Zum Inhalt springen

ADB:Thiele, Heinrich

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Thiele, Heinrich (August Ludwig)“ von Paul Zimmermann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 750–754, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Thiele,_Heinrich&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 21:57 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 37 (1894), S. 750–754 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Heinrich Thiele (Theologe) in der Wikipedia
Heinrich August Ludwig Thiele in Wikidata
GND-Nummer 117335789
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|37|750|754|Thiele, Heinrich (August Ludwig)|Paul Zimmermann|ADB:Thiele, Heinrich}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=117335789}}    

Thiele: Heinrich (August Ludwig) Th., lutherischer Theologe, am 18. Jan. 1814 zu Königslutter geboren, † am 17. Mai 1886, war der Sohn [751] des Bürgers und Bäckers Heinr. Martin Friedr. Th., der um das Jahr 1827 von Königslutter nach Braunschweig übersiedelte; seine Mutter, Luise Wilhelmine, war eine geb. Matthies. Der Sohn wurde streng und einfach erzogen und von dem ernsten Vater von vornherein zum Theologen bestimmt, so daß ihm die Ergreifung dieses Berufs wie eine ausgemachte Sache galt. Er besuchte in Braunschweig das Martineum, das Obergymnasium und von Michaelis 1832 bis Ostern 1833 das Collegium Carolinum, wo er das Abiturientenexamen bestand. Dann bezog er die Universität Göttingen. Die Theologen, insbesondere Lücke, sprachen ihn hier wenig an, er fühlte sich weit mehr durch Herbart’s philosophische Vorträge angeregt und von der deutschen Alterthumskunde angezogen, die damals in Göttingen unter der Brüder Grimm Leitung in hoher Blüthe stand. Da er so auf dem theologischen Gebiete zu keiner Klarheit und Befriedigung gelangen konnte, so siedelte er Ostern 1834 nach Jena über, wo ihm das, was er suchte, in reichstem Maaße zu theil ward. Vorzüglich in den Vorlesungen von Karl Hase und Baumgarten-Crusius. Die evangelische Milde und der wissenschaftliche Freisinn, der versöhnende Standpunkt zwischen einseitigen Theorien u. A., was hier gelehrt wurde, nahmen ihn ebenso für Jena ein, wie der freie, sittlich-ernste, wissenschaftliche Ton, der unter der dortigen Studentenschaft herrschte. In Jacobi’s ‘Von den göttlichen Dingen‘ sah er den Ausdruck seines eigenen philosophischen Bekenntnisses. Ostern 1836 verließ er Jena und, nachdem er vorübergehend den Unterricht zweier Knaben in Morsleben übernommen hatte, bestand er am 7. October 1836 in Wolfenbüttel das erste theologische Examen. Er wandte sich dann nach der Schweiz, wo er in Hofwyl an dem Fellenberg’schen Institute mehrere Jahre als Lehrer wirkte und am 17. Mai 1838 in St. Gallen als evangelischer Geistlicher ordinirt wurde. Im Sommer 1840 gedachte er nach Braunschweig zurückzukehren, doch konnte er dem verlockenden Antrage, einen jungen Engländer, einen Zögling des Fellenberg’schen Instituts, der sich in Rom mit architektonischen Studien beschäftigen wollte, als Tutor dorthin zu begleiten, nicht widerstehen. Vom Winter 1840 auf 41 weilte er in Rom. Hier machte er bald die Bekanntschaft der königl. preußischen Gesandtschaft, die ihn dazu führte, das Amt eines Gesandtschaftspredigers zunächst als Stellvertreter zu übernehmen, bis 1842 auf Anregung des preußischen Gesandten Frhrn. v. Buch aus der provisorischen Stellung eine dauernde wurde. In Rom lernte Th. auch die Prinzessin Marianne der Niederlande, die Gemahlin des Prinzen Albrecht von Preußen, kennen, die er auf mehreren größeren Reisen begleitete, und mit der er in beständigem Briefwechsel blieb. Sie hatte auch die Absicht, ihm die Erziehung ihres Sohnes, des Prinzen Albrecht zu übertragen, doch ließen verschiedene Zwischenfälle diesen Plan nicht zur Ausführung kommen. Trotz den interessanten, oft wechselnden Verkehrskreisen, die Th. in Rom fand, und trotz der Fülle von Anregungen, die sich seinem für Natur- und Kunstschönheiten, für Geschichte und Alterthumskunde äußerst empfänglichen, lebendigen Geiste hier boten, sehnte er sich doch nach der Heimath zurück, an der er mit unwandelbarer Liebe und Treue hing. Als am 20. Febr. 1847 in Braunschweig Domprediger Abt Westphal starb, bewarb er sich um dessen Nachfolge und am 8. August des Jahres hielt er hier im Dom eine Probepredigt. Da sich die Entscheidung über die Besetzung der Stelle hinzog, so trat er zuvor noch eine längere Reise nach dem Orient, insbesondere nach Palästina, an. Am 4. April 1848 wurde er dann zum Hof- und Domprediger ernannt und am 6. August des Jahres in sein Amt eingeführt, das er bis zu seinem Tode ununterbrochen verwaltet hat.

