ADB:Gerbert, Martin
[726] der Gelehrtenwelt gefördert wurde. In die Jahre 1754–64 fällt eine Reihe nacheinander erschienener Lehrschriften Gerbert’s (Charakteristik derselben in Werner’s Gesch. d. kath. Theologie S. 181–89. 191 f. 204 f. 207 f.), welche sich so ziemlich über das gesammte Gebiet der lehrhaften Theologie verbreiten, und die um die Mitte des 18. Jahrhunderts vor sich gehende Umbildung der hergebrachten theologisch-scholastischen Lehrweise im Benedictinerorden charakterisiren. Wie in den Klöstern Westdeutschlands und Mitteldeutschlands regten sich Bestrebungen solcher Art auch in Oesterreich, und hatten die in die theresianische Zeit fallende Studienreform zur Folge, deren Plan durch den Benedictinerabt Rautenstrauch ausgearbeitet wurde. G. bekennt, daß ihn die Kunde von den in Oesterreich sich vorbereitenden Reformen nicht wenig ermuthigt habe, mit seinen eigenen, denselben verwandten Vorschlägen hervorzutreten, und dieselben in successiver Durcharbeitung aller Theile und Disciplinen der lehrhaften Theologie (dogmatische, moralische, liturgische Theologie) zu erproben. Die Verdienste der Scholastiker um die Systemisirung der Theologie würdigend, will er letztere doch zunächst als kirchlich-positive Wissenschaft, mit spezieller Beziehung auf die patristisch-augustinische Lehrtradition, und mit sinniger Vertiefung in den Geist des kirchlichen Alterthums behandelt sehen. Besonderes Interesse hatte für ihn die sacramentale und liturgische Theologie; dieser Vorliebe verdankt die theologische Welt seine umfangreichen Publicationen über die altalemannische Liturgie, welche übrigens, wie jene über die Kirchenmusik, einer späteren Epoche seiner Wirksamkeit angehören. Der neugegründeten baierischen Akademie der Wissenschaften, welche ihn unter ihre Mitglieder aufgenommen hatte, widmete er seine Schrift „De radiis divinitatis in operibus naturae, providentiae et gratiae“ (1762), eine Art speculativer Theodicee, deren Ausführungen vornehmlich gegen Spinoza und Bayle gerichtet sind, und augenscheinlich augustinische Ideen zu ihrer Unterlage haben. Das J. 1764, in welchem er von der Congregation seines Stiftes zum Fürstabte desselben gewählt wurde, inaugurirt eine neue Epoche seiner Wirksamkeit. Er trat durch die auf ihn übertragene Abtswürde auch in die Stellung eines Landesherrn und Reichsfürsten, und als österreichischer Unterthan zum Kaiserhofe in Wien in nähere Beziehung. Wie er als Stiftsabt seinen Pflichten musterhaft nachkam, und durch seine gewinnende, eben so leutselige als würdevolle Persönlichkeit der lebendige Typus des unter seiner Leitung im Stifte herrschenden trefflichen Geistes war, so wußte er auch seinen Aufgaben als Landesherr durch zweckmäßige Maßnahmen und Anordnungen für die öffentliche Sicherheit, Förderung des ländlichen Wirthschaftsbetriebes und der Industrie, durch Errichtung gemeinnütziger Anstalten und Sorge um den Volksunterricht zu entsprechen. Charakteristisch für seine Stellung als geistlicher Landesherr ist seine Schrift: „De dierum festorum numero minuendo, celebritate augenda“ (1765). Vier Jahre Jahre nach seiner Erhebung zum Abte wurde das Kloster St. Blasien sammt der Kirche, dem Büchersaale und anderen dazu gehörigen Nebengebäuden durch eine Feuersbrunst zerstört; mit Mühe wurde aus dem Brande ein Theil der Bücher- und Urkundenschätze und das Münzcabinet gerettet. Demzufolge nahmen die nächsten Jahre Gerbert’s Sorge für den Wiederaufbau der Abtei in Anspruch; dieser Angelegenheit kamen seine früheren Reisen zu statten, auf welchen er seinen architektonischen Geschmack zu bilden Gelegenheit gefunden hatte. Chr. Fr. Nicolai, der das Kloster nach