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ADB:Strümpell, Ludwig

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Artikel „Strümpell, Ludwig“ von Wilhelm Kahl in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 623–630, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Str%C3%BCmpell,_Ludwig&oldid=- (Version vom 20. November 2024, 01:33 Uhr UTC)
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Strümpell: Ludwig St., einer der letzten unmittelbaren Schüler Herbart’s, wurde am 28. Juni 1812 in Schöppenstedt geboren, wo er auch nach seinem am 18. Mai 1899 erfolgten Tode beigesetzt wurde. Durch die Stadtschule und durch Privatunterricht bei dem zweiten Prediger Schöppenstedts vorbereitet, bezog er im vierzehnten Lebensjahre das Gymnasium Catharineum in Braunschweig. Hier wirkte neben dem feinsinnigen Philologen Elster besonders Friedrich Griepenkerl, der Vater des Dichters Robert Griepenkerl, auf [624] ihn ein. Griepenkerl war einer der ältesten Schüler Herbart’s und war, nachdem er unter Pestalozzi und Fellenberg sich zum Lehrer ausgebildet hatte, in Braunschweig am Gymnasium und gleichzeitig am Collegium Carolinum als Lehrer der deutschen Sprache, der Litteratur und Aesthetik thätig. Ihm verdankte St., wie er in seiner Autobiographie in Heindl’s Galerie berühmter Pädagogen (1857) II, 511 selbst sagte, „die erste specifisch-philosophische Einwirkung, durch welche von der Zeit an sowohl die Gesammtrichtung seiner Studien als auch die Entwicklung seines inneren Geisteslebens bestimmt worden ist“. Griepenkerl, in dessen Hause St. viel verkehrte, namentlich, seit er das Collegium Carolinum, das damals „eine Universität in kleinen Maßstabe war“, bezogen hatte, vermittelte auch 1830 eine persönliche Begegnung Strümpell’s mit Herbart. St. berichtet hierüber a.a.O. S. 512: „Der tiefe Eindruck, den die imponirende Erscheinung dieses Mannes auf ihn hervorbrachte, kann nur demjenigen verständlich sein, der aus eigener Erfahrung in seiner Jugend sich der geistigen Bedeutung eines damaligen Erlebnisses erinnert, wo das lebendige Bild einer durch intellectuelle und sittliche Größe ausgezeichneten Person, welcher eine starke, schon aus der Entfernung genährte Hochschätzung entgegenkommt, sich begeisternd in die Seele eines jungen Mannes einsenkt.“ St. wurde in Königsberg Herbart’s Schüler und trat zu ihm in persönliche Beziehungen, „in Folge dessen das geistige Band zwischen ihm und dem Lehrer, welchem Pietät, Dankbarkeit und Liebe über das Grab hinaus bewahrt wird, noch enger wurde.“ St. promovirte 1833 bei Herbart mit der Abhandlung: „De methodo philosophica“ und begab sich nach Bonn, um sich hier auf die akademische Laufbahn vorzubereiten. Doch zerschlug sich dieser Plan, besonders deshalb, „weil in seiner bisherigen philosophischen Ueberzeugung sich wesentliche Abweichungen aufdrängten, über die er auch mit Herbart sich nicht einigen konnte“ (a. a. O. S. 519). Er verfolgte deshalb einen schon früher gehegten Plan: sich einige Jahre der pädagogischen Praxis zu widmen, wie das ja auch sein Lehrer Herbart gethan hatte. „Es ist unstreitig eine sehr werthvolle Eigenthümlichkeit der Herbartischen Philosophie, daß sie nicht bloß eine theoretische Continuität zwischen ihrer Psychologie, Ethik und Pädagogik in sehr specieller Weise aufrecht erhält und dadurch die letztere Doctrin in einem für die philosophische Erkenntniß höchst bedeutsamen Lichte erscheinen läßt, sondern, was mehr sagen will, durch die Einsicht, die sie bei dieser Continuität in das Gebiet der Pädagogik öffnet, auch auf die Willensthätigkeit namentlich jüngerer Anhänger leicht einen sittlichen Impuls ausübt, der sie veranlaßt, die Wirksamkeit eines Erziehers und Lehrers mit Hingebung zu ergreifen“ (a. a. S. 513). St. nahm das Anerbieten, in einer adligen Familie Kurlands die Erziehung zweier Söhne zu leiten, an, und „es folgte nun die fast achtjährige rein pädagogische Periode, die für ihn mit den nützlichsten Erfahrungen, mit geistigen Sorgen und Freuden, mit tiefgreifenden Veranlassungen zur Selbstprüfung und Selbsterkenntniß wie zur wissenschaftlichen Orientirung über die feinen Verhältnisse zwischen pädagogischer Theorie und Praxis erfüllt gewesen ist. Dieser Zeitraum seines Lebens gewährt ihm noch jetzt Stoff zum Nachdenken und führt bald düstere, bald heitere Bilder in seine Seele zurück, je nachdem der Blick der Erinnerung über die Blüthen und Früchte, die unter seinem Wirken gediehen, oder über die Bruchstücke und Trümmer hinschweift, die an einzelnen Stellen des Gemäldes umherliegen“. Besonders hoch schlug St. aus jener Zeit die Erkenntniß an, „daß, je voller und kräftiger das Ideal der intellectuellen, sittlichen und religiösen Bildung in der Brust eines jugendlichen Erziehers wirkt, desto vorsichtiger er insofern sein muß, daß er die von der Theorie eingegebenen künstlichen Erziehungsmittel [625] nicht überschätzt. Vielmehr hat nach seiner Ueberzeugung der Erzieher, der als Fremder in einem fremden Hause wirken will, in allen Fällen an den in den jeweiligen faktischen Verhältnissen, wie in der Individualität, in der Familie, in Sitten und Gewohnheiten, in Neigungen und in Interessen u. s. w. liegenden natürlichen Potenzen, selbst dann, wenn er zum Theil mit ihnen in Opposition sein muß, ununterbrochen festzuhalten und seine Zwecke an den dadurch thatsächlich bestimmten Entwicklungsgang der Kinder anzuschließen“ (a.a.O. S. 514).