Thiele’s Bestreben war vor allem darauf gerichtet, sich eine wirkliche Gemeinde zu bilden. Hierin sah er die erste Aufgabe des Geistlichen und die zuverläßliche [752] Grundlage für eine gedeihliche geistliche Wirksamkeit. Er suchte einen festen Zusammenhalt in der Gemeinde herzustellen, den in der Zeit des Rationalismus eingeschläferten kirchlichen Sinn zu wecken und durch Entfaltung einer christlichen Liebesthätigkeit auch äußerlich wirksam in Erscheinung treten zu lassen. Dem kirchlichen Gottesdienste wünschte er durch Erweiterung und Ausschmückung der liturgischen Formen, für die er ein sehr feines Verständniß besaß, einen reicheren Inhalt und größere Abwechselung zu geben. Bei allen diesen Bestrebungen hatte er anfangs in Braunschweig mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen; man argwöhnte dahinter katholisirende Tendenzen. An offenen und versteckten Angriffen, an Spott und Hohn fehlte es ihm da nicht. Aber unbeirrt ging er seinen Weg weiter; eine in sich abgeschlossene Persönlichkeit, ein überzeugungstreuer Charakter hielt er an dem einmal für wahr Erkannten unverrückbar fest; kluge Besonnenheit, guter Geschmack, weltmännische Gewandtheit und feine, vielseitige Bildung schützten ihn vor Uebertreibungen, Einseitigkeiten und Schroffheiten. Er verstand auf die verschiedensten Individualitäten geschickt einzugehen, obwol er selbst fest auf positiv christlichem Boden stand, auch abweichende Meinungen gerecht zu würdigen und im Verkehre Ernst und Scherz auf das glücklichste zu verbinden. Er besaß eine natürliche Beredsamkeit, die Hoch und Niedrig gleichmäßig ansprach, ein lebhaftes Gefühl für priesterliche Würde und kirchliche Repräsentation, in deren Bethätigung er durch ein gewinnendes Aeußere und eine stattliche Erscheinung wirksam unterstützt wurde. Hatte sein Auftreten auch einen unverkennbar volksthümlichen Zug, – wie er denn auch stets in seine Herkunft aus ehrlichen Handwerkerkreisen seine besondere Ehre setzte, – so lag es ihm doch fern, sich um die Gunst der Menge zu bewerben; aber unwillkürlich wirkte er auf sie ein, da die Liebe zu der Sache, der er diente, und warme Menschenliebe unmittelbar bei ihm zum offenen Ausdrucke kamen. So gelang es ihm denn bald aus der ganzen Stadt eine zahlreiche Gemeinde um sich zu sammeln, die treu zu ihm hielt und stets sich vergrößerte. Insbesondere gewann er bald auf die jüngeren Geistlichen des Landes einen stets wachsenden, fast maßgebenden Einfluß. Er wurde recht eigentlich zum Mittelpunkte aller der Bestrebungen, die eine Erneuerung des kirchlichen Lebens im entschieden positiven Sinne im Herzogthum Braunschweig in die Wege leiteten. Immer mehr drang sein Einfluß durch. Die hervorragendsten Stellen der Landeskirche wurden mehr und mehr mit seinen Freunden und Anhängern besetzt, ja er hatte selbst die Genugthuung, daß die von ihm im Dom eingeführte liturgische Form des Gottesdienstes, die anfangs so befremdlich berührte, auf der 2. ordentlichen Landessynode (1876) im wesentlichen angenommen und 1879 im ganzen Lande eingeführt wurde. In die Synode wurde Th. durch das Vertrauen der Kirchenregierung, der gesetzmäßig die Ernennung von 4 Mitgliedern zusteht, zuerst in die 1869 eröffnete Vorsynode und dann immer wieder als Abgeordneter entsandt. Auf der dritten Landessynode wurde er 1880 auch in den Synodalausschuß und auf der vierten daneben zum Stellvertreter des Vorsitzenden gewählt. Bei seinem Landesherrn, dem Herzoge Wilhelm, der ihn unterm 17. November 1864 zum Propste des Klosters Marienberg und unterm 20. April 1875 zum Abte von Riddagshausen ernannte, stand er in hoher Achtung, wie er seinerseits ihm auch auf das treuste ergeben war. Auf die Kunde seiner bedenklichen Erkrankung eilte er aus freien Stücken nach Sibyllenort an das Krankenlager des Fürsten, den er jedoch nur als Leiche wiederfinden sollte. In ergreifender Weise hat er dann bei deren Ueberführung und Beisetzung dem allgemeinen Schmerze beredten Ausdruck gegeben. Mit treuester Anhänglichkeit hing Th. an seinem angestammten Fürstenhause und an seiner braunschweigischen Heimath. Er war der festen Ueberzeugung, daß diese [753] nicht nur die materiellen, sondern auch die zur Selbstregierung erforderlichen geistigen Kräfte besäße, um