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Allerlei Nahrung. II. Die Auster

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Textdaten
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Autor: Carl Vogt
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Titel: Allerlei Nahrung. II. Die Auster
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aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 364, 366
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Allerlei Nahrung.

Gastronomisch-naturwissenschaftliche Plaudereien. Von Carl Vogt.
II.0 Die Auster.

Ein unscheinbares, vollkommen unbewaffnetes und doch in allen Kämpfen so streitbares und sieghaftes Wesen! Ruhig und gemessen seit Jahrtausenden vorwärts dringend, erobert die Auster nach und nach die ganze Welt und pflanzt überall ihre Fahne auf, ohne befürchten zu müssen, daß man ihren Kolonialbesitz im Innern der Kontinente ihr streitig zu machen versuchte. Die Auster wurde, wenigstens im Norden, schon gesucht, gefischt, geehrt und verzehrt, bevor man das Metall kannte — die Haufen ihrer Schalen bilden in der alten wie in der neuen Welt den größten Theil jener Küchenabfälle, durch deren Untersuchung besonders dänische und nordamerikanische Gelehrte sich verdient gemacht haben. Unsere ältesten Kulturlehrer, die Römer, wie liebten sie die Auster! Welche Sorgfalt ließen sie ihr angedeihen! Mit welchem Eifer studirten sie ihre Fortpflanzung, ihre Züchtung! Ich weiß nicht, ob in den neuerdings so beliebten Kulturromanen aus der Kaiserzeit nicht vielleicht ein Frühstück in Bajae beschrieben wird. Die Auster spielte gewiß in diesem Badeorte, der Baden-Baden und Ostende in sich vereinigte, eine wesentliche Rolle, und der Kellner des Restaurants „Apicius“ stellte gewiß dem zur Frühstückszeit Eintretenden auf Lateinisch dieselbe Frage, welche mir fast zwei Jahrtausende später der Besitzer von Wilken’s Keller in Hamburg stellte: „Ein Dutzend Natives, Herr Ständerath? Ausgezeichnet schön heute und ganz frisch!“ (Der Mann war ein Graubündner und hielt darauf, sein schweizerisches Patriotengefühl durch den schweizerischen Titel, den er mir gab, zu bethätigen.)

Wenn Stephan die neue Aera der Post in das Leben gerufen hat, so hat die Auster sie eingeleitet. Die Auster, die um jeden Preis frisch und lebend an den Ort ihrer Bestimmung gelangen muß, hat zu steter Beschleunigung der Kommunikationen den Anstoß gegeben. Die Römer schon transportirten sie auf wenigstens tausend Kilometer Entfernung. Man hat Haufen von Austerschalen, die nur aus dem Mittelmeere stammen können, in der Nähe römischer Villen am Rheine und in dem Jura gefunden. Ich sage wohlbedacht: Austern aus dem Mittelmeere, denn die kleine, tiefe Löffelauster, die man an allen italienischen Küsten verspeist, läßt sich auf den ersten Blick von der flachen Nordsee-Auster unterscheiden. Später lernten die Römer freilich auch die englischen Austern, unsere Natives, schätzen und sogar mit Recht den Mittelmeer-Austern vorziehen.

Es giebt Austern und Austern, und wie es Feinschmecker giebt, welche die verschiedenen Rheinweine nach Ort und selbst nach Jahrgang zu unterscheiden wissen, so giebt es geübte Zungen oder vielmehr Gaumen, welche beim Durchschlüpfen des Austernleibes in den Schlund zu unterscheiden wissen, ob die Auster in Holstein oder Ostende, an der englischen oder französischen Küste vom Grunde gekratzt oder, um es richtiger zu sagen, gezüchtet und gemästet wurde.

Alles, was lebt, nährt sich und Alles, was sich ernährt, kann gemästet werden, lautet der Ausspruch eines Weisen. Er bewährt sich bei der Auster. Der Schwerpunkt des Austernhandels im Großen liegt in der Mästung, welche die Auster nicht nur fett macht, sondern ihr auch einen besonderen specifischen Geschmack ertheilt.