Diese Stellen aus Strümpell’s Autobiographie zeigen einerseits, wie ernst St. seine Aufgabe als Erzieher auffaßte; andererseits beweisen sie, daß St. die Fragen der Erziehung schon frühzeitig zum Gegenstande eindringenden Nachdenkens gemacht hat, wie er denn schon 1845 eine Schrift veröffentlichte: „Der Begriff vom Individuum, herausgehoben aus dem Netze der praktischen Begriffe, welche der Pädagog zu erzeugen hat“, die nach Spitzner (Leipziger Lehrerzeitung 1899, S. 377) „bereits die psychologische Pädagogik und die pädagogische Pathologie in nuce enthält“. Auch sonst ließ ihm seine Thätigkeit als Hauslehrer noch Zeit zu schriftstellerischen Arbeiten auf dem Gebiete der Philosophie, und zwar zunächst im Anschluß an Herbart. So erschienen 1834: „Erläuterungen zu Herbarts Philosophie“; 1840: „Die Hauptpunkte der Herbart’schen Philosophie, kritisch beleuchtet“; 1843: „Die Pädagogik der Philosophen Kant, Fichte, Herbart“.

1843 wurde er durch den ihm befreundeten Kreismarschall Otto v. Mirbach zur Anstellung an der Universität Dorpat empfohlen; er habilitirte sich mit der Abhandlung: „De summi boni notione qualem proposuit Schleiermacherus dissertatio“ und wurde 1845 außerordentlicher, 1849 ordentlicher Professor der theoretischen und praktischen Philosophie, später auch der Pädagogik. Neben seinen Vorlesungen entfaltete er eine rege schriftstellerische Thätigkeit, der wir u. a. verdanken: „Vorschule der Ethik“, 1844, „Entwurf der Logik“, 1846, „Geschichte der griechischen Philosophie“, 1854 und 1861. Ganz besonders aber wurde St. durch schulorganisatorische Aufgaben in Anspruch genommen, die an ihn als Mitglied des sog. Curatorischen Conseils der Ostseeprovinzen herantraten. Der Vorsitzende dieses Conseils war der als Gelehrter wie als Staatsmann berühmte Freund Bismarck’s, Graf Alexander Keyserling, der an St. einen verständnißvollen Mitarbeiter in seinen Bestrebungen zur Erhaltung und Förderung des Deutschthums in den Ostseeprovinzen fand. St. war als Professor der Pädagogik Vorsitzender der obersten Schulbehörde für das gesammte Schulwesen Kurlands, Livlands und Esthlands und fand in dieser Stellung reiche Gelegenheit, die baltischen Schulen zu Stätten deutscher Bildung auszugestalten. Mit Wehmuth dachte er später an diese Zeit zurück, „wo er so unendlich viel Begeisterung und Hingebung für pädagogisch-praktische Veranstaltungen im Dienste deutscher Geistesbildung aufgewendet habe“. Das neue Seminar in Dorpat hat er erbaut und eingerichtet. Er gab selbst Unterricht am Seminar, bildete tüchtige Lehrkräfte auf der Universität heran und berief solche aus Deutschland. Ganz