ADB:Weidig, Friedrich Ludwig

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Artikel „Weidig, Friedrich Ludwig“ von Arthur Wyß in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 41 (1896), S. 450–453, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Weidig,_Friedrich_Ludwig&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 20:22 Uhr UTC)
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Weidig: Friedrich Ludwig W., revolutionärer Politiker, geboren am 15. Februar 1791 zu Oberkleen bei Wetzlar, † durch Selbstmord im Arresthaus zu Darmstadt am 23. Februar 1837. Sein Vater, Oberförster zu Oberkleen, zog später nach dem nahen Butzbach über, wo der Sohn vortrefflichen Unterricht erhielt. Nach halbjährigem Besuch des Gymnasiums zu Gießen studirte W. daselbst vom Herbst 1808 ab Theologie. In jungen Jahren schwächlich, entwickelte er sich später zu einem Manne von kerniger Gesundheit. Im März 1812 wurde er zum Conrector an der Lateinschule zu Butzbach ernannt. Ein vorzüglicher Lehrer, dem die allseitige Ausbildung der Jugend Herzenssache und darum keine Mühe zu schwer war, dabei von tadellosem Lebenswandel und seltener Uneigennützigkeit, gewann er die begeisterte Liebe und rückhaltlose Verehrung seiner Schüler. Nach dem Vorgang Arndt’s gründete er in Butzbach eine „Deutsche Gesellschaft“, die auch politische Zwecke verfolgte. Schon in seinen Studentenjahren, wo die Brüder Follen[WS 1] und Welcker[WS 2] zu seinem Umgang gehörten, scheint er revolutionären Lehren nicht abgeneigt gewesen zu sein. Doch glaubten ältere wohlmeinende Freunde nicht, daß er von der Theorie zur Ausführung übergehen würde. Infolge von Denunciationen wurde er in den Jahren 1819/20 wegen revolutionärer Beeinflussung der Jugend in eine Untersuchung verwickelt, die jedoch ohne Ergebniß verlief. 1822 erwarb er den philosophischen Doctorgrad, und im December 1826 wurde er zum Rector der Schule zu Butzbach befördert. Bald darauf verheirathete er sich mit Amalie Hofmann, mit der er in glücklicher Ehe lebte. Die hessischen Verfassungs- und Kammerstreitigkeiten verfolgte [451] er mit leidenschaftlichem Interesse, die Freiheitskämpfe der Griechen und Polen mit Begeisterung. Im J. 1833, nach dem Frankfurter Wachensturm, gerieth er in eine neue Untersuchung wegen Verkehrs mit bekannten Revolutionären, dem Stuttgarter Buchhändler Franckh, dem Frankfurter Dr. Gärth, dem Hannoveraner Rauschenplat und andern. Er vertheidigte sich mit großer Festigkeit, leugnete Alles und bestritt die Rechtmäßigkeit des gegen ihn eröffneten Polizeiverfahrens, während dessen Dauer er zu Butzbach in einem Privathause unter Bürgerbewachung in Haft gehalten wurde. Auch diese Untersuchung hatte kein Ergebniß; ebensowenig eine dritte im folgenden Jahr. Da die Regierung ihm aber nicht mehr traute und seinen Einfluß in Butzbach zu brechen wünschte, so übertrug sie ihm im April 1834 die geringe Pfarrstelle zu Obergleen bei Alsfeld. Vergebens widerstrebte er; er erlangte nur die Zusage, daß das kleine Einkommen seines neuen Amtes seinem bisherigen, das etwa 600 Gulden betragen hatte, gleichgestellt werden solle. Auch in dem neuen Wirkungskreise machte ihn sein Eifer, sein menschenfreundliches Wesen und seine stete Hilfsbereitschaft bei eignen knappen Mitteln rasch beliebt bei Alt und Jung, obwohl er nach der ihn auszeichnenden Sittenstrenge der Habsucht und Völlerei der Bauern mit