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ADB:Wintzer, Albert

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Artikel „Wintzer, Albert“ von Paul Mitzschke in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 105–107, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wintzer,_Albert&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 13:04 Uhr UTC)
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Wintzer: Karl Albert Leopold Benedikt W., evangelischer Theolog und Schulmann, geboren in Tannroda a. d. Ilm am 16. September 1812, † in Weimar am 14. October 1890. Väterlicherseits einer altangesessenen Grundbesitzersfamilie entsprossen und mütterlicherseits zu den Nachkommen Lukas Cranach’s sowohl wie Benedikt Carpzov’s gehörend, vereinigte W. die körperliche Tüchtigkeit und die geistige Veranlagung seiner Vorfahren in sich. Die Anfangsgründe der alten Sprachen erlernte er durch Privatunterricht und besuchte darauf 1828–1834 das Gymnasium zu Weimar. Während seiner dortigen Schülerzeit, in der er auch mit Goethe persönlich bekannt wurde, betrieb er in den Freistunden eifrig das Turnen und gewann einen Kreis von Kameraden, mit denen er im Nachbardorfe Grunstedt heimlich gymnastischen Uebungen oblag. Die Entdeckung dieser damals hochverpönten Thätigkeit trug ihm einen strengen behördlichen Verweis ein, wohingegen seine offene Schwärmerei für die flüchtigen Polen 1831 unbeanstandet blieb. Von 1834 an widmete sich W. in Jena dem Studium der Philosophie (zeitweilig Famulus von Fries), Geschichte und Theologie. Seine treffliche Singstimme (Tenor), die ihm bis zum 70. Lebensjahr erhalten blieb, veranlaßte ihn auch, einen akademischen Gesangverein in Jena zu stiften. Nach Ablegung der theologischen Candidatenprüfung 1837 in Weimar kehrte er wieder zur Universität zurück und studirte noch allgemein bildende Fächer, wie Litteratur, Nationalökonomie, Musik.

Auf Einladung eines Freundes Namens Lossius, der in London an der Privatschule von Green Lehrer war und heimzukehren wünschte, begab sich W. 1838 als Lossius’ Nachfolger nach London, das ihm zur zweiten Heimath werden sollte. Von dort aus unternahm er 1839 und später noch einmal Studienreisen nach Paris. An der Green’schen Anstalt lehrte W. Deutsch, Lateinisch, Griechisch, Geschichte, Gesang und erwarb sich in wenigen Jahren solche Gewandtheit im Gebrauch der englischen Sprache und solches Ansehen, daß er von 1841 an als Lehrer der deutschen Sprache an verschiedenen öffentlichen Schulen Londons angestellt wurde. Im J. 1842 zog ihn der Professor des Deutschen, Bernays, für längere Zeit als Gehülfen an die Londoner Hochschule King’s College. Daneben widmete sich W. unter den Londoner Deutschen auch den Werken der inneren Mission – der preußische Gesandte Freiherr v. Bunsen wollte ihn ganz dafür gewinnen – und leitete namentlich von 1846 an jahrelang einen von ihm gegründeten deutschen Gesang- und Handwerker-Jünglingsverein, wobei ihn die preußische Regierung materiell unterstützte. Ferner unterrichtete W. seit 1845 an der Stockwell Grammar School und seit 1848 auch an Mary-le-bone Literary and Scientific Institution. Das Collegium Hebraicum (für getaufte Juden) gewann ihn 1849 für den lateinischen und griechischen Unterricht, das weitbekannte Eton College [106] im gleichen Jahre als Examinator bei den Bewerbungen um die vom Prinz-Gemahl Albert ausgesetzten Preise.

Diese vielseitige Thätigkeit fand ihr Ende, als W. im März 1851 vom Senat zum Professor der deutschen Sprache und Litteratur (German Master) an King’s College berufen ward und damit im Lehrkörper dieser Anstalt eine feste Stellung erhielt. Auf einer Reise, die er im Sommer 1851 nach der Thüringer Heimath unternahm, erwarb er sich in Jena die philosophische Doctorwürde; seine Dissertation handelt „De שְׁאוֹל‎ sive ᾅδης. Die angestrengte Arbeit des neuen Amtes an King’s College nöthigte ihn, die frühere private Unterrichtsthätigkeit größtentheils aufzugeben; dafür wurden ihm nach und nach an verschiedenen staatlichen Lehranstalten wie Wellington College, University College, Royal College of Preceptors, Royal Naval School u. a. m. die commissarischen Obliegenheiten eines German Examiner übertragen. Auch veranstaltete er, nachdem durch den Prinz-Gemahl Albert zum ersten Mal Verständniß und Interesse für deutsches Wesen in England geweckt worden war, wiederholt Vortragscurse über deutsche Sprache und Litteratur in den Kreisen der höchsten Aristokratie Londons, in denen er sich ebenso wie bei den Führern der deutschen Colonie des größten Ansehens und ungetheilter Verehrung erfreute. Vom Jahre 1858 an bis zum Tode des Prinz-Gemahls Albert (1861) verwaltete W., der mit tiefer Religiosität mildeste Duldsamkeit verband, auch das Amt eines Hofcaplans an der deutschen St. James Capelle in London. Viele Jahre lang war er ferner litterarisch thätig durch Mitarbeiterschaft an englischen Zeitschriften und sah sich auch durch das Fehlen eines brauchbaren englischen Lehrbuchs für die deutsche Sprache 1856 zur Herausgabe eines „First German Book for Beginners“ (2. Auflage 1860) veranlaßt.