besonderes Interesse wandte er dem Volksschulwesen zu. Häufig besuchte er die Lehrer in ihren Schulen und gab ihnen bei diesen Revisionen Winke und Weisungen. Mit den Lehrern der verschiedenen Schulgattungen hielt er zur eingehenden Berathung der Lehrpläne Conferenzen ab. Ferner sorgte er für die Einrichtung von Fortbildungsschulen. Endlich ist ihm die Gründung des allgemeinen pädagogischen Vereins in Dorpat zu verdanken, der lange Zeit eine lebhafte Thätigkeit entwickelte.

Allen diesen Aufgaben widmete sich St. mit der ihm eigenen, zähen [626] Willenskraft. Er hat zuletzt unter recht undankbaren Verhältnissen und im Kampfe um eine schon fast verlorene Sache, die Aufgabe, ein Hüter und Förderer der deutschen Schule in den russischen Ostseeprovinzen zu sein, mit solcher Hingabe erfüllt, daß eine spätere Geschichte des Deutschthums in den Ostseeprovinzen ihm neben dem Grafen Keyserling einen Ehrenplatz einräumen wird.

Fast möchte man es bedauern, daß diese schulorganisatorischen Arbeiten St. so sehr in Anspruch nahmen, da sie seine sonstige Thätigkeit oft erheblich beeinträchtigten. Andererseits führten sie ihn immer wieder auch zu theoretischer Beschäftigung mit den Fragen der Pädagogik, denen St. sein ganzes Interesse zugewandt hatte. Schon in Dorpat ergänzte St. seine pädagogischen Vorlesungen durch ein wissenschaftlich-pädagogisches Praktikum. 1844 veröffentlichte er einen Vortrag: „Die Verschiedenheit der Kindernaturen“, der, wie er später selbst sagte, „den Anfang seiner wissenschaftlichen pädagogischen Arbeiten bildete“. Der Vortrag „betrifft insbesondere diejenigen Eigenthümlichkeiten der Kinder, welche theils in bedenklicher, theils in natürlich-normaler Weise auffällig sind, entweder aus körperlichen oder rein physischen Ursachen entspringen und die Aufmerksamkeit des Erziehers und des Lehrers besonders in Anspruch nehmen“. Es klingen also hier bereits jene Gedanken an, die St. in seinem letzten größeren Werke, der „Pädagogischen Pathologie“, planmäßig ausgebildet hat.

1869 veröffentlichte er sodann eine pädagogische Schrift, die sich an weitere Kreise wandte: „Erziehungsfragen, gemeinverständlich erörtert“. Auf dem engen Raume von 108 Seiten bespricht St. hier das, was man sonst allgemein Pädagogik nennt, und zwar in allgemein verständlicher Form und ohne gelehrtes Beiwerk. St. hat später nie mehr Gelegenheit gehabt, die Fragen der allgemeinen Pädagogik zum Gegenstand einer zusammenfassenden Erörterung zu machen, und so ist man denn für manche der pädagogischen Ansichten Strümpell’s noch immer auf die „Erziehungsfragen“ als Quelle angewiesen.