rücksichtsloser Schärfe entgegentrat. Es verdient hier bemerkt zu werden, daß W., der nach späteren Aussagen politischer Anhänger den Meineid gegenüber einer ihre Gewalt mißbrauchenden Obrigkeit bei drohender Verfolgung als Nothwehr für erlaubt erklärte, im Privatleben für die Heiligkeit des Eides das feinste Gefühl besaß. Eine Bäuerin zu Obergleen, die er über die Bedeutung des Eides zu belehren hatte, war bereit, eine Schuld gegen einen Juden abzuschwören; W. zweifelte, ob sie es mit gutem Gewissen thun könne, und zog vor, den Gläubiger aus seiner Tasche zu befriedigen, damit der Eid vermieden würde. Die erlittenen Untersuchungen machten W. in seinen Bestrebungen nicht irre, ihre Ergebnißlosigkeit scheint eher seine Verwegenheit erhöht zu haben, und seine Versetzung nach dem abgelegenen Obergleen zerriß bei seiner unermüdlichen Beweglichkeit die alten Verbindungen nicht, sie eröffnete ihm sogar neue in den benachbarten Städten Alsfeld und Lauterbach. Nach glaubwürdigen späteren Aussagen hat er von dem Frankfurter Wachensturm (3. April 1833) abgerathen, sich auch geweigert, einen gleichzeitigen Aufstand zu Butzbach ins Werk zu setzen. Er hielt die Zeit für noch nicht gekommen; Bearbeitung der Masse des Volks, namentlich der Bauern, durch Flugschriften, meinte er, müsse vorausgehn. Eine Zusammenkunft mit Marburger und Gießener Gesinnungsgenossen am 3. Juli 1834 auf der Badenburg bei Gießen, wo W. über eine zur Anknüpfung weiterer politischer Verbindungen unternommene Reise nach Frankfurt, Darmstadt, Wiesbaden, Mainz und Mannheim Bericht erstattete, sollte diese geheime Preßthätigkeit fester begründen. Es erschienen theils vor, theils nach dieser Versammlung der „Leuchter und Beleuchter für Hessen oder der Hessen Nothwehr“ in fünf Nummern, „Der hessische Landbote“ in zwei Auflagen und kleinere Druckschriften. Den Text für den Landboten hatte ursprünglich der radicale Georg Büchner geliefert, W. aber dessen Manuscript umgearbeitet und mit Bibelstellen ausgestattet. Ein Ton leidenschaftlichen Hasses geht durch diese Blätter. Gott werde dem Volke Kraft geben, heißt es im Landboten, die Füße seiner Tyrannen zu zerschmeißen, sobald es sich bekehre und die Wahrheit erkenne, „daß die Obrigkeit, die Gewalt, aber kein Recht über ein Volk hat, nur also von Gott ist, wie der Teufel auch von Gott ist, und daß der Gehorsam gegen eine solche Teufelsobrigkeit nur solange gilt, bis ihre Teufelsgewalt gebrochen werden kann; daß der Gott, der ein Volk durch Eine Sprache zu Einem Leibe vereinigte, die Gewaltigen, die es zerfleischen und viertheilen oder gar in 30 Stücke zerreißen, als Volksmörder und Tyrannen hier zeitlich und dort ewiglich strafen wird.“ Und in der zweiten [452] Auflage des Landboten wird nach Schilderung der bedrückten Lage des hessischen Bauernstandes gesagt: „Das Alles duldet ihr, weil euch Schurken sagen, diese Regierung sei von Gott. Diese Regierung ist nicht von Gott, sondern vom Vater der Lügen. Diese deutschen Fürsten sind keine rechtmäßige Obrigkeit; den deutschen Kaiser, der vormals vom Volke frei gewählt wurde, haben sie seit Jahrhunderten verachtet und endlich gar verrathen. Aus Verrath und Meineid, und nicht aus der Wahl des Volkes ist die Gewalt der deutschen Fürsten hervorgegangen, und darum ist ihr Wesen und Thun von Gott verflucht; ihre Weisheit ist Trug, ihre Gerechtigkeit ist Schinderei. Sie zertreten das Land