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ADB:Tunicius, Anton

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Artikel „Tunicius, Anton“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 791–793, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tunicius,_Anton&oldid=- (Version vom 18. November 2024, 11:50 Uhr UTC)
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Tunicius: Anton T. (Tunnicius), Sprüchwörtersammler, geboren zu Münster i. W. wohl um 1570[1], war ein tüchtig durchgebildeter Humanist der holländisch-westfälischen Richtung. Um 1481 besuchte er die vortreffliche Schule des Alexander Hegius zu Deventer, mit vielen anderen Jünglingen seiner engeren Heimath auf Veranlassung des pädagogischen Anschauungen huldigenden Rudolf v. Langen dorthin entsandt. Als Letzterer in der gemeinsamen Vaterstadt die Schola Paulina, die Lateinschule am Dom, gründete, wurde 1500 T. unter seinem als Rector eintretenden Commilitonen Timann Camener Ordinarius der sechsten, später der fünften Classe. Wann er seine ‘non sine laude’ ausgeübte Thätigkeit als Gymnasiallehrer abgebrochen hat, wissen wir nicht. Jedenfalls ließ sie ihm Muße genug zu fleißigem philosophischen Schaffen, während er sich weder an den eigentlich humanistischen Bestrebungen, noch gar an den Reformationswirren, die ja gerade das Münsterland gewaltig aufregten, irgendwie betheiligt zu haben scheint. Wir hören nur bei Hamelmann (s. u.) S. 171: vixit adhuc an. 1544 admodum senex, in summo templi Monasteriensi tunc op[t]imus vicarius existens; diese 1564 gedruckte Notiz meldet also den Tod nicht, dessen Datum doch bei einem Geistlichen des Doms leicht hätte eruirt werden können. Er mag aber eben, vielleicht infolge einer auch in seiner Schriftstellerei bemerklichen natürlichen Bescheidenheit, hinter feurigeren Naturen und vordringlichen Strebern im Hintergrunde gestanden haben, wie auch in Hamelmann’s Berichten über jenen ganzen Gelehrtenkreis Tunicius’ Name fast stets ans Ende tritt, einige Male wie nachträglich angefügt.

Die litterarische Bedeutung des T. liegt in seiner Sprüchwörtersammlung, die nicht nur die älteste niederdeutsche, sondern die älteste deutsche Unternehmung ihrer Art ist. Die Anregung scheint bei ähnlich compilatorischen Arbeiten einiger Collegen vom Haupte ihres Cirkels ausgegangen zu sein: ‘versus proverb[i]ales collegit ex praescripto Langii’. Jedoch verfuhr er bei der Redaction selbständig:‘evulgavit proverbiales sententias a se versibus redditas’; freilich ‘quicquid Perindius, Horlenius, Tunicius et alii in publicum emittebant, hoc prius corrigendum Langio offerebatur’. Das Werk erschien 1513 zu Köln, mit einer vom October 1512 datirten Widmung an Johannes Pering, den damaligen Münsterer Rector. Dieser editio princeps gehen auf 14 Blättern 32 ‘Epigrammata Tunnicii’ vorher, einigen hohen Personen, theologischen Berufsgenossen, juristischen und anderen Freunden zugeeignet, in der Mehrzahl didaktischen Inhalts mit ascetischen Anklängen (de virtute; de fortunae varietate; virtus et scientiae sunt aeternae; de potorum legibus, moribus et obitu u. a.). Trotzdem die Abdrücke von 1514 und 1515 in dem mit dem ersten übereinstimmenden Titel auch ‘eiusdem epigrammatum libellus’ verzeichnen, fehlt dieses in allen erhaltenen Exemplaren. Die in Nebenstunden ausgeführte Auswahl und lateinisch-hexametrische [792] Uebersetzung stützte sich in der Hauptsache auf die niederländischen ‘Proverbia communia’ (Hoffmann v. Fallersleben, Horae Belgicae, Band IX); was dort fehlt, stammt theils aus andern Büchern, theils ist es dem Volksmunde unmittelbar abgelauscht. In der „Peroratio“ sagt er, der im einzelnen Quellen nirgends namhaft macht, er habe die (d. h. die selbständig hinzugefügten) Sprüchwörter gehört, als er mit Geistlichen, Bürgern und Landleuten verkehrte; daher auch der meist unverfälschte Dialekt der Provinz. Daß er sein ‘incultum opusculum’ im letzten Sommer vor der Herausgabe flüchtig unter sehr vielen Beschäftigungen verfaßt habe, giebt die Widmung an. Von den 804 Nummern der Proverbia communia finden sich 645 bei T., der aber deshalb die zahlreichen allgemein gebrauchten nicht gerade dort entlehnt zu haben braucht. Von den 717 weiteren gehen viele auf die Bibel und Altlateiner, besonders Publius Syrus, zurück; in einer Anzahl stimmt er auch mit seinem Zeitgenossen Heinrich Bebel (s. d.) überein. Die hohe Bedeutung, die Tunicius’ Sammlung in der deutschen Parömiographie zukommt, ist immerhin auffällig, wo er, der älteren humanistischen Tradition getreu, auch hier mehr auf eine nette und flüssige lateinische Periphrase des eingereihten deutschen Spruches sah als auf des letzteren sinnentsprechende Wiedergabe. Diese Nachlässigkeit erstreckt sich auch auf den Maßstab der Auslese selbst; denn statt wirklicher Proverbia treten unter den 1362 Nummern uns häufig bloße Adagia, nicht selten sogar nur allgemeine Sätze mit schwachem Sentenzenanklang entgegen. All das hindert nicht, den relativen und den absoluten Werth des Werkes voll anzuerkennen.