Leider setzten die politischen Verhältnisse Strümpell’s Thätigkeit in Dorpat ein Ziel. Wenn der russische Minister der Aufklärung 1872 in einem Berichte (vgl. Schmid’s Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, 2. Aufl. VII, 1 S. 732) klagte, daß der Curatorische Conseil, zu dessen Mitgliedern ja auch St. gehörte, „außer Stande sei, eine auch nur einigermaßen richtig organisirte pädagogische Aufsicht über die ihm anvertrauten rechtgläubigen Schulen in den Dörfern der Esthen und Letten zu üben …, daß ohne offenbaren Schaden für die Volksbildung und sogar für die politischen Interessen Rußlands es unumgänglich erforderlich sei, dem Ministerium der Volksaufk1ärung den gebührenden Einfluß auf die Leitung einer für die Zukunft des Staates so wichtigen Angelegenheit zu ertheilen“, so wird man unschwer erkennen, was St. 1871 veranlaßte, seine Entlassung aus dem russischen Staatsdienste nachzusuchen. Er war stets bemüht gewesen, die Rechte des russischen Staates unangetastet zu lassen; aber er mußte jetzt einsehen, daß die geänderten politischen Verhältnisse ihm eine weitere ersprießliche Thätigkeit unmöglich machten, und die traurigen Schicksale, die das Deutschthum seither in den Ostseeprovinzen erlitten hat, haben St. nur zu sehr Recht gegeben; Keyserling war schon 1869 entlassen worden.

Als „Kaiserlich Russischer Wirklicher Staatsrath“ mit dem Titel Excellenz und dem persönlichen Adel schied St. von Dorpat und begab sich nach Leipzig, wo er am 26. April 1871 seine Lehrthätigkeit aufs neue als Privatdocent begann. 1872 wurde er ordentlicher Honorarprofessor, konnte am 26. April [627] 1896 in körperlicher und geistiger Rüstigkeit das Jubiläum seiner 25jährigen Wirksamkeit an der Leipziger Universität begehen und feierte im Winter 1899, was nur wenigen Universitätslehrern gegönnt war, das 111. Semester seiner akademischen Lehrthätigkeit mit einer Vorlesung „über die Praxis des wissenschaftlichen Denkens“.

Am 18. Mai 1899 starb St. nach kurzer, aber schwerer Krankheit, noch in den letzten Tagen seines Lebens mit einer „empirischen Darstellung der Thatsachen des Bewußtseins“ beschäftigt.

Auch in Leipzig war Strümpell’s Thätigkeit von reichen Erfolgen begleitet. Während 56 Semestern las er vor zusammen weit über 4000 Hörern, und zwar erstreckten sich seine Vorlesungen auf alle Zweige der Philosophie, besonders auch auf psychologische Pädagogik, die er neun Mal, und auf pädagogische Pathologie, die er zwei Mal las. Fast mehr noch als durch seine Vorlesungen wirkte St. durch das von ihm begründete „wissenschaftlich-pädagogische Praktikum“, das er 34 Semester hindurch leitete, „um das receptive Arbeiten der Studenten der Pädagogik durch ein productives Verfahren zu ergänzen, diese überhaupt zur selbständigen pädagogischen Forschung anzuleiten“. Zu den Mitgliedern dieses „wissenschaftlich-theologischen Praktikums“ zählten Philologen, Theologen, ganz besonders aber auch junge Volksschullehrer, da bekanntlich[WS 1] die sächsischen Lehrer mit sehr guten Abgangszeugnissen nach Ablegung der Schulamtsprüfung die Berechtigung haben, in Leipzig zwei Jahre zu studiren. Man kann wohl sagen, daß das „wissenschaftlich-pädagogische Praktikum“ Strümpell’s Ansehen in der pädagogischen Welt begründet hat, da er es verstand, diese praktischen Uebungen mit außerordentlichem Geschick zu leiten. Er ging nicht darauf aus, wissenschaftliche Specialitäten unter engherziger Beschränkung auf gewisse Schulmeinungen zu züchten, sondern ihm kam es in erster Linie darauf an, seine Schüler zu freier, selbständiger Forschung anzuleiten. Mit Recht konnte darum Wendt den IV. Band der „Pädagogischen Abhandlungen von Mitgliedern des von Professor Strümpell geleiteten wissenschaftlich-pädagogischen Praktikums“ mit den Worten einleiten: „Wir verehren Herbart und erkennen auch die Richtung seines Schülers Strümpell als den zweckmäßigsten Weiter- und Ausbau der Herbart’schen Pädagogik an; aber wir schwören weder auf die Worte Herbart’s noch liegt es in dem Wesen unseres Lehrers, abweichende Meinungen als unvereinbar mit dem Begriffe eines Anhängers der psychologischen Pädagogik zu erklären“.

