ von Emil Blösch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 394–397, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sinner,_Johann_Rudolf_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 18. November 2024, 21:52 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 34 (1892), S. 394–397 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Johann Rudolf Sinner (Schriftsteller) in der Wikipedia
Johann Rudolf Sinner in Wikidata
GND-Nummer 123944902
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|34|394|397|Sinner, Johann Rudolf|Emil Blösch|ADB:Sinner, Johann Rudolf Freiherr von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=123944902}}    

Sinner: Johann Rudolf S., 1730–1787. Er stammte aus einer patricischen, und im 18. Jahrhundert ziemlich zahlreichen Familie der Stadt Bern. Sein Urgroßvater, Rudolf S., war 1696 als Schultheiß an die Spitze der Republik gestellt worden, und dem Einfluß und diplomatischen Geschick dieses Mannes vorab war es gelungen, das durch Aussterben seines Herrschergeschlechtes erledigte Fürstenthum Neuenburg, welches die Bernische Staatsklugheit unmöglich an den französischen Nachbarn durfte fallen lassen, bei dem endlichen Entscheide des schwierigen Successionsstreites, 1707, dem ebenfalls erbberechtigten und für die schweizerischen Interessen damals weit günstigern Königshause Preußens zuzuwenden. Der Schultheiß S. war 1706 von Kaiser Joseph I. für sich und seine Nachkommen in den Freiherrnstand erhoben worden. – [395] Wie dieser Urgroßvater, der den Glanz und den Reichthum seiner Familie begründet hat, so wurde später auch ein Oheim Sinner’s, ein jüngerer Bruder seines Vaters, der 1713 geborene, auf deutschen Universitäten gebildete, durch Scharfsinn und hohe geistige Begabung ausgezeichnete Friedrich v. S., im Jahre 1771 zum Schultheißen erwählt. Derselbe erhielt 1788 den schwarzen Adlerorden Preußens und ist 1791 gestorben. Die Eltern unseres Joh. Rud. S., der am 22. Mai 1730 in Bern getauft wurde, waren Johann Rudolf S. und Susanna Auguste Fäsch aus Straßburg. Der Vater, Gutsbesitzer in dem prächtig zwischen Bern und Thun gelegenen Gerzensee, wurde 1744 Bernischer Landvogt zu Buchsee, starb aber schon 1747. Vorzügliche Studien und ausgedehnte Reisen, über deren Verlauf indessen nichts Genaueres bekannt ist, hoben den ebenso geistreichen als arbeitsamen jungen Mann bald über die meisten seiner Zeit- und Stammesgenossen in Bern, und so wurde derselbe schon 1748, im 19. Altersjahr, wie es scheint auf Albrecht v. Haller’s Empfehlung, zum Oberbibliothekar in seiner Vaterstadt ernannt. Diese Wahl war nicht blos entscheidend für den nunmehrigen Beruf und die Richtung der litterarischen Arbeiten Sinner’s, sondern sie hatte auch politische Folgen, die hier erwähnt werden müssen. Einer seiner Mitbewerber um das Amt war Samuel Henzi, und nach allgemeiner Annahme soll die Erbitterung desselben über die erfahrene Zurücksetzung gegen den jugendlichen Patricier den Anstoß gegeben haben zur Anstiftung der sogenannten Henzi’schen Verschwörung von 1749, die mit der Hinrichtung Henzi’s und zweier seiner Freunde endete. S. hatte bald Gelegenheit, den Beweis zu leisten, daß er seine Erwählung doch nicht blinder Gunst, sondern seiner Befähigung und Tüchtigkeit verdanke. Die lange Zeit wenig bedeutende Stadtbibliothek von Bern war im Jahre 1632 durch eine Verkettung von Umständen in den Besitz der vorzüglichen Büchersammlung des französischen Hugenotten Jakob Bongars gekommen, zu welcher namentlich mehrere Hunderte der werthvollsten Handschriften aus dem 8. bis 16. Jahrhundert gehörten. S. war es nun, der diese noch fast ganz unbekannten Schätze zu heben und der gelehrten Welt bekannt zu machen unternahm. Im Jahre 1759 gab er als schüchternen Versuch heraus : „Extraits de quelques poésies du XII, XIII et XIV siècle“, Lausanne. Das kleine Bändchen von nur 96 Seiten, eine der ersten Publicationen dieser Art, ist jetzt äußerst selten geworden, Von 1760 bis 1772 folgte sein „Catalogus codicum Msc. bibliothecae Bernensis annotationibus criticis illustratus“, in 3 Bänden mit 4 Schrifttafeln, eine von großer Gelehrsamkeit und vielseitiger Bildung zeugende kritische Beschreibung der wichtigsten Handschriften, welche trotz der Herstellung eines neuen Verzeichnisses noch keineswegs veraltet ist. Gleichzeitig bearbeitete er übrigens auch eine Zusammenstellung der gedruckten Werke in 2 Bänden, denen er einen Auszug aus dem Handschriften-Cataloge als dritten beifügte. 1765 gab er die Satiren des Persius mit Anmerkungen und mit einer französischen Uebersetzung heraus, und 1771 erschien sein merkwürdiges Werk: „Essai sur les dogmes de la Metempsychose et du purgatoire enseignés par les Bramins de l’Indostan, suivi d’un récit abrégé des dernirès révolutions et de l’êtat présent de cet empire, tiré de l’Anglois.“ Berne 1771, eine Frucht des damals erwachenden populär-philosophischen Interesses für die orientalischen Völker und deren Religionsgeschichte. Von größerem Werthe ist jedenfalls die „Voyage historique et littéraire par la Suisse occidentale“, Neuchatel 1781, in 2 Bänden; wie der Titel andeutet, eine Beschreibung der West-Schweiz in der zwanglosen Form einer gelehrten Reise, mit einer Menge von heute noch schätzenswerthen historischen Nachrichten, bibliographischen Notizen und culturhistorischen Beobachtungen. Man vergleiche, was er von Rousseau’s Aufenthalt auf der Bieler-Insel, von Bayle’s Thätigkeit in Coppet am Genfersee [396] sagt. Das Werk, von welchem auch eine deutsche Uebersetzung herauskam, ist als erster Theil bezeichnet, doch die Fortsetzung zu bearbeiten, war ihm nicht vergönnt (ein Theil dieser Fortsetzung wurde noch 1853 unter dem Titel „Berne au XVIII siècle, extrait d’un volume inédit“ etc. herausgegeben), da bald eine schwere Krankheit ihn zu lähmen begann. Schon 1764 war S. Mitglied des souveränen Rathes geworden, und 1776 hatte er auf seine Wirksamkeit in der Bibliothek verzichtet, um nach Bernischer Sitte ein Staatsamt, dasjenige eines Landvogts zu Erlach, anzunehmen; allein 1785 gab er auch seine Rathsstelle auf, und am 28. Februar 1787 ist er gestorben, noch nicht völlig 57 Jahr alt. Sein litterarischer Nachlaß, der sich jetzt in der Berner Stadtbibliothek befindet, enthält neben einer Anzahl von Excerpten und angefangenen Arbeiten (über schweizerische Numismatik, über die Regierungsform der Berner Republik u. s. w.) eine Menge von Briefen der berühmtesten unter seinen Zeitgenossen, von Schöpflin, Voltaire, Grandidier, dem Abte Gerbert in St. Blasien, Meusel, des Prades, La Curne de Ste. Palaye u. A. Dagegen muß er unterschieden werden von seinem Verwandten, Karl Ferdinand v. Sinner, welcher durch Goethe mit dem Herzog Karl August in Verbindung kam (L. Hirzel, Briefe des Herzogs Karl an K. F. v. S. in Bern. Vierteljahrsschrift für Litteraturgeschichte III. Bd.), und ebensowenig darf er verwechselt werden mit einem etwas ältern Johann Rudolf S., geboren 1720 und † 1782, welcher als vertrautester Freund und Correspondent Albrecht v. Haller’s viel genannt wird (Hirzel, a. a. O. und in der Einleitung zu Haller’s Gedichten, Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz. Bd. III. Frauenfeld 1882).