dessen vollkommener Wiederherstellung besuchte, gibt in der Schilderung seiner Reise durch Deutschland und die Schweiz (Berlin 1783 ff.) eine Beschreibung von dem Aussehen und der inneren Einrichtung desselben, und bekennt, von dem Stifte sowol wie von dessen Bewohnern die vortheilhaftesten Eindrücke mit sich fortgenommen zu haben. Im Laufe von [727] drei Jahren war der Bau so weit vorgeschritten, daß die zerstreuten Mönche wieder im Kloster zusammenwohnen konnten; die prachtvolle Kirche, nach dem Muster der römischen Maria della rotonda erbaut, mit einer wegen ihrer Construction und coloristischen Decoration vielbewunderten Kuppel, wurde a. 1783 vollendet und feierlich eingeweiht. Unter die den Tagen der Einweihungsfeierlichkeit (20. bis 28. Septbr. 1783) gewidmeten Erinnerungsschriften gehört Gerbert’s „Historia Nigrae Silvae, ord. S. Bened. coloniae“ (St. Blasien, 1783 ff., 3 Bde. 4°.), im ersten Bande mit einer Abbildung der neuen Kirche versehen. Zu den Sorgen um den Wiederaufbau der Abtei kamen jene, welche ihm die Administration des Stiftes und die durch Intriguen ihm aufgedrungene Nöthigung, die Besitzrechte desselben zu wahren, bereitete. Ein ehemaliger stiftischer Hofrath machte zu Anfang der siebziger Jahre in Wien die Angabe, daß die angeblich von Kaiser Otto II. ausgestellte Stiftungsurkunde des Klosters unterschoben sei und dessen gesammter Besitz auf Usurpation und Erschleichung beruhe. Diese Denunziation sowie eine österreichisch-landesherrliche Verordnung über die Profeßablegung in den Klöstern veranlaßte G. zu einer zweimaligen Reise nach Wien; es gelang ihm, die Räthe der Kaiserin Maria Theresia von dem gutem Rechte seines Stiftes zu überzeugen, und die Kaiserin selber entließ ihn beim zweiten Male auf das Huldvollste, beschenkte ihn mit einem selbstgestickten Meßgewande, und ließ ihn noch überdieß nach seiner Heimkunft durch ein Geschenk von Wiener Porcellan überraschen, welches von einem durch die Kaiserin dictirten freundlichen Schreiben begleitet war. G. war dem österreichischen Erzhause treuest ergeben. Er führte die von dem St. Blasianer Marquard Herrgott bearbeitete Taphographia Principum Austriae zu Ende (Lindau 1772), und wünschte die neuerbaute Stiftskirche zu einem Mausoleum der außerhalb Oesterreich und Deutschland, namentlich in der Schweiz zu Basel und Königsfelden beigesetzten habsburgischen Fürsten gemacht zu sehen. Maria Theresia nahm dieses Vorhaben mit Wohlgefallen auf; schon a. 1770 wurde durch ihren Residenten in der Schweiz die Uebergabe der Leichen an das Kloster St. Blasien erwirkt, woselbst sie nach Vollendung der neuen Kirche in den für sie bestimmten neuen Grüften feierlich beigesetzt wurden. Als ein Beweis seiner Anhänglichkeit an das Kaiserhaus darf auch dies gelten, daß er noch in seinen letzten Lebensjahren für eine dritte verbesserte Ausgabe der ersten zwei Bände von Herrgott’s Monumenta domus Austriacae Sorge trug. Durch den in der Benedictinerschule zu St. Germain gebildeten Herrgott war der methodische Betrieb historischer Studien nach St. Blasien verpflanzt worden; G. sah die Erhaltung und Erweiterung dieser Art von literarischer Betriebsamkeit als eine der Hauptaufgaben des von ihm geleiteten Stiftes an. Er faßte den Plan einer nach dem Muster der Gallia sacra angelegten Kirchengeschichte aller deutschen Länder, und sah sich in und außerhalb des Stiftes nach den besten und geeignetsten Mitarbeitern an diesem Unternehmen um. Der Prodromus desselben, von dem St. Blasianer Ussermann abgefaßt, trat in Gerbert’s vorletztem Lebensjahre ans Licht; über den weiteren Fortgang dieses durch ungünstige Zeitverhältnisse gehemmten und endlich völlig