In Leipzig verfaßte St. eine Reihe von philosophischen Werken, die theils aus seinen Vorlesungen entstanden, theils unterstützend neben diesen einhergingen, so wie er im Vorwort zu seinem „Grundriß der Psychologie“ die Hoffnung aussprach, „den Vorträgen, die er über Psychologie halte, dadurch möglicherweise eine reichhaltigere Wirkung verschaffen zu können, daß er dieselben theils durch eine übersichtliche Zusammenfassung, theils durch gewisse zweckmäßige Ergänzungen vermittelst dieser Schrift unterstütze.“ So erschienen u. a.: 1878 „Die Geisteskräfte der Menschen, verglichen mit denen der Thiere“, 1879 „Psychologische Pädagogik“, 1881 „Grundriß der Logik oder der Lehre vom wissenschaftlichen Denken“, 1884 „Grundriß der Psychologie“, 1886 „Die Einleitung in die Philosophie vom Standpunkte der Geschichte der Philosophie“, 1888 „Gedanken über Religion und religiöse Probleme“, 1890 „Pädagogische Pathologie“ (1899 in dritter Auflage); ferner sind eine Reihe von kleineren Schriften, Abhandlungen und Vorträgen gesammelt herausgegeben worden.

Auf die „Psychologische Pädagogik“ und die „Pädagogische Pathologie“ muß hier noch etwas näher eingegangen werden.

[628] In der Stelle aus seiner Autobiographie, die wir oben anführten, machte St. es dem Erzieher zur Pflicht, seine Thätigkeit an den Entwicklungsgang des Kindes anzuschließen. Schon in Dorpat hatte St. in diesem Sinne die psychologische Pädagogik zum Gegenstande von Vorlesungen gemacht, aber erst 1879 trat er mit einer wissenschaftlichen Bearbeitung dieses Gegenstandes hervor; neben der zehn Jahre später erschienenen „Pädagogischen Pathologie“ ist die „Psychologische Pädagogik“ Strümpell’s Hauptwerk.

Unter der psychologischen Pädagogik versteht er „die Wissenschaft von der geistigen Entwicklung des Kindes, bezogen auf die Zwecke, welche die Erziehung des Kinde durch den Erwachsenen im Anschluß an die Individualität desselben zu erreichen strebt“. Auf den reichen Inhalt des Buches, das einen Ehrenplatz in der pädagogischen Litteratur verdient, kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur auf das achte Capitel muß hingewiesen werden, weil hier St. zum ersten Male „von den in der Entwicklung des geistigen Lebens des Menschen frei wirkenden Causalitäten“ spricht, die in allen seinen späteren Veröffentlichungen eine so bedeutende Rolle spielen, und die er neben seinen Beweisgründen für das Dasein Gottes als eine „derjenigen Erweiterungen und Fortbildungen der Herbart’schen Philosophie“ bezeichnet hat, „die er für nöthig gehalten habe“. Im Anschluß an Herbart hatte St. nach Analogie der mechanischen Vorgänge in der Natur den Ausdruck „Mechanismus“ auch auf das geistige Gebiet übertragen und verstand somit unter dem psychischen Mechanismus „die von vielen Thatsachen unterstützte Annahme, daß sowohl der Uebergang der geistigen Zustände aus dem Unbewußtsein ins Bewußtsein, oder, anders gesagt, ihr Wiederauftreten, ihre Reproduction, ihr Gedächtniß, ihre Erinnerung, mithin ihr zeitliches Beharren und Fortbestehen im Innern, als auch insbesondere die Summe der bewußtwerdenden Vorstellungen, ihre Verbindung oder ihre Aussonderung aus den übrigen, sowie die bestimmte Abfolge in bestimmter Richtung und mit bestimmter Geschwindigkeit durch gewisse, innerhalb dieser Zustände oder innerhalb der Natur des menschlichen Wesens überhaupt liegende und ohne unser Wissen, Wollen und Zuthun derartig wirkende Ursachen bedingt und interessirt ist, daß jeder nachfolgende Zustand als unvermeidliche Folge des Vorhergehenden in gesetzlicher Weise eintritt und jeden andern in demselben Falle ausschließt“ (Psych. Päd. S. 49; diese Erklärung nahm St. noch in eine seiner letzten Veröffentlichungen auf: „Der Unterschied der Wahrheiten und der Irrthümer“, 1897, S. 15; dort wahrt er sich auch S. 17 die geistige Urheberschaft für seine Lehre von den frei wirkenden Kausalitäten).

