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ADB:Stucki, Johann Wilhelm

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Artikel „Stucki, Johann Wilhelm“ von Friedrich Koldewey in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 717–720, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stucki,_Johann_Wilhelm&oldid=- (Version vom 29. November 2024, 14:08 Uhr UTC)
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Stucki: Johann Wilhelm St. (nicht Stuck.) St. war der Sprößling einer alten und angesehenen Züricher Patricierfamilie. Geboren wurde er am 21. Mai 1521 in dem ehemaligen Kloster Töß, dessen Güter sein Vater, Rudolf [718] St., im Auftrage des Raths von Zürich zu verwalten hatte. Kaum ein halbes Jahr alt, wurde er der Schwester seiner Mutter, Ursula v. Fulach, die in Basel wohnhaft war, zur Erziehung übergeben. Im Alter von acht Jahren kam er nach Zürich unter die Leitung des gelehrten Pfarrers Ludwig Lavater (s. A. D. B. XVIII, 83 f.), der eine Tochter Bullinger’s zur Frau hatte. Als seine Lehrer nennt er den Rector der Schule zum Frauenmünster Joh. Fries (Frisius, s. A. D. B. VIII, 105 ff.), den gelehrten Polyhistor Konrad Gesner (s. A. D. B. IX, 107–120), außerdem noch Rudolf Collinus (am Büel) (s. A. D. B. IV, 410 f.) und Samuel Pellicanus. Nach Vollendung seines 15. Lebensjahres schickten ihn seine Eltern auf die Akademie zu Lausanne, wo er neben dem Studium der lateinischen und griechischen auch das der französischen Sprache betrieb. Seine Lehrer waren dort Johannes Randonus und Franciscus Beraldus; unter seinen Studiengenossen befand sich u. a. der Schotte Peter Young (Junius), der späterhin nach Buchanan’s Tode die Erziehung des Königs Jakob, des Sohnes der Maria Stuart, übernahm, von seinem dankbaren Schüler zum Geheimen Rath erhoben wurde und eine Compendiaria narratio de vita et morte Mariae Scotorum reginae geschrieben hat. Nach einem zweijährigen Aufenthalte wurde St. von Lausanne in die Heimath zurückgerufen, begab sich aber bald über Freiburg im Breisgau, wo er dem alternden und zu allerlei groben Scherzen aufgelegten Heinrich Glareanus (s. A. D. B. IX, 210–213) durch seine freimüthige Schlagfertigkeit Achtung abgewann, auf das Gymnasium zu Straßburg, das zu jener Zeit unter dem Schulmonarchen Johannes Sturm auf dem Höhepunkte seiner Blüthe stand. Zu den edelsten Zierden der Anstalt gehörte (von 1556–1561) Franz Hotman (Hotomannus). St. hatte das Glück, der Haus- und Tischgenosse desselben zu werden, und noch nach mehr als einem Menschenalter rühmt er in der Vorrede zu seiner „Descriptio sacrorum gentilium“, welch fruchtbare und nachhaltige Anregung und Förderung er für seine Studien im Verkehr mit dem berühmten rechtsgelehrten Humanisten erhalten hat.