auch in der Neugestaltung der deutschen Verhältnisse, die er freudig begrüßt hatte, als Glied im Ganzen sehr wohl seine berechtigte Stelle finden und wahren zu können. Nach dem Tode des Herzogs war Th. im braunschweigischen Landtage, dem er seit 1881 als Abgeordneter der Geistlichkeit angehörte, ein unerschrockener Vertreter der legitimen Monarchie, und er war, obwol er zu dem Prinzen Albrecht von Preußen, dessen Wahl zum zeitweiligen Regenten des Landes mit Sicherheit zu erwarten stand, nahe Beziehungen hatte, einer der Wenigen, die den Muth fanden, die innere Berechtigung der Behinderung des legitimen Thronfolgers offen zu bestreiten. – Eine Zeit lang hat Th. auch auf das höhere Schulwesen des Landes einen großen Einfluß ausgeübt, als er am 20. Dec. 1876 zum Mitgliede der neuerrichteten Oberschulcommission und nach dem Tode des Abtes Hille († 2. Oct. 1880) zum Vorsitzenden der Prüfungscommission für die Candidaten des höheren Lehramts ernannt wurde. Doch schied er im J. 1883 aus dieser Stellung wieder aus, da ihm hier die Eigenmächtigkeit und Uebergriffe eines Collegen, dessen Berufung er selbst veranlaßt hatte, zu viel Verdruß bereiteten. Ihn befähigte zu dieser Aufgabe, die er mit großer Liebe ergriffen hatte, vorzüglich seine vielseitige Bildung, die sich auch sonst bei den verschiedensten Gelegenheiten bezeigte. An den Verhandlungen des Geschichtsvereins wie des naturwissenschaftlichen Vereins nahm er lebhaften Antheil; Jahrzehnte lang hat er mit bewunderungswürdigem Eifer und großer Sorgfalt insbesondere vorgeschichtliche Alterthümer gesammelt, Stein- und Broncegeräthe, Urnen u. s. w., die er großentheils selbst hat ausgraben lassen und eigenhändig zusammengeflickt hat. Es entstand so eine sehr werthvolle Sammlung, die er 1878, als die alte Dompfarre abgebrochen werden sollte, des Umzugs wegen an das herzogliche Museum abtrat, wohin auch die dann aufs neue angelegte Sammlung nach seinem Tode gelangt ist. Seinen Kunstsinn zu bethätigen hatte er bei den umfassenden Restaurationen, die sein ehrwürdiger Dom und die schöne Riddagshäuser Klosterkirche während seiner Amtsdauer erfuhren, reichlich Gelegenheit. Nicht so hoch wie die Bedeutung seiner persönlichen Wirksamkeit ist wol die seiner litterarischen Thätigkeit anzuschlagen, obwol auch hier sein „Kirchenbuch zum evangelischen Gottesdienste“ (Braunschw. 1852) von großem Einflusse war und seine gemeinverständlich geschriebene „Christliche Kirchengeschichte“ 1875 in dritter Auflage erschien. Seine übrigen Schriften, die zumeist Reiseerinnerungen aus Rom und Palästina enthalten, Zeitfragen behandeln oder Gelegenheitsreden sind, finden sich in den Braunschweigischen Anzeigen und bei Blasius a. a. O. verzeichnet. Außer zahlreichen Orden war die Verleihung der theologischen Doctorwürde, die ihm schon 1855 von Seiten der theologischen Facultät in Marburg, der sein Freund und Landsmann E. L. Th. Henke angehörte, eine gerechte Anerkennung seiner Verdienste. – Vermählt war Th. seit dem 9. December 1851 mit Elisabeth Hetzler, der Tochter eines angesehenen begüterten Kaufherrn, Georg Ferd. Hetzler aus Frankfurt a. M., die nicht nur die tiefe Religiosität mit ihm theilte, sondern auch bei allen Werken der christlichen Nächstenliebe ihm eine treue Gehülfin war. In der letzten Zeit kränklich, ging er doch, so weit es die Kräfte zuließen, unverdrossen seinen Berufspflichten nach, bis ein Herzleiden am 17. Mai 1886 seinem Leiden ein Ende machte. Er wurde unter großartiger Theilnahme am 20. d. M. auf dem Domfriedhofe beigesetzt; sein Freund Abt D. Sallentien und Pastor Clemen sprachen an seinem Sarge, der Senior der Braunschweigischen Stadtgeistlichkeit, Pastor D. Skerl, hielt ihm am folgenden Sonntage im Dome eine Gedächtnißpredigt. Seine Gattin ist ihm schon am 5. August 1887 im Tode nachgefolgt.

[754] Vgl. Zum Gedächtniß des D. Heinrich Thiele, Brnschw. 1886 (die genannten Trauerreden enthaltend). – Braunschw. Anz. 1886, Nr. 15 (von O. Könnecke). – W. Blasius, Lebensbeschreibungen Braunschw. Naturforscher und Naturfreunde (Brnschw. 1887), S. 87 ff. – Evangelisches Gemeindeblatt f. d. Herzogth. Braunschw., 1886, Nr. 21. – Beste, Geschichte d. Braunschw. Landeskirche. – Acten des herzogl. Consistoriums in Wolfenbüttel.