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ADB:Stein, Heinrich Freiherr von

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Artikel „Stein, K. Heinrich Freiherr von“ von Ferdinand Jakob Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 456–459, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stein,_Heinrich_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 8. Oktober 2024, 13:24 Uhr UTC)
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Band 54 (1908), S. 456–459 (Quelle).
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Stein: K. Heinrich Freiherr von St., Aesthetiker, entstammte einem alten fränkischen Adelsgeschlecht und wurde am 12. Februar 1857 zu Coburg geboren. Er besuchte die Gymnasien zu Merseburg und Halle a. S. und bezog im J. 1874 die Universität Heidelberg, um Theologie zu studiren. Tagebuchaufzeichnungen aus seiner Gymnasialzeit lassen bereits erkennen, daß es nicht die kirchliche Bestimmung der Theologie war, die ihn zu diesem Studium zog, sondern das göttliche Geheimniß des schöpferischen Lebens. Aber wonach seine Seele hungerte und dürstete, dafür vermochte ihm der unspeculative Geist der akademischen Theologie keine Nahrung zu reichen. Bald sah er sich daher getrieben, zu dem Urquell des ewigen Schaffens auf einem [457] anderen Wege vorzudringen. Hatte die Theologie versagt, so sollte ihm nun die Natur die Führerin zum Göttlichen werden. Denn als er sich 1875 entschloß, sich dem Studium der Naturwissenschaften zu widmen, schrieb er in sein Tagebuch: „Was mir bleibt und den innersten Grund meines Herzens ausmacht, ist die Liebe zu den religiösen Dingen, die Sehnsucht nach einem aufrichtigen Glauben“. Aber aus der charakteristischen Art, wie er dieses Studium anfaßte, ist deutlich sichtbar, daß ihn weniger die empirische als die psychologische Erkenntniß der Natur fesselte; es waren die allgemeinen Fragen über Wesen, Ursprung und Bedeutung des Lebens, die ihm besonders am Herzen lagen. Infolge dessen wandte er sich vornehmlich dem Studium der physiologischen Probleme zu, das er dann in Halle und Berlin fortsetzte. Nachhaltigen Einfluß übten auf ihn namentlich die Vorlesungen aus, die Eugen Dühring an der Berliner Universität hielt. Diese Wirkung ging so weit, daß sich St. dem mechanischen Positivismus dieses Denkers, der seinem eigensten Wesen keineswegs homogen war, Jahre lang gefangen gab. Aber dieses Räthsel löst sich, wenn in Erwägung gezogen wird, daß der Student hier einer auf Mathematik und Mechanik gegründeten Gesammtauffassung der Natur begegnete, deren wesentliche Bestimmung auf die allbeherrschende Entfaltung der moralischen Kräfte berechnet war. St. fand hier eine Genüge für das, was er in jenen Jahren suchte; aber er suchte noch nicht das, was der ureigensten Bestimmung seiner geistigen Individualität allein wahrhaft zu genügen vermochte. Das Bindeglied zwischen der positivistischen Naturauffassung Dühring’s und der künstlerischen, aber damals noch latenten Naturauffassung Stein’s bildeten die ihnen gemeinsame Begeisterung für die dichterische Metaphysik Giordano Bruno’s.