und zerschlagen die Person des Elenden“. – Am 1. August 1834 wurde auf Anzeige eines Butzbacher Eingeweihten, Kuhl, der Student Minnigerode verhaftet, als er zahlreiche Exemplare des Landboten in Gießen einschmuggeln wollte. Andere Verhaftungen folgten. Trotzdem wurde die Verbreitung der Flugschriften fortgesetzt, auch Anschläge zur Befreiung der Gefangenen gemacht. Tieferen Einblick in dieses Treiben erlangte das Gericht erst, als am 21. April 1835 der stark betheiligte Gießener Student Gustav Clemm ein umfassendes Geständniß ablegte. Schon in der ersten Morgenfrühe des folgenden Tages wurde W., die Seele des Ganzen, zu Obergleen in Haft genommen, zunächst ins Gefängniß nach Friedberg, zwei Monate später aber mit den übrigen politischen Gefangenen in das Darmstädter Arresthaus verbracht, das er lebend nicht verlassen sollte. Die Untersuchung wurde dem Hofgerichtsrath Georgi übertragen. Mit diesem war W. schon früher in Streit gerathen, er erblickte in ihm einen persönlichen Feind und reichte sofort ein Ablehnungsgesuch wegen Befangenheit gegen ihn ein. Damals wie später ohne Erfolg. Georgi, eine von W. grundverschiedene Natur, brauchte die weitgehenden Machtmittel, welche das bestehende Recht ihm an die Hand gab, mit brutaler Härte, doch ist nicht bekannt, daß er seine Befugnisse überschritten hätte. Aus einem Anfall von Säuferwahnsinn, den er am 30. Januar 1837 hatte, sind bedeutsame Schlüsse auf die von ihm geleitete Untersuchung gezogen worden; in den Protocollen erscheint sein geistiger Zustand normal. Bei den Verhören leugnete W. hartnäckig und mit großer Gewandtheit jede Verschuldung; er gab nichts bestimmt zu, wenn er sich nicht aus den gemachten Vorhalten, die er möglichst herauszulocken suchte, überzeugt hatte, daß der Untersuchungsrichter sichere Beweismittel besitze, und auch dann wußte er den Dingen geschickt eine harmlose Wendung zu geben. Es macht einen peinlichen Eindruck, diesen hochbegabten, leidenschaftlichen Mann mit allen Mitteln der Ausrede und Verstellung einen aussichtslosen Kampf um seine Existenz führen zu sehen. Die Folgen seines Verhaltens waren scharfe Disciplinarstrafen wegen Lügen und ungebührlichen Benehmens, bestehend in Kettentragen, Sprengertragen, Anschließung an die Zellenwand. Auch an Bedrohung mit Prügeln fehlte es nicht, und es lag nur an dem Einspruch der Aerzte und an dem Widerstand des über die Anwendung dieser Strafe entscheidenden Hofgerichts zu Gießen, wenn solche Drohungen nicht zur That wurden. W. litt in der Haft zeitweilig an Sinnestäuschungen, er hörte Rufe seiner Angehörigen, sah Särge gefüllt mit gefälschten Verhörprotocollen und glaubte, daß seine heimliche Hinrichtung bevorstehe. Der Untersuchungsrichter erklärte das Alles für Verstellung. Erst im August 1836 ließ W. sich zu einigen Zugeständnissen herbei, die jedoch im Grund nicht erheblich waren. Noch zur Zeit seines Todes war seine Ueberführung nicht so weit gediehen, daß nach dem Maßstab eines strengen Beweisverfahrens seine Verurtheilung hätte erfolgen können. Nach seinem Ableben erst kam es zu eingehenden Geständnissen seiner Gesinnungsgenossen, die über seine Wirksamkeit mehr Licht verbreiteten. Während der letzten Monate vor seinem Tode waren in der Hauptsache keine Verhöre mehr mit ihm angestellt worden, [453] weil man erst anderweitig neuen Stoff zu seiner Ueberführung sammeln wollte. Er mochte in seinem Kerker