War W. durch seine Ernennung zum deutschen Professor an King’s College das Haupt der gesammten deutschen Lehrerschaft Englands geworden, so benutzte er diese leitende Stellung gern und eifrig zur Förderung seiner Landsleute, insbesondere der deutschen Lehrer und Geistesarbeiter, und wuchs sich allmählich zu einer starken Stütze des Deutschthums in London aus, ohne dabei seine vornehme Bescheidenheit zu verleugnen. Deutsche Studenten, Gelehrte, Lehrer, Lehrerinnen und Kaufleute suchten ihn fleißig auf und fanden in ihm einen erfahrenen, einflußreichen und stets bereiten Helfer und Rathgeber. Er war ferner häufig seelsorgerisch am deutschen Hospital thätig wie überhaupt ein treuer Beistand aller hülfsbedürftigen Deutschen. Seine englischen Collegen, an King’s College bezeichneten ihn oftmals als trefflichen Engländer und versuchten, ihn, der mit englischen Berühmtheiten wie Kingsley, Benson u. A. verkehrte, zur Aufgabe des Deutschthums zu bewegen; aber mit aller Entschiedenheit und doch in der ihm eigenen fein-satirischen Art wies er solche Aufforderungen stets zurück und blieb ein echter Deutscher. Wenn jetzt die deutsche Geistesarbeit in England höher und gerechter bewerthet wird als früher, und die deutschen Lehrer dort besser gestellt und geachtet sind, so ist dieser Wandel zum nicht geringen Theil auf Wintzer’s Pionierarbeit zurückzuführen, die von seinen Nachfolgern wirksam fortgesetzt wurde.

Aus der Fülle seines frischen und segensreichen Schaffens sah sich W. plötzlich durch Gesundheitsrücksichten herausgerissen. Das Uebermaß der Arbeit und das unfreundliche Klima hatten ihm ein Bronchialleiden eingetragen, und der Hausarzt forderte nicht bloß Aufgeben des Berufs, sondern auch Verlassen des ungünstigen London. So mußte W. mit schwerem Herzen 1868 vom Amte zurücktreten und 1869 dem Schauplatz seiner langjährigen Thätigkeit Lebewohl sagen. Er wandte sich mit seinen drei Töchtern – die Gattin, [107] eine geborene Leipzigerin, war ihm nach wenigen Jahren glücklicher Ehe durch den Tod geraubt worden – in die Heimath zurück und nahm seinen Wohnsitz in Weimar, um sich hinfort der Erziehung seiner Töchter, privaten Studien und einigen Werken der inneren Mission zu widmen. Die gewünschte und seinen Sprachorganen nöthige Ruhe blieb ihm zunächst noch versagt, denn er mußte sich auf vielfältiges Drängen dazu verstehen, an der Realschule zu Weimar von Anfang 1870 bis Ostern 1871 den deutschen Unterricht in den untersten Classen und im Jahre 1872 stellvertretungsweise auch französischen Unterricht zu ertheilen. Beim Festactus zum Geburtstag (24. Juni) des Großherzogs Karl Alexander hielt er dort 1870 eine Rede über „Das Volksschulwesen Englands bis auf den bezüglichen neuesten ministeriellen Vorschlag“. Auf ganz besonderen Wunsch der Großherzogin Sophie ließ W. sich ferner bewegen, von 1871 an auch den englischen Unterricht in den obersten Classen der höheren Töchterschule „Sophienstift“ zu übernehmen, – wie er vorerst glaubte, nur vorübergehend, aber man wußte die erfahrene und gewiegte Lehrkraft immer aufs neue festzuhalten. Nur gelegentlich wirkte er fortab noch in der Sonntagsschule zu Weimar oder ertheilte unentgeltlichen Privatunterricht an strebsame Unbemittelte und genoß im übrigen unter der treuen Pflege seiner jüngsten Tochter in stets glücklicher Heiterkeit ein otium cum dignitate bis zu seinem am 14. October 1890 erfolgten Ableben.

Familienpapiere. – Decanatsacten der philosophischen Facultät zu Jena (August 1851 bis Februar 1852). – W. Bode, Der letzte Bekannte Goethes, in der Zeitung „Deutschland“ (Weimar), Nr. 127 vom 7. Mai 1905. – C. J. Freiherr v. Bunsen, geschildert von seiner Wittwe. Deutsche Ausgabe von Nippold, Bd. II, S. 351, 356. – King’s College Callendar 1851–1868. – Programm der Realschule zu Weimar IX (1870), S. 23, 32, 33; X (1871), S. 19 f., 27, 28; XI (1873), S. 26. – Wernekke in der Beilage zum Jahresbericht 1906, S. 6 und 15. – B. Ritter, Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Sophienstiftes (Weimar 1904), S. 44, Nr. 29. – J. Dilthey, Bericht zum 25. Jahresfeste des Kinder-Gottesdienstes in der Hofkirche zu Weimar. Weimar 1901, S. 7, 13. – Weimarische Zeitung, Nr. 245 vom 18. October 1890.