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Antons Erben/I

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Textdaten
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Autor: W. Heimburg
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Titel: Antons Erben
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–14, S. 1–11, 38–48, 69–76, 101–108, 134–142, 166–175, 210–216, 248–254, 275–284, 304–312, 342–351, 368–375, 399–407, 439–442
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[1]

Antons Erben.

Roman von W. Heimburg.


Er ist vom Felde heimgekommen, wo ihm die Aprilsonne warm gemacht hat. Nun steht er in der Stube des Pächterhauses, in einer kahlen, kalten Stube und fröstelt.

„Verdammt ungemütlich!“ sagt er und betrachtet die nackten Wände, die kein einziges Bild aufweisen, das steiflehnige Sofa und die Stühle, die regelrecht an den Wänden umherstehen. Zwischen den Fenstern eine Kommode, darüber ein Spiegel, welcher demjenigen, der hineinschaut, einen Schrecken in die Knochen jagt, weil er mindestens denken muß, das er Krämpfe habe, so verzerrt sieht das Gesicht aus. An den Fenstern blaue Rouleaux, schreckliche kornblumenblaue Dinger, die das Auge förmlich beleidigen - sonst nichts.

Über die Thürschwelle poltert jetzt eine Magd, mit zurückgestreiften Aermeln, einer keineswegs sauberen Schürze, und deckt den Tisch: vier Teller mit blauem Rand, wie man sie auf den Jahrmärkten kauft, eine Terrine vom billigsten Porzellan mit einigen Schönheitsflecken und abgebrochenem Henkel sowie Messer und Gabeln von gewöhnlichster Art. Sie waltet ihres Amtes sehr geräuschvoll und sagt endlich: „Die Suppe is da – die Herrn kommen gleich!“

Bald darauf treten zwei junge Männer ein mit einem nicht gerade allzufreundlichen „Mahlzeit, Herr Mohrmann!“ Dann sitzen sie alle drei an ihren Plätzen und essen schweigend.

Herr Mohrmann, der neue Pächter von Wartau, ist ein großer breitschultriger Mann mit hübschem, ernstem Gesicht; auf der Stirn hat er ein paar vorzeitige Falten, denn er ist noch jung, eben dreiunddreißig Jahre. Die Falten erzählen von mancherlei Nöten und Sorgen, wie sie das Leben mit sich bringt für einen, der nicht mit einem silbernen Löffel im Munde geboren wurde. Er ist schweigend und sehr langsam, dabei steigt einen Augenblick jähe Röte in seine Schläfen, und als jetzt eine vierte Person erscheint, um sich am Tische niederzulassen, [2] Fräulein Helbig, die Wirtschafterin, sagt er kurz: „Das Fleisch ist hart.“

„Das liegt am Fleisch,“ ist die prompte Antwort der ältlichen, etwas spitznasigen Person; aber sie verstummt sofort vor dem Blick, den ihr der „Neue“ zugeworfen hat.

„Das liegt an Ihnen,“ betont er, „der Hammel war zart und jung.“

Sie wagt keine Antwort, aber sie ärgert sich, daß sie grünlich blaß wird. Es ist zum Tollwerden jetzt! Der vorige Pächter hatte nie gemäkelt, sie konnte kochen was sie wollte, der aß zur Not Schweinekartoffeln mit. Der Herr Baron drüben im Schlosse hätte auch etwas Besseres thun können, als diesem zugeknöpften Holsteiner die Pachtung zu geben! Sie fühlt, sie wird es hier nicht lange mehr machen: der schöne Schlendrian war dahin, auf immer!

Der Verwalter kaut ebenfalls mit langen Zähnen, und der Eleve, das verwöhnte Herrensöhnchen aus altmärkischer Adelsfamilie, bemerkt ganz ungeniert, wenn Hammelfleisch einmal zäh sei, sei es auch ordentlich zäh, und obenein müsse er gestehen, daß er es als Kochfleisch nicht goutiere.

Mohrmann wirft ihm einen halb mitleidigen, halb ironischen Blick zu, als wolle er sagen: „Wer weiß, was du noch einmal essen mußt, mein Söhnchen“, und befiehlt dann Butter und Käse.

Als auch dieses schweigend verzehrt ist, beginnt er ein kurzes Gespräch mit dem Verwalter über das Heu, das vom Nachbargute gekauft wurde. Auch eine Ausgabe, die ihm den Anfang recht erschwert hatte! Es war indes schlechterdings kein Hälmchen mehr vorhanden gewesen; der „Vorige“ hatte in größter Gemütlichkeit alles zu Gelde gemacht, was noch zu Geld zu machen war, und Mohrmann fand die Scheuer so kahl gefegt, daß der schönste Erntetanz drin zu halten gewesen wäre.

Mit einem „Gesegnete Mahlzeit!“ steht er auf und geht in sein Wohnzimmer. Hier sieht’s ein bißchen besser aus als in der Eßstube, aber nicht viel. Es liegt nach dem Garten, das heißt, nach dem herrschaftlichen Park zu. Wenigstens die Aussicht von seinen Fenstern ist nett. Der alte birkene Schreibsekretär seines Vaters steht so, daß er, wenn er davor sitzt und vom Papier aufblickt, einen großen Teil des wunderlichen Gartens überschauen kann. Echt Rokoko – – man sollte es gar nicht glauben, daß so etwas noch zu finden sei in der Nähe der großen Stadt! Buchhecken, zu wunderlichen Figuren verschnitten, Irrgänge aus Buchsbaum und bezopfte Sandsteingötter und -göttinnen, nicht immer allzu sittsam vom Künstler erschaffen. Einen Kenner würde es entzückt haben, Anton Mohrmann beachtete es kaum. Kunstgeschichte, Stil, Rokoko, Barock, Renaissance und wie das alles heißt, existierten augenblicklich nicht für ihn; die Zeiten, wo er vor jedem alten Gerümpel in Entzücken geriet, sind vorbei. Es erfreut ihn nur noch, daß er zwischen den beiden pyramidenförmig geschnittenen Taxusbäumen hindurch auf die Weizenbreite sehen kann, diese mächtige, im ersten Grün schimmernde Breite, die sich eine halbe Meile weit hinzieht bis an den Schloßgarten von Altwitz.

Ja, dies Altwitz! Herr Gott, ist das in Kultur! Probst ist ein tüchtiger Kerl, und die Frau, die versteht’s; wie hat diese kleine behende Person die Milchwirtschaft im Zug! – – Und was kann eine tüchtige Kraft daraus machen! Ja – hm – das Möbel, die Helbig dagegen, bei der setzt man nur zu –!

Er sitzt vor dem aufgeklappten Sekretär und sinnt. Dann geht er ein paarmal im Zimmer auf und ab; endlich setzt er sich wieder und beginnt zu schreiben:

„Lieber Karl!

Seitdem ich hier gelandet bin, und das ist dreiviertel Jahr her, hast Du immer nur eine Postkarte auf Deine ausführlichen Episteln erhalten und freundlichst entschuldigt, daß ich nie Zeit fand zu längerer Aussprache. Weiß Gott, mein Alter, es ist Wahrheit – ich habe höllisch wenig freie Augenblicke, wenn ich allerwege meinen Kram in Ordnung halten und vorwärts kommen will. Daß dies nicht leicht ist auf einer so großen Pachtung, das weißt Du als Laie wohl auch. Ich habe mir das Ding so schwer nicht gedacht! Nun gilt es, von früh bis abends auf den Beinen zu sein, wenn ich das kleine Kapital meiner alten Mutter, mein und meines Bruders späteres Erbteil, erhalten und richtig verzinsen will, das sie mir ohne Bedenken in die Hand gab, als es galt, die Kaution zu stellen.

Ich bin in eine gründlich verlotterte Wirtschaft eingesprungen, und Schweiß und Geld wird’s kosten, bevor ich daran denken kann, für mich etwas zu erübrigen. Ich will Dich aber damit nicht langweilen, alter Sohn – was versteht ein Menschenflicker, als welchen Du Dich ja nun glücklich in Gesellschaft Deiner Frau Doktor zu Dresden niedergelassen hast, von Landwirtschaft! Besuchen mußt Du mich aber mal, Karl, mit Deiner Frau und dem Jungen. Das Herz würde Dir aufgehen über die lachende Au hier, über den Schnee der Obstbäume, in den die Güter und Dörfer – ich übersehe deren acht, wenn ich aus der Bodenluke des Pachthauses schaue – gebettet sind. Freilich, so, wie’s jetzt bei mir ist, würdet Ihr Euch nicht behaglich fühlen; es ist in meinen vier Pfählen verdammt öde und ungemütlich –.

Ach, alter Freund, Du errätst, was mir fehlt? Ich stehe da wie weiland Doktor Luther vor dem Reichstag zu Worms – Gott helfe mir, ich kann nicht anders – – ich muß heiraten! Letzteres mein Zusatz. Ich sehe Deine erschreckten Augen, Alter: ‚Du willst doch nicht etwa – die?‘

Hab’ keine Angst, mein Bester, die Fränze Koch ist ein überwundener Standpunkt, ihre Koboldsnatur paßt nicht in meine biedere Bauernwirtschaft, so wenig wie ihre Feenhändchen zu den Rußtöpfen in der Leuteküche. Na, und schließlich – es war immerhin eine Studentenliebschaft, wie sie eine kleine Putzmacherin wohl mal hat – das heißt, so betrachtete sie die Angelegenheit in weniger poetischer als praktischer Auffassung. Was mich betrifft – na, Du hast ja die ganze Tollheit getreulich mit mir durchgemacht und hast gottlob verhindert, daß ich an dieser Herzkrankheit starb, guter alter vernünftiger Kerl Du! Ich hab’ damals gedacht, die Schöpfung gehe aus den Fugen, als sie mir lachend erklärte, mit meinem Fortgehen von Halle sei die Sache aus! Aber, wie gesagt, hinter mir ist sie versunken, diese Welt von damals, und vor mir liegt eine neue, und diese birgt viel in sich, das nach einer Gehilfin verlangt. Ach, Du, der Kuhstall, der Milchkeller, die Geflügelzucht – diese Dinge schreien förmlich nach Hilfe.

Und höre, Karl, ich glaube, ich weiß eine, eine Richtige; gestern abend bin ich mir klar darüber geworden. Sie ist die Schwägerin des hiesigen Pastors, lebt mit ihrer alten lahmen Mutter im Pfarrhause und versorgt alles dort, die kranke Pastorin mit fünf kleinen Kindern, den unpraktischen Gottesmann, die alte Mutter, Gesinde und Landwirtschaft – letztere gehört zu den Kompetenzen der Stelle – Obst- und Gemüsegarten, Küche und Keller. Ich habe sie des öfteren gesehen bei Besuchen, die ich ihren Geschwistern machte, und beim Erntefest im vorigen Herbst habe ich mal mit ihr getanzt. Ich bin auch zuweilen am Zaun des pfarrherrlichen Gartens stehen geblieben und habe sie beobachtet bei der Arbeit als Gärtnerin oder beim Aufhängen von Wäsche; sie ist flink wie ein Wiesel, und doch ruhig dabei. Mit einem Worte: ich könnte sie mir vorstellen fraulich waltend in meinem Hause, dieses kräftige, blühende Mädchen mit dem blonden Haar und den hellen Augen.

Am Ostersonntage gegen Abend sah ich sie im Garten stehen unter einem blütenbedeckten Kirschbaum. Die Augen sinnend in die Ferne gerichtet; um sie her spielten die Kinder, und Himmel und Erde wie in rotes Gold getaucht – es war ein schönes Bild.

Geld hat sie gar nicht, Karl. Schadet aber nichts, für unsereinen ist die Tüchtigkeit der Frau mehr wert als ein paar tausend Thaler, denn arbeiten müssen wir miteinander, wollen wir vorwärts, arbeiten ohne Rast, und ich hoffe, das Sprichwort:

Wer nichts erheiratet und nichts erbt
Gewiß als armes Luder sterbt!

soll an uns zu Schanden werden – –.

Ich spreche da immer von uns, als hätte ich sie schon. Es ist ein ungemütlich Ding, um ein Mädchen zu werben, ohne vorhergegangenes Scherwenzeln und Courmachen und dazu hätte ich gerade Zeit! – ohne feste Aussicht, daß man reüssieren wird. Ich will es aber doch wagen, sie hat mich nicht unfreundlich angeschaut.

Ihre Mutter ist die Witwe eines kleinen Beamten an der Leipziger Universität, und sie hat sicher eine gute Schule genossen: höhere Töchterbildnng brauchen wir nicht, kurz – ich wag’ es!

Leb’ wohl, lieber Alter, falle nicht um, wenn Du die Verlobungsanzeige bekommst von Christiane Nölling und Anton [3] Mohrmann. Und noch einmal, Hand aufs Herz, die Fränze ist ganz und gar überwunden. – Wenn die Christel mich aber nicht will? Wenn – sie ist vierundzwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt – ein anderer schon in ihrem Herzen sitzt? Hoffen wir das Beste! Und nach der Hochzeit kommt Ihr mit Eurem Jungen; kann hier frische Kuhmilch trinken, bis er am Platzen ist, reine, ungetaufte.

Denkst Du noch manchmal an Halle? Herzbruder, es war doch schön! Jetzt ist die klare sonnenbeschienene Wirklichkeit da, und auch sie ist schön, in meinem Beruf – für den Aktenmenschen hätte ich ja nie gepaßt.

In alter Freundschaft Dein
Anton.“


Anton – seine alte Mutter, die verwitwete Frau Bürgermeister aus der kleinen Stadt droben in Holstein, nennt ihn Anto, was sie hübscher und vornehmer findet – trägt den Brief selbst abends nach dem Essen in den dörflichen Briefkasten, und dabei muß er an dem Pfarrhause vorüber, das hinter der nicht allzu hohen Mauer inmitten des Gartens liegt. Es ist gegen acht Uhr; die blühenden Aepfelbäume leuchten intensiv weiß in der blauen Dämmerung des Aprilabends, und er bleibt stehen und schaut hinüber nach dem Hause, das schweigend und sabbathruhig daliegt. In des Pfarrers Studierstube ist Licht, der geistliche Herr arbeitet die Predigt für morgen aus. Vom Kirchturm beginnt eben das Abendläuten, und in dieses mischt sich jetzt der Gesang einer Frauenstimme, die aus dem Garten von den Spargelbeeten hinter den zartgrünen Stachelbeersträuchern herüberschallt.

„Das ist sie!“ sagt sich Anton Mohrmann. „Der alten Mutter wird das Singen wohl längst vergangen sein und der kranken Pastorsfrau auch.“ Aber er muß lachen über das, was sie singt; es ist ganz und gar nichts Stimmungs- und Weihevolles, nichts Melancholisches oder Liebessehnsüchtiges, sondern ein Schelmenliedel, für die Kinder berechnet:

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben,
Wo ist denn mein Schatz geblieben?
Er ist hier, er ist da,
Er ist in Amerika. –“

Das gefällt ihm nun wieder. Um Gotteswillen nur keine Sentimentalitäten!

„Acht und neun, und neun und zehn,
Bald werd’ ich ihn wiedersehn! –
Roter Wein, weißer Wein,
Sag’, wann soll die Hochzeit sein?“

Da packt den Dreiunddreißigjährigen der Uebermut seiner vergangenen Zwanzig, er duckt sich hinter die Mauer und schreit: „Pfingsten!“

Im Garten ist’s plötzlich still geworden, auch das Geläut verstummt jetzt. Er bleibt noch ein Weilchen in seiner gebückten Haltung, dann geht er dem Gutshofe zu, ein ungewohntes Lächeln um den Mund, macht noch einen Gang durch die Ställe, besucht den kranken Wallach, dem sein Nachbarpferd das Bein aufgeschlagen, und sieht nach, ob der Verband festsitzt.

Es ist fast dunkel jetzt. Auf dem Hofe, am Brunnen unter der Linde, waschen sich die Knechte den Tagesstaub ab; ein paar Mägde kreischen dazwischen, eine stimmt ein Lied an, das durch das Lachen der anderen übertönt wird. Und jenseit des schmiedeeisernen Gitters erhebt sich weiß und feierlich das stattliche Herrenhaus mit seinen geschlossenen Fensterladen und dem mächtigen Portal. Der alte Gärtner, der zugleich als Kastellan fungiert, kommt eben die Stufen der breiten Freitreppe herab; er hat die Fenster zugemacht in den Zimmern und Sälen, die tagsüber offen stehen; nun schlürft er hüstelnd mit dem Schlüsselbund und der Laterne seiner Wohnung zu, die drunten im Park, in der sogenannten Orangerie liegt.

Anton Mohrmann hat den Alten gegrüßt und ihm ein paar Worte zugerufen, dann ist er auch gegangen, um zu schlafen. Als er schon im ersten Schlummer liegt, schreckt ihn der Gedanke auf an das, was er morgen vorhat.

Wenn sie dich nun nicht will? fragt er sich zum hundertstenmal. Mein Gott, aber warum denn nicht? Er ist ein fleißiger ehrlicher Mensch, der sein Tag keinen bedenklichen Streich verübt, keinen Pfennig Schulden gehabt hat; seine alte Mutter sagte noch neulich: „Der Anto hat mir nie Kummer gemacht, mit ihm kann’s ein Mädchen getrost wagen.“

Trotzdem er sich diesen Trost einspricht, kann er nicht schlafen. Er kennt die Frauen wenig; außer der Fränze hat keine in sein Leben hineingespielt, und die hat ihm weidlich auf der Nase herumgetanzt, der kleine Satan. Es war ja auch nichts weiter gewesen, eine Studentenflamme; aber wenn er an sie denkt, urplötzlich, unversehens, dann quillt es ihm noch immer heiß zu Herzen, – nun, er braucht ja nicht an sie zu denken und an jene süße tolle Zeit, er braucht’s ja nicht. Kurz und gut, er ist so berechtigt, wie nur einer sein kann, hinzutreten vor das Mädchen und zu fragen: „Wollen Sie meine Frau werden?“

Am andern Morgen sitzt er in der Kirche, hört aber kein Wort von der Predigt, er denkt immer nur an das, was er dem Pastor nachher in dessen Stube als Freiersmann sagen will. Es ist doch höllisch ungemütlich, so was! Dabei starrt er von Zeit zu Zeit in das Gestühl hinüber, wo Christiane Nölling sitzt und seiner gar nicht achthat. Sie singt laut und andächtig „Wer nur den lieben Gott läßt walten –“; er kann ihre Stimme deutlich heraushören.

Nach dem Segen erhebt sie sich eilig und geht mit gesenkten Blicken durch den Mittelgang der Kirche an der noch singenden Gemeinde vorüber. Sie muß in die Küche, und die Mutter ist heute so besonders ungeduldig und angegriffen, und der Schwester wird’s schon zuviel, wenn sie das Jüngste so lange bei sich haben muß, wie die Predigt dauert.

Daheim angekommen, läuft sie eiligst treppauf in ihr Stübchen, legt Umhang und Hut auf das Bett, bindet eine große Schürze vor und schaut im Vorübergehen noch in das Zimmerchen der Mutter. „Ich hab’ für dich mitgebetet, Mütterchen,“ ruft sie freundlich. Ein verdrießliches Brummen ist die Antwort.

„Geht’s dir nicht gut?“

„Hab’ kein Auge zugethan diese Nacht.“

Christel kommt nun doch herein. „Was grämt dich denn schon wieder?“ fragt sie mit teilnehmender Stimme.

„Ich denke immer daran, was aus dir und dem Louischen werden wird.“

„Das sind recht unnütze Gedanken,“ erwidert die Tochter. „Ich weiß ganz genau – gut wird’s uns gehen, wir haben ja arbeiten gelernt!“

„Jawohl – solange man Kräfte hat! Aber das Alter kommt, und ihr seid müde und abgearbeitet und wißt keinen Platz, wo ihr euer Haupt hinlegt. Du wirst nächste Woche fünfundzwanzig – fünfundzwanzig!“ wiederholte sie.

Das Mädchen lacht ihr hell ins Gesicht.

„Lache nur, es wird dir schon noch vergehen,“ antwortet die gelähmte, vorzeitig gealterte Frau.

„Ich kann doch nicht jetzt schon weinen, Mutter? Wer weiß, ob ich überhaupt alt werde –? Aber ich muß in die Küche.“

Als sie die Treppe hinunter kommt, sieht sie, wie eben die Thüre von des Schwagers Stube hinter dem neuen Pächter sich schließt. Was will denn der schon wieder? denkt sie; doch dann in der Küche am Herd, auf dem der übersprudelnde Suppentopf steht – es giebt außerdem Kalbsbraten und Kartoffelsalat, mit den ersten grünen Rapünzchen garniert – vergißt sie bald den Besuch. Im Hofe lärmen die Kinder, und das Dienstmädchen, das nachmittags nach Altwitz zu ihrer Schwester auf Besuch will, mahlt jetzt schon den Kaffee; es ist ein Lärm, daß der Pfarrer auf der Küchenschwelle dreimal rufen muß:

„Christiane – Schwägerin – Christiane! Komm’ doch gleich einmal in die Wohnstube, liebe Schwägerin!“

Sie macht große Augen, das klingt so feierlich, und feierlich ist auch sein Aussehen.

„Begieß den Braten, Lene,“ befiehlt sie und trocknet sich die Hände an dem dazu bestimmten Handtuch. Er wird doch nicht schon wieder den Menschen zum Essen eingeladen haben, wo das Mädchen ausgeht, überlegt sie, und – und –

Sie steht mit hochrotem Gesicht vor dem Schwager. Der ist noch im Talar, hat gar nicht die Zeit gehabt, sich umzukleiden, denn Mohrmann ist ihm auf den Fersen gefolgt. Der geistliche Herr sieht sehr ernst, fast niedergeschlagen aus.