noch mehr wie früher das Gefühl haben, ein lebendig Begrabener zu sein, wie er sich oft genannt hat. Gesuche um vorläufige Entlassung aus der Haft waren wiederholt abgeschlagen worden, zuletzt vom obersten Gerichtshof, wovon ihm am 28. Januar 1837 Kenntnis; gegeben wurde. Kein Zweifel, daß diese Nachricht ihn tief niedergebeugt hat. Als der Gefangenwärter ihm am 23. Februar Morgens 7½ Uhr das Frühstück bringen wollte, fand er die Zelle voll Blutspuren und W. selbst auf dem Bette ausgestreckt mit gefalteten Händen in seinem Blute liegend, Wasserflasche und Waschschüssel in Scherben am Boden. Der erschrockene Mann schloß sofort wieder ab und lief, ohne sonst Jemand ein Wort zu sagen, zu Georgi, den er nicht zu Hause traf. Um 8 Uhr erschien Georgi, besichtigte den Thatbestand, ließ darauf die Zelle wieder verschließen und sandte nach den Aerzten. Bis diese zur Stelle waren, war es 10 Uhr geworden und W. am Verscheiden. Er hatte sich mit einer Scherbe seiner Wasserflasche die Adern an Armen und Füßen, geöffnet und die Luftröhre oberhalb des Kehlkopfes bis auf den hinteren Theil des Schlundes durchschnitten. An die Wand hatte er mit Blut geschrieben: „Da mir der Feind jede Vertheidigung versagt, so wähle ich einen schimpflichen Tod von freien Stücken“. Es wurde festgestellt, daß die gefährlichste der Wunden, die W. sich beigebracht hatte, der Schnitt in den Hals, erst nach der früheren Besichtigung durch Georgi die von den Aerzten vorgefundene Größe und Tiefe erlangt haben konnte. Das wäre zu verhindern gewesen, wenn man dem Verwundeten nach dem Gebot der Menschlichkeit sofort einen Wärter beigegeben hätte. Aber man nahm ihm nicht einmal das Werkzeug seiner That, die Glasscherbe. Bei der Untersuchung der Leiche fanden sich auf der äußeren Seite des rechten Oberschenkels kleine, bereits verheilte, oberflächliche, in der Tiefe aber mit Sugillation verbundene Wunden, von welchen die Aerzte angaben, daß sie sich als Folge von Farrenschwanzhieben vollkommen erklären ließen, während eine andere Möglichkeit ihrer Entstehung nicht ermittelt werden könne. Der Untersuchungsrichter hatte allerdings kurz vor Weidig’s Tod seinen Antrag auf körperliche Züchtigung erneuert, das Hofgericht aber darauf noch keine Verfügung erlassen. Auch ohne daß man das Aeußerste annimmt, bleibt genug des Jammers.

Was W. wollte, war ein einiges Deutschland, sei es in Gestalt einer Republik oder eines Kaiserthums mit parlamentarischen Formen und freier Presse. Die Mittel, durch die er zum Ziel zu gelangen suchte, waren die eines Verschwörers, der dem Umsturz die Wege bereitet. Eine ideal angelegte Natur, fühlte er sich abgestoßen von der Wirklichkeit, und die Jahre steigerten seine Abneigung zu grimmigem Haße gegen die bestehenden Verhältnisse. Eine Frucht hat das Blut des unglücklichen Mannes gezeitigt: zur Abschaffung des geheimen Strafverfahrens in Deutschland hat nichts so viel beigetragen, wie der Tod Weidig’s.

Der Tod des Pfarrers Dr. F. L. Weidig. Ein actenmäßiger und urkundlich belegter Beitrag zur Beurtheilung des geheimen Strafprocesses und der politischen Zustände Deutschlands. Zürich und Winterthur 1843. – F. Noellner, Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer Dr. F. L. Weidig. Darmstadt 1844.– Weitere Literatur bei Scriba, Lexikon der Schriftsteller des Großherzogthums Hessen II, 773.


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