Fischerei, Züchtung, Mästung und Vertrieb der Austern sind aber keine unbedeutenden Geschäfte. Wenn man bedenkt, daß Paris allein in den Monaten des Jahres, welche ein R in ihrem Namen haben (September bis April), nahezu an hundert Millionen Stück Austern, London etwa das Doppelte verzehrt, so wird man sich einen Begriff von dem Umsatze an Arbeit und Geld machen können, der zur Befriedigung des Austernmarktes nöthig ist. Dabei muß man aber noch wohl ins Auge fassen, daß der Großhandel mit Austern sich nur von den Küsten der Nordsee und des Oceans auf europäischer wie amerikanischer Seite sein Material holt und auch hier nur in beschränkter Ausdehnung, zwischen dem fünfundsechzigsten Grade nördlicher Breite bis zum Meerbusen von Biskaja und an der amerikanischen Küste von Kanada bis Virginien. Polarmeer und Ostsee haben keine Austern, und das Mittelmeer, die Wiege der Austernzucht, treibt heutzutage nur lokalen Kleinhandel, ohne Bedeutung für die größere Bewegung.

Das hängt mit mancherlei Umständen zusammen. Die Auster ist eine reine Küstenbewohnerin, die nicht über zwanzig Faden Tiefe hinabgeht, also auf einen sehr schmalen Saum am Meere beschränkt ist. Sie muß sich, um leben zu können, mit der einen, tieferen Schale an den Boden ankitten, der mithin eine gewisse Festigkeit zeigen muß; loser Sand giebt ihr keinen Haltpunkt, feiner Schlamm und Schlick erstickt sie, indem er ihre Kiemen unwegsam und damit die Athmung unmöglich macht. So bleiben denn nur Felsen und festere Gründe zur Anhaftung übrig. Die aus den Eiern geschlüpften Larven schwimmen mittelst Wimpersegeln eine Zeitlang umher, um diese Anheftungsgründe aufzusuchen — Millionen gehen dabei zu Grunde. Was thut’s? Eine einzige ausgewachsene Auster producirt alljährlich in den Sommermonaten über eine Million Eier. Aber auf den Felsen bleiben die Austern vereinzelt und bilden keine großen Gesellschaften, keine Bänke, die allein lohnend mit dem Schleppnetze ausgebeutet werden können. Freilich ist eine Felsenauster ein Hochgenuß für den Fischer oder Forscher, der sie zufällig findet, aber sie ist kein Handelsgegenstand. In dem deutschen Wattenmeere auf der Westküste der jütischen Halbinsel finden sich Austern nur in den tieferen Rinnsalen, wo die Strömungen von Ebbe und Fluth den feinen Schlick weggefegt und den harten, aus Sand und Thon zusammengekneteten Boden frei gelegt haben, und ganz so verhält es sich an den übrigen europäischen und nordamerikanischen Küsten.

Man klagt über Verödung der Austernbänke und hat vielfache Versuche gemacht, dies werthvolle Muschelthier künstlich zu züchten. Verstehen wir uns recht: Wenn Züchten so viel heißt als Auferziehung vom Ei bis zur Marktfähigkeit, so sind alle diese Versuche mißglückt; wenn das Wort aber nur so viel bedeuten soll, daß man angeheftete Austernbrut weiter pflegen, ernähren und mästen kann, so sind die Versuche gelungen, sobald geeignete Stellen und geeignete Leute vorhanden waren. Die sogenannten Austernparks von Arcachon, Morbihan, Cancale, Marennes, Ostende, Whitstable u. s. w. sind sprechende Beweise dafür, daß an geeigneten Stellen die Austernpflege und –mast sich [366] mit Vortheil betreiben läßt. Tausende von Menschen leben von dieser Vermittlungsarbeit zwischen dem Fischer einerseits und dem Händler oder Konsumenten andrerseits.

Ich sagte oben, der Austernhandel beschäftige sich wesentlich nur mit gemästeten Austern. Die Mästung erfolgt aber erfahrungsgemäß nur an solchen Stellen, wo reichlicher Nahrungsstoff, sei es durch Süßwasser, sei es auf andere Weise, zugeführt wird. Der Nährstoff besteht aus mikroskopischen Pflänzchen und Thierchen, aus modernder organischer Substanz. Die Auster verlangt einen gewissen Salzgehalt des Wassers; sie gedeiht nicht in der Ostsee, die weniger als 17 pro Mille Salz enthält, und wächst zu bedeutender Größe in sehr salzhaltigen Gewässern, besonders wenn diese viel Kalk enthalten, wie das Mittelmeer, wo die Pferde-Auster Tellergröße erlangt. Aber solche Austern sucht der Verzehrer nicht, denn sie sind derb, mager und selbst herb; er verlangt vielleicht weniger gesunde, aber zarte und fette Austern, zu deren Erzeugung ein zu bedeutender Salzgehalt des Wassers nicht nützlich zu sein scheint. Ein fetter Mastochse wird, obgleich wirklich krank, doch dem gesunden, aber mageren Stiere vorgezogen, sobald es sich um das Fleisch handelt.

Die Klage über Verödung der Austernbänke ist nur eine relative. Ganz gewiß werden viele Bänke erschöpft und müssen verlassen werden; aber dafür findet man neue Bänke und die Zahl der Austern, welche zu Markt gebracht wird, steigt von Jahr zu Jahr. Freilich werden die Austern theurer — vor vierzig Jahren frühstückte ich in Saint Malo mit einem Hundert Austern, weil ich sparen mußte und nichts Wohlfeileres zu finden war — heute würde ich eine solche Ausgabe nicht wagen. Aber die Nachfrage regiert den Preis, und heute verlangt man Austern an Orten und in Schichten der Gesellschaft, wo früher ihre Existenz überhaupt unbekannt war. Im Jahre 1830 gab der damalige Großherzog von Hessen bei einer Rundreise durch das Land in Gießen ein Essen, wobei Austern servirt wurden. Mein Vater, der damals Rektor der Universität war, nahm Abends aus der Tasche ein Papier, in welches einige Austern eingewickelt waren. „Da seht, Kinder," sagte er, „was für Zeug die großen Herren essen." Die Dinger sahen allerdings nicht appetitlich aus.

Einige schwerwiegende gastronomische Probleme knüpfen sich an die Auster. Die Frage, ob sie frisch, roh, lebend, gekocht oder mariniert verspeist werden soll, kann wohl nicht ernsthaft besprochen werden. In einigen Saucen und Kombinationen, wie z. B. Fischsaucen oder Sauerkraut mit Austern, kann sie zwar eine gewisse, aber doch immer nur untergeordnete Rolle spielen; sonst kann sie nur frisch und lebend verspeist werden. Eine todte Auster (das Schrecklichste, was man in den Mund bekommen kann) öffnet die Schalen, ist also immerhin leicht zu erkennen; wird sie geöffnet angeboten, so bildet bei einigem Zweifel das Beträufeln des Bartes mit etwas Citronensaft das beste Erkennungsmittel, da bei der lebenden Auster der Bart sich lebhaft runzelt und zusammenzieht.

Wie soll die Auster geöffnet und servirt werden? Eine Frage, welche ganze Völker scheidet. Die alten Steinmenschen, auch noch die Römer, öffneten die Austern durch Hitze; sie legten sie auf eine heiße Platte von Stein oder Metall. Jedenfalls wird durch diese allerdings bequeme Methode der Geschmack der Auster beeinträchtigt und diese gewissermaßen angekocht. Wir müssen um so mehr die römischen Gastronomen bewundern, die nach dem Zeugnisse der Dichter trotzdem die Herkunft der Auster aus dem Geschmacke erriethen. Wir öffnen sie mechanisch, indem wir das Schloßband und innen den Schließmuskel durchschneiden und die eine Schale entfernen, um die Auster auf der anderen zu präsentiren. Ja, aber auf welcher? In England schneidet man den Muskel an beiden Schalenhälften ab und präsentirt die Auster, von der alles Wasser abgeflossen ist, auf der flachen Schale; in Frankreich dagegen entfernt man die flache Schale und behält den Austernleib in der tieferen, indem man möglichst viel Seewasser in dieser Schale läßt. Der Verzehrer muß mit dem Austernmesser erst den Muskel von seiner Anhaftung an der tieferen Schale durchschneiden, ehe er die Auster schlürfen kann. Zuweilen besorgt dies der Oeffner, aber immerhin wird die Auster in ihrem Wasser servirt.

Wer hat Recht, Engländer oder Franzosen? Die Entscheidung wird wohl dem individuellen Geschmacke und der Gewohnheit anheim fallen; ich gestehe offen, daß ich entschieden für die französische Weise eintrete. Eine Auster ohne Salzwasser scheint mir ein Gericht ohne Gewürz.

Soll man den Bart entfernen oder mitessen? Bart nennt man bekanntlich die Kiemen mit dem Mantel, die häufig eine grüne oder selbst schwarze Farbe haben. Entscheidung wohl je nach Umständen. Austern aus unreinem, schlammigem Wasser werden Sand und Schlamm in den Kiemen haben, man entfernt also den Bart. Aber Austern aus reinem Wasser enthalten nur dieses in den Kiemen, und wer die Salzwürze liebt, wird den Bart behalten.

Der echte Liebhaber wird die Auster verzehren, wie sie gewachsen ist. Grob gestoßener Pfeffer, Citronensaft und ähnliche Dinge läßt er bei Seite; sie fälschen den natürlichen Geschmack.

Diesen Geschmack giebt, wie schon gesagt, der Park, in welchem die Auster gemästet und bis zum Versand aufbewahrt wird; ihn zu erhalten, ist die Aufgabe des Versenders. Auf je größere Entfernung sie versendet werden sollen, desto sorgfältiger müssen die Anstalten getroffen werden, um die Muscheln zweckmäßig zu verpacken und mit möglichster Schnelligkeit an Ort und Stelle zu liefern. Die Malleposten, welche vor Einführung der Eisenbahnen die Austern und Fische von den westlichen Küsten Frankreichs nach Paris brachten, gingen schneller als diejenigen, mit welchen Personen befördert wurden. Man ging von der Ansicht aus, daß die Auster, ihrem zarten Geschmacke entsprechend, auch etwaigen Schädigungen gegenüber sehr zart sei und nur geringe Lebensfähigkeit besitze.

Das ist nun allerdings nicht der Fall — die Auster ist im Gegentheile recht hartlebig und dauert unter günstigen Verhältnissen sehr lange aus. Diesen Satz hat in neuster Zeit ein Amerikaner, Herr Verrill, durch ganz hübsche Beobachtungen erhärtet. Herr Verrill flanirt in einem abgelegenen Viertel New-Yorks umher und sieht an einem Trödlerladen einen alten, über und über mit angehefteten Austern bedeckten Stiefel hängen, den ein Fischer vor zwei Monaten aus dem Meere gezogen hat. Das wäre nun an und für sich nichts besonders Merkwürdiges gewesen, denn Austern setzen sich an alle untermeerischen Gegenstände fest, an Ziegel und Steine, Reisigbündel und Pfähle, warum nicht auch an Stiefel? Herr Verrill wundert sich aber, daß manche der Muscheln noch fest geschlossen waren — eine todte Auster öffnet sich sofort, weil der lebendige Schließmuskel nicht mehr dem durch seine Elasticität die Schalen öffnenden Schloßbande entgegen wirkt. Er untersucht genauer, die geschlossenen Austern leben noch! Nun findet er, daß alle an dem Stiefel hängenden Austern, welche irgend eine Beschädigung ihrer Schalen erlitten hatten, abgestorben waren, während die unverletzten, besonders diejenigen, welche mit dem Schloßrande nach oben hingen, ihre ganze Lebenskraft besaßen. Zwei Monate an freier Luft! Das giebt zu denken, und Herr Verrill denkt in der That, daß man Austern, welche man auf große Entfernungen verschicken und lange am Leben erhalten wolle, sorgfältig auslesen und die unverletzten so verpacken und versenden müsse, daß sie mit dem Schloßrande nach oben gestellt seien und die Luft frei in dem Behälter cirkuliren könnte. Bisher machte man mit den „bourriches", in denen man die Austern versendete, nicht viele Umstände. Man fütterte den weitmaschigen Korb mit etwas Tang aus, packte die Austern, gewöhnlich zwölf Dutzend, flach hinein, schnürte sie so fest als möglich zusammen und kümmerte sich wenig darum, wie die „bourriches" und also auch die Austern auf dem Transporte in dem Gepäckwagen lagen. Vielleicht führen Herrn Verrill’s Stiefelbeobachtungen zu rationelleren Versandmethoden, welche den Russen gestatten können, im Innern Asiens frische Austern mit den Engländern zu theilen.

Aber daran knüpft sich eine weitere Frage. Die Feinschmecker sind noch im Zweifel, ob eine z. B. von Cancale nach Paris gesandte Auster, die dort höchstens 24 Stunden nach dem Fange verspeist wird, also ganz „frisch“ ist, denselben Geschmack habe, wie unmittelbar bei der Herausnahme aus dem Park. Manche feine Zungen wollen einen Unterschied wahrnehmen. Die Frage könnte nur experimentell auf die Weise entschieden werden, daß eine Gesellschaft bewährter Zungen sich z. B. in Ostende niederließe und täglich vergleichsweise mit frischen Austern aus dem Parke solche kostete, die in einer „bourriche“ unterdessen gereist sind. Aber um dies zu ermöglichen, müßte ein Kongreß dorthin berufen werden, für Fischerei oder noch besser, von Diplomaten, welche von Alters her die feinsten Kenner waren.