Von Straßburg ging St., weniger auf Wunsch seiner Angehörigen, als auf Anrathen und Betrieb Bullinger’s und anderer Züricher Gelehrten nach Paris. Mit vollem Recht galt diese Stadt zu jener Zeit als einer der glänzendsten Brennpunkte der Humanitätswissenschaften. Wer will es dem lernbegierigen Jünglinge verdenken, daß er mit Freuden einem Orte zueilte, wo, von anderen Namen ganz zu schweigen, classische Philologen wie Adrian Turnebus, Dionysius Lambinus, Johannes Auratus (Dorat), wo Kenner des Hebräischen wie Mercier, Salignac, Genebrard und Cinquarbres (Quinquarboreus), wo endlich Dialektiker und Mathematiker wie Petrus Ramus und dessen Rival und Todfeind Jakob Carpentarius ihm Gelegenheit boten, seine Kenntnisse nach den verschiedensten Seiten hin zu erweitern und zu vertiefen! Wann er freilich die Reise nach Paris angetreten hat, läßt sich mit Genauigkeit nicht feststellen. Er selbst sagt in der Vorrede zu seinen „Antiquitates conviviales“, es sei vor Ausbruch des ersten Bürger- und Hugenottenkrieges, also vor 1562, geschehen. Jedenfalls verweilte er bereits an den Ufern der Seine, als im September 1561 zu Poissy jenes Religionsgespräch eröffnet wurde, auf dem katholische und reformirte Theologen fünf Wochen lang erfolglos eine Verständigung der beiden Bekenntnisse bezüglich der Lehren vom Abendmahl und von der Kirche herbeizuführen bestrebt waren. Auf protestantischer Seite stand als Vorkämpfer neben Theodor Beza aus Genf der ehemalige florentinische Augustinermönch Petrus Vermilius (Vermigli), gewöhnlich Petrus Martyr genannt, der nach langen Irrfahrten in Zürich als Professor der Theologie einen festen Wohnsitz gefunden hatte. Ihm stellten Rath und Presbyterium von Zürich als Secretär und Dolmetscher den zwanzigjährigen Stucki zur Seite, ein ehrenvolles Zeugniß [719] für die Achtung, die sich derselbe bei seinen Mitbürgern trotz seiner Jugend bereits erworben hatte.

Nach Beendigung des Colloquiums kehrte Martyr nach Zürich zurück. St. blieb noch eine Zeit lang in Frankreich als Lehrer der Söhne eines französischen Prinzen (reguli cuiusdam Gallicani) zurück und gewann in dem etwas jüngern Philipp Mornay, Seigneur du Plessis-Marly, dem späteren einflußreichen Berather Heinrich’s IV., einen treuen Freund und Gönner. Im J. 1564 finden wir ihn dann mit seinem Jugendgespielen Johann Jakob Grynaeus, der 1617 als oberster Pfarrer zu Basel gestorben ist (s. A. D. B. X, 71 f.), auf der Universität Tübingen. Dort war es neben den Philologen Martin Crusius (s. A. D. B. IV, 633 f.) und Georg Hizler, dem Ethiker Samuel Heiland (s. A. D. B. XI, 310 f.) und dem Physiker Georg Liebler, vor allen der philosophische Mediciner Jakob Schegk (eigentl. Degen, s. A. D. B. V, 21 f.), der St. durch seine logischen Vorlesungen zu fesseln verstand. Von Tübingen ging er dann über Zürich und Genf, wie er selbst sagt, vor Beginn des zweiten Hugenottenkrieges, also vor 1567, zum zweiten Male nach Paris, dann aber nach Italien, um dort auf der venezianischen Universität Padua den wegen seiner genauen Kenntniß der römischen Alterthümer berühmten Rechtsgelehrten Guido Panzerollus (Pancirolus) zu hören und von dem jüdischen Rabbiner Menachem die chaldäische und syrische Sprache zu erlernen. In Italien blieb St. etwas über ein Jahr. Dann kehrte er – es war im J. 1568 – in die Heimath zurück. Hier übernahm er noch im September desselben Jahres an dem von Zwingli ins Leben gerufenen theologisch-humanistischen Institute des Collegium Carolinum zu Zürich die Vertretung des altersschwachen Professors der Logik und Rhetorik Johann Jakob Ammianus, wurde aber bereits 1571 zum Professor der Theologie des Alten Testaments ernannt. Dieses Amt hat er bis zu seinem am 3. September 1607 erfolgten Tode unausgesetzt beibehalten. Zum „Schulherrn“ oder Scholarchen wurde er zweimal, 1576 und 1584, erwählt.

St. erfreute sich in weiten Kreisen eines hohen Ansehens. Man schätzte nicht bloß seinen sittlichen Ernst und seine gründliche und umfassende Gelehrsamkeit, sondern rühmte ihn auch wegen seiner Liebenswürdigkeit im geselligen Verkehr, wegen seiner schlichten Bescheidenheit, seiner Mäßigkeit bei Gelagen sowie wegen der Gastfreundschaft, die er Einheimischen wie Fremden mit gleicher Bereitwilligkeit angedeihen ließ. Er war viermal verheirathet. Vier Söhne und drei Töchter überlebten ihn.