Bei Hamelmann (s. u.) S. 171 lesen wir noch: evulgavit quoque ’Examen vel Enchiridion de Principiis octo partium orationis‘: collegit etiam selectiores ’Epistolas Sabellici‘: atque deinde ’multa illius extant epigrammata‘ in diversorum librorum commendationem: ’edidit‘ etiam ex Cicerone, Politiano et Philelpho epistolas selectas‘, etc. Von all diesem kann ich trotz eifrigsten Suchens nur die schon erwähnten Widmungsepigramme nachweisen. Ob die Ausgabe der Briefe von Politianus und Philelphus, die Köln 1505, oder die ‘Breviores epistolae’ des M. Antonius Sabellicus, die Köln 1516 erschienen und beide keinen Herausgeber nennen, T. zugehören, vermag ich nicht zu behaupten.

Die einzige höchst dürftige biographische Quelle bildet Hermann Hamelmann, Opera Genealogico-historica, de Westphalia et Saxonia inferiori (Lemgo 1711), und zwar in dem ‘Liber tertius virorum scriptis illustrium, qui vel in Westphalia vixere etc.’ von 1564 und der ‘Oratio de Rodolpho Langio’ von 1580; man vergleiche daselbst S. 171, 263, 266 f., 275, 277. Die eigenen Angaben des T. reden nur von freundschaftlichen Beziehungen zu münsterischen Persönlichkeiten und der obenerwähnten Entstehung seiner Sammlung. Zuerst wurde wohl J. Zacher (Die deutschen Sprüchwörtersammlungen, 1852, S. 9 f.), und zwar durch v. Meusebach’s Bibliothek, auf ihn aufmerksam; er lieferte Bibliographie und (S. 25–30) einen „Auszug der volksmäßigeren Sprüche aus den beiden ersten Capiteln“. Hoffmann v. Fallersleben, der zuerst 1855 im „Weimarisch. Jahrb.“ II, 178–182 unter Abdruck deutscher Proben auf T. hingewiesen hatte, verdanken wir: „Tunnicius. Die älteste niederdeutsche Sprüchwörtersammlung, von Antonius Tunnicius gesammelt und in lateinische Verse übersetzt. Herausgegeben und mit hochdeutscher Uebersetzung, Anmerkungen und Wörterbuch“ (Berlin 1870); die Quellen- beziehentlich Parallelennachweise sind recht lehrreich. Ueber die unmittelbar nach Erscheinen seines Buches auftauchende erste Ausgabe (Universit.-Bibl. Königsberg) berichtete Hoffmann German. XV, 195–197, zugleich darnach einige Angaben bessernd. Was die Namensform anlangt, so schreibt daß Titelblatt, und mit ihm Zacher, Hoffmann und Goedeke (Grundriß z. G. d. [793] d. D.2 II, 5 f.), Tunnicius, Sebastian Franck auf dem Titel seiner ersten Sprüchwörtersammlung (Frankfurt 1541), wo er E. Tappe (s. d.) und T. als Vorläufer nennt, und Hamelmann Tunicius; die deutsche Form ist nicht sicher festzustellen. Ueber die umfängliche Benutzung, die T. noch bei seinen Lebzeiten in jenem Werke fand, hat jetzt K. Pusch, Ueber Sebastian Franck’s Sprüchwörtersammlung vom Jahre 1541 (Beilage zum Osterprogr. des Gymn. Georgianum zu Hildburghausen. 1894), S. 34–42, gründlich gehandelt: danach hat Franck von des T. 1362 Nummern 1171 verwerthet; auf S. 34 Anm. 2 citirt Pusch die von einer scharfen Kritik der Hoffmann’schen Ausgabe begleiteten Mittheilungen über T. bei Suringar, Erasmus over nederlandsche Spreekwoorden, p. XXXV ff.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 791. Z. 15 v. o. l.: 1470 statt 1570. [Bd. 45, S. 674]