St. sah den gerade an der Leipziger Hochschule mit großem Erfolg betriebenen Arbeiten über die Zusammenhänge des geistigen Lebens mit physiologischen Vorgängen und Verhältnissen mit einem gewissen Mißtrauen zu. Er fürchtete, daß eine zu starke Betonung des Antheils der Physiologie an der Psychologie dazu führen könne, „bei der Abhängigkeit beider die Eigenartigkeit und Selbständigkeit des geistigen Lebens zu übersehen oder gar gänzlich aufzugeben“. Dieser Gefahr glaubte er dadurch vorbeugen zu können, daß er einerseits „die Thatsachen des Bewußtseins in ihren Eigenthümlichkeiten darlegte“, anderseits den auf Erfahrung und Logik gegründeten Beweis erbrachte, „daß es neben dem psychophysischen und psychischen Mechanismus auch eine Anzahl frei wirkender Kausalitäten im Seelenleben giebt“ (Vorwort zum Grundriß der Psychologie S. III). Hierunter versteht er aber – Grundriß der Psychologie S. 267 – „ein solches Ursacheverhältniß, in welchem unmittelbar bewußte Glieder, hier also Vorstellungen, so auf einander wirken, daß ein neuer Bewußtseinsinhalt entspringt, welcher über das den einzelnen [629] Gliedern zugehörige Bewußtsein hinausführt und als solcher für sich durch einen ihm eigenthümlichen Zusatz weiter wirken, d. h. wiederum neue Bewußtseinsinhalte hervorbringen kann. … Dieser Zusatz besteht darin, daß ein solcher Bewußtseinsinhalt nicht mehr bloß da ist …, sondern ein Bewußtsein einschließt, durch welches sein sonst gleichgültiges Dasein umgewandelt und die Seele, ganz allgemein gesagt, in das ganz neue Bewußtsein eines Werthes versetzt ist. Die Fortwirkung dieses Neuen, also die neue Kausalität, geschieht dann nicht mehr bloß durch den Inhalt als solchen, wie es beim mechanischen Wirken der Fall ist, sondern durch den diesem Inhalt zukommenden Werth. Und wie viele Unterschiede das Wirken dieser Art nach den Unterschieden der Werthe annehmen kann, so viele frei wirkende psychische Kausalitäten gibt es: 1. die Kausalität des Gefühlslebens der Seele; 2. die logische Kausalität oder die Kausalität der zwingenden Gründe; 3. die ästhetische Kausalität; 4. die Kausalität des Gewissens; 5. die Kausalität der Selbstbestimmung oder der Willensfreiheit“.

Mit einem kurzen Worte muß noch auf den Anhang zur „Psychologischen Pädagogik“ hingewiesen werden. Er bringt Aufzeichnungen über die geistige Entwicklung eines weiblichen Kindes – es war Strümpell’s eigene Tochter Emmi – während der ersten zwei Lebensjahre und gibt Anregung zu ähnlichen Beobachtungen und Untersuchungen. Daß diese Anregungen auf fruchtbaren Boden fielen, zeigt der heutige Stand der „Kinderpsychologie“, die sich trotz mancher Mißgriffe, zu denen kritikloser Uebereifer geführt hat, zu einer beachtenswerthen Hülfswissenschaft der Psychologie entwickelt hat.

Einen noch tiefer gehenden Einfluß als die „Psychologische Pädagogik“ übte Strümpell’s letztes größeres Werk aus, das er im Alter von 78 Jahren 1890 veröffentlichte: „Die pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder. Versuch einer Grundlegung für gebildete Eltern, Studierende der Pädagogik, Lehrer, sowie für Schulbehörden und Kinderärzte“. Das Werk, das jetzt schon in dritter Auflage vorliegt, hat bahnbrechend gewirkt; wenn St. sein Buch auch bescheiden „Versuch einer Grundlegung“ nannte, so ließ doch schon der erste Blick erkennen, daß man es hier mit einem ausgereiften Systeme zu thun hatte – die ersten Anfänge der Päd. Pathologie reichen bis in die früheste Dorpater Zeit zurück – und daß hier eine ganz neue Wissenschaft innerhalb der Pädagogik ausgebaut wurde, deren hohe philanthropische, pädagogische und social-ökonomische Bedeutung heute Niemand mehr verkennt. Gerade in unseren Tagen, in denen unser gesammtes öffentliches und privates Leben so viel Ungesundes an sich trägt, mußte ein Versuch, „die Fehlerhaftigkeiten der geistigen Entwicklung während des jugendlichen Alters, so weit es möglich ist, auf diejenigen ihrer Ursachen zurückzüführen, die entweder im psychischen Mechanismus allein oder in dem Zusammen- und Gegenwirken desselben mit dem physiologischen Mechanismus zu ermitteln sind“ (Strümpell am Schlusse des 1894 veranstalteten Neudruckes seines Vortrages: „Die Verschiedenheit der Kindernaturen“, 1844), mit Freuden begrüßt werden, da sich hierdurch die Möglichkeit bot, jene Fehler in einem Alter zu heilen, in denen sie noch heilbar sind. Die zweite Auflage der „Päd. Pathologie“ erfuhr eine wesentliche Bereicherung durch Koch’s grundlegendes Werk: „Die psychopathischen Minderwerthigkeiten“, 1891–1893, dessen hohe Bedeutung für die pädagogische Pathologie St. sofort erkannte.

Nach der „Pädagogischen Pathologie“ hat St. keine größere Arbeit mehr veröffentlicht. Den weiteren Ausbau der Gedanken, die er in seinen Schriften niedergelegt, in seinen Vorlesungen vor seinen Zuhörern entwickelt, in den Uebungen des „wissenschaftlich-pädagogischen Praktikums“ in regem Austausch [630] der Meinungen erörtert hatte, konnte er nunmehr seinen Schülern überlassen, die sich begeistert um ihren Lehrer noch bis in seine letzten Lebenstage scharten, und die noch jetzt in dankbarer Verehrung an ihm hängen.

Von Herbart war St. ausgegangen; er galt mit Recht als einer der Hauptvertreter seiner Pädagogik. Aber St. hat sich stets das Recht der eigenen Meinung gewahrt und ist schon früh in wesentlichen Punkten von Herbart abgewichen und über ihn hinausgegangen. Während Stoy und Ziller das Hauptgewicht auf den erziehenden Unterricht legten, Waitz die Pädagogik als Kunstlehre der Ethik auffaßte und durch stärkere Betonung der Gemüthsbildung über Herbart hinauskam, betrieb St. innerhalb des weiten Bereichs der Herbart’schen Pädagogik vorzugsweise die Anwendung der Psychologie auf die Praxis der Erziehung oder umgekehrt, wie Spitzner (Leipz. Lehrerzeitung 1899, S. 379) mit Recht sagt, „die Begründung der Praxis der Erziehung auf die empirische Erforschung des werdenden Menschen, der Bildungsvorgänge und der Bildungswerthe der bekannten Unterrichts- und Erziehungsmtttel“.

Auf diesem Gebiete bewegen sich die meisten Arbeiten Strümpell’s selbst, besonders seine Hauptwerke, die „Psychologische Pädagogik“ und die „Pädagogische Pathologie“, werden in der Geschichte der wissenschaftlichen Pädagogik allezeit mit Ehren genannt werden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: bekannntlich