Als Theologe gehörte St. der calvinistischen Richtung an. Diesen Standpunkt vertrat er u. a. 1588 als Mitglied der Synode zu Bern, die den Burgdorfer Pfarrer Samuel Huber (s. A. D. B. XIII, 248) verurtheilte, weil er die absolute Prädestinationslehre angegriffen und behauptet hatte, daß alle Menschen von Gott durch Christum zur Seligkeit erwählt seien. Seine Vorlesungen sollen einen bedeutenden Zulauf, zum Theil aus weiter Ferne, gefunden haben. In unserer Zeit würde man sie einer allzu großen Gründlichkeit zeihen. Sein Lehrverfahren wird in der Weise geschildert, „ut contextum e codice Hebraeo Chaldaeove explanate primum legeret: perlecti deinde sensum et intelligentiam daret per ipsam Scripturam: e germano postmodum sensu locos doctrinae non paucos et utiles colligeret: doctrinas denique rite collectas (quo dono insigniter praeditus fuit) applicaret ad vitam et mores auditorum sermone aperto et eleganti.“ Bei dieser – übrigens vor 300 Jahren keinesweges vereinzelt dastehenden – Umständlichkeit darf man sich nicht wundern, daß er in der ganzen Zeit seiner Professorenthätigkeit über die Erklärung der Zwölf kleinen Propheten und der Proverbien, wie es scheint, nicht weit hinausgekommen ist.

Die von St. veröffentlichten Schriften finden sich verzeichnet in Jöcher’s [720] Gelehrtenlexikon IV, Sp. 904 und genauer noch in Zedler’s Universallexikon XXXX, Sp. 1183 f. Exemplare davon besitzt die Züricher Stadtbibliothek. Folgende Werke verdienen hervorgehoben zu werden: „Scholia in Arriani Ponti Euxini et maris Erythraei periplum“ (1577 fol.); „Antiquitatum convivialium libri III, sive Hebraeorum, Graecorum, Romanorum aliarumque nationum conviviorum genera, mores, consuetudines, ritus cerimoniaeque conviviales“ (1582 fol., 2. Aufl. 1597 fol.); „Sacrorum et sacrificiorum gentilium brevis et accurata descriptio, universae superstitionis ethnicae ritus cerimoniasque complectens“ (1598 fol.). Die letzten beiden Werke wurden so geschätzt, daß von ihnen 1695 zu Leiden und Amsterdam unter dem Titel: „Jo. Guil. Stuckii Tigurini operum tom. I et II“ eine neue stattliche Ausgabe in fol. veranstaltet wurde.

Vgl. außer den bereits erwähnten Artikeln bei Jöcher und Zedler: Kaspar Waser, De vita et obitu Joh. Guil. Stuckii oratio historica. Addita sunt clarissimorum aliquot virorum epicedia (Tiguri 1608. 4°). Die in dieser von einem Collegen Stucki’s einige Wochen nach seinem Tode verfaßten Rede enthaltenen Mittheilungen werden ergänzt und stellenweise berichtigt durch Stucki’s Vorrede zu seinen Antiquitates conviviales und namentlich durch einen Brief des Baseler Pfarrers J. J. Glareanus an den Züricher Pfarrer Burchard Lemann vom 25. Juli 1608, der im Anhange zu Waser’s Rede auf Blatt C 2a–C 3a abgedruckt ist. Ferner zu vgl. [A. S. Vögelin] Geschichte des ehemaligen Chorherrngebäudes beim Großmünster, Abth. II, abgedr. im Neujahrsblatt der Stadtbibliothek von Zürich auf d. J. 1854. – U. Ernst, Geschichte d. Zürcherischen Schulwesens bis gegen Ende des 16. Jahrh. Winterthur 1879.