Im J. 1877 wurde der 20jährige Student unter Zugrundelegung einer Dissertation „über Wahrnehmung“ von der Universität Berlin zum Doctor ker Philosophie promovirt. Diese Examensarbeit ist noch ganz vom Standpunkt des Dühring’schen Positivismus aus verfaßt, aber die Unklarheit der Problementwicklung ist das deutlichste Zeugniß dafür, daß der Doctorand sich hier einer philosophischen Auffassung hingegeben hatte, die doch im innersten Kerne seinem Wesen nicht entsprach. Wohin seine geistige Eigenart in Wahrheit neigte, zeigt dagegen seine öffentliche Erstlingsschrift, die er im J. 1878 unter dem Titel: „Die Ideale des Materialismus“ veröffentlichte. Dieser Titel ist irreführend, und er ist nur deshalb gewählt worden, weil der Verleger eine Sammlung von materialistischen Schriften herauszugeben wünschte und zur Betheiligung an diesem Unternehmen auch St. als Anhänger Dühring’s aufgefordert hatte. Aus diesem Grunde hat dieses Buch nachträglich jene Aufschrift erhalten, während ursprünglich der Titel lediglich „Lyrische Philosophie“ lauten sollte, der dann als Zusatz stehen geblieben ist. Neben vielem Schiefen und Unreifen zeigt dieses Werkchen bereits bedeutungsvoll an, was in dem Geiste des Verfassers nach Gestaltung rang. Das war freilich die philosophische Erfassung der Natur, der Gesammtnatur mit Einschluß der menschlichen; aber die Natur nicht inbezug auf die Erkenntnißbedingungen ihrer abstracten mechanischen Gesetzmäßigkeit, sondern inbezug auf ihre persönliche Vergeistigung durch die ästhetische Cultur. Ehe St. aber diesen eigenthümlichen Grundzug seines Schaffenstriebes selbst völlig klar erkannte, bedurfte er noch einer vertiefenden Anregung, die ihm bald in ungeahnter Fülle zu Theil werden sollte. Es war der Genius Richard Wagner’s, an dessen hell lodernder Fackel sich ihm erst wahrhaft das Feuer des eigenen Geistes entzündete. Auf einer Romreise hatte er die Verfasserin der „Memoiren einer Idealistin“ kennen gelernt, und als dann Richard Wagner im Herbst 1869 für seinen damals [458] zehnjährigen Sohn Siegfried einen Erzieher suchte, vermittelte ihm Malvida v. Meysenbug diese Kunde. Ohnehin von begeisterten Erziehungsidealen erfüllt, entschloß sich St. voll freudiger Erwartung, diese Aufgabe zu übernehmen. Er traf am 20. October 1879 in Bayreuth ein, und wenn er schließlich auch nicht länger als ein Jahr in der Familie Wagner’s weilte, so wurde hier doch seinem Leben die entscheidende Richtung gegeben. Hier begriff er erst, wonach seine Seele so lange ahnungsvoll gesucht hatte, und dies war nichts anderes als der große, von Winckelmann erfaßte, von Schiller begründete und von Wagner in einem allumfassenden Kunstwerk gestaltete Gedanke einer ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechtes.

Als St. in dem innigen Gedankenaustausch mit dem Meister von Bayreuth die neue und universelle Bedeutung der ästhetischen Cultur begriff, kam es ihm klar zum Bewußtsein, daß er selber zum Lehrer und Propheten dieser künstlerischen Lebensmission berufen sei. Aber schon im Herbst 1880 kehrt er auf den Wunsch seines Vaters nach Halle zurück, und hier traf er alsbald die Vorbereitungen, um sich an der Universität zu habilitiren. Nach viermaliger Umarbeitung seiner Habilitationsschrift „Die Bedeutung des dichterischen Elementes in der Philosophie des Giordano Bruno“ wurde ihm endlich die venia legendi ertheilt. Im Sommer 1881 begann er seine akademische Lehrthätigkeit mit einer Vorlesung über J. J. Rousseau’s „discours sur les sciences et les arts“, und im Winter desselben Jahres wagte er als der erste Universitätslehrer, eine Vorlesung über Richard Wagner zu halten. Bald aber erkannte er, daß er in Halle unter der Vorherrschaft des psychologistischen Empirismus seine Kraft nicht voll entfalten könne, und er faßte daher den Entschluß, in den Lehrkörper der Berliner Universität einzutreten. Nachdem hier seine zuerst eingereichte Abhandlung über „Die Beziehungen der Sprache zum philosophischen Erkennen“ zurückgewiesen war, genügte er endlich der Forderung nach einem „akademischen“ Thema mit der Schrift über „den Zusammenhang zwischen Boileau und Descartes“, und er konnte nunmehr im Winter 1884 seine Lehrthätigkeit mit der Vorlesung über die „Ideenlehre Schopenhauers“ beginnen. Sein Hauptlehrfach bildete die „Aesthetik“. Besonders zu erwähnen ist dann die Vorlesung über „Die ästhetischen Theorien Lessings und ihren geschichtlichen Ursprung“, vor allem aber diejenige über „Die Aesthetik der deutschen Classiker“. In dieser Zeit vertiefte er sich auch immer mehr in das Studium Kant’s, während die ästhetischen Theorien Schelling’s, Solger’s und Hegel’s noch nicht in seinen Gesichtskreis getreten waren. Ueber die Kritik der Urtheilskraft und ihre Beziehung zu Schiller’s philosophischen Schriften hielt er mehrmals akademische Uebungen ab. Aus all diesen Studien erwuchs dann sein für die Geschichte der Aesthetik grundlegendes Werk, das er im Frühjahr 1886 unter dem Titel: „Die Entstehung der neueren Aesthetik“ veröffentlichte. Aber noch ehe ihm ein äußerer Erfolg in seiner akademischen Laufbahn beschieden war, erkrankte er plötzlich in der Mitte des Juni 1887 und starb wenige Tage darauf am 20. Juni an einem Herzleiden.