S. war jedenfalls einer der feinsten Köpfe und der gebildetsten Berner des 18. Jahrhunderts, wenn auch sein Ruhm nicht an denjenigen Haller’s hinanreicht. Es mag nicht unrichtig sein, wenn einer seiner Biographen behauptet: „Er hatte viele Kenntnisse, so daß er Mühe hatte, sich unter die despotischen Formen des gesellschaftlichen Weltlebens zu schmiegen, in welche ihn die Verhältnisse gesetzt hatten“. Außer den oben angeführten Werken werden ihm noch eine mineralogische Abhandlung über die Kohlenlager im Kanton Bern zugeschrieben (in den Schriften der ökonomischen Gesellschaft von Bern, 1768), ferner eine Ausgabe der Erzählungen der Königin Marg. von Navarra, und endlich mit Bestimmtheit eine in deutscher Sprache abgefaßte, angeblich in „Rostock“ gedruckte, 1768 erschienene Kritik des Bernischen Schulwesens, mit dem sonderbaren Titel: „Ist es denn auch möglich, bey den gegenwärtigen Umständen unter uns eine gute Unterweisung in den öffentlichen Schulen zu erhalten?“ Dieselbe hat den Anstoß gegeben zu einer Reform und zur Errichtung des sogenannten „politischen Instituts“, einer Akademie für die Jugend der höhern, zum Staatsdienst berufenen Stände. Für die Vermuthung dagegen, daß eine 1775 herausgekommene und nach Haller’s Angaben von einem „Herrn Sinner“ verfaßte Dramatisirung von Werther’s Leiden, les malheurs de l’amour, Berne 1775, von ihm herstamme, findet sich nirgends ein Nachweis (vergl. Hirzel, Briefe des Herzogs u. s. w. S. 10 des Separatdruckes, Anm. 18).

S. war seit 1756 verheirathet mit Luise Emilie v. Gingins aus dem Waadtlande; sie hatte ihm die Herrschaft Balaigues zugebracht, und er wird deshalb meistens als „Sinner von Balaigues“ bezeichnet. Er hinterließ nur drei Töchter, seine Wittwe lebte bis 1819.

Monatliche politische Neuheiten aus der Schweiz. 1787. S. 11 bis 12 (Nekrolog). – M. Lutz, Nekrolog berühmter Schweizer S. 492–93. – Zurlauben, Tableaux de la Suisse II. 11. S. 96. – Biographie universelle, tom. 42. p. 226. – v. Tillier. Geschichte des Freistaates Bern. Bd. V. – L. Hirzel a. a. O. – J. R. Gruner, Genealogien der Berner Familien. [397] Handschr. in der Berner Stadtbibliothek. – Die handschriftl. Arbeiten und Original-Correspondenzen Sinner’s in der Berner Stadtbibliothek. – Für den Schultheißen Friedrich v. S. siehe Sammlung Bern. Biogr. Bd. II (noch nicht erschienen.)