zum Stillstande gebrachten Unternehmens siehe s. v. Ussermann, Ambrosius Eichhorn, Trudbert Neugart. In lebendiger Wechselbeziehung mit jenem Unternehmen sollte auch die staatlich-politische Geschichte Deutschlands urkundlich erforscht und in besonderen Werken dargestellt worden; der Anfang dazu liegt in der von dem St. Blasianer Franz Kreuter verfaßten Geschichte der österreichischen Vorlande vor (1790). G. selber edirte einen „Codex epistolaris Rudolphi I, Rom. Regis“ (1772), sowie eine Schrift „De Rudolpho Suevico comite de Rhinfelden, duce et rege, deque ejus familia“ (1785). Gerbert’s literarische Hauptleistungen, welche ihm, über das Gebiet der archivalischen [728] und antiquarischen Forschung hinausgreifend, in der allgemeinen Culturgeschichte einen unvergänglichen Namen sichern, betreffen die Geschichte der Musik. G., welcher mit Gluck Beziehungen unterhielt, liebte die Musik von Jugend an, und hatte auf seinen Reisen zahlreiche musikalische Manuscripte gesammelt; mit dem Franciscaner P. Martini in Bologna hatte er die Veröffentlichung einer ersten umfassenden Geschichte der Musik verabredet, wozu Martini den generellen Theil, G. aber als speziellen Theil die Geschichte des Kirchengesanges liefern sollte. Sehr viel von den Materialien, welche G. für dieses Vorhaben in vieljährigem Sammeln mühsam zusammengebracht hatte, wurde in dem Klosterbrande 1768 ein Raub der Flammen; glücklicher Weise war dazumal der erste Band des Werkes „De cantu et musica sacra a prima ecclesiae aetate usque ad praesens tempus“ schon gedruckt, und befanden sich die Abschriften der wichtigeren Manuscripte, welche er für den zweiten Theil zu verwerthen hatte, außerhalb des Klosters in anderen Händen, namentlich seines Freundes Martini. Das Werk erschien a. 1774 zu Lindau in zwei Quartbänden. Eine andere nicht minder wichtige literarische Publication war die von G. veranstaltete Ausgabe der alten kirchlichen Musikschriftsteller aus deutschen, französischen und italienischen Handschriften in 3 Quartbänden (St. Blasien, 1784). G. war übrigens nicht blos theoretischer Musikkenner und Musikschriftsteller, sondern versuchte sich selber auch in musikalischen Compositionen. Natürlich war ihm darum zu thun, die Pflege der kirchlichen Musik in seinem eigenen Stifte zum möglichsten Grade der Vollkommenheit zu erheben; der altkirchliche ernste Choralgesang, welchen er in Rom kennen gelernt hatte, wurde durch ihn in der Kirche zu St. Blasien eingeführt. Nicht blos eine ernste edle Musik, sondern auch andere Künste und Fertigkeiten wollte er in seinem Kloster betrieben sehen, und ließ den hierfür veranlagten Mönchen und Laienbrüdern desselben jede Art von Förderung angedeihen; so ließ er z. B. einen derselben die Glasmalerei erlernen, und die erlernte Kunst an einigen Fenstern der neuerbauten Stiftskirche erproben. G. war, ohne der Treue seiner kirchlichen Ueberzeugungen irgendwie zu vergeben, ein Mann von humaner, milder Denkart, welcher auch vielfach mit Protestanten literarisch verkehrte, zu einzelnen derselben sogar in einem nähern Freundschaftsverhältniß stand; dem Historiker J. Dan. Schöpflin fühlte er sich für die Förderung seiner Studien über die Liturgia alemannica zu immerwährendem Danke verpflichtet, welchem er bei verschiedenen Anlässen den herzlichsten Ausdruck gab. Er gehörte seiner Gesinnungsrichtung nach ganz der theresianischen Epoche an; in dem, was darüber hinausschritt, sah er bedenkliche Neuerung, die er um so weniger billigen konnte, je sichtlicher sich diese gegen dasjenige kehrte, womit sein ganzes persönliches Sein, Denken und Fühlen, sowie seine berufliche Lebensstellung aufs engste verwachsen