Als St. mit dreißig Jahren dahinschied, wurde seinem Wirken, noch ehe er zur vollen Entfaltung seiner Kraft gekommen war, vorzeitig ein Ziel gesetzt. Er hat Bedeutendes geleistet; Größeres ließ er erwarten. Seine schöpferische Begabung hielt sich in jener eigenthümlichen Mitte zwischen der Philosophie und der Poesie; daher war er als Philosoph vorwiegend Aesthetiker und als Poet philosophischer Künstler. Diese Doppelseitigkeit hat ihren einheitlichen Wesensgrund darin, daß solchen Persönlichkeiten weder die Philosophie noch die Poesie um ihrer selbst willen da sind, sondern nur als schöpferisches Mittel zur [459] lebendigen Gestaltung der ästhetischen Individualität. Das schöne Individuum ist das Alpha und Omega dieser Classe von denkenden und dichtenden Persönlichkeiten. Will man daher die Gesammtthätigkeit Stein’s in ein einziges Wort zusammenfassen, so wird man sagen müssen, daß sein ganzes Lebenswerk auf die Verwirklichung der ästhetischen Erziehung der Menschheit gerichtet war. Die Anfänge dieser Cultur fand er in dem französischen Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts; ihre volle Gestaltungskraft offenbarte sich ihm aber in der Geisteserhebung des deutschen Idealismus. Erst durch das Wirken Kant’s und Schiller’s kommt die denkende Erkenntniß von der universellen Bedeutung der ästhetischen Cultur zum Durchbruch. War sie bis dahin im christlichen Abendlande nur ein wesentlicher Factor der religiös-kirchlichen Cultur, so kehrt sich nunmehr das Verhältniß um: die ästhetische Cultur entfaltete durch die philosophische Begründung ihre volle Unabhängigkeit und macht nun ihrerseits die ethische und religiöse Cultur zu einem mitwirkenden Bestimmungsfactor ihres Menschheitsideales. Das große Kunstwerk ist die wahre Veranschaulichung dieses Ideales, und in der Vereinigung mit ihm verklärt sich das sinnliche zum sittlich schönen Individuum. Das darf als der universelle Grundgedanke ausgesprochen werden, den St. zuerst in dem tiefwirkenden Verkehr mit Richard Wagner erfaßte und den er in seinen wissenschaftlichen Arbeiten zu begründen, in seinen poetischen Gestaltungen zu veranschaulichen strebte. Vor allen Dingen war er aber durch seine edle Persönlichkeit selbst ein lebendiger Repräsentant dieser Idee. Wer mit ihm in Berührung kam und seiner begeisterten Rede lauschen durfte, wurde von dem unmittelbaren Gefühl ergriffen, über alles niedrige und beschränkte Erdenwesen hinaus zu jenen reinen Höhen der göttlichen Freiheit und Schönheit emporgetragen zu werden. Er war eine Schiller’sche Natur.

Hauptwerke: „Ueber Wahrnehmung“, Inaug.-Diss., Berlin 1877; „Die Ideale des Materialismus. Lyrische Philosophie von Armand Pensier“, Köln 1878; „Giordano Bruno, Gedanken über seine Lehre und sein Leben“, neu herausgegeben, Berlin 1900; „Helden und Welt. Dramatische Bilder“, Chemnitz 1883 (jetzt Leipzig); „Die Entstehung der neueren Aesthetik“, Stuttgart 1886; „Schiller und Goethe. Vorlesungen über die Aesthetik der deutschen Classiker“, Leipzig, Reclam-Biblioth. Nr. 3090; „Aus dem Nachlaß. Dramatische Bilder und Erzählungen“, Leipzig 1888; „Vorlesungen über Aesthetik“, Stuttgart 1897 ; Aufsätze in den Bayreuther Blättern. – Wagner-Lexikon von C. Fr. Glasenapp und Heinrich von Stein, Stuttgart. – „Zur Kultur der Seele. Gesammelte Aufsätze“ (herausgegeben von Poske), Stuttgart 1906.

Heinrich von Stein und seine Weltanschauung von H. St. Chamberlain und Friedrich Poske, Leipzig 1903.