„Liebe Christiane, Herr Mohrmann hat soeben um deine Hand bei mir angehalten.“

[6] „Der ist wohl übergeschnappt?“ fährt es ihr unbedacht heraus, sie wird noch röter; „er kennt mich ja gar nicht,“ entschuldigt sie sich.

„Er kennt dich genau genug, um zu wissen, daß er in dir eine tüchtige Hausfrau, eine treue Lebensgefährtin finden wird.“

„Aber – aber –“ stottert sie.

„Ueberlege es, Kind. Des Weibes Bestimmung ist, Gattin zu sein.“

Ihr fallen plötzlich die Klagen der alten Frau droben ein. „Lieber Gott, das kommt mir ja so über den Kopf, Schwager,“ sagt sie, „was sollen denn die Mutter und deine Frau anfangen, wenn ich heirate? Ich kann ja gar nicht, wirklich nicht!“

„Darauf darfst du keine Rücksicht nehmen. Deine Mutter geht dem Grabe zu, meine gute Charlotte wird, so Gott will, gesunden und Louischen wird mit Freuden deine Stelle hier einnehmen, verläßt du uns. Deshalb darfst du eine solche Gelegenheit, dich zu versorgen, nicht versäumen, liebe Christiane. Ueberlege es dir. Er ist, soweit ich beurteilen kann, ein einfacher guter Mensch, ein tüchtiger Landwirt –“

„Ich bin schon fünfundzwanzig,“ wendet sie ein.

Er lächelt. „O, ihr Weiber! Mit fünfundzwanzig wollt ihr alt sein, und mit vierzig fühlt ihr euch wieder jung! Red’ nicht so, Christel, überleg’ es dir!“

„Gut – ich will’s überlegen,“ giebt sie zu.

„Wann soll er sich Antwort holen?“

„Um die Vesperzeit, Schwager; so lange Frist muß ich haben.“

Sie verläßt mit starkem Herzklopfen das Zimmer, aber in der Küche greift sie alles verkehrt an. Sie zankt die Kinder aus des Lärmens wegen, läßt die Bratensauce anbrennen und schilt die Lene. Endlich geht sie zur kranken Schwester; an deren Bette sitzt schon der Schwager, sie haben über das Ereignis bereits gesprochen.

„Nun, was meinst du denn dazu, Lotte?“ fragt Christel.

„Wenn du so glücklich würdest wie ich,“ antwortet die blasse Frau einfach und faßt die Hand ihres Mannes. – Dem Mädchen steigen die Thränen in die Augen. Es ist doch was Großes um so eine innige treue Gemeinschaft! denkt sie. Und vor ihren Augen steht das Bild des stattlichen ernsthaften Mannes und sie sieht sich Hand in Hand mit ihm, wie diese Zwei, in guten und in bösen Tagen.

„Eßt allein,“ sagt sie, „ich kann nicht mithalten; ich will hinunter in den Garten, vielleicht, daß ich draußen ruhiger werde.“

Sie lassen sie auch. Die Lene weint freilich in der Küche um den vereitelten Ausgang, aber wie sie merkt, es ist etwas Außergewöhnliches im Anzüge, tröstet sie sich.

Um drei Uhr kommt Christel zurück. Sie hat große, klare Augen, und es liegt etwas Frohes, Entschlossenes in ihren Zügen. „Ich will es wagen,“ sagt sie zu den Geschwistern, indem sie ihnen die Hand giebt. Und dann beginnt sie den Kaffeetisch zu rüsten in der besten Stube, alles ohne Hast und mit größter Umsicht.

„Hast du ein paar Cigarren?“ fragt sie den Schwager.

„Meinst du, daß er viel rauchen wird heute?“ giebt er lächelnd zurück. „Als deine Schwester und ich Brautleute waren, habe ich das wenigste Geld für Tabak verbraucht, solange ich rauche.“

„Wieso?“ erkundigt sich Christel.

„Thut das Mädel wie ein Neugebornes – wegen dem Küssen!“

Der Scherz ist nicht nach ihrem Geschmack. „Zuerst soll er zur Mutter hinaufgehen, ich erwarte ihn droben,“ sagt sie ausweichend, „das gehört sich so.“

Die alte Frau in ihrem Giebelstübchen ist ganz außer sich vor Glück. „Nun kann das Louischen herkommen, an deiner statt,“ ruft sie einmal über das andere.

„Ich hätte gar nicht geglaubt, daß eine Mutter sich so freuen kann, wenn sie ein Kind hergeben soll,“ bemerkt Christiane.

„Hergeben? Ist das Hergeben? Wirst’s schon selbst sehen, wirst’s schon selbst erleben, wenn du mal eine Tochter hast, wie man sich freut, wenn sie glücklich wird. Wann will er denn Antwort holen?“

„Um vier Uhr, Mutter.“

„Und ist doch schon halb Fünf!“

„Wahrhaftig!“ giebt Christiane erstaunt zu mit einem Blick auf die alte Schwarzwälderin.

Dann sitzen sie sich still gegenüber, und nun schlägt’s fünf, dann halb sechs Uhr.

„Er scheint’s nicht eilig zu haben,“ bemerkt die alte Frau spöttisch. Das Mädchen hat ein merkwürdig blasses Gesicht. Wer weiß, es ist ihm vielleicht leid? denkt sie, dann sagt sie zur Mutter:, „Vielleicht hat er auf eine Antwort gewartet, oder hat Robert falsch verstanden?“

„Der macht immer solche Tappereien, der gute Robert.“

Auf einmal springt Christel vom Stuhle auf, bleich bis in die Lippen. „Jetzt kommt er – ich gehe nebenan ins Schlafzimmer, rufe mich nachher!“ Ihr wanken die Kniee, als sie da drinnen steht und seine Stimme hört. Herrgott, sie kennt ihn doch gar nicht und soll ihm von nun an angehören mit Seele und Leib! Es ist eigentlich schrecklich – wie hat sie sich nur entschließen, so rasch entschließen können!

„Ich will sie lieb und wert halten bis an mein Ende!“ hört sie jetzt. Und dann kommt die Mutter an ihrem Krückstock zu ihr. Christel fühlt, sie muß hinein gehen, und sie geht auch. Die alte Frau bleibt in der Kammer zurück; sie will nicht stören bei dem, was sich die beiden zu sagen haben.

Und Christel steht vor dem Manne, der sie begehrt. Sie ist jetzt ganz ruhig, er aber der Befangene; er stottert irgend etwas, und sie giebt ihm die Hand.

„Wenn Sie es denn wollen,“ sagt sie, „ich bin nur ein einfaches Mädchen –“

„Eben darum,“ antwortet er, und dann noch einmal: „eben darum, Fräulein Christel – was meinst du denn, was ich bin?“

Er hat den Arm um sie geschlagen. „Ein recht einfacher Mann bin ich, der mit seiner Hände Arbeit sich durch die Welt bringen will, sich und dich.“

„Ich will Ihnen keine Last sein, ich kann auch arbeiten,“ versichert sie dagegen.

„Das soll ein Wort sein, Christel!“ Wie Jubel klingt’s aus seiner Rede. „Arbeit wird’s geben in Hülle und Fülle, aber auch hie und da ein Ausruhen und hie und da einen Kuß –“ und dabei küßt er sie auf den Mund. „So, Mädchen, nun hast du einen Bräutigam.“

Drunten beim Kaffee wird die Verlobung gefeiert. Der neue Bräutigam trägt die alte Schwiegermutter zum Ergötzen der Kinder die Treppe hinunter, und von Hausthür zu Hausthür fliegt durchs Dorf die Kunde: der Herr Pächter hat sich mit Christiane Nölling verlobt! Das Brautpaar geht dann beim Abendsonnenschein im Garten spazieren; sie sprechen nicht viel von Liebe, aber desto mehr von ihrer Zukunft. Er will absolut zu Pfingsten heiraten, sie weist ihn an die Mutter und fragt errötend: „Warum kamst du denn so spät heute?“

Er wird ebenfalls rot, aber lügen kann er nicht und will er nicht. „Ja, siehst du,“ beginnt er stockend, „Heine – du kennst doch den Verwalter? Also, Heine blieb nach Tische ein bißchen bei mir sitzen, Sonntags ist’s so hergebracht, bei einem Glase Rotspohn. Ich kann den Leuten das nicht gleich mit einem Male abgewöhnen, mein Vorgänger hat’s so eingeführt – den Wein nämlich, gegen das Sitzenbleiben Sonntags habe ich nichts. Und da kamen wir auf die Wolle und Heine sagte, der Altwitzer mache ein recht großes Geschäft mit Wolle und die Wiese am Herrnbusch brächte so gut wie nichts an Heu, wäre aber die beste Weide. Ich stritt dagegen und so gab ein Wort das andere, und auf einmal da sehe ich, ist’s halb Sechs.“

„Wirst du denn Schafzucht anfangen?“ fragt sie dagegen, ohne einen Schein von Empfindlichkeit.

„In diesem Herbst noch nicht, denn, siehst du –.“ Und nun fängt er ein langes und breites über mangelhafte Stallungen und schlechte Futtervorräte und Gott weiß was zu reden an. „Man muß nicht gleich ins Blaue hinein gehen,“ setzt er hinzu, „erst mal beobachten, was sich am besten schickt. Nur die Milchwirtschaft, die hätt’ ich gern ausgedehnter, wo doch so ’n schönes Absatzgebiet in der Nähe ist. Aber, wie mir Heine sagt, haben wir die beste Kundschaft verloren, weil die Helbig eine Schlampe ist. Raus! sage ich, raus muß sie, sowie –“

„Sowie ich da bin,“ ergänzt sie mit einem Zucken in den Mundwinkeln.

Er nickt ernsthaft: „Sowie du im Hause bist. Es läßt sich was daraus machen – du verstehst’s ja wohl ein bissel, Christel?“

„Hab’s gelernt,“ antwortet sie, „auf Domäne Nutwitz bei der alten Amtsrätin.“

[7] „Gelernt? Faktisch gelernt? Wahrhaftig? Du bist ja ein wahrer Schatz, Mädel!“ ruft er stehen bleibend und sie betrachtend, mit in die Hüften gestemmten Armen.

„Ja, ich hab’s gelernt, und da kein Geheimnis zwischen uns sein soll, will ich Ihnen – dir – auch sagen, warum. Ich war ein rechtes Stadtkind, von der Windmühlenstraße in Leipzig, konnte mir’s nirgends schöner denken als bei uns; aber dann, als ich zwanzig wurde, da habe ich auf der Hochzeit meiner Freundin einen Mann kennengelernt, den ich sehr lieb gewann, und der hatte ein Gut im Altenburgischen.“ Sie steht jetzt vor ihm mit niedergeschlagenen Augen, ganz blaß. Es wird ihr so namenlos schwer, von dem zu sprechen, was ihr noch immer mit heißer Scham in der Seele brennt, und sie glaubt sich doch verpflichtet, ihm dieses Stück Vergangenheit mitteilen zu müssen.

„Und?“ fragt er leise, „da ist etwas zwischen gekommen, Christel?“

„Ja!“ sagt sie tonlos, „er meinte kurz vor unserer Hochzeit, er könne ein armes Mädchen nicht gebrauchen.“

„Der Schafskopf!“ entfährt es ihm; dann einige Minuten tiefes Schweigen. Nur aus Christels Munde so ein kurzer Laut, als ersticke sie am Schluchzen

„Laß, Christel,“ bittet er endlich, „mach’ dich nicht traurig. Man muß immer denken, es hat so kommen sollen.“ Das ist alles, was er zu sagen weiß. Nichts, daß es ihm unangenehm ist, daß sie schon einen andern geküßt hat, nichts von eifersüchtigem Bedauern, daß sie schon vor ihm einen geliebt.

„Ich wollt’s dir doch erzählen,“ murmelt sie und thut einen tiefen Atemzug.

„Ich danke dir schön, Christel, aber denk’ nicht mehr daran!“

Sie wandern jetzt stumm nebeneinander. Hinter den Bäumen von Altwitz geht die Sonne unter; über die niedrige Mauer hinweg sehen sie auf dem Wege, der das Feld durchschneidet, sonntäglich geputzte Menschen gehen; der Chaussee nach Altwitz entlang fährt in einer goldenen Staubwolke eine herrschaftliche Equipage. Ganz in der Ferne blinkt das Kirchlein des kleinen Städtchens, und über ihnen, hoch im Blauen, jubeln die Lerchen.

„Also, Pfingsten!“ sagt er und zieht sie an sich.

Ihre Augen schimmern noch feucht, aber sie sieht ihn freundlich an. „Pfingsten – wenn’s der Mutter recht ist und Louischen abkommen kann.“ Als er abends um neun Uhr fortgeht, sagt er noch zuletzt: „Morgen kündige ich dem alten Möbel, der Helbig.“



Die Hochzeit wird ganz still gefeiert. Am Pfingstsonntag nachmittags um drei Uhr ist das kleine Gotteshaus vollgepfropft von der Dorfgemeinde, aber wenn die guten Leute gemeint haben, ‚Wunder was‘ zu sehen, haben sie sich getäuscht. Das Brautpaar tritt da ganz einfach herein und hinter ihnen nur ein paar Menschen – die Schwester Louise, dann eine fremde alte Dame in weißem Spitzenhäubchen, recht blaß und leidend, die Mutter des Bräutigams, und vor der Braut, die ein schwarzseidenes Kleid trägt nebst Kragen und Blondentüllschleier, trippeln zwei der jüngsten Pfarrkinder her in weißen Kleidern und streuen mit ungeschickten Händchen Blumen. Das ist aber auch der ganze Prunk, wenn man nicht die schwerfälligen Guirlanden aus Buchsbaum und faustdicken Pinien dazu rechnen will, die die Mägde vom Gutshof gewunden haben.

Der Pfarrer redet recht beweglich und hübsch, besonders viel von der Treue in guten und bösen Tagen. Beide stehen fest und aufrecht vor dem Altar, und ihr Ja! sprechen sie laut und hell; dann kehren sie mit ihrem kleinen Gefolge in die Pfarre zurück, wo man mit Kaffee und Kuchen und später mit einem Glase Wein aufwartet; und gegen sieben Uhr gehen die jungen Eheleute, Hand in Hand, nach dem Gutshof ins Pächterhaus. Antons alte Mutter wandert mit ihnen, als erster Gast des neuen Heims.

Die Leute werden heute mit Schweinebraten und Kartoffelsalat bewirtet, der junge Ehemann hat ein Faß Lagerbier gespendet, und Frau Christel muß sogar nach den Klängen der Harmonika einen Walzer tanzen mit dem Hofmeister, der eben ihr und Antons Wohl ausgebracht. Dann steigen sie hinauf in ihre Wohnung.

Es sieht noch nicht ganz heimlich aus, denn die junge Frau hat das Pächterhaus bis jetzt mit keinem Fuß betreten. Jemand, der ihr das Nestlein schmuck hätte einrichten können, ist nicht vorhanden gewesen, weder Mutter noch Schwestern waren es imstande, und so stehen noch Körbe und Kisten unausgepackt, die man tags zuvor mit der bescheidenen Ausstattuug vom Pfarrhause herübergebracht hat. Viel neue Möbel sind nicht angeschafft, aber das Wenige macht schon einen behaglichen Eindruck, die Gardinen schimmern weiß und duftig und die funkelnagelneue Petroleumlampe beleuchtet einen für Zwei gedeckten Theetisch; den hat die alte Mntter Antons schon vor der Trauung hergerichtet.

Er betrachtet alles, und dann seine junge Frau, die innere Zufriedenheit leuchtet aus seinen Augen.

„Noch ist’s nicht recht heimlich,“ nickt sie, „morgen abend sieht’s anders aus, Anto. Nun aber will ich für die Mutter sorgen, für unsern ersten Gast.“ Und sie kommt nach einem Weilchen im Hauskleid wieder, mit einer Schürze um, und sagt: „Ich habe die alte Frau zur Ruhe gebracht, sie war so müde, und denke dir, die Mägde hatten nicht einmal ihr Bett gemacht heute früh! Die Schelte kriegen sie noch! Wenn auch Hochzeit ist, ihre Arbeit müssen sie doch thun.“

Gegen Morgen klopft die alte Frau an die Schlafstubenthür des jungen Paares, und als Christel erschreckt öffnet, bricht die Mutter wimmernd auf der Schwelle zusammen. Christel fängt ihre Ehe gleich an mit Krankheit, Tod und Begräbnis. Am zweiten Tage ist sie gestorben, die alte Frau, nachdem sie noch das Glück ihres Sohnes, solch ein gutes Weib gefunden zu haben, gepriesen hatte. „Halte sie hoch, Anto, halte sie gut – ja, die ist von anderm Schrot und Korn wie die da in Halle, du weißt schon, die hat dich toll gemacht, toll. Halte sie gut, Anto, deine Christel!“

Das sind ihre letzten Worte gewesen an den Sohn.

Nun ist’s ungefähr acht Tage nach der Hochzeit, und die junge Frau in ihrem schwarzen Trauerkleide arbeitet unermüdlich. Früh um vier Uhr läßt sie sich wecken und wenn Anto, wie sie ihn, der verstorbenen Mutter zu Ehren, auch nennt, aufs Feld gehen will, ist sie, wie aus dem Ei gepellt, schon am Frühstückstisch, und der leuchtet vor Sauberkeit mit seinen einfachen Geräten. Des Mittags sitzt sie oben vor dem Tisch und teilt die Suppe aus. Die Gerichte sind gut und schmackhaft, und das Gesicht der Hausfrau mit den frischen Farben ist so freundlich, daß dem adligen Muttersöhnchen das Herz aufgeht. Gelegentlich wird sie freilich auch böse, wenn z. B. ein Fleck auf das Tischtuch kommt, denn sie ist unheimlich sparsam. „Janz rasend auf die Jroschen,“ sagt Herr Heine; „aber das ist nötig: man will nicht nur auskommen, man will auch vorwärts kommen, und dazu gehört heutzutage etwas – alle Donnerwetter!“

Anton Mohrmann staunt seine Frau jeden Tag mehr an. Er hat viel von ihr erwartet, aber sie übertrifft das noch. Hätte die Mutter es doch erlebt! Sie kann gar nicht müßig sein, die Frau; selbst in den Dämmerstunden hat sie das klappernde Strickzeug zur Hand, selbst wenn sie beide abends zusammen im Garten auf und ab gehen oder mit den Geschwistern in der Pastorlaube sitzen. Zuweilen ärgert’s ihn, aber sie scheint ihn gar nicht zu verstehen, wenn er sagt: „Das verdammte Geklapper ist schon nicht mehr schön!“

„Deine Füße wollen doch gewiß nicht frieren im Winter?“ antwortet sie, „und, daß Gott erbarm’, wie sehen deine Socken aus!“

In einer Ecke der Wohnstube, nicht weit von ihrem Nähtisch, steht ein Schränkchen, das hat Glasscheiben und dahinter rotseidene Vorhänge; ein altmodisches Ding, Christel hat’s schon in ihrer Mädchenstube gehabt.

„Was ist denn da eigentlich drin?“ fragte er sie einst neugierig, denn er war nicht zu Hause gewesen, als sie es aufstellte und einräumte.

„Meine Bücher, und so allerhand von früher.“

„Bücher hast du auch?“

Sie schließt bereitwillig auf. Ach, was da alles steht! Scheffels „Trompeter von Säckingen“ und „Die Irrlichter“ von Marie Petersen, Storms „Immensee“ und Oesers „Weltgeschichte für das weibliche Geschlecht“; ein paar Bände „Gartenlaube“ und Humboldts „Briefe an eine Freundin“, die „Sämmtlichen Werke“ der Henriette Paalzow etc.

[9] „Gelt,“ fragt sie, während er das mustert, „gelt, Anto, ich darf mich doch auf die ‚Gartenlaube‘ abonnieren? Habe dich schon immer bitten wollen; sie ist stets in unserem Hause gehalten worden. Ich werde sie schon herausschlagen, die paar Groschen.“

„Ja, ja doch, Kind – wenn du Zeit findest zum Lesen. Aber werde nur nicht so eine, die sich aufs Sofa legt mit einem Roman.“

„Ich versäume darum nichts,“ erwidert sie. „Du liest wohl nicht gern?“

„Ich – nee! jetzt nicht mehr; bloß Fachschriften. Aber ob sich da zwei kriegen, die mich in der Gotteswelt nichts angehen, das – –“

„Aber, es giebt doch auch anderes darin, zum Beispiel wissenschaftliche Artikel!“

„Na, so halte sie nur, deine ‚Gartenlaube‘, halte sie nur!“

„Schade, Anto; ich habe gedacht, an den Winterabenden würdest du mir manchmal vorlesen?“ sagt sie dann.

„Ach du lieber Gott, Christel!“ ruft er erschreckt. „Na, wollen sehen, wollen sehen; vielleicht, daß es sich macht. Aber, offen gestanden, ich finde es rationeller, wenn jeder für sich liest, wenn’s mal sein muß.“

„Ich will dich natürlich nicht quälen, Anto –“

Es kommt nie dazu. Sie bittet nicht, und er erinnert sich ihres Wunsches nicht, und mählich vergißt Christel diese Scene; erst nach Jahren muß sie plötzlich daran denken in einer schweren Stunde. Gegenwärtig ist sie so glücklich, wie sie es kaum erwartet hat, noch zu werden, und vor dem eisernen Fleiß des Mannes, vor seiner Einfachheit in der Lebensführung empfindet sie unbegrenzte Hochachtung, und diese wird endlich zur treuen Gattenliebe.

„Christel ist glücklich verheiratet,“ pflegen ihre Schwestern zu sagen, wenn sie die Frau Mohrmann besucht haben. „Die kommen vorwärts,“ heißt es bei den Gutsnachbarn, „heutzutage ist’s eine feine Kunst, wenn man es als Landmann zu etwas bringt.“

„Die Schafsköpfe,“ sagt Anton, als er es wiedererfährt, „wenn sie leben wollten nach ihrer Einnahme, könnten sie auch erübrigen. Aber das muß Sekt saufen und Vollblutpferde vor dem Wagen haben; soviel wirft’s allerdings nicht ab!“

Die Mohrmanns haben, weiß der Himmel, nach einigen Jahren schon etwas mit der Reichsbank zu schaffen, und just an dem Tage, wo vor fünf Jahren Anton seine Frau zum erstenmal gesehen, passiert sogar etwas Großartiges! Christel wird von ihren Milchsatten weg zu Pastors gerufen, in aller Morgenfrühe; dort ist alles in heller Aufregung, oben bei der Mutter versammelt.

Christel hat nur eilig ein Tuch übergeworfen, sonst ist sie in der blaugestreiften Wirtschaftsschürze, den Schlüsselbund im Gürtel, hingelaufen. „Heiliger Gott, was ist denn geschehen?“ fragt sie und denkt, ihre Mutter sei gestorben.

Alle sprechen durcheinander; die alte Frau hat ein Schreiben in der zitternden Hand, und endlich erfährt Christel: der Onkel in Braunschweig ist tot, der alte Geizkragen, der so erbärmlich gethan; er hat dreißigtausend Thaler hinterlassen – jede Nichte erhält zehntausend!

Christel ist darüber ganz erschreckt, sie muß sich setzen.

„Seht nur die Mohrmann,“ ruft Louischen, „die sieht ganz blaß aus! Du, was meinst, Christel, was dein Alter für Augen machen wird, wenn er heimkommt vom Felde?“

„Der Anto?“ fragt sie mechanisch, und dann: „Ist’s wahr?“

„So lies doch das Schreiben vom Gericht!“ schreien sie durcheinander. „Heute abend fahren der Pastor und Louischen hin, Mohrmann muß mit – es wird den Erbinnen oder deren Ehemännern sofort ausgezahlt! Mach nur, daß du heimkommst, pack’ ihm den Koffer –“

Sie geht auch, ganz langsam, wie betäubt. Ist’s denn wirklich ein Glück? fragt sie sich. Ja, für Pastors mit den sechs Würmern – aber für uns? Ihr ganzes Eheleben ist bis jetzt ein unausgesetztes Ringen gewesen, um Geld zu gewinnen. – Wozu eigentlich? Für wen? – –

In ihren Augen funkeln plötzlich Thränen; gottlob – er vermißt ja nicht, wonach sie sich heimlich sehnt; sie sind sich ja auch zu zweit genug und sie selbst ist ihrer unzufriedenen Gedanken bis jetzt immer Herr geworden, hat sie gewaltsam verscheucht. Sie malt sich aus, was er sagen wird, wenn die Christel, die er als blutarmes Mädel nahm, plötzlich eine Kapitalistin geworden ist.

Als sie heimkommt, steht er mit einem Getreidehändler mitten auf dem Hofe. Er ist verdrießlich und sie lacht ihn an.

„Bist bald fertig, Anto? dann komm’ mal hinunter in den Milchkeller.“ Dort unten ist’s kühl und riecht köstlich nach Buttermilch. Christel hat die beiden „Milchstudenten“, wie Anton die jungen Mädchen nennt, die seine Frau in die Geheimnisse des Butterns und Käsens einweiht, wofür sie ein ganz nettes Lehrgeld bekommt, fortgeschickt. Sie hält in der einen Hand die flache Kelle zum Absahnen, in der andern die Satte mit dem Rahm, als er eintritt.

„Hör’, Anto,“ sagt sie, „ich kann dir nicht helfen, du mußt heute abend mit dem Pastor und Louischen nach Braunschweig reisen.“

„Was? Na, weißt du, ich bin gerad’ aufgelegt zum Veruzen! Der Schweinekerl, der Schmollig, will drücken – auf den Weizen, drei Prozent Mindergebot – so’n Lump!“

„Ich habe dich noch nie veruzt, Anto.“

„Na, du weißt doch aber auch, daß ich jetzt nicht reisen kann – Schwerenot! Der Pastor soll allein reisen, wenn er durchaus nach Braunschweig will; ich habe noch genug von der letzten Tour mit ihm nach Leipzig.“

„Aber du mußt mich vertreten, Mann, weil du doch nun mal die Oberhoheit über mich hast. Ich soll vor Gericht, vors Erbschaftsgericht.“ Und als er sie verdrießlich und verwundert ansieht, fährt sie fort: „Begreifst du denn noch immer nicht, daß ich zehntausend Thaler geerbt habe?“

„Christel,“ ruft er und schüttelt sie am Arm, daß der Rahm über den Rand der Schüssel fließt, und dabei guckt er ihr ins Gesicht, als wolle er sich vergewissern, ob bei ihr auch noch alles in Ordnung sei im Oberstübchen.

Sie stellt die Schüssel hin. „Anto,“ sagt sie ernsthaft, „der alte Onkel Otto – wir dachten immer, er habe kaum das liebe Brot – nun hat er dreißigtausend Thaler uns drei Mädchen hinterlassen. Freut es dich, Anto?“

„Alle Wetter, ich hab’ nichts dagegen!“ stottert er, noch immer unsicher. Und als er in ihren Augen nichts als Klarheit und Wahrheit liest, reißt er sie plötzlich an sich und küßt sie so stürmisch wie noch nie.

Sie ist auf einmal still und blaß geworden. Lieber Gott, [10] denkt sie wieder, da sieht man doch, was das bißchen Geld macht, und so nötig haben wir’s doch nicht.

„Du,“ schreit er ihr ins Ohr, „weißt du denn auch, daß wir reiche Leute werden – du?“

Jetzt wehrt sie ihm ruhig lächelnd. „Damit hat’s wohl noch lange Zeit, Anto.“

„Unsere zehn ersparten, die zehn ererbten – macht zwanzig, und keinen Pfennig Schulden, Christel.“

„Wir haben schon zehn? Schon zehn erspart?“ fragt sie mit großen Augen.

„Ja!“ spricht er. „Komm’, laß die Studenten weiter abrahmen – pack’ mir den Koffer. Ei, du Donnerlittchen – zehntausend Thaler!“




Am andern Morgen, als Anton in Braunschweig ist, kommt wieder eine Alarmnachricht. Der alte Baron Wartau will plötzlich zurückkehren aus Nizza, er will daheim sterben. Mit ihm kommen die beiden ältesten Töchter. Seit acht Jahren war die Herrschaft abwesend, und der Gärtner ruft Christel zu Hilfe, denn seine bejahrte Frau hat das Reißen und kann so gar nichts thun, um die Zimmer vorzurichten. Ob Frau Mohrmann nicht so gut sein wolle, vielleicht auch eine von den Mägden herleihen? Er werde schon pünktlich da sein mit den Schlüsseln; vielleicht, wenn’s Frau Mohrmann recht wäre, um zwei Uhr?

Christel ist noch nie im Schlosse gewesen; sie zeigt sich nicht gern neugierig und sie hat auch – es klingt fast unglaublich – nie Zeit gehabt während der fünf Jahre. Aber sie hat gehört, daß es dort in den Räumen fürstlich aussehen soll, freilich verblichene Pracht, denn die Familie ist stark verschuldet. Wie sie nun hinter dem alten Manne durch das Portal in die hohe kühle Halle tritt, aus welcher zwei breite Ehrentreppen in den obern Stock führen, von dessen Wänden die lebensgroßen Oelbilder der sächsischen Herrscher herabschauen, staunt sie doch und ihr wird ganz feierlich zu Sinne. Der Alte, der eben sein Käppchen vor dem Bilde König Johanns ehrfürchtig lüftet – er hat ihn gesehen, als er einst zur Jagd bei den Wartaus hier im Schlosse war, und verehrt ihn wie nichts auf der Welt – öffnet jetzt eine der Zimmerthüren, und Christel überblickt drei Gemächer und macht große Augen. So was ist ihr noch nicht vorgekommen! Die Wände des ersten bemalt mit lebensgroßen Figuren, Herren und Damen in Rokokotracht; auf der einen Wand tanzen sie Menuett, dort spielen sie Reif und dort Blindekuh. Hier und da ist etwas Farbe abgebröckelt, einer der Schönen hat’s das Gesicht entstellt, der rosa Atlasfrack eines Kavaliers sieht aus wie von oben bis unten mit Milch übergossen; aber das graziöse Leben in dieser bunten Gesellschaft – man möchte gleich mitmachen!

An der reich vergoldeten Stuckdecke hängt, von Putten gehalten, ein wunderlich verschnörkelter Kronleuchter, und an den Wänden stehen kleine zierlich vergoldete, etwas wacklige Stühle und Kanapees, von denen der Gärtner eilig die Hüllen lüftet – blaßblauer mit Rosenbouquets eingewebter Brokat, brüchig und mit gelblichen Flecken.

Herrgott, wenn ich hier wohnen sollte! denkt Christel ganz beängstigt, und laut sagt sie: „Wie schön muß das hier gewesen sein, als es neu war!“

„Das is Sie eine große Bracht gewesen, ja freilich,“ giebt der Alte zu, „und wie August der Starke hier war, da hat’s Feste gegäm, na, da is alles heitige in Dräsen reene Bappe dagegen. Der war Sie aber auch ein Indimus von Augusten, unser damaliger seliger Herr.“

Im folgenden Zimmer, wo alsbald Christel und das Mädchen wieder mit Staubtuch und Besen umherwirtschaften, hängt an den Wänden Bild an Bild, lauter Porträts in längst vergangener Tracht; dann kommt das Jagdzimmer mit der verblichenen grünen Damasttapete, über dem Kamin das lebensgroße Bild Augusts des Starken als Jäger, der aus dem Rahmen zu treten scheint, so lebenswahr ist es gemalt, und endlich das Tafelzimmer. Herrgott, diese Verschwendung von altmeißener Porzellan auf der Kredenz!

„Als wir noch reich waren,“ sagt der alte Mann, „da hätten vier Pferde das Silberzeug nich weggekriegt, aber nu – alles fort, heimlich fort! Ja, ja, die zwei Junker, Gott hab’ sie selig, die ha’m Wartau auf’m Gewissen. Nich mal soviel, daß ein Kastellan hier gehalten werden kann! Wenn sie verreist, die Herrschaft – meine Alte und ich müssen uns schinden. Und warum reisen sie? Weil sie draußen leben können wie die Boveretten! Wer kennt die Wartaus da drunten am Mittelmeer? Und dann – das vermaledeite Teufelsspiel – Jemersch nee! Wenn man so was mit ansieht, wie Anno dazumal, wo ich mit war – nee, besser, man red’t nich davon – – Dahier, Madame, sind die Zimmer des alten Barons, hier ist die Wäschkammer; ’s Bette beziehen versteh’ ich nich, nehmen Sie nur ’s erste beste, das Fräulein Tonette kennt sich dann schon aus für später. Die beiden Fräulein wohnen oben, über diesen Zimmern, die anderen Räume im ersten Stock, der große Saal und alles, stehn leer, nich ein Stück Möbel darin, die einzigen Kostbarkeiten, die wir gerettet haben, sind hier unten.“

Christel arbeitet wacker drauf los. Die Schlafstube des Barons mit dem mächtigen Himmelbett ist bald hergerichtet, und nun geht’s ins Herrenzimmer. Was steht da alles umher und hängt an den Wänden! Aber es ist so düster, es kommt ihr unheimlich vor. Als sie ein Bärenfell, das der Alte herzuträgt, vor dem riesigen Schreibtisch ausbreitet, sieht sie plötzlich empor; ihr ist’s, als würden ihre Augen förmlich hingezogen nach dem Punkt. Ueber dem Schreibtisch leuchtet aus dem Dämmer ein Frauenkopf – im ganzen Leben hat Christel so was nicht empfunden – es ist, als ob die dunklen sprühenden Augen ihr drohen. Ein kindlich rundes Antlitz ist’s, von Locken umrahmt, die durch ein blaues Band zurückgehalten werden; ein feines gerades Näschen, ein lächelnder, gar nicht kleiner Mund; und das Ganze von einem so goldigwarmen Ton überstrahlt, als ob alles Licht des Zimmers ausgehe von dem gelben Atlas des tief von den Schultern fallenden Gewandes, oder von dem Strauß der gelben Rosen am Busen.

„Wer ist die Dame?“ fragt Christel den alten Mann, der eine Rüstung in der Kaminecke abstäubt.

„Unser jüngstes Fräulein, das heißt, die jüngste Tochter vom gnädigen Herrn. Ist lange tot, an sechzehn Jahre schon, hatte ’ne schlechte Heirat gemacht, is aus Kummer gestorben – aber es war gut, sonst konnt’ sie’s noch erleben, wie ihr Sohn dem alten Besitz die letzten Fettfedern ausriß. Nach der Heldenthat hat er sich totgeschossen.“

„Lieber Gott,“ sagt Christel erschreckt, „das ist ja greulich – gut, daß wir hier fertig sind!“

Unter ihren flinken Händen wird’s bald ganz wohnlich unten und oben. Inzwischen sind auch ein paar Frauen aus dem Dorfe angelangt, von denen die eine früher hier Schloßköchin war; sie kommt aus der Stadt, wo sie Fleisch eingekauft hat, und macht sich gleich ans Kochen; zur Not, bis Dienerschaft gemietet ist, wird’s schon gehen.

Christel hat noch für einige Blumen gesorgt, die Zimmer zu schmücken, und für das rechtzeitige Anzünden der Flurlampe und der Kerzen, die auf die Leuchter der Wohnräume gesteckt sind. Nun geht sie wieder in ihr bescheidenes Heim. „Gottlob!“ sagt sie und schüttelt sich, „da drüben würde ich mich fürchten.“

Abends ist bei Tische viel die Rede von den Wartaus. Der Verwalter kann so manches erzählen, und der neue Eleve verbessert ihn zuweilen, indem er bei den Schilderungen des allzu verschwenderischen adligen Lebens allemal ein „Noblesse oblige“ dazwischen wirft.

„Ja,“ schließt endlich Heine, ohne sich um den empörten jungen Edelmann zu kümmern, „da ist der Leichtsinn angeerbt! Hätte der alte Herr nicht die Pension als Generallieutenant, könnten sie Wartau schon lange nicht mehr halten; die Pacht, die schöne Pacht, die reicht kaum für die Schuldzinsen. Wenn aber einer hier säße, der vernünftig zu leben verstände – bei dem erstklassigen Boden, trotz der schlechten Zeiten – reich müßte er werden!“

„So einer wie Sie,“ spöttelt der Eleve, „bei dem es gleichgültig ist, ob er mit lehmigen Stiefeln in den Saal des Landwirtschaftlichen Vereins tritt, wenn er keine Kutsche halten mag zum Fahren – – ein Herr von Wartau kann das nicht.“

„Das stimmt,“ antwortet Heine und wischt den letzten Tropfen Bier aus seinem struppigen Rotbart, „so einer wie ich, das stimmt! Und mit der Zeit müßt’s mit’m Deibel zugehen, [11] wenn er nicht mit acht Beinen kommt zum Landwirtschaftlichen Verein! – Guten Abend, Frau Mohrmann.“

Christel steht abends am Fenster und betrachtet das Schloß, von dem jetzt in einigen Fenstern Licht schimmert, mit ganz andern Augen als bisher. Dann denkt sie an ihren Anton.

Gottlob, daß sie in so guten bürgerlichen Verhältnissen ist und einen so einfachen sparsamen Mann hat. „Was nützt einem solch Schloß, wenn das nicht da ist, was dazu gehört,“ sagt sie halblaut, „und wenn es da ist, dann die Last mit dem ‚Noblesse oblige‘! Ich möcht’s nicht, um die Welt nicht!“

Sie setzt sich dann noch mit dem Wirtschaftsbuch an den Sekretär Antons, den Schlüssel hat sie, und verrechnet die Einnahmen. Eine große Partie Daunen und gerissene Federn hat sie heute verkauft an einen Händler aus Dresden, ebenso einen halben Centner Backobst, das sie entbehren zu können glaubt.

Sie hat auch noch von der Butter zum eigenen Gebrauch in die Herrschaftsküche geliefert, ebenso Eier; sie ruht nicht, bis alles dasteht. Dann faltet sie die Hände und sinnt.

Wenn sie so ganz allein ist, geht’s ihr immer durch den Kopf, daß sie keine Kinder ihr eigen nennt. Einmal hat ihr Mann sie überrascht, wie sie bitterlich darüber weinte. „Ach, Christel,“ hat er gesagt, „gräme dich nicht! Wenn man so mit ‚nischt‘ anfängt wie wir, sind Kinder eine Last; sie machen das Sparen unmöglich, halten den Beutel immer offen. Höre, ich wüßte gar nicht, wie’s werden sollte mit ein paar Schreihälsen! Da müßte man sich ja wahrhaftig wieder ein Möbel anschaffen wie die Helbig!“

Nein, gottlob, er vermißt es nicht; der ganze Mann geht auf in der Wirtschaft. Sie hat auch nie wieder geweint, daß er es sah, und jetzt – jetzt hat sie sich drein gefunden, jetzt, wo sie einunddreißig wird. Eine Liebesheirat ist’s nicht gewesen, das hat sie schon vor der Hochzeit gesagt zu ihrer Mutter. „Er will eine Gehilfin haben, Mutter, eine Respektsmamsell, die er nicht zu bezahlen braucht. Schön! Ich bin lieber bei meinem eignen Mann in Stellung als bei einem fremden, und er soll sich nicht in mir getäuscht haben.“ Er hat sie auch immer gut behandelt, sehr gut! Zu Vergnügungen hat er sie freilich nie geführt, und putzen darf sie sich auch nicht. „Danke schön! So eine seidene Fahne – wieviel Scheffel Weizen rechnest du die? Und dann das Kartenspiel und der Wein auf so einem Ball! Wenn du ausgehen willst, geh’ zu deiner Schwester, und einladen magst du sie auch.“

Sie ist völlig einverstanden; als ob sie Gefallen an so etwas fände! Die Zeit – ach sie kann sich kaum noch auf die Zeit besinnen, da sie sich geputzt hat für den einen, den einen, dem ihre junge Liebe gehörte. Schön ist’s gewesen, süß ist’s gewesen, aber schließlich doch ein Jugendtaumel. Jetzt aber ist’s noch tausendmal süßer, mit ihm zu arbeiten, so ein ernstes richtiges Glück. Sie hat ihn lieber, alle Tage lieber! Wie sehr? Das fühlt sie erst jetzt, wo er fern ist von ihr, zum erstenmal fern.

Am andern Morgen kommt Anton zurück, in froher Laune, und aus seinem Rocke nimmt er eine geschwollene Brieftasche, die Wertpapiere enthält, welche er gekauft hat für das Erbteil seiner Frau.

„Hier, Altchen, ist dein Vermögen,“ sagt er und legt’s auf den Tisch, „ich hab’s gleich angelegt in sicheren Papieren, die übrigens bald steigen werden.“

„Behalt’s nur, Anto, ich versteh’ davon nichts, und was mein ist, ist dein, du weißt’s ja,“ antwortet sie und streichelt seine Hand. Sie sitzen allein bei Tische und Christel erzählt von der plötzlichen Rückkehr der Wartaus.

„Hab’ schon unterwegs davon gehört,“ erklärt er. „Für Nizza langt’s wohl auch nicht mehr; sie wollen in der eigenen Höhle Hungertatzen saugen. Hm, Nizza – ’s ist verflucht nahe bei Monte Carlo.“

„Mir thun sie leid, die Menschen. Heine behauptete gestern abend, ohne die Schulden könnten sie leben –“

„Nun, und ob die leben könnten! Wie die Fürsten könnten sie leben! Wenn ich das Ding zu eigen hätte, schuldenfrei – –. Himmel Herrgott, wenn man das kaufen könnte, Christel!“

„Dir sind die paar Thaler zu Kopfe gestiegen, alter Freund,“ sagt Christel lachend. „Kannst du dir mich vorstellen als Schloßfrau?“

Er antwortet nicht, er ißt, auf einen Punkt starrend, seine Suppe.

„Na,“ fragt er endlich, sich selbst zurückrufend, „hast mich vermißt, Christel?“

„Und wie, Anto!“ erwidert sie herzlich. „Mir ist’s überall gewesen, als müßt’ ich ersticken, so leer und so tot; gehst hoffentlich so bald nicht wieder fort!“

„Na, ich kann dir sagen, Kind, ich bin auch froh, wieder daheim zu sein. So’n Gasthausfutter und solche Betten – einfach schauderhaft!“

Sie lächelt. Einen Augenblick hat sie erwartet, er werde sagen: ‚Auch du hast mir gefehlt!‘ Aber er betont nur seine gewohnte Behaglichkeit.

„Nimm doch von dem Kalbsbraten,“ nötigt sie und streichelt über sein Haar. Ja, ja, sie weiß es ja längst, aus Liebe hat er sie nicht genommen, aber er kann vielleicht nicht anders lieben. Wenn sie nur wüßte, was seine Mutter in ihrer Todesnacht immer geredet hat von einer „Fränze“, die ihn toll gemacht habe. Wenn sie sich daran erinnert, wird sie jedesmal unruhig; vielleicht hat er diese Fränze anders geliebt? Bei dem Gedanken errötet sie stets, er thut ihr weh, und hastig geht sie in die Küche.

Dort schilt sie sich aus. Was ihr nur einfällt auf ihre alten Tage, ja, was ihr nur einfällt! Und dabei nimmt diese Unbekannte heute – Christel muß stets an sie denken, wenn Anto jede, auch jede Gelegenheit, wo er ihr einmal etwas Herzliches sagen könnte, übersieht – das Gesicht der Dame an, die dort im Schlosse über dem Schreibtisch des alten Barons hängt. Wenn die etwa so ausgesehen hat, dann … ja dagegen – so eine robuste Landpomeranze, wie sie ist!

Nun ist’s übrigens Zeit, wieder vernünftig zu werden! Wie kann sie sich nur so aus dem Gleichgewicht bringen lassen? Aber wahr ist’s, sie gesteht es sich jetzt ganz freimütig ein: es ist schrecklich, so allein zu sein, ohne ihn – daher ist sie nervös. Er ist doch ihr alles, denn – sie hat ja keine Kinder!

Als sie wieder nach oben kommt, sitzt Anton und rechnet in seinem Notizbuche.

„Fünfunddreißig Mark fünfzig Pfennige hat der Spaß gekostet,“ sagt er, „schreib’s an, Christel; du siehst, ich war solide, der Pastor hat mindestens das Doppelte verbraucht.“

„Wieso denn? Ihr wart doch immer zusammen?“ fragt sie.

„Bis auf die Stunden, in denen er alle Läden auf dem Bohlwege unsicher machte,“ lachte Anton. „Dem ließen natürlich die zehntausend Thaler keine Ruhe, er hat zusammengekauft, als wär’s Weihnacht, ein Schwarzseidenes für deine Schwester, ein Tuch aus Chenille, oder wie er das Zeug nennt, für die Mutter und einen ‚Pompadour‘ für Louischen; von den Puppen und Trommeln und Bleisoldaten will ich lieber schweigen. Ich habe bei mir gedacht: Gottlob, den Krempel kannst du dir sparen, hast eine vernünftige Frau – basta!“

Sie steht jetzt vor ihm und legt die Hand auf seine Schulter. „Würde es dir denn wirklich keine Freude gewesen sein, Anto, wenn du – –“ fragt sie, und ihre Augen sehen aus leicht erblaßtem Gesicht forschend in die seinen – „wenn du auch so – eine – so eine Schachtel Soldaten zum Beispiel – Anto –?“

Er lacht unbefangen, gutmütig. „Mach’ keine Redereien über Dinge, die nun mal nicht sind! Was nicht ist, ist nicht, Christel. Hoffentlich denkst du nicht, ich hätte dir auch ein seidenes Fähnchen mitbringen können?“ fügt er hinzu. „Aber nein, Christel, das denkst du nicht! Und mitgebracht habe ich dir doch was, wo werd’ ich nicht! Eine neue Wringmaschine, die hast du dir gewünscht. Die Wäsche soll gar nicht leiden dabei, behauptet der Kerl im Geschäft.“

„Ich danke dir schön, Anto,“ sagt Christel erfreut. „Das ist mir wirklich sehr lieb.“

Dann räumt sie den Tisch vollends ab.

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 2, S. 38–48

[38] Herr Mohrmann wird gebeten, heute nachmittag zu Sr. Excellenz zu kommen; von fünf Uhr ab sind Excellenz zu sprechen.“

Als Anton sich um fünf Uhr melden läßt, wird er in das Tafelzimmer geführt. Die Thüren stehen weit offen nach der Terrasse zu und gewähren einen Blick über das große Beet voll wurzelechter Rosen, aus dessen Mitte ein Rokoko-Amor sich erhebt und schalkhaft mit seinem Pfeile droht, auf einen schnurgeraden, von hochstämmigem Buchs eingefaßten Weg, der dem Ausgange des Parkes zuführt. Drüben, jenseit des Gitters, erblickt man Felder, Wiesen, Dörfer und Obstbäume, soweit das Auge reicht.

Die Herrschaften sitzen unter dem Zeltdach von rot und weiß gestreiftem Leinen, das aber schon stark verblichen und stellenweise rissig ist; der bejahrte Herr im Rollstuhl, die Beine in wollene Jägerdecken gehüllt, einen echt türkischen Fes auf dem Kopfe. Er hat, trotz seiner Achtzig, die noch jugendlich feurigen Augen des alten Soldaten, eine energische Adlernase, und trägt den weißen Bart, wie der erste Kaiser Wilhelm ihn trug, mit ausrasiertem Kinn. Er ist sehr sorgfältig gekleidet in ein smoking dress aus braunem Sammet und raucht aus einer wappengeschmückten Cigarrenspitze.

Die beiden Damen, seine Töchter Antoinette und Josepha, sehen fast ebenso alt aus wie der Vater. Die jüngere, fünfzigjährige, ist ihm ähnlich, aber die kühne Nase kontrastiert wunderlich mit den vergrämten Augen und dem wehen Zug um die herabgezogenen Mundwinkel. Die ältere ist sehr stark und groß und wechselt alle Augenblicke die Farbe, wie nervöse Menschen es thun. Das ehemals blonde Haar liegt in altmodischen Scheiteln zur Seite des Gesichtes und die Augen besitzen eine gewisse Schalkheit – sie nimmt das Leben von der ironischen Seite. Der Anzug beider Damen ist mehr als einfach; schwarze Wolle, von ungeschickter Hand gearbeitet.

Josepha, die jüngere, hat eben eine Dresdner Zeitung vorgelesen; als die große blonde Erscheinung des Pächters die Steinfliesen der Veranda betritt, läßt sie das Blatt sinken.

„Papa,“ sagt sie leise zu dem leicht entschlummerten alten Herrn.

„Was giebt’s?“ fährt er auf.

„Ich glaube – Herr Mohrmann –“

„Ach so! Pardon! Bitte, Herr Mohrmann, treten Sie näher. Ihr könnt mich getrost ein wenig allein lassen mit dem Herrn, Kinder,“ wendet er sich an die alten Fräulein. „Laß etwas Bier auftragen, Tonette.“ Und während die beiden Damen an dem sich verneigenden Anton vorüberschreiten, ruft der Baron ungeduldig: „Setzen Sie sich doch, Mohrmann, setzen Sie sich doch, ich habe Sie mir übrigens so groß gar nicht vorgestellt! Sie haben wohl seiner Zeit einen Gardeflügelmann abgegeben?“

„Jawohl, Herr Baron, da oben bei St. Privat.“

Die Fräulein stehen noch einen Augenblick im Tafelzimmer und flüstern. „Er ist ja schrecklich liebenswürdig zu ihm,“ sagt Tonette, und Josepha hebt ein wenig die Schultern: „Das ist er immer, wenn er jemand anpumpen will.“

„Kind,“ flüstert die Aeltere. „den Mohrmann wird er doch nicht anpumpen? Kann höchstens ein Vorausbezahlen der Pacht erbitten.“

„Allerdings etwas ganz anderes!“ betont Josepha ironisch. „Komm nur, Tonette,“ fügt sie dann hinzu, „wir gehen indessen drüben ins Wäldchen; wir waren noch nicht ein einziges Mal an den Gräbern unserer Hunde. Nicht mal das hat man mehr! Ach, wenn Pet und Bob noch lebten!“

„Aber, Kind, schaff dir doch wieder so ein Hundevieh an! Ein Teckel, der wird sich schon mit durchfressen,“ sagt Tonette draußen im Flur, „schlimmsten Falles abonnieren wir ihn bei der Pächterin aufs Mittagsessen.“

Josepha zuckt die schmalen spitzen Schultern. „Du kannst noch Unsinn machen, Tonette! Natürlich frißt sich ein Teckel durch, aber wie die Edith sich hier durchfressen will, das ist mir schleierhaft. Und Michaelis übers Jahr muß sie doch herkommen, wo soll sie sonst hin? Dann ist sie achtzehn, die Erziehungsgelder hören auf, und es wird auch wirklich Zeit, sie aus der Pension zu nehmen, das arme Wurm! Ach, bitte, sage mir, Tonette, wie soll das werden? Sie braucht doch Schuh und Kleider und Gott weiß noch was! Wir können sie doch nicht einpökeln? Sie muß sich zeigen in Gesellschaften und im Ballsaal, wenn sie überhaupt eine Partie machen soll.“

„Dann nehmen wir die alten Brokatgardinen und kleiden unsere junge Schönheit in Sammet und Seide,“ antwortet die Aeltere scheinbar ernsthaft. „Spazier’ nur ins Wäldchen, Josepha, und singe nicht vor dem Kantor her, es wird sich schon alles historisch entwickeln. Ich will das Bier bestellen, dann komm’ ich nach.“

Auf der Veranda bittet indessen, nach längeren Gesprächen über Ernteaussichten und Viehstand, der Baron so im Vorbeigehen den Pächter um Vorausbezahlung der Pacht. „Eh, Sie wissen ja, Mohrmann, Krankheit kostet Geld, verteufelt viel Geld! Und der Junge, das wissen Sie nicht, was der mich gekostet hat, mein Enkel, der nun ja leider tot ist. Für die Enkelin habe ich auch zu sorgen. Könnt’ ich nur selber noch wirtschaften, wollt’s schon herauskriegen! Sie haben die Geschichte halb umsonst, lieber Mohrmann.“

„Excellenz, wenn Sie eine Ahnung hätten, wie wir arbeiten müssen, meine Frau und ich – – nicht einen Pfennig könnt’ ich mehr Pacht geben,“ antwortet er ruhig.

„Ja, ja, das sagen sie alle, das kenne ich schon. Uebrigens drängle ich Sie ja auch nicht.“

„Das würde Ihnen auch nichts helfen, Herr Baron, gottlob ist ein Kontrakt da,“ sagt der blonde Riese.

„Ich weiß ja, weiß ja! Also, bitte, schicken Sie mir die Summe, aber möglichst bald.“

„Ich werde sofort die nötigen Schritte thun, in etwa drei Tagen kann das Geld in Ihren Händen sein, Excellenz. Und jetzt möchte ich mich empfehlen.“

„Nicht doch! Nicht doch! Noch eine Cigarre, lieber Mohrmann? Man freut sich, wenn man mal wieder mit einem vernünftigen Menschen sprechen kann. Ich bin ungern auf Wartau, sehr ungern, man stirbt hier vor Langerweile. Früher, so vor zwanzig Jahren, war ein fideler Kerl von Pastor hier, spielte ein großartiges L’hombre – der jetzige ist einfach – –“

„Mein Schwager, Herr Baron,“ unterbricht ihn Mohrmann.

„Ihr Schwager? Ach so – ja richtig – Pardon, ich gratuliere. Was ich sagen wollte – einfach ist er, sehr einfach, Ihr Herr Schwager, wie ein Prediger ja sein soll, und im übrigen ist nichts weiter in dem Nest. Ein Verkehr mit den Gutsnachbarn etwa? Na, wenn man gelähmt ist und – das verfluchte Geld – ja – – Und wenn man bedenkt, Mohrmann, wie er heute sozusagen auf der Straße liegt, der Mammon,“ fährt er fort, „und daß unsereiner sich nicht bücken kann, um ihn aus dem Kot aufzuheben, wie jeder andere thut: aber es geht doch einmal nicht!“

„Warum denn nicht, Excellenz?“ fragt Mohrmann. „Man sagt bekanntlich vom Gelde: non olet.“

„He?“ fährt der alte Herr empor, „ich soll wohl Haarfärbemittel oder Abführpillen erfinden, oder Hustenbonbons oder einen neuen Gilka?“ Er lachte krähend, bis der Husten ihn fast erstickte.

„Das nicht, Excellenz, aber zum Beispiel eine Bierbrauerei mit Malzfabrik? Ich wundere mich, daß – –“

„Das wächst auch so aus der Erde, die Brauerei und die Fabrik, nicht wahr?“ fragt der Baron und macht mit Daumen und Zeigefinger die Pantomime des Geldzählens. „Nee, mein Bester, davon wollen wir die Finger lassen. Uebrigens sehe ich,“ fährt er fort, „Sie sitzen wie auf Kohlen, will Sie nicht länger aufhalten. Bringen Sie nur die Wirtschaft hoch – soviel Sie können. Der Hof sieht gut aus, sehr gut,“ lobt er, „ich freue mich darüber, man kann nicht wissen, wie’s kommt – – es haben sich Könige trennen müssen von ihren Ländern, warum [39] nicht auch ein armer Landedelmann von seiner Scholle. Auf Wiedersehen, lieber Mohrmann, besten Dank!“

Anton kommt nach Hause, nicht gerade erbaut von seinem Besuche, aber auch nicht verstimmt; er ist in der Lage, dem alten Herrn die Gefälligkeit zu erweisen, warum soll er nicht? Er sucht in der Wohnstube nach Christel, um ihr zu berichten, und da er sie nicht findet, setzt er sich an seinen Schreibtisch, um der Leipziger Bank, bei der er ein laufendes Konto hat, zu schreiben, damit sie die Summe schicke, die er dem alten Baron zahlen soll. Im Begriff, dies zu thun, erblickt er einen Brief, der mit dem Abendblatt der Magdeburger Zeitung dorthin gelegt ist, ergreift ihn und besieht sich die großen energischen Schriftzüge ein Weilchen. „Kenne doch die Klaue,“ murmelt er, „wer ist’s doch gleich in aller Welt? Na, Werden’s gleich sehen.“ Er öffnet das Couvert mit seinem Taschenmesser, faltet den Bogen auseinander und sieht nach der Unterschrift. „I, guck’ mal an – Willi Buchenberg, lebst du auch noch? Na, was will er denn, der alte Bursche? Königlicher Bergassessor? Ich sag’s ja, diese Titel! Na, denn los!“

Er liest den ziemlich langen Brief mit regem Interesse, und als er geendet hat, fängt er nochmal von vorne an. Dann geht er, das Briefblatt in den auf dem Rücken gefalteten Händen, im Zimmer auf und ab, liest nochmals, holt einen Band von Brockhaus, sucht nach, zuerst im Stehen, dann vor seinem Schreibtisch, vergleicht das Gelesene mit dem Brief, streicht sich einigemal über seine erhitzte Stirn und murmelt endlich: „Scheint nicht ohne! Wäre vielleicht näherer Betrachtung wert!“ Dann setzt er sich nieder und sinnt, liest wieder und überlegt. –

Christel findet ihn nach einer guten Stunde am Fenster stehend und in die beginnende Dämmerung starrend. „Anto,“ sagt sie, „du bist hier? Du bist so still gewesen, daß ich dich nebenan gar nicht gehört habe; ich sitze schon ein ganzes Weilchen mit meiner Arbeit da drinnen und sehe über den Hof, ob du nicht kommst.“

„Hättest du nur lieber mal hier herein geguckt, ich warte schon eine Ewigkeit auf dich.“

„Ach? Aber warum riefst du nicht?“

„Na, Scherz beiseite, ich wartete nicht, ich dachte an – du wirst’s ja erfahren seiner Zeit. Und nun falle nicht in Ohnmacht, Kind, ich muß morgen wieder verreisen; kann drei bis vier Tage dauern, daß ich wegbleibe.“

Sie sieht erschreckt zu ihm hinüber.

„Es ist nichts, Kind; wenn’s gelingt, erzähl’ ich’s dir. Frage mich jetzt mal nicht aus, mir geht so wie so schon ein Mühlrad im Kopfe herum.“

„Etwas Unangenehmes?“ forscht sie, trotz seines Verbotes.

„Ach was – im Gegenteil! Es kann sehr angenehm werden, und wenn nicht – hat’s weiter nicht geschadet. Wenn du mir einen Gefallen thun willst, Christel, dann fragst du mich nun nicht weiter, gelt? ‚Sobald’s gar ist, wirds gegessen‘, sagte meine Mutier zum Vater, wenn er wissen wollte, was sie zu Mittag kochte.“

Christel schweigt. Er hat sonst alles mit ihr beredet, und es thut ihr einen Augenblick weh; aber sie sagt sich, daß er seine Gründe haben wird, ihr jetzt keine Mitteilung zu machen von dem, was er vorhat, und sie erkundigt sich mit ihrer freundlichsten Miene: „Was soll ich dir einpacken, Anto? Kommst du aus mit dem Handkoffer?“

„Allemal, Christel! Thue nur genügend Wäsche hinein, es könnte doch möglicherweise, wie schon gesagt, ein paar Tage dauern. Meine Adresse lasse ich dir hier; dem Heine sitze ein wenig auf dem Pelz, der Windhund hat in Regwitz eine Liebschaft. Könntest auch mal auf die Felder fahren, wenn du Zeit hast; in den Auwiesen hauen sie diese Woche.“

„Die Zeit muß ich haben, Anto,“ antwortet sie einfach.

„Bist eine Hauptperson, Christel,“ lobt er und streicht ihr flüchtig die Wange. „Nun paß auf! Uebermorgen kommt Geld von der Leipziger Bank, das händigst du dem Baron aus, bittest um eine Quittung und – hör’, Christel, daß du ordentlich anschreibst, was auf das Schloß geliefert wird! Wir schinden uns genug um die Pacht, und umsonst ist der Tod. Solche Herrschaft hat eine verflucht vornehme Vergeßlichkeit für Kleinigkeiten.“

„Vielleicht auch zuweilen thatsächlich kein Geld,“ lächelt sie.

„Erzieh’ sie nur. Alle acht Tage schickst du ihnen eine Nota.“

„Natürlich, Anto, wenn du es willst.“

Er pfeift ein paar Takte, stellt sich an das Fenster und betrachtet das Schloß, das dunkel und massig wie ein riesiger Würfel da liegt. Nirgends Licht, nur aus den Zimmern der alten Fräulein schimmert ein schwacher Lampenschein durch die Aeste der großen Linde herüber.

„Arme Würmer,“ murmelt er, „’s ist ’ne Sünd’ und ’ne Schande! Ihr könnt sehen, wie ihr durchkommt, wenn der Herr Vater die Augen zuthut; nicht der Ziegel auf dem Dache gehört euer.“

„Was sagst du, Anto?“ fragt Christel und tritt neben ihn.

„Daß es ein verfluchter Egoismus ist, wenn einer Kinder hat und sorgt nicht für sie, sondern sieht zu, wie er sein liebes Ich möglichst gut durchs Leben amüsiert! Gemein ist’s, ein Tier macht’s besser.“

„Du denkst an die alten Fräulein drüben?“ fragt sie. „Lieber Gott! Hast recht, Anto; an ihrer Stelle könnte ich kein Auge zuthun bei dem Gedanken, was wird aus mir? Und dabei soll ich doch jedes Ei aufschreiben, du alter Geizkragen?“ fügt sie hinzu und schmiegt sich ein wenig an ihn.

„So lange der alte Rabe lebt – ja! Denn wenn wir auch umsonst in die Küche stiften würden, was und wieviel wir können, so käme doch alles nur ihm zu gute. Man muß nie helfen, die Leute in ihren Schwächen zu bestärken.“

„Tu wirst ihn schwerlich noch erziehen,“ spricht sie leise, und dabei denkt sie: Wie würde er sorgen für seine Kinder! Und die alte tiefe Traurigkeit legt sich wie lähmend auf ihr Herz.

Er sieht noch immer das Schloß an, und dabei sagt er weich: „Ich kenne dich schon, Christel, ich weiß, was du meinst. Meinetwegen zähle falsch, wenn du ein halb Schock Eier hinüberschickst; es kommt mir wahrhaftig nicht darauf an –“

„Wir haben ja auch genug,“ unterbricht sie ihn.

Er fährt herum. „Du bist himmlisch! Genug? Noch lange nicht! Wollen wir denn immer nur pachten? Nee, Schatz – mein Traum ist die eigene Scholle.“

Sie preßt in der Dunkelheit die Hände aufs Herz. „Für wen denn?“ will es sich auf ihre Lippen drängen, „für uns beide? für uns, die wir fast die beste Zeit des Lebens hinter uns haben? Wir sind ja allein, wir haben keine Kinder, Anto – –.“ Aber sie schweigt, schweigt aus Bangigkeit, daß dieser Gedanke von ihm aufgegriffen werden könnte, ihn lähmen könnte in seiner frischen Lust zur Arbeit, zum Erwerb. Wenn ihr doch Gott diesen einen Wunsch erfüllte, diesen einen! Aber Gott giebt und verfügt über menschliches Wissen und Verstehen. Bei Pastors sind nun sieben, ein achtes wird erwartet, und die arme geplagte Frau seufzte gestern zu Christel: „Ich hätt’ es diesmal dir so gegönnt! Wie soll’s werden mit dem Häuflein?“ Aber der liebe Gott hat Christel wohl vergessen, und sie muß noch dankbar sein, daß Anton nicht murrt – das könnte sie nimmer ertragen.

Und Christel wendet sich um, zündet Licht an und beginnt seinen Koffer zu packen für die morgende Reise.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Acht Tage ist Anton fort, einmal hat er auch geschrieben, aus irgend einem Orte, der auf –rode endigt; und dann ganz unversehens, als sie von den Wiesen nach Hause kommt eines Nachmittags, warm vom Gehen, in einem leichten blauen Leinenkleid, das frische Gesicht versteckt unter dem großen braunen Strohhut, sitzt er in der Eßstube vor dem Vespertisch und ißt, als habe er während der acht Tage seiner Abwesenheit gehungert.

„Anto!“ ruft sie glückselig, „gottlob, daß du wieder daheim bist!“

Und im nächsten Augenblick sitzt sie ihm gegenüber und sieht ihn mit leuchtenden Augen an. „Dir ist etwas geglückt! Dir ist was geglückt,“ wiederholt sie, sein Gesicht studierend, und als er ihr verschmitzt zwischen zwei Schluck Bier zunickt, wird sie rot vor Freude.

„Eine Mühle habe ich gekauft, Christel, bei Winderode.“

„Herr Jesus, Anto – was willst du mit einer Mühle?“ fragt sie erstaunt.

Er schluckt eben an einem großen Stück Schinken. „Du, [42] Christel, du hast ja Geld, willst du dich beteiligen an unserm Unternehmen?“

„Nun spann’ mich doch nicht so auf die Folter, sondern sag’s endlich,“ fordert sie und starrt ihn an mit ängstlichen Augen.

„Ja, sofort! Also kurz gesagt, ich habe dir schon einmal vom Freund Buchenberg gesprochen?“

„Nein!“ sagt Christel.

„Aber, Frau!“ ruft er vorwurfsvoll, „er hängt doch drinnen zwischen den andern Bildern in der Wohnstube mit dem Verbindungsband über der Schulter, dem Schmiß auf der Backe und dem Cerevis.“

„Ach so, ja, jetzt weiß ich,“ unterbricht ihn Christel, „nun, was ist’s mit ihm?“

„Na, der hat im Harz, in der Nähe von Winderode geschürft auf Flußspat. Weißt du, was ‚Schürfen‘ ist?“

„Nein,“ erwidert sie ganz beschämt über ihre Unwissenheit.

„Schürfen ist, sozusagen, das Aufsuchen von einem Mineral unter der Erdoberfläche, und dazu bedarf es der obrigkeitlichen Erlaubnis, eines sogenannten Schürfscheines, in vorliegendem Falle für Flußspat. Er hat also geschürft und ein kolossal günstiges Resultat erzielt; denke dir, chemisch reinen Flußspat hat er gemutet. Weißt du, was ‚muten‘ ist, Christel?“

Sie schüttelt abermals den Kopf.

„Muten nennt man das Ansuchen bei der Bergbehörde um Verleihung des Bergwerkes als Eigentum, behufs Ausbeutung desselben. Hast du das verstanden, Christel?“

Sie nickt.

„Schön! Also wir wollen Flußspat gewinnen, weißt du, was Flußspat ist?“

Sie schüttelt den Kopf, sie weiß es nicht.

„Flußspat ist ein Mineral, kleines Schaf, ein wertvolles, und wird zu allerlei Dingen gebraucht; unter anderm ist es unentbehrlich bei der Emaille- und Porzellanfabrikation, und wenn uns das Unternehmen glückt, fällt uns ein schönes Stück Geld in die Hände. Chemisch reiner Flußspat, was das sagen will!“

„Und dein Freund Buchenberg?“

„Buchenberg ist Bergassessor, hat auf einer Urlaubsreise im Harz umhergeschnüffelt, dann geschürft und schließlich gemutet. Es ist auch alles klipp und klar und absolut kein Schwindel dabei. Der gute Junge würde übrigens sicher kein Sterbenswörtchen von seinem Vorhaben verraten haben, wenn er das Betriebskapital im Portemonnaie hätte; dieses fehlt indes so gänzlich, daß er einen Kompagnon mit dem nötigen Kleingeld braucht. Nun war es ein ganz gescheiter Gedanke, daß er sich meiner erinnert hat – na kurz, ich sehe die Geschichte für gut an und habe ihm ein Kapital in Aussicht gestellt. Nächste Woche geht’s los, da wird der erste Spatenstich gemacht, Beamte und Bergleute sind bereits fest engagiert und das erforderliche Betriebsmaterial ist bestellt –“

„Und du glaubst, daß es rentieren wird?“ unterbricht sie ihn.

„Sonst hätt’ ich mich nicht eingelassen damit. Siehst du, Christel – – aber, mein Gott, das verstehst du doch nicht, überhaupt, man soll nicht soviel davon reden! Und wenn du jetzt ein wenig Zeit hast, setz’ dich her und mach’ deinen Rapport, Christel – was giebt’s Neues auf Wartau?“

Sie sitzen jetzt beide nebeneinander im Wohnzimmer auf dem Sofa und Christel berichtet eine lange Reihe kleiner Vorkommnisse, zuletzt auch, daß Heine sich wirklich verlobt hat und daß die Fräulein vom Schlosse jeden Morgen Buttermilch im Keller trinken und am liebsten einen stundenlangen Schwatz machen. „Gestern haben sie mich sogar zum Kaffee gebeten, als ob unsereiner Zeit hätte wie sie, Anto.“

„Wart’ nur, Christel,“ sagt er ernsthaft, „die Zeit kommt, wo du dich mit deinem Strickstrumpf ans Fenster setzt und Kaffeegesellschaften hältst, wart’ nur!“

„Um Gotteswillcn, das wäre mein Tod, Anto! Ich möcht’s nicht.“

„Wirst schon mögen, Christel, besonders wenn du dann Zeit hast zum Lesen.“ Er lacht, weil sie verlegen wird wie immer, wenn er sie mit dieser ihrer Leidenschaft neckt, und sie schüttelt leise den Kopf.

„Anpumpen müssen wir dich aber,“ sagt er dann und schlägt sie kameradschaftlich auf die Schulter. „Giebst du gern etwas Kapital dazu als stiller Teilhaber – was?“

„Anpumpen? Es ist ja dein, was ich habe,“ erwidert sie, „und du wirst schon wissen, was du thust.“

Und als der unruhige Mann schon aus der Stube gegangen ist, weil er den Verwalter sprechen will, sagt sie still für sich: „Und wenn’s wirklich glückt, wir brauchen’s ja nicht – wozu denn? Ja – wozu denn?“




Zwei Jahre sind verflossen. Es ist an einem kalten Oktobertage, da kommt Anton im Wagen zurück von der Station; neben ihm sitzt ein Herr, den er abgeholt hat. Christel wartet droben im wohlgeheizten Zimmer mit einem Imbiß, und nachdem sich die Herren etwas aufgetaut haben, gehen sie hinüber ins Schloß.

Christel weiß nichts weiter, als daß der Herr der Anwalt des Barons ist, und daß letzterer Geschäfte mit Anton und im Beisein des Rechtsbeistandes zu ordnen hat. Aber sie ahnt etwas, und das liegt wie Centnergewicht auf ihrem Herzen.

Um sie her sieht’s noch ebenso aus wie damals, als sie einzog vor sieben Jahren. Bis auf ein einziges Stück sind’s noch die alten Möbel, und Christel selbst ist noch die stattliche blonde, wie aus dem Ei gepellte Hausfrau von damals, aber es liegt etwas in ihrem Gesicht, etwas Gespanntes, Sorgenvolles, und um die Mundwinkel zuckt’s wie Trauer. Dieses Möbel da, das sich so großartig von sechs Männern die Treppe hinauftragen ließ, dieser eiserne Geldschrank! Da steht er, groß, breit, trotzig, bereit, jeden Augenblick seinem Herrn ein Vermögen zu übergeben, damit sich dieser auf eigene Füße stellen kann, wie er es immer so sehnlich gewünscht hat. Christel hat mit Freude, in die sich auch ein gut Teil Bangigkeit mischte, erlebt, wie das Unternehmen im Harz sich in ein Vermögen verwandelte, in ein recht respektables sogar. Jetzt ist die Anlage Aktiengesellschaft geworden und wirft ihren Gründern einen mehr als reichlichen Gewinn ab. Für Mohrmanns giebt das eine schier fürstliche Rente, so wertvoll ist die Grube geworden.

Christel hat das Anwachsen der Einkünfte wie etwas Unheimliches angesehen und hat es nicht glauben wollen, daß sie jetzt reiche Leute sind. Schließlich hat sie viel geweint, Nächte hindurch so geweint und in ihre Kissen geschluchzt, daß Anton grob geworden ist. – „Heiliges Kreuzdonnerwetter, ist das der Dank dasür, daß man dich zur reichen Frau gemacht hat?“

Sie hat ihre Thränen seitdem verschluckt und ihre Frage: „Ach Gott, für wen denn nur?“ unterdrückt. Anton ist ja so glücklich, und vor zwei Tagen hat er zu ihr gesagt: „Christel, setz’ dich in die Sofaecke, damit du nicht umfällst – ich kaufe Wartau!“

„Es ist recht,“ hatte sie ungläubig geantwortet, „daß wir wieder Sorgen bekommen, denn es ist nicht gut, wenn der Mensch keine hat,“ und weiter kein Wort über das gesprochen, was er im Ernst zu thun beabsichtigte. Aber nun ist er wirklich drüben mit dem Notar, nun drückt ihr die näherkommende Thatsache wie betäubend auf Kopf und Herz. Sie steht am Fenster, obgleich in der Wirtschaft vollauf zu thun wäre, und stiert nach dem stillen Schloß hinüber; wie gelähmt ist sie.

Auf den großen Steinfliesen des Platzes, der vom Wirtschaftshofe durch ein köstliches schmiedeeisernes Thor abgeschieden ist, treibt der Wind sein Spiel mit den dürren Blättern der Linde. Die vorhanglosen Fensterreihen des Schlosses sehen traurig durch den leichten Nebel herüber, wie tote, weit offene Augen; das Portal ist geschlossen. An den zwei einzigen mit Gardinen versehenen Fenstern glaubt Christel Fräulein Josepha von Wartau zu erkennen, die da unbeweglich verharrt und starr auf einen Fleck niederblickt. Wie oft schon hat Christel sie so gesehen, unthätig, freudlos, eine durch Armut Gefangene. Und doch, wie hängen die alten Mädchen an dem Schloß ihrer Väter! Christel hat’s gesehen, wie sich ihre Wangen röteten, wenn sie erzählten vom einstigen Glanz ihres Hauses; sie hatten’s ja noch erlebt. „Als Seine Majestät hier war!“ hatte Josepha erzählt, „damals, als der König uns die Ehre gab, drei Tage unser Gast zu sein,“ erzählte Tonette. Weiße Kleider hatten sie angehabt, [43] weiße Seide, und Perlen um den Hals; und im Bankettsaal hatte der Thronfolger mit Josepha eine Quadrille getanzt nach dem großen Diner, zu dem die adligen Rittergutsbesitzer der Umgegend und die Offizierskorps der benachbarten Garnisonen geladen waren.

O, Wartau war überhaupt historischer Boden! Die Großmutter der beiden Damen hatte so viel erzählen können aus der Franzosenzeit; droben neben der Bibliothek hatte Napoleon zwei Nächte geschlafen. Und der Hof war eines Tages von Kosaken angefüllt gewesen. Und dann der preußische Rittmeister, den nach der Schlacht bei Leipzig sein Bursche bewußtlos bis hierher geschleppt!

Ja, das war eine romantische Geschichte. Der Großvater hatte ihn in der Orangerie untergebracht, er sollte nicht im Schloß verpflegt werden; der alte Herr vergötterte Napoleon. Aber er hatte nicht bedacht, daß in seinem Hause ein schönes Töchterlein aufgewachsen war mit einem Herzen voll glühender Liebe fürs Vaterland, und daß in den Heckengängen des Gartens ein lachender mit dem Pfeil drohender Amor stand; daß der Mondschein so golden über dem herbstlichen Park lag, als scheine er in Sommernächte hinein, und daß die Taxuswände an der Orangerie so dicht und verschwiegen sind. Und der preußische Rittmeister nahm das Schloßtöchterlein mit, als er wieder zu seinem Regiment in Halberstadt ging, und die beiden sind so glücklich, so glücklich gewesen!

An das alles mußte Christel denken und an die leuchtenden Augen der alten Fräulein, die ihr das erzählten.

Auch von noch früheren Zeiten hatten sie berichtet, von damals, als der Freund des Grafen Brühl dies Schloß erbaute und Schäferfeste und Redouten gab nach berühmten Mustern! – Droben hing das Bild der schönen Gräfin Cosel, in blaßgelber rosendurchwirkter Seide, den Fächer in der Hand, das sie dem galanten Schloßherrn auf Wartau zur Erinnerung geschenkt.

Fräulein Josepha konnte sie schildern, jene Zeit mit ihrer verschwenderischen Ausgelassenheit, als sei sie dabei gewesen. Christel sieht sie ordentlich in dem Bankettsaal des Schlosses, der durch zwei Stockwerke geht, auf dem Parkett dahingleiten, alle diese genußsuchenden, prunkvollen, frivolen Männer und Frauen.

Jetzt ist’s totenstill da drüben, die vergoldeten Stuckputten des Saales halten nur noch die Fetzen der schweren seidenen Draperien in den zerbröckelnden Armen, und das wundervolle Deckengemälde – Europa auf dem Rücken des Stieres, der die Wellen des Meeres durchschwimmt, begleitet von einem Heer von Tritonen und Nereiden – sieht auf das völlig leere Gemach hernieder, vor dessen Fenstern graue leinene Zuggardinen der Sonne wegen gespannt sind. Der ungeheure Kamin ist mit Holzlatten vernagelt, in allen Ecken der großen Räume kauert der Verfall und grinst über sein Werk.

Und drunten im Zimmer des Schloßherrn verkauft eben der letzte Wartau seinen Stammsitz, der durch seine und seiner Eltern kraftlose Hände geglitten, welche die Kartenblätter besser zu halten verstanden als ihn.

„Ach, weshalb gerade Wartau?“ sagt Christel. Sie fühlt einen Schauer bei dem Gedanken, daß sie drüben wohnen soll. Warum denn nicht ein einträgliches Mittelgut mit freundlichem Herrenhause und einem kleinen vernünftigen Garten? „Soweit habe ich nie gedacht,“ spricht sie halblaut, „ich wäre zufrieden geblieben als Pächtersfrau – – Und wozu? für wen? Herrgott, gieb, daß Anto eines Tages nicht ebenso frage!“

Sie sieht ihn nach zwei Stunden über den Hof kommen, allein.

Ein rasendes Herzklopfen meldet sich plötzlich: sie ist fast unfähig, sich zu rühren, nur ihr Kopf wendet sich der Thür zu, durch die er jetzt eintritt. Aus leichenblassem Gesicht starren ihre Augen ihn an.

Er streckt ihr beide Hände hin. „Nun, Christel?“

„Und du hast wirklich –?“ stößt sie hervor.

Er nickt stumm, es hat auch ihn mächtig bewegt.

„Und nun, Christel,“ sagt er gerührt, „wollen wir da drüben weiter miteinander schaffen und sorgen, so treu wie bisher in dem kleinen Pächterhause. Zum Hochmütigwerden haben wir beide keine Anlagen, und arbeiten wird’s auch fürder heißen.“

„Drüben? Müssen wir drüben wohnen?“

Er lächelt. „Hier zieht Heine ein, als Inspektor mit seiner jungen Frau.“

„Heine wird Inspektor?“

„Ja! Und sein Ehegespons kriegt die Milchwirtschaft in Verwahrung, und drunten wird der künftige Braumeister wohnen.“

„Anto, fang’ langsam an!“ bittet sie, mit verängstigten Augen.

„Ach was – langsam! Das Ding muß seine Zinsen bringen; die trägt’s nicht aus mit bloßem Ackerbau.“

„Ach, siehst du, Anto – –“

„Red’ nicht, Christel! Bin ich ein leichtsinniger Kerl?“

„Nein, nein, Anto! Aber Wagemut hast du, daß ich staune.“

Er reckt plötzlich seine Riesenfigur in die Höhe und seine Brust dehnt sich. „Ja,“ sagt er fröhlich und laut, „Gott sei Dank, den habe ich! Wer nicht wagt, der gewinnt nicht. Ich muß schaffen, muß wagen; wenn ich das nicht mehr zu thun vermag, Christel, dann bin ich krank oder sonstwie verloren. Also vorwärts mit frischem Mut, Altchen! – Und höre, der Rechtsanwalt kommt nachher zu Tische.“

Sie erschrickt. „Herrgott, ich muß hinunter!“ Und über Hals und Kopf stürzt sie in die Küche, wo die Mägde sie verwundert anstarren. Und als sie nach einem Weilchen, mitten in der Beschäftigung, Anton bemerkt, der vorübergeht mit einigen Weinflaschen in der Hand, läuft sie ihm nach. „Wo bleiben die Herrschaften, wenn wir einziehen?“

„Drüben natürlich! Der alte Herr wird’s nicht mehr lange machen, und die Fräulein haben Freiquartier bis an ihr seliges Ende. Ich dachte, ich macht’ es so recht – wie?“

Sie lächelt und nickt; ihr ist ein Stein vom Herzen gefallen. Sie sollen es kaum fühlen, daß sie Fremde sind, nimmt sie sich vor; sie will’s schon einrichten; sie sollen uns kaum bemerken, den Anto und mich, höchstens, wenn Pastors mal mit den Kindern – – –. Und das ist wieder ein Stich ins Herz. Sie lacht vor ihrem Küchentisch auf, kalt, höhnisch, daß das Mädchen, das neben ihr steht, verwundert aufschaut.

„So! das Abnenschloß, das hätten wir – aber wem werden wir Ahnen sein? Niemand, niemand!“




Bei Pastors hat die Kunde von dem Verkauf Wartaus wie eine Bombe eingeschlagen. Christel ist gegen Abend hingegangen, um zu berichten, mit einem Gesicht so blaß und verlegen, als müsse sie um Entschuldigung bitten, daß sie überhaupt auf der Welt sei.

Zuerst hat sie’s ihrem Schwager gestanden. „Du, Robert,“ sagt sie zu ihm, der in seinem einfachen Studierzimmer sitzt, dessen Luft von dickem blauen Qualm erfüllt ist, „ich muß dir eine Mitteilung machen.“

Er steht vor ihr in einem grauen Schlafrock, den er sich anschaffte, als er heiratete. Der grobe Stoff ist fadenscheinig geworden und oft gestopft; auf dem Rücken, d. h. etwas tiefer unten, sitzt sogar ein großer Flicken; und dieses stark mitgenommene brave Kleidungsstück hat Frau Pastor aus zärtlicher Anhänglichkeit an die Zeit ihres jungen Eheglücks, die es mit erlebte, dankbar mit neuen Aermelaufschlägen und Kragen aus grellrotem Flanell geschmückt, den sie von einem Unterröckchen ihrer Jüngsten erübrigte.

„Nun, liebe Schwägerin?“ fragt der geistliche Herr, in dem gewissen salbungsvollen Ton, der ihm eigen ist, wenn sich jemand vertrauensvoll an ihn wendet. „Doch nichts Böses? Du siehst niedergeschlagen aus.“

„Gar nichts Böses, Robert, aber eine Neuigkeit, die dir überraschend kommen wird – mein Mann hat Wartau gekauft.“

Der Pastor setzt sich unglaublich rasch wieder in den Lehnstuhl, die Pfeife in der zitternden Hand und mit dem dümmsten Gesicht, das er jemals gemacht hat. So starrt er Christel an, die ihm mit ernsten Augen bestätigend zunickt.

„Wartau? Mohrmann – Wartau? Ja aber – ist er denn in der Lage, das – –? Ich weiß ja wohl, daß ihr ein nettes Stück Geld erübrigt habt – aber Wartau? Wieviel [44] hunderttausend Mark? Christel, Christel“ – und nun erhebt er seine Stimme, „du hättest sollen deinen Einfluß als vernünftiges Eheweib aufbieten! Christel – wen der Teufel versuchen will, der wird durch Hoffart verblendet.“

„Ach, Robert, Mohrmann ist der nüchternste Geschäftsmann, den es giebt. Es geht alles mit rechten Dingen zu, aber mich drückt’s, mir ist angst; ich fürchte, ich werde nicht in so große Verhältnisse passen.“ Sie seufzt tief auf.

„Man kann auch in großen Verhältnissen einfach bleiben, Christel.“ Der Pastor hat sich jetzt von der Ueberraschung erholt und klopft ihr auf die Schulter. „Und jemehr Besitz euch Gottes Segen giebt, um so mehr Verpflichtungen habt ihr. Reichtum und Gut ist eine schwere Last. Nun aber – wo – – Der Kauf ist doch perfekt?“ schaltet er ein.

Christel nickt.

„Wo Mohrmann auch mein Patron geworden ist, hoffe ich, daß er sich unseres Kirchleins etwas annimmt! – Sorge du dafür, Christel; das Dach fällt meiner Gemeinde demnächst auf den Kopf.“

„Was ich thun kann, Schwager, das geschieht,“ sagt sie, „und auch sonst, auch sonst mehr als vorher.“

Er hebt die Hand, als stehe er auf der Kanzel. „Wir sind zufrieden mit dem, was Gott uns gab, Christel, wenn er nur meiner Frau Gesundheit spenden will und die Herzen der Kinder gut und rein bewahrt.“

Christel schießen die Thränen in die Augen.

„Hast recht, Schwager; ihr seid reicher als wir,“ sagt sie und wendet sich.

„So mußt du nicht sprechen, liebe Christel; es geschieht alles nach seinem Ratschluß,“ stottert der Pfarrer, betroffen von der Bitterkeit, die aus ihren Worten klingt. „Du bist noch jung, er kann euch noch immer geben, was ihr ersehnt.“

Aber Christel hört es nicht mehr, sie ist schon draußen im Flur und ruft ihren beiden Schwestern, die in der Kinderstube beschäftigt sind, durch den Thürspalt zu: „Mohrmann hat Wartau vorhin gekauft; ich gehe zur Mutter hinauf; wollt ihr Näheres hören, so kommt!“ –

Sie macht die Thür wieder zu und läßt hinter sich in dem eben noch so geräuschvollen Zimmer eine lautlose Stille zurück. Die Nähmaschine ist so jäh verstummt wie das alte dünnstimmige Klavier, auf dem gerade das Menuett aus „Don Juan“ von dem zehnjährigen Gretchen geübt wird; selbst das Lärmen der Jüngsten hat aufgehört, ein wortloses Staunen ist über alle gekommen.

Die alte Frau aber in ihrem Giebelstübchen sitzt wie immer im Lehnstuhl am Tisch vor der Lampe, das Strickzeug – ein ausgewaschenes Kinderstrümpfchen, das einen neuen Hacken beansprucht – in der Hand. Ihr gegenüber die Aelteste, das achtzehnjährige Trudchen, vor einem Haufen Flickwäsche.

„Guten Abend, Mutter!“ sagt Christel und zerrt sich den schwarzen Wollshawl vom Kopfe. „Nur einen Augenblick, wollt’ nur sehen, wie’s geht.“ Sie hat der alten Frau mit den vergrämten Zügen die Hand gegeben, dem jungen Mädchen über den Blondkopf gestrichen und sitzt nun auf dem Sofa, wo sie den schwarzen Kater behutsam zur Seite schiebt. „Mach’ Platz, Peter, mach’ Platz!“

„Wie soll’s gehen,“ murrt die Angeredete, „immer egal so weiter, alle Tage Arbeit, alle Tage Lärm – und der Winter, der alte eklige Winter, und Neues hört man sein Lebtag nicht, oder es ist danach – ärgerliches Zeug!“

„Na, Mutter, dann will ich dir gleich erzählen,“ beginnt Christel frisch, „Mohrmann hat Wartau gekauft heute.“

„I gar!“ sagt die alte Frau, „um Mätzchen zu glauben, bin ich zu alt.“

In diesem Augenblick kommen beide Schwestern herein, die Pfarrerin mit leuchtenden Augen, Louischen, das ältere geplagte Mädchen, mit einem verkniffenen Zug um den Mund.

„Nein, solche Freude!“ ruft die gutmütige Pastorin und fällt Christel um den Hals. „Kinder, nun denkt mal an, unsre Christel als Schloßfrau von Wartau! Nein, Christel, das hast du dir auch nicht träumen lassen!“

„Da könnt ihr Pastors ja ein paar Kinder abnehmen,“ fällt Louischen ins Wort, „adoptieren oder so; und wenn du vielleicht einer Kammerjungfer bedarfst – ich nehme die Stelle – man macht eben verschiedene Carrieren in der Welt.“

„Schwatz’ nicht so albernes Zeug,“ fährt die alte Frau ihre Tochter an, „reiche Leute können ihr Geld allein gebrauchen – gelt Christel, was gehen dich die Pastorskinder an?“

„Sie gehen mich schon an, Mutter, aber ich habe Wartau nicht, sondern mein Mann, und ich glaube, daß er sehr sparsam sein muß, wenn er durchkommen will.“

„Ha! ha! Um den ist mir nicht bange,“ lacht die Greisin, „der versteht’s, hamstert immer so stillweg ein und läßt die Frau sich schinden wie ein Tagelöhnerweib!“

„Das ist nicht wahr,“ sagt Christel empört, „ich habe gearbeitet, weil es mir Freude macht – von Schinden ist keine Rede! Was ich thue, thue ich gern für ihn und für mich.“

„Nicht mal ein Abendmahlskleid hat er dir gegönnt,“ murrt die alte Frau.

„Weil ich keins wollte,“ antwortet Christel, „mein Brautkleid hat’s immer noch gethan bisher.“

„Und dir, Mutter, schenkt er wahrlich genug!“ wirft die Pastorin vorwurfsvoll ein.

„Na, meine Gratulation,“ sagt die Mutter und nickt Christel zu. „Ich brauche nicht viel mehr, aber vergiß die armen Schwestern nicht – ihr habt ja für keinen zu sorgen, außer für euch.“

Christels Blick ist ganz abwesend. „Ich kann Anto keine Vorschriften machen,“ antwortet sie verletzt und erhebt sich.

Da kommt der vorjüngste Bube hereingestürmt und hängt sich an die Falten ihres Kleides. „Trinkt ihr nun alle Tage Chokolade, Tante Christel?“ fragt er aufgeregt, „und sitzt ihr immer Sonntags im Herrschaftsstuhl in der Kirche?“

Sie schüttelt den Kopf und sieht den prächtigen vierjährigen Burschen gerührt an; er ist ihres Mannes Patenkind. „Nein, Antonchen, weder das eine noch das andere.“

„Sag’ nur der Tante Christel, sie soll dich mitnehmen,“ ruft Louischen laut lachend.

„Nimm mich mit, Tante,“ bittet das Kind, „weil du ja doch keinen Jungen hast!“

Die Pastorin reißt das Bürschchen zurück. „Hast du deine Mutter nicht mehr lieb?“ fragt sie streng, „möchtest du fort von ihr?“

„Du kannst mich doch besuchen!“ heult der gekränkte kleine Mensch. Dann aber schließt er die Arme um seine Mutter, stürmisch zärtlich, und widerruft bitterlich weinend sein Verlangen: „Nein, nicht fort, Mama! Nicht fort – bei dir bleiben!“

Die Pastorin wirft Christel einen stolzen Blick voll Mutterfreude zu. „Ich bin reicher als du!“ steht darin, „ich tausche nicht mit deinem großen Schloß um eins meiner Lieben. Arme Christel!“

„Ich muß nun gehen,“ sagt diese fröstelnd. „Guten Abend, Mutter – guten Abend, Schwestern!“

„Wann zieht ihr denn ein,“ ruft die Greisin einlenkend. „Ich will dir doch helfen,“ fügt Louischen großmütig hinzu.

„Ich weiß nicht, was Anto beschlossen hat,“ antwortet Christel und geht mit der Pastorin aus der Thür. Und auf der Treppe – der Bub’ ist schon voran gesprungen – umarmt die Pastorin die stille Frau. „Du kennst ja Mutter und Louischen, Christel? Sie können ihre Freude nicht so recht zeigen, aber ich kann dir sagen, ich freue mich so für euch, es ist schön, wenn Arbeit und Mühe so sichtbar gesegnet werden. Möge das alte Glück mit hinüberziehen in das Herrenhaus und –“ sie bringt ihren Mund ganz dicht an das Ohr der Schwester, „das Storchnest da drauf – weißt schon – möge dir Glück, bringen!“

Christel drückt ihr die Hand und geht schweigend hinaus auf die dunkle Dorfstraße. Der Wind hat sich stärker aufgemacht; in der Ulmenallee, die zum Gutshofe führt, schüttelt er die Aeste, daß sie ächzen und klappern. Das Schloß dahinter ragt massig und finster in die Nacht hinaus.

Und da hinein soll sie? Ihr ist’s plötzlich, als laure dort, in den weiten Gemächern, ein düsteres Unheil auf sie; und als könne sie seinem Anblick entgehen, biegt sie unwillkürlich vom Wege ab und schreitet hinter der Mauer des Schloßgartens bis [46] zur Gärtnerwohnung, von der aus sie durch den Gemüsegarten in das Pächterhaus gelangen kann. Wie um sich zu beruhigen, wandert sie noch ein paarmal in dem Hauptgang, der den Park von dem Wirtschaftsgarten trennt, auf und ab. Da wurzelt plötzlich ihr Fuß am Boden. Drüben, auf dem Platz im Park, wo die Sonnenuhr sich befindet, steht unbeweglich eine dunkle Gestalt und schaut zu dem Schlosse empor; deutlich hebt sie sich gegen die helle Mauer ab und Christels an die Dunkelheit gewöhnte Augen erkennen Josepha von Wartau. Sie verharrt da wie aus Stein gemeißelt; unheimlich dünkt es Christel.

Aber auch sie bleibt jenseit der niedern Buchsbaumhecke unbeweglich. Und plötzlich hebt das alte Mädchen die ineinander gefalteten Hände gegen das Schloß empor mit einer verzweifelten Gebärde, dann schlägt sie dieselben vor das Antlitz und sich zur Erde werfend, weint sie laut und leidenschaftlich.

Jeden Ton hört Christel. „Arme, arme Beraubte!“ murmelt sie, „das ist der Abschied von dem Frieden deiner Kindheit, den Wünschen deiner Jugend, dem Stolz deiner alten Tage! Du Aermste, wenn ich könnte, ich gäb’s dir wieder – wie gern? Das weiß nur ich – und Gott!“




Fräulein Tonette sitzt an diesem Abend im Zimmer des alten Barons. Sie breitet eben wieder geduldig die Decke über seine Füße, die er bereits zehnmal abgeworfen hat, denn er ist furchtbar aufgeregt. Seine älteste Tochter hat ihm zum erstenmal in ihrem Leben zu widersprechen gewagt.

„Ich denke, es ist besser für dich, Papa, und auch für uns, wenn wir hier bleiben.“

„Besser? Wieso? Dieses Hundeklima kann ich nicht vertragen,“ antwortet er.

„Der Doktor sagt, die Reise würde dich zu sehr angreifen, Papa.“

„Schockschwerenot! Was der Kerl sagt, danach habe ich mich noch nie gerichtet!“

„Und außerdem – unsere Mittel erlauben es auch nicht, Papa. Sei so gütig, Papa, hör’ mir zu: die beim Verkauf erübrigte Summe ist so fabelhaft gering, sie würde bei einer Reise zu vieren nach dem Süden – – “

„Zu vieren?“ grollt er.

„Ach, Pardon, Papa – zu fünfen, denn du wirst doch Bröse nicht entbehren können?“

„Zu fünfen?“ donnert er, „seid ihr verrückt geworden?“

„Ja, wo soll denn Edith bleiben, wenn Josepha und ich dich begleiten?“

Er bekommt einen plötzlichen Lachanfall, und wie immer endigt dieser in einem erstickenden Husten. Dabei stößt er in langen Pausen hervor:

„Edith? ja ja – ich hatte es ganz vergessen – ich dachte immer – es wär’ genug des Segens – mit euch beiden – ha ha – noch ein Mund mehr, der – gefüttert werden soll!“

Seine Tochter hat ihm soviel als möglich Linderung gebracht, Thee und Wasser, und sie reibt ihm den Rücken, denn er hat sich seitwärts über die Lehne seines Stuhles gebeugt und sieht blaurot aus.

„Ich schere mich den Teufel darum,“ kräht er endlich, „mag sie hier bleiben, diese Edith, mit der Thränenweide von Josepha. Du und Bröse, ihr kommt mit.“

„Aber du müßtest so gut sein, Papa, und ihnen eine bestimmte Summe anweisen für die Zeit unserer Abwesenheit.“

„Bis aufs letzte wird man ausgeplündert!“ schreit er, „bis aufs letzte! Und heute noch bereue ich die blödsinnige Stunde, in der ich eurer Mutter meinen Antrag machte. Ich wollte gar nicht heiraten, ich wollt’ nicht! Aber die Sippe hat nicht geruht: der Name dürfte nicht aussterben – Na, und nun? Und nun?“

Er fängt wieder gellend an zu lachen.

„Dich hat der Verkauf aufgeregt; komm’, Papa, trink etwas Himbeerwasser, es wird dich beruhigen,“ sagt die große starke Dame, die in ihrem einfachen Kleide, dem glatten Scheitel und der plumpen Taille nicht wie eine Dame aussehen würde, wenn nicht die stolze Nase, der fein geschnittene Mund und die wundervoll geformten, peinlich gepflegten Hände gewesen wären. Sie sieht den erschöpften Greis mit einem merkwürdigen, einem gar nicht kindlichen Blick an, während sie ihm zu trinken giebt. Er nimmt’s in kleinen Schlückchen, wie die Kinder trinken, und sinkt dann aufstöhnend zurück.

„Soll dich Bröse nicht lieber ins Bett bringen, Papa?“ fragt sie dann.

„Nein, ich schlafe doch nicht, aber du kannst gehen, Tonette. Sage deiner Schwester, daß sie auf Wartau bleibt mit dem Kinde. Wohnung habe sie, im übrigen müßten sie auskommen mit dem, was ich ihnen gebe – viel kann’s nicht sein.“

„Sie richten sich sicher recht sparsam ein, Papa,“ beruhigt Tonette, „nur weiß ich nicht – – aber davon sprechen wir später, Papa.“

„Was denn nun schon wieder?“ schreit er.

„Es ist ja nichts –“ murmelt sie.

„Doch! Ich kenne schon diese Manöver, wenn euch etwas nicht paßt. ‚Davon sprechen wir später‘, heißt’s dann.“ Er ahmt die sanfte Stimme der Tochter nach. „Weiß schon, was dahinter steckt – die Mauern von Wartau sind nicht dicker als eure Köpfe.“

„Ich dachte, weil Josepha so schwächlich und weil sie seit einer Reihe von Jahren gewohnt ist, den Winter im Süden zuzubringen, und sie infolgedessen möglicherweise unser hartes Klima hier nicht mehr verträgt, ob es nicht besser sei, du läßt mich, statt ihrer, hier?“

„Und ich armer Krüppel kann die nervöse zimperliche Person bedienen?“ fragt er mit grimmigem Humor. „Schön, schön, meinetwegen! Auch Bröse kann ihr ja bei Nervenzufällen als Kammerfrau aufwarten. Na, dann bin ich ja bestens versorgt! Schön, schön – also die Josepha!“

„Ich werde mitkommen, Papa, es ist abgemacht,“ sagt Tonette verdrießlich und mit harter Stimme. Sie hat das Umherreisen so satt, das erbärmliche Reisen, die billigen Hotels, die schlechte Behandlung seitens der trinkgeldenttäuschten Kellner – sie wäre so gern hier geblieben und sie wäre schon durchgekommen mit der Edith. Sie versteht es, billig zu leben, und so wenig Christel die Eier zählte und die Butter wog, so wenig zählte und wog sie nach; sie kann ganz gut Almosen nehmen, ohne sich verletzt zu fühlen, und kommt prächtig weg mit ihrem herablassenden Hochmut solchen Leuten gegenüber.

„Ob dieses Mädchen, diese Josepha, mir wohl den Fuß in mein Zimmer gesetzt hat seit dem Verkauf von Wartau?“ grollt er weiter.

„Sie ist so maßlos unglücklich über den Verlust des alten Familienbesitzes, als stände sie am Sarge eines lieben Menschen,“ sagt Tonette, die Klinke schon in der Hand, „es ist ihr wie mein einziger Wunsch, nach all dem Schweren, das uns traf, hier unsere alten Tage zu verleben.“

„Kann sie doch auch, Herrgott nochmal!“

„Ja, Papa, das können wir, aber – als Mieter.“

„Schön, dann als Mieter!“ schreit er laut, „ich hab’ ’s Geldmachen nicht erlernt. – Gute Nacht!“

Tonette verläßt das Zimmer, geht durch den Flur die breite Treppe hinan in die beiden Stuben, die sie und ihre Schwester gemeinschaftlich bewohnen. Es ist ganz dunkel hier, aber von dem Ruhebette, das inmitten des Raumes steht, schallt ein leises Schluchzen.

„Josepha,“ sagt Tonette hart, „nimm dich doch zusammen – es ist nun mal nicht anders!“

Die Angeredete fährt empor. „Sag mir nichts, ich bitte dich, Tone, sag mir nichts!“ ruft sie.

„Doch sage ich dir etwas – Vater will, daß du hier bleibst, Josepha.“

„Ich bleibe nicht hier, ich gehe ins Stift!“

„So! Und das Kind? Du weißt doch, Edith kommt am ersten November aus der Pension.“

„Du bist ja da, Tonette.“

Tonette lacht spöttisch. „Ich kann mich aber nicht in zwei Teile schneiden!“

„Ach so! Ich soll hier bleiben mit Edith, während ihr – – Das hat Papa so bestimmt?“

„Das hat Papa so bestimmt.“

[47] „Danke! Ich mag nicht, ich kann nicht! Laßt mich in Ruhe in meinem Stift leben, weiter will ich nichts mehr.“

„Machst du dir das Leben schwer!“ murmelt Tonette. „Meinetwegen!“

„Die neue Herrin von Wartau kann Edith ja in Pension nehmen,“ schließt Josepha eigensinnig, „bis du wieder zurück bist, mein’ ich. Meine Nerven halten ein junges Mädchen nicht aus.“

„Ja, ja,“ antwortete die Schwester, „beruhige dich nur, es wird schon alles ins Gleiche kommen. Hier sind deine Baldriantropfen, leg’ dich schlafen; mit all deinem Schreien und Weinen kriegen wir Wartau nicht wieder. Ich wünschte, du sähest das ein, und daß es auch schließlich besser ist, die Geschichte wird freier Hand verkauft als zwangsweise – das begreifst du hoffentlich mit der Zeit noch. Ein jeder wäre nicht darauf eingegangen, uns gutmütigerweise hier wohnen zu lassen bis ans Ende.“

Josepha hat sich aufgerafft und läuft bis zur Thür. „Nicht ein Funke von Stolz ist in dir,“ schreit sie ihrer Schwester zu, „nicht ein Funke von Stolz und Pietät! Gesinnungen hast du wie eine Tagelöhnerin, nein, schlimmer noch, denn selbst die hängt noch an ihrer Kate – ich schäme mich, daß du meine Schwester bist!“

Und dann fällt die Thür hinter ihr ins Schloß und sie läuft voll Jammer und Verzweiflung in die Nacht hinaus nach dem Garten, in dem sie ihre Kinderspiele gespielt und der jetzt Fremden gehört. Und dort bricht sie zusammen und liegt auf der feuchten Erde an der Sonnenuhr lange Zeit.

Tonette sucht ihr Lager auf. Daß ihr sehr behaglich zu Mute ist, kann sie nicht behaupten, aber sie hat es sich längst abgewöhnt, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, sie ist schon zufrieden, wenn’s nicht ganz so schlimm wird, wie sie gefürchtet. Gottlob, sie behält doch wenigstens das Dach der Väter über dem Kopf, so lange sie lebt, wenn ihr auch kein Ziegel dieses Daches mehr gehört, sie braucht nicht in einer jämmerlichen Mietswohnung zu hausen. Mit diesem tröstlichen Gedanken schläft sie ein.

Um Mitternacht wird sie geweckt. Bröse ruft vor der Thüre: „Gnä’ Fräulein, kommen Sie doch, ich glaube – der Herr – mit dem Herrn ist’s nicht recht –“ Aber so hastig sich beide Schwestern auch ankleiden, so rasch sie die Treppe hinuntereilen, sie kommen doch nur gerade zurecht, um den letzten Seufzer des Vaters zu hören.

„Das ist ein Herzschlag gewesen,“ meint Bröse, während die Schwestern vor dem Totenbette stehen, ohne noch recht zu begreifen.

Es ist nur spärlich erhellt, das große hohe Gemach. Die Kerze, die Tonette jetzt in die zitternde Hand nimmt, um das stille Antlitz deutlicher zu sehen, wirft zuckende Lichter über die Züge des Entschlafenen, dem der Tod nichts nehmen konnte von dem verbissenen Schmerz seiner letzten Stunden. Der Diener ordnet, leise schluchzend, die Decken und legt die mageren, erkaltenden Hände seines alten Herrn ineinander.

Josepha aber fällt ihrer Schwester um den Hals, und weinend sagt sie:

„Nun find’ ich ihn wieder, Tone, nun versteh’ ich ihn – er hat’s nicht überleben können, er ist an dem Verlust von Wartau gestorben – –.“

Und Tonette streicht der Schluchzenden schweigend über das ergraute Haar.

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Ein düsterer Tag, der Begräbnistag. Nachmittags drei Uhr wird die Feierlichkeit stattfinden.

Christel heftet ihrem Mann auf den nagelneuen Cylinder einen schwarzen Kreppstreifen. Anton, der sein Lebtag nicht eitel war, steht heute eine halbe Stunde vor dem Spiegel und ordnet an seiner Toilette. Christel lächelt, obgleich es ihr gar nicht so zu Mute ist. Sie hat starkes Kopfweh, etwas, was sie sonst nicht kennt.

„Hast du die Enkelin schon gesehen?“ fragt sie dann.

„Nein – du?“

„Ich sah nur so ein schmales schwarzes Figürchen die Treppe hinaufhuschen, als ich aus dem Tafelzimmer kam, wo der Tote aufgebahrt ist. Wie der Blitz war sie oben; sie muß noch sehr jung sein.“

„Achtzehn Jahre, wie Fräulein Tonette sagt. Lebe wohl, Christel – bitte, halte ein Glas Grog parat, wenn ich wieder komme, das Wetter ist so naßkalt.“

Als Anton über den Herrschaftshof schreitet, stehen wenigstens zwanzig Equipagen in Reih’ und Glied dort. Der begüterte Adel der Nachbarschaft ist vollständig erschienen, Anton erkennt dies aus den Livreen der Kutscher und an den Pferden.

Der neue Besitzer von Wartau erscheint fast als letzter, wie er sofort bemerkt. In dem großen Zimmer zu ebener Erde, dessen auf den Flur, rechts und links von der breiten Treppe, mündende Flügelthüren weit offen stehen, ist die Trauerversammlung um den Sarg geschart, nur Herren. Die Gegenwart der Damen hat sich der Tote in einer eigenhändigen, von ihm für sein Begräbnis zurückgelassenen originellen Bestimmung, ohne näheren Kommentar, verbeten.

Der bereits geschlossene Sarg ist mit der ganzen Orangerie umstellt, über die Wartau verfügt, und auf hohen Kandelabern blühen ganze Büschel weißer Kerzen aus dem ernsten Grün hervor.

Aller Augen fliegen zu Mohrmann hinüber, als er jetzt eintritt und grüßt. Er hätte sich in seiner stolzen Persönlichkeit nicht besser präsentieren können als in diesem Augenblick. Einige kennen ihn schon, andere fragen mit Blicken ihre Nachbarn: „Ist er das?“ Sein Gruß wird teils artig, teilweise sogar respektvoll erwidert, und der alte Graf Altwitz sagt zum Amtsrat Sorben: „Verteufelt anständiges Exterieur.“

„Kerl hat einen großartigen Dusel gehabt,“ meint der Freiherr von Rothenbach auf Gitschwitz.

Anton reiht sich irgendwo ein, denn eben betritt sein Schwager mit den drei Hinterbliebenen den Saal. Die beiden alten Töchter führen zwischen sich ein junges Mädchen, ein zierliches, noch kindliches Geschöpf, dessen große mandelförmige Augen unter einem wirren Gekräusel seidiger Stirnlöckchen mit ängstlicher Scheu den Sarg umfassen, mit der Scheu, die die Jugend unwillkürlich vor dem Tod empfindet. Sie hat ein rundes, reizend geformtes Gesicht, sie ist eine Schönheit, darüber sind sich in einem einzigen Augenblick sämtliche Herren klar, die der Enkelin des Toten entgegensehen.

Anton geht es wunderbar. Er hört kein Wort von der Trauerrede, er sieht nicht die Menschen neben sich, nicht den Sarg, in dessen Ritterschild sich Kerzenstrahl und falbes Tageslicht spiegeln. Er steht hinter einer Doppelreihe schwarzbefrackter Herren, hat die Hand um eine Stuhllehne gekrampft und starrt das schöne Mädchen an, zwischen den beiden alten Fräulein, deren Gesichter in schwarzem Krepp fast verschwinden. Die dunklen Augen des Mädchens schweifen wie fragend über alle diese fremden Männer, sie streifen die Wände des Gemachs und bleiben endlich zerstreut an dem Deckenbild hängen, an einem Bacchantenzug, der mit faunischer Lust sich dahin wälzt, bocksfüßige tanzende Männer, kaum bekleidete Weiber. Sie wird rot, schüttelt fast unmerklich den Kopf und sieht wieder geradeaus. Sie müht sich offenbar, den Worten des Geistlichen zu folgen, und plötzlich, wie angezogen von Antons Blicken, bleiben ihre Augen an ihm hängen. Er bemerkt, wie der Ausdruck der Zerstreutheit blitzartig aus ihren Augen verschwindet, wie sie ihn anstarrt mit unverkennbarem Interesse; die feinen Nasenflügel blähen sich ein wenig, eine einzige Sekunde nur, dann senkt sie die Lider.

„Fränze!“ murmelt Anton.

„Amen!“ sagt der Geistliche in diesem Augenblick, und der Schwärm der Anwesenden kommt in Bewegung und drängt zu den Hinterbliebenen. Die drei Damen stehen da wie Fürstinnen und nehmen von jedem der Vorüberdefilierenden die üblichen Beileidsworte in Empfang. Es ist der letzte Akt der alten Vornehmheit, dieses standesgemäße Begräbnis. Auch Anton tritt zu ihnen.

Tonette streckt ihm die Hand hin und nennt ihn: „Lieber Herr Mohrmann.“

Josepha hält beide Hände in den Falten ihres Trauerkleides verborgen; sie senkt kaum den Kopf bei seinen hervorgestotterten Worten; grenzenlos hochmütig ist das scharfgeschnittene vergrämte [48] Gesicht. Das junge Mädchen hat ihn mit einem Ausdruck der Enttäuschung angeschaut, als der Name „Mohrmann“ an ihr Ohr schlägt, ganz anders als vorhin. Seine Stimme bebt etwas, als er spricht, dann nötigt ihn ein weiterer Trauergast, Platz zu machen. Er tritt in den großen Flur, wo die Herren sich sammeln.

Die Träger nähern sich dem Sarge, die Damen ziehen sich in das Zimmer des Verstorbenen zurück, von wo aus sie sehen können, wie der letzte Baron Wartau das Haus seiner Väter verläßt, das schon nicht mehr sein war.

Im Hofe, der in grauer Dämmerung liegt, sprühen jetzt Fackeln auf, die Tagelöhner des Gutes bilden Spalier; er ist dicht gedrängt voll Menschen, fast das ganze Dorf ist anwesend.

In dem uralten Kirchlein unter dem Altar befindet sich die Gruft der Wartaus; dorthin geleiten sie ihn jetzt. Der Zug setzt sich in Bewegung, der Fackelschein wirft grelle Streiflichter über die Linden zur Seite der Freitreppe, über die lächelnden Putten, die die steinerne Einfassung der weit geöffneten Gitterpforte schmücken.

Um das Dach des Pächterhauses und die Giebel der Scheunen zuckt der Flammenschein, und Christel steht am Fenster und sieht den Kondukt vorüberziehen. Sie späht nach Anton – natürlich, da ist er, sie hat ihn schnell herausgefunden, er ragt ja so weit über alle die anderen hinaus, auch über den Herrn, der neben ihm geht.

Er sieht nicht hinauf, er geht mit gesenktem Haupte, als sei ihm das Liebste auf der Welt gestorben. Und jetzt macht er eine Gebärde, als wische er eine Thräne aus dem Auge. Nein, er hat nur den Hut ein wenig gehoben und faßt sich an die Stirn, als habe er Kopfweh. Er wird doch nicht? Im Dorfe geht die Grippe um, Christel selbst fühlt sich unwohl. Um Gotteswillen, sie will tausendmal lieber selbst krank werden, wenn nur Anton gesund bleibt; er ist so ungeduldig dabei, sein Gesicht drückt eine so große Qual aus, schon bei Kleinigkeiten; sie kann ihn nicht leiden sehen, den blonden Riesen.

Als er endlich nach Hause kommt, brodelt das Wasser in der Spiritusmaschine, der Tisch vor dem Sofa im Wohnzimmer ist mit blendend weißem Drell gedeckt und mit kalten Speisen besetzt. Die Lampe brennt, es ist warm und behaglich hier, und Christel sagt freundlich: „Ich dachte, es wäre dir heute lieber, hier allein zu essen, Anto? Du bist von all den Geschichten so abgespannt.“

Er sieht sich um und atmet auf. Es ist ihm in dieser trauten Umgebung, als falle ein eiserner Reif von seiner Brust, der sie pressend und atemerschwerend umspannt hielt.

„Gute Christel,“ sagt er gerührt, „du denkst doch an alles!“

Sie hat ihn noch nie so weich und dankbar sprechen hören und sieht ihn ganz verwundert an; derartige Rücksichten hat sie doch täglich für ihn? „Die Feierlichkeit hat ihn angegriffen,“ denkt sie, „er hat ein Kinderherz, der gute Mensch.“ Und als er nach einem Weilchen umgekleidet aus dem Schlafzimmer kommt und sie sich gegenübersitzen, lächelt sie ihn an, trotz ihrer quälenden Kopfschmerzen.

„Trink’ etwas Warmes, Anto!“

Er mischt mechanisch den Grog und beginnt zu essen, ebenfalls ganz mechanisch.

„Anto,“ fragt Christel den ins Leere hinausstarrenden Mann, „war die junge Enkelin zugegen bei dem Trauerfest?“

Er fährt wie aus einem Traume empor. „Ja!“ sagt er dann kurz.

„Wie sieht sie aus? Ist sie hübsch?“ erkundigt sie sich, weniger aus Neugier, als nur um etwas zu sprechen.

Er nimmt sein Glas und leert es in einem Zuge. Dabei ist er rot geworden. „Ich weiß es nicht,“ antwortet er endlich. – Die erste Lüge ist gesprochen!

Christel fällt’s nicht auf; als ob er für dergleichen Augen hätte, zumal jetzt, wo ihm tausenderlei im Kopfe herumgeht! „Hat Robert gut geredet am Sarge?“

„Ich weiß es nicht, Christel – ich glaube, ja – na, was so bei dergleichen Gelegenheiten gesagt wird,“ antwortet er ungeduldig.

„Neben wem gingst du denn eigentlich, Anto, hinter dem Sarge?“

„Neben Graf Altwitz. Der sprach mich an, als der Zug sich ordnete.“

Jetzt ist ein Lächeln in seinen Augen. „Er sagte, unsere Interessen träfen ja stark zusammen; es ist wegen der Uferausbesserungen des Flusses, weißt du.“ Und nun spricht Anton weiter von den nächsten Zukunftsplänen. „Wir müssen bald in Ordnung kommen, Christel,“ ist der Schluß von jedem seiner Sätze. „Heine will Anfang November heiraten,“ fährt er fort, „in der nächsten Woche nach der Uebernahme ziehen wir hinüber. Etwas anders wird’s werden – ja – etwas ungewohnt – ja – aber das hilft nun nichts, die verängstigten Augen, die du machst, Christel, sind völlig überflüssig. Du wirst dich schon ganz stattlich ausnehmen,“ setzt er hinzu, „als Frau Rittergutsbesitzer Mohrmann. Und zum Visitenfahren schenke ich dir ein schwarzes Atlaskleid; aber erst die Arbeit und dann das Vergnügen.“

Sie lacht mit blassem Gesicht. „Was das Vergnügen anlangt, Anto –“

„Wart’ ab! Wenn der Löwe erst Blut geleckt hat, Christel –“

„Welche Zimmer werden wir denn bewohnen?“ fragt sie.

„Ich nehme das des alten Herrn, weil ich von dort am besten den Hof übersehen kann; es wird ganz so bleiben können, wie es jetzt ist. Daneben, wo der alte Herr gestorben, schlafen wir – hab’ keine Angst, der spukt nicht. Das Tafelzimmer behält seine Bestimmung, und die andern Räume benutzen wir für Besuch. Oben? da rühren wir vorläufig die Hand nicht daran, die Prunkzimmer mögen bleiben wie sie sind, da müßte nämlich gebaut, alles renoviert werden. Die Fräulein behalten die beiden Zimmer über uns, die sie jetzt bewohnen, und bekommen ein drittes dazu für die Enkelin.“

„Ich bitte dich, Anto, laß ein paar von den Stuben unten tapezieren – die schreckliche Malerei an den Wänden, ich kann sie nicht sehen!“

„Hm! Ja, können wir machen, Kind. Einige Familienbilder und wertvolle Andenken nehmen die Fräulein mit hinauf, im übrigen ist der ganze Krämpel unser. Erst wollten sie Auktion machen, aber ich hab’s in Bausch und Bogen mitgekauft. Es soll nämlich eine Urkunde geben, laut welcher eine ganze Reihe wertvoller, genau bezeichneter Gegenstände in Wartau verbleiben muß, selbst wenn es durch Erbschaft oder Verkauf in andere Hände übergeht. Na, wie gesagt, ich red’ erst morgen noch eingehender mit Fräulein Tonette – ist ein ganz vernünftiges Frauenzimmer. Aber du hast Kopfweh, Christel, leg’ dich! Ich habe nur noch ein paar Worte an den Rechtsanwalt zu schreiben.“

Sie ist wirklich kaum fähig, sich aufrecht zu erhalten, läßt den Tisch abräumen und geht.

Anton stellt die Lampe auf den geöffneten Sekretär, schreibt einen Brief und sitzt dann, die Feder in der Hand, und sinnt. Endlich drückt er ein kleines Geheimfach auf, nimmt ein Bündelchen Briefe, die mit einem verblaßten roten Bändchen zusammengebunden sind, heraus und zieht eine Photographie hervor, die er vor sich hinlegt und betrachtet.

„Zum Schreien, diese Aehnlichkeit, wenn sie sich auch schließlich doch nicht gleichen,“ sagt er halblaut; „aber dasselbe Genre, obgleich die eine Putzmacherin, die andere Baronesse ist. Der Mund, der eigensinnige, geschweifte ist’s ganz, und diese dunklen, scheinbar so kühlen Augen ebenfalls, das Ganze – Rasse, Vollblut, edelstes Vollblut! Ach, die Fränze, wie lange habe ich nicht an die gedacht! Die Fränze – eine Liebelei nur, ja, ja! Aber wundervoll war doch diese Zeit; Herrgott, was für ein Philister ist man geworden! Und da kommt die Fränze mit einem Male wieder – die Fränze!“

Er stützt den Kopf auf den Arm und sinnt, und sinnt. Als er sich endlich erhebt, fühlt er, daß er aus der frohen ruhigen Selbstzufriedenheit der letzten Jahre wachgerüttelt, ausgestoßen ist. Ein verwünschtes Gefühl, so weich und weh, und so unruhig! Gottlob, daß es Arbeit giebt morgen, mehr Arbeit beinahe, als er leisten kann!

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 3, S. 69–76

[69] Der erste Advent; weiße kleine Flocken in schneidend kalter Winterluft und prachtvolle Schlittenbahn. Von den Dächern hängen große Eiszapfen; die Putten im Park, die Schäfer und Schäferinnen, ja die Göttin Flora selbst, alle haben riesige Puderperücken auf. Die meisten Fenster des Schlosses zeigen glitzernde Eisblumen, nur die mit Doppelscheiben versehenen der bewohnten Zimmer nicht. Hinter diesen letzteren zeichnen sich die Spitzenmuster der Gardinen deutlich ab.

Christel sitzt im sogenannten Damenzimmer am Fenster und blickt in den Garten hinaus, in den schweigenden weißen Garten. Es ist ein erhöhter Platz, von Holzschranken umgeben; vor ihr steht der neue Nähtisch, hinter diesem baut sich eine Gruppe Blattpflanzen auf. Ein grüner altdeutscher Kachelofen strahlt behagliche Wärme aus. Die Sessel und Sofas sind bequem und stehen in hübscher Anordnung zwanglos auf weichem Smyrnateppich. An den Wänden hängen alte Familienporträts der [70] Wartaus, und ganz in der Ecke hat Christels Reliquienschränkchen Platz gefunden. Die Photographien ihres verstorbenen Vaters, der Mutter und die der Schwestern, des Herrn Pastors und der Kinder hängen in der tiefen Fensternische; Christel kann sie da immer sehen. Auf einem Zierschränkchen tickt eine köstliche alte Uhr im Schildkrotgehäuse, reich mit Gold verziert, die zum Schloßinventar gehört hat. Es ist alles sehr schön, sehr behaglich, aber Christel hat Heimweh, furchtbares Heimweh nach ihrem alten einfachen Stübchen im Pächterhause drüben.

Sie hätte so gern das Eckzimmer bewohnt, es wäre ihr wenigstens der Blick auf den Hof geblieben, hinüber zu der verlassenen Stätte ihres bisherigen Lebens, aber das Eckzimmer ist die Stube mit den Wandmalereien, und Anton hat trotz seines Versprechens, tapezieren zu lassen, plötzlich erklärt, er wäre kein Barbar und werde sich hüten, solch interessante Fresken zu verkleistern. Anton hat gewiß recht, und sie versteht nichts von Kunst, Fräulein Tonette aber hat ihr soviel darüber vorgeredet, daß ihr ganz schwindlig geworden ist. Sie ist stillschweigend in das zweite Zimmer retiriert; freilich, dessen Fenster gehen nach dem winterlichen Garten, und außer ein paar Krähen ist dort jetzt nichts zu sehen als Schnee, endloser Schnee; und Christel hat so sehr viel Zeit jetzt, aus dem Fenster zu schauen. Christel ist krank aus Mangel an Arbeit; die Milchwirtschaft hat die Frau des Inspektors Heine übernommen, eine von Christels ehemaligen Milchstudenten; sie macht ihre Sache ordentlich, das ist wahr.

In der Herrschaftsküche waltet eine perfekte Köchin. Christel läßt es sich natürlich nicht nehmen, nach wie vor die oberste Stimme in diesem Ressort zu haben; sie führt auch Speisekammer- und Kellerschlüssel noch immer am Haken des Gürtels, giebt alles heraus, ordnet jedes an; sie ist beim Gänse- und Schweineschlachten noch auf dem Platze von morgens bis abends, aber sie hat doch an den gewöhnlichen Tagen sehr, sehr viel Zeit.

Anton wünscht, daß sie von elf Uhr vormittags an in einer Toilette ist, in welcher sie Besuche empfangen kann, und sie fühlt sich am wohlsten in ihrem Arbeitskleid und der großen Wirtschaftsschürze. Aber freilich hat er recht, diese vornehmen Besuche kann man nicht empfangen mit rotem Gesicht vom Herdfeuer. Ach, das Damespielen fällt Christel recht schwer! Schon die Fahrten nach den Gütern rings umher, die Erwiderung der Besuche – sie sitzt immer da wie auf den Mund geschlagen und fühlt, daß sie bald rot, bald blaß wird. Anton freilich macht ihr linkisches Benehmen wieder wett, er ist sofort mitten in einem Gespräch und weiß es spielend im Fluß zu erhalten. Woher er das nur hat? Ob er das früher schon konnte? Ihr ist bei solchen Gelegenheiten stets, als lerne sie ihn jetzt erst kennen.

Anfangs hat es Christel Spaß gemacht, in den Räumen des Schlosses umherzustöbern. Was hat sie da alles gefunden an Urväterhausrat und wunderlichem Krimskrams. Jetzt ist’s tödlich kalt in den weiten unbewohnten Räumen, und das völlige Ordnen des Inventars ist bis zum Sommer verschoben. Christel näht nun und strickt, aber ihr an Bewegung gewöhnter Körper verträgt das Stillsitzen nicht, sie fröstelt leicht, was sie sonst nicht kannte. Sie liest auch viel. Anton hat versprochenermaßen für Lektüre gesorgt, aber da sind Bücher darunter, die sie nicht begreift, die sie unruhig machen. „Nicht denken möcht’ ich’s, was darin steht,“ sagt sie zu Anton, „viel weniger schreiben. Nichts als Schlechtigkeiten, nichts als Untreue! Gottlob, so etwas liegt unserem Leben so meilenfern!“ Mitunter aber liest sie diese Geschichten doch, bis ihr der Kopf schmerzt und sie traurig wird bis zum Weinen. Das geschieht, wenn Anton auf die Jagd gegangen ist und erst spät heimkommt, oder wenn er in seiner Stube sitzt und Berechnungen macht.

Sie freut sich immer, wenn ein leises Klopfen an ihre Thür ertönt und dann ein schöner brünetter Mädchenkopf in die Stube schaut.

„Darf ich eintreten, Frau Christel?“ fragt Edith von Ebradt, „stör’ ich nicht?“

„Zu keiner Stunde, Fräulein Edith.“

Die Langeweile hat das Kind zu ihr getrieben. Bald schon nachdem die Mohrmanns ins Schloß übergesiedelt, kaum daß sie ein wenig eingerichtet waren, da hat’s zum erstenmal geklopft und auf Christels „Herein!“ ist das junge Geschöpf über die Schwelle gekommen. „Ach, liebe Frau Mohrmann, entschuldigen Sie – droben kann ich’s nicht mehr aushalten bei der Tante – lassen Sie mich ein wenig bei Ihnen bleiben.“ Und Christel, die das Kind bisher nur flüchtig sah, hat sie, ganz gerührt durch ihr Vertrauen und von dem schönen traurigen Gesicht, willkommen geheißen, und seither vergeht kaum ein Tag ohne einen Besuch des jungen Mädchens. Es hockt dann auf den Stufen der Estrade bis in die Dämmerung, und wenn Tante Tonette gerade Migräne hat, dann bleibt es sogar abends zu Tische bei Mohrmanns.

Fräulein Josepha ist richtig in ihr Stift übergesiedelt, sie konnt’s nicht ertragen, hier Fremde schalten und walten zu sehen. Tonette lebt dort oben weiter mit der jungen Nichte; mittags speisen die Damen mit Mohrmanns gegen eine geringe Entschädigung. Edith zulieb hat Tonette von Wartau eingewilligt, unten im Tafelzimmer mit ihnen zu essen; „man hört da doch mal ein Wort reden,“ sagt das alte Fräulein.

Tonette ist eine ganz vernünftige Person, sie sucht sich mit der Wandlung der Dinge abzufinden. Wunderlich nur, daß Mohrmann in Gegenwart der beiden Damen auffallend wortkarg ist, mitunter beinahe unhöflich gegen Edith. Christel berührt es unangenehm, sie glaubt zuweilen, es sei nötig, ihn zu entschuldigen. „Er muß an so vieles denken, Fräulein Edith, und zu Galanterien hat er sein Lebtag keine Anlage gehabt,“ sagte sie einmal.

„Ich weiß nicht, was Sie wollen, Frau Christel,“ antwortet das junge Mädchen. „Scherwenzeln mag ich nicht leiden und, wozu sollte er denn auch galant sein? Es liegt gar kein Grund vor!“ und dabei verzieht sich das Gesichtchen und sieht geradezu hochmütig aus.

Auch heute ist also Edith wieder in Christels Zimmer geschlüpft. Sie hat einen Korb in beiden Händen, dessen Inhalt sie lachend auf den Teppich schüttet, einen bunten Inhalt, lauter Puppen, nichts wie Puppen, große und kleine. „Da, Frau Christel,“ sagt sie, „die wollen wir den Gutskindern zu Weihnacht verehren; nur eine habe ich zurückbehalten, die hebe ich auf für meine Kinder.“

Christel muß lachen. Das junge Mädchen ist reizend, wie sie das so sagt, mit drolliger Ernsthaftigkeit auf dem Teppich sitzend unter den Schreikindern und Balldamen.

„Warum lachen Sie denn?“ fragt sie, und die von eigentümlich langen Wimpern verschleierten strahlenden Augen sehen zu Christel empor. „Sie denken wohl, ich werde mich nicht verheiraten? So etwas! Aber sicher werde ich es thun – was denn auch sonst? Ehe ich ins Fräuleinsstift gehe – lieber lege ich mich irgendwo in den Schnee und lasse mich totfrieren.“

„O, Fräulein Edith, freilich werden Sie heiraten,“ beschwichtigt Christel, noch immer lächelnd, „vielleicht haben Sie gar schon einen, den Sie – –“

„Natürlich habe ich den, aber heiraten werde ich ihn höchstwahrscheinlich nicht,“ unterbricht Edith von Ebradt aufstehend und den bunten Haufen ihrer Lieblinge mit der kleinen Fußspitze zusammenschiebend.

„O, das wäre schade!“

„Je – nun, das ist richtig,“ erklärt das junge Mädchen, „aber ich kann doch nur einen nehmen, der Geld hat, das ist mir von Mama gesagt worden, solange ich überhaupt hören und sehen kann; und sie hat recht, darauf bin ich angewiesen, und das ist nun mal so. Wie Mama darf ich’s nicht machen, das gäbe ein neues Elend; die hat’s mit aller Gewalt durchgesetzt, den Mann zu kriegen, den sie liebte, und er war arm. Wenn man aber Geld hat, kann man nie ganz unglücklich werden. Meine Freundin, Emma von Zobel, und ich, wir wollen überhaupt nur einen, der sehr reich ist.“

Christel bleibt bei dieser nüchternen Auffassung des bildschönen Kindes, das wie die verkörperte Poesie selbst aussieht, die Antwort in der Kehle stecken. „Ah,“ sagt sie endlich, „wenn Sie so sprechen, dann lieben Sie ja auch keinen – wenn man liebt, denkt man anders.“

„Doch, ich liebe den Edi von – wie er heißt, brauchen Sie aber nicht zu wissen, Frau Christel; ich liebe ihn sogar sehr!“

„Nein, liebes Fräulein Edith, das bestreite ich.“

„Sie denken wohl, weil ich nicht weine und wie ein Gespenst umherwandle vor Kummer? O, das macht nichts aus, ich liebe ihn auf meine Weise, Frau Christel. Treue habe ich ihm nicht geschworen, das hasse ich; sie kann ja nur in den seltensten Fällen gewahrt werden. Ich fühle mich also völlig frei und brauch’ nicht, wie üblich, Trübsal zu blasen.“

[71] Christel ist natürlich fest der Ansicht, daß das Kind gar nicht weiß, was es spricht, und will eben von etwas anderem beginnen, da sagt Edith: „Tante Tonette behauptet nämlich, sie sei in gräßlicher Sorge um mich, sie wüßte gar nicht, wo ich überhaupt eine ‚Partie‘ kennenlernen sollte – wir verkehren ja nirgends, aus leicht begreiflichen Gründen.“

„Machen Sie sich auch Sorge darum, Fräulein Edith?“ lächelt Christel.

„Ich? Gar nicht!“ sagt stolz das Mädchen und überläßt es Christel, die Gründe für dieses „Gar nicht!“ zu suchen. Ob es Siegesgewißheit ist, daß ihr so und so viele huldigen werden, oder das Bewußtsein, daß sie noch viel, sehr viel Zeit hat mit ihren achtzehn Jahren?

Christel will eben dieserhalb fragen, da tritt ihr Mann ins Zimmer: er ist in der Hausjoppe und hält einen weichen Filzhut in der Hand. Er grüßt das junge Mädchen übertrieben respektvoll und wirft Christel einen verdrießlichen Blick zu, als wolle er sagen: „Schon wieder ist sie hier?“ Dann, den Haufen Puppen auf dem Teppich gewahrend, bleibt er stehen und betrachtet ihn nachdenklich.

„Für die Tagelöhnerkinder zu Weihnacht opfert Fräulein Edith ihre Puppen,“ erklärt Christel.

„Ja,“ nickt das Mädchen, „ich hoffe, die Würmer bekommen beschert im Schloß? Meine Mutter hat mir erzählt, es sei hier früher so Brauch gewesen. Und ein bißchen weihnachtlich muß es doch sein,“ spricht sie weiter, und mit einem unbeschreiblich holden, naiven Mitleid sieht sie von Christel zu dem stattlichen Mann hinüber. „Wie schade, daß Sie keine Kinder haben, ich würde Ihnen gern helfen bei der Weihnachtsvorbereitung, es ist zu süß und lieb! Emma von Zobels kleinem Bruder habe ich einen herrlichen Elefanten gemacht im vorigen Jahr, aus grauem Barchent, und Puppenkleider schneidern, das ist nun gar meine größte Lust!“

Christel ist blaß geworden, und ihre Blicke hängen angstvoll an Anton. Der steht und streicht seinen blonden Bart und sieht Edith an, als habe er kaum gehört, was sie sagte, und in seinen Augen liegt es wie Schatten. Das Stubenmädchen, das meldet, der Kaffee sei serviert, überhebt das Ehepaar einer Antwort. Christel steht auf, hängt das Schlüsselkörbchen an den Arm, und an den andern hängt sich Edith.

„Darf ich mitkommen? Ach bitte, Frau Christel, lassen Sie mich! Tante Tonette kramt ja doch nur wieder den ganzen Nachmittag in alten Briefen – – ach Gott, wenn wir doch wenigstens Eisbahn hier hätten!“ ruft sie.

Anton geht hinter den Frauen her. Edith ist so groß wie Christel, aber sie hat ein Figürchen, wie um ins Rokokoschränkchen gestellt zu werden, mitten zwischen die Schäfer und Schäferinnen aus vieux Saxe, die Fräulein Tonette nun doch an einen Antiquitätenhändler verkaufen will, so biegsam und schlank. Das Trauerkleid läßt sie noch elfenhafter erscheinen; dazu steht der kindliche Schnitt der Bluse reizend im Gegensatz zu ihrer Größe, und der griechische Knoten am Hinterkopf giebt dem Gesicht im Profil etwas von einer antiken Kamee. Zum erstenmal fällt ihm auf, wie plump Christels Taille in den letzten Jahren geworden ist.

Er spricht bei dem Vesper fast kein Wort; Christel ist ganz ärgerlich über ihn. „Gehst du nachher einen Augenblick mit zu Pastors?“ fragt sie endlich. Er schüttelt den Kopf. „Ich fahre im Schlitten nach Wehrden: ich will den Schmied selbst sprechen, der Beschlag der Rappen kann so nicht bleiben, beide streifen sich vorn.“

„Anto, da könntest du – –“ bittet Christel.

„Nun?“

„Dem kleinen Anto sein Geburtstag ist – du könntest ihm ja keine größere Freude machen: hole ihn ab aus der Pfarre, bitte, bitte!“

„Offen gestanden, Christel, das paßt mir nicht; es ist bitterkalt und Ostwind – der Teufel kann ja sein Spiel haben. Mit anderer Leute Kindern? – nee!“

Mit anderer Leute Kindern? Sie sieht ihn ganz befremdet an, es hat so eigentümlich geklungen. Natürlich hat er recht, aber – „der Ton macht die Musik“, pflegt ihre Mutter zu sagen.

Edith hat während dieses Gespräches zum Fenster hinausgesehen, und auf einmal sagt sie und die Lust dazu blitzt ihr unter den Wimpern hervor: „Nehmen Sie mich mit, Herr Mohrmann, bitte!“ Er setzt seine Tasse, die er eben zum Munde führen will, wieder hin und über seine Stirn fliegt ein hohes Rot. „Sie werden mir verzeihen, wenn ich Ihren Wunsch nicht erfülle,“ sagt er forciert kalt, „die Rappen gingen noch nie vor dem Schlitten, sie sind jung und etwas heftig. Später, gnädiges Fräulein, wenn die Pferde sich an die Schellen gewöhnt haben –“ Und er erhebt sich, macht eine Verbeugung und verläßt das Zimmer.

„Diesmal haben Sie recht, Frau Christel,“ lacht Edith von Ebradt unbefangen, „er ist nicht sehr zuvorkommend. Aber Sie wollen zu dem kleinen Geburtstagskinde, ich darf Sie nicht länger stören. Auf Wiedersehen!“ Sie umhalst plötzlich die blonde starke Frau und giebt ihr einen Kuß. „Ach, ich freue mich auf die Schlafenszeit,“ ruft sie von der Thür zurück: „wozu wacht man eigentlich auf? Ich möchte schlafen – schlafen –“

„Bis der reiche Freier kommt,“ sagt Christel scherzend. Edith ist verschwunden, aber ihr Lachen schallt noch von draußen herein.

Nach einem Weilchen klingen Glocken, und just als Christel das Portal betritt, fährt der Schlitten vor. Sie steht da, sehr stattlich, in einem modernen seidenbezogenen Pelz, ein Capotthütchen mit Straußfedern auf dem Kopfe, und ruft ihrem Gatten, der im Begriff ist, die Zügel dem Kutscher abzunehmen, freundlich zu: „Ich möchte nur wissen, ob ich auch einen Korb bekomme, wenn ich dich bitte, mich mitzunehmen?“

„Bitte, fahr’ nur mit,“ sagt er, zur Seite rückend.

Sie steigt hinunter und setzt sich neben ihn. „So, mir schadt’s nichts, wenn die Rappen durchgehen?“ fragt sie heiter.

„Die Rappen gehen nicht durch,“ antwortet er, ohne eine Miene zu verziehen.

„Aber – Anto! Und dann lügst du so?“ schilt sie, während sie langsam über den Wirtschaftshof fahren.

„Ich finde, Fräulein von Ebradt kommt recht oft jetzt,“ bemerkt er ausweichend.

„Laß sie doch, Anto! Sie ist ein zutrauliches Geschöpf und so einsam: die alte Tonette mag nicht gerad’ sehr unterhaltend sein.“

Er sieht jetzt beinahe ärgerlich aus. „Sind wir dazu verpflichtet, sie – sie – –?“

„Nein! Aber ich muß dir sagen, Anto, in den langen Wintertagen, wo ich so allein bin, besonders wenn du auf die Jagd gehst – es zieht mich so ab von meinen Gedanken, wenn sie kommt, und wenn sie da so sitzt auf der Estrade, dann –“ Sie verstummt, sie will sagen: „ist es mir, als wär’s meine Tochter.“ „Sie ist zu originell,“ spricht sie statt dessen.

Der Schlitten fährt jetzt in der Allee; der Kutscher, in langem Pelz und russischer Bärenmütze, sitzt hinten auf.

„Denke dir nur,“ fährt Christel fort, „sie erzählte mir da, sie hätte eine Liebe – Jesus!“ schreit sie dann auf, die Rappen sind im Galopp angesprungen und rasen an hundert Meter in der Allee dahin, dann beruhigen sie sich. „Kannst du aber böse aussehen, Anto,“ sagt Christel aufatmend, „was war denn das? Bitte, halte dort an der Ecke, ich will ja zu Pastors!“

Er hält nach ein paar Sekunden. „Adieu, Anto, komm’ nur gut wieder heim,“ wünscht sie, ihn besorgt anschauend.

„Aengstige dich nicht,“ antwortet er ruhig. „Wie lange bleibst du? Soll ich dich abholen auf dem Rückwege?“

„Das wäre nett von dir, besonders wenn du dann noch einen Augenblick herein kommst.“

Er verspricht es, und dann geht Frau Christel die Dorfstraße entlang; die Seide ihres Pelzes raschelt, und sie kommt sich vor wie auf einer Maskerade, wenn sie daran denkt, daß sie vor ein paar Monaten noch einfach im Umschlagetuch über dem Hauskleid und in der Wirtschaftsschürze genau denselben Weg gegangen ist; aber das erlaubt Anton nicht mehr. Im Pastorhause ist sie schon lange erwartet, und die Kinderschar, der kleine Held des Tages voran, stürzt ihr jubelnd entgegen. Frau Pastorin hat festlich den Theetisch gedeckt, auf ihm prangt die Geburtstagstorte, die Tante Christel schon am Morgen geschickt, und die Sparbüchse mit dem Goldstück von Onkel Anto hält der Kleine in der Hand und läßt es klappern. Sie sitzen dann bald um den Tisch, Tante Louischen schenkt Kaffee ein und nebenan in der Wohnstube wird von den Kindern – es sind noch des Gemeindevorstandes und des Kantors Jungen eingeladen – Lotto gespielt.

Christel sieht von Zeit zu Zeit mit traurigen Augen hinüber nach dem Zimmer, wo sich acht bis zehn braune und blonde Köpfe über den Tisch beugen, und es muß etwas sein in ihren [72] Augen, das die alte Mutter bemerken läßt: „Ja, hm – wenn du dir so eine Tasche voll davon mitnehmen könntest –.“

„Ach, Mutter,“ bittet sie abwehrend, „man muß nicht alles haben wollen; ich glaube auch, Anto vermißt gar nicht Kinder.“

Ein halbes Dutzend verwunderter Blicke trifft sie. Tante Louischen sagt, daß es Christel wie ein Blitz durch die Seele fährt, der das Dunkel der Nacht erhellt: „Wenn er so thut, als entbehre er sie nicht, so geschieht’s nur, weil er dich nicht traurig machen will.“

Christel sieht wie Hilfe suchend umher. „Aber – er hat doch nie eine –“ stammelt sie.

„Vor kurzem soll er aber doch geäußert haben, daß er Gott weiß was gäbe um so ein Häuflein Flachsköpfe,“ behauptet die Mutter. „Tischler Pappritz hat’s mir selbst erzählt: ‚Sie sind doch zu beneiden, Meister,‘ hat Anton gesagt, ‚und unsereiner, der sie ernähren kann, dem werden sie nicht gegeben‘.“

Christel schweigt, aber in ihrem Kopfe jagen sich die Gedanken nur so. Der Pastor, der es recht gut versteht, auf was die alte Frau hinaus will, spricht von andern Dingen, und mühsam schleppt sich die Unterhaltung fort, denn Christel ist wie abwesend. Plötzlich zieht die alte Frau sie zu sich, und ihren Mund an das Ohr der Tochter legend, flüstert sie:

„Wenn ihr den Anto adoptieren wollt, müßt ihr’s klug anfangen mit Pastors.“

Christel sieht die alte Frau ganz erschreckt an. Wie hat sie denn ihre eigensten Gedanken erraten können? Dann schüttelt sie heftig den Kopf. „Anderer Leute Kinder!“ Das Wort klingt vor ihren Ohren, als werde es noch einmal von Anton gesprochen. Am liebsten ginge sie nach Hause, aber sie hat ja versprochen, zu warten; und er bleibt so lange. Endlich kommt er; wie ein Schneemann tritt er ein, den Kragen hinaufgeschlagen, die Pelzmütze herabgeklappt, in der linken Hand einen Sack, in dem es von Nüssen und Aepfeln rasselt, in der andern eine Rute.

„Der Niklas! der Niklas!“ jubeln die Kinder. Da schreit er mit verstellter Stimme: „Wo ist der Anto? Komm’ her, Anto, kannst du beten?“

Der fünfjährige Bursche, mit dem köstlichen krausen Blondkopf und den großen blauen Augen, tritt vor.

„Bete!“

„Nee!“ sagt ganz patzig der Wicht.

„Warum nicht?“ brüllt Niklas.

„Weil du gar nicht der Niklas bist – du bist ja Onkel Anto!“

Da läßt der Niklas den Sack mit Aepfeln fallen und nimmt das Kind in die Arme und küßt es ab. „Prachtbengel du!“ ruft er. Christel steht mit leuchtenden Augen dabei, und doch dreht sich ihr das Herz um vor Weh.

„Guten Abend, alle zusammen! Guten Abend, Christel! Wollt’ dich nur abholen, da fiel mir ein, wie wir als Kinder vor dem Niklas zitterten, ließ mir von der Obstfrau Kurzen einen Sack zurecht machen – he, Anton, für dich steckt noch etwas drin!“ ruft er dann, und in der nächsten Minute hat der Junge eine sächsische Soldatenmütze auf dem Kopfe, eine Gardereitermütze, und zittert ordentlich vor Stolz.

„Wein? Nein, Schwager, danke,“ lehnt Anton ab. „Wir fahren wohl bald, Christel? Oder möchtest du bleiben heut’ abend – dann –“

Sie verneint und macht sich eilig fertig. Auf ihrem Gesichte liegt ein wehmütig glückliches Lächeln, er ist ein so guter treuer Mensch – wie nett, an den Niklas zu denken! Sie muß es ihm auch sagen, als sie nebeneinander im Schlitten sitzen. „Der Allerbeste bist du auf der ganzen Welt,“ flüstert sie und streichelt den Aermel seines Pelzes. Als sie dem Schlosse zufahren, steht droben an dem erleuchteten Fenster eine dunkle Mädchengestalt.

Anton sieht so starr hinauf, daß er fast einen Prellstein umgeworfen hätte. „Aber Anto!“ sagt Christel lachend.

Er entschuldigt sich nicht einmal, er murmelt nur ein „Donnerwetter!“ in den Bart.




Was Christel im Pfarrhaus gesehen und gehört, hat sie im Innersten erschüttert. Sie hatte es geahnt, daß Anton sich im geheimen nach Kindern sehne wie sie, nun weiß sie es sicher. Am nächsten Tage geht sie im Hause umher wie eine Träumende; wenn sie mit Anton spricht, sieht sie ihn immer an mit einem Ausdruck von Mitleid und stillem Jammer und die hellen guten Augen sind beständig feucht. Er merkt es gar nicht, er sagt nur, gleichsam als fühle er, daß er ihr eine Erklärung geben müsse für seine Zerstreutheit, es gehe ihm soviel [73] jetzt im Kopfe herum, sie möge verzeihen, wenn er mal eine Frage überhöre.

Christel seufzt und denkt: ich weiß es wohl, armer Kerl, was dir das Herz schwer macht; könnt’s was helfen, daß ich die Erde aufwühlte, ich wollt’s dir klaftertief ausgraben, was du wünschst, und müßt’ ich sterben darüber, aber – es hilft ja nichts. Sie hantiert fleißig umher in der Wirtschaft, und mehr und mehr drängt sich ihr der Plan auf, den kleinen Anton aus der Pfarre zu adoptieren.

Wie rührend lieb Anton das Kind hat! Einen solchen Ausbruch von leidenschaftlicher Zärtlichkeit hat sie nicht in ihm vermutet. Sie zweifelt auch nicht, daß er sofort zugreifen würde, das Kind an Sohnes statt zu nehmen, wenn es eben ganz – ganz abgetreten würde! Pastors müßten sich verpflichten, alle und jede Rechte an dieses Kind aufzugeben.

O, lieber Gott, welch’ Verlangen! Sie kann sich ja nur unvollkommen hineindenken in das Gefühlsleben einer Mutter, aber sie sagt sich, daß sie eher sterben würde, ehe sie das Kind, solches Prachtkind, hergäbe. Es hat doch auch jeder so seine eigenen Ansichten vom Aufziehen der Kinder. Und dann, so von weitem stehen und mit gefalteten Händen zuschauen, und alles mit ansehen müssen und nicht laut schreien dürfen: nein, nein, ihr müßt ihn anders behandeln, ihr kennt ja den Charakter des Kindes gar nicht!

Es ist doch Unmögliches, was sie verlangt! Und dennoch, für Anton – was hätte sie für Anton nicht gethan, für diesen zartfühlenden Menschen, der nicht eine Klage hatte über die kinderlose Ehe in ihrer Gegenwart? O, sie wollte bitten und in die Eltern des Kindes dringen, sie wollte versprechen und betteln, ihr ganzes Leben für den kleinen Anton, wenn nur der große wieder lächeln möchte. Vielleicht zu Weihnacht – – wenn sie den Jungen aufbauen könnte unter dem Baum für den geliebten Mann, der kleine Wicht müßte ihm entgegenspringen und „Lieber Vater“ sagen.

Auf einmal schreit eine helle Stimme halb singend: „Frau Christel! Frau Christel!“ und hinter ihr steht Edith Ebradt im kurzen, etwas ausgewachsenen Winterjackett, das Pelzmützchen schief auf dem Kopfe, in der Hand, die im dicken gestrickten Handschuh steckt, die Schlittschuhe hoch haltend und schüttelnd, daß es nur so klappert.

„Nun bitten Sie mal gleich Ihrem Manne ab – was? Ist er galant oder nicht, Frau Christel? Gestern habe ich nur einmal so etwas hingehaucht von einer Eisbahn und – was hat er gethan, der gute Mensch? Im Rondell zwischen den Buchenhecken spiegelt das herrlichste Eis, die ganze Nacht haben die Knechte Wasser geschleppt! Nun sagen Sie mir, wo er ist, liebe Frau Christel, ich muß ihm doch danken!“

„Das hat er gethan?“ fragte Christel, „das freut mich aber.“

Sie ist wirklich ganz rot geworden und ihre Augen strahlen.

„Wie nett! Sie glauben gar nicht, Fräulein Edith, wie gern er Kinder – Jugend,“ verbessert sie sich, „hat. – Wo er ist? Ich glaube, in seinem Zimmer.“

„Nein, nein, da klopfte ich schon,“ unterbricht das