war. Frühzeitig hatte er schon als Anhänger einer gemäßigten Mitte die innerhalb des Katholicismus hervorgetretene Spannung zwischen Papalisten und Episcopalen, Ultramontanen und Cismontanen beklagt (vgl. seine Schrift „De communione potestatis ecclesiasticae inter summos ecclesiae principes, Pontificem et Episcopos“, 1761); das Aufkommen des Febronianismus wurde von ihm als schwere Schädigung der Kirche empfunden, und er schmeichelte sich zum nachträglichen Widerrufe seines Freundes J. N. von Hontheim Einiges beigetragen zu haben. Die mit dem Febronianismus verschwisterten Tendenzen des Josephinismus kehrten sich unmittelbar gegen die Klöster, für deren Rechte er als Präses des breisgauischen Prälatenstandes kämpfend einzustehen hatte. In seiner „Ecclesia militans“ (1789) kehrte er sich direct gegen das Josephinische Staatskirchenthum, indem er aus der Geschichte der vergangenen Jahrhunderte nachzuweisen suchte, daß die Einmischung weltlicher Herren und Fürsten in innerkirchliche Verhältnisse der Kirche jederzeit Schaden gebracht habe. Sofern der Febronianismus [729] aus dem Gallicanismus und Jansenismus herausgewachsen war, da ja der Jansenist van Espen Hontheims Lehrer gewesen war, glaubte er in seinen letzten Lebensjahren auch die theologische Grundlage des Jansenismus einer theologischen Prüfung unterziehen zu sollen („Jansenisticarum controversiarum ex doctrina S. Augustini retractatio“, 1791). Noch tiefer mußte G. selbstverständlich durch das Umsichgreifen des Voltairianismus, des Freimaurer- und Illuminatenwesens sich berührt fühlen; seine Klagen hierüber sind in seiner Ecclesia militans niedergelegt. Aehnlichen Inhaltes, wie diese Schrift ist sein Opus posthumum mit dem Titel: „De sublimi in Evangelio Christi juxta divinam verbi incarnati oeconomiam“ (1793). Er schied am 13. Mai 1793 aus dem irdischen Leben; seine Leiche wurde in der von ihm erbauten neuen Stiftskirche beigesetzt, einer seiner vertrautesten Freunde, der Stiftscapitular Joh. Bapt. Weiß hielt die im Drucke erschienene Trauerrede auf ihn (St. Blasien, 1794, 4°.). Nachrufe und biographische Skizzen über ihn finden sich verzeichnet in der Halle’schen Encyclopädie s. v. Gerbert; eine neueste, in die Geschichte des St. Blasien verwobene Darstellung seines Lebens und Wirkens nebst einem chronologisch geordneten Verzeichniß seiner Schriften gibt Jos. Bader: Das ehemalige Kloster St. Blasien und seine Gelehrtenakademie (Separatabdruck aus dem Freiburger Diöcesanarchiv Bd. VIII) S. 94–111; ebendas. S. 99 die Notiz von der Zerstörung der nach Aufhebung des Stiftes noch erhalten gebliebenen schönen Kirche, die G. erbaut hatte, durch einen Brand am 7. Febr. 1874.
Gerbert: Martin G., aus dem Geschlechte der Edlen von Hornau stammend und eine der vornehmsten Zierden des Benedictinerordens im 18. Jahrhundert, wurde am 13. August 1720 zu Horb am Neckar im Schwarzwalde geboren. Seinen frühesten Jugendunterricht empfing er in den Schulen zu Ehingen, Freiburg i. Br. und zu Klingenau in der Schweiz; im Stifte St. Blasien im Schwarzwalde studirte er Philosophie und Theologie. Kaum 16 Jahre alt legte er zu St. Blasien die Ordensgelübde ab; im J. 1744 wurde er zum Priester geweiht, und unmittelbar darauf zum Lehrer, zuerst der Philosophie, sodann der Theologie bestellt, als welcher er bis zu seiner Erhebung zum Abte wirkte. Nebstbei wurde ihm die Aufsicht über die Stiftsbibliothek anvertraut; auch auf Reisen nach Frankreich, Italien und in deutschen Ländern wurde er von seinem, in väterlicher Liebe ihm zugethanen Abte Meinrat gesendet, wodurch sein Gesichtskreis vielfältig erweitert, und auch die Anknüpfung von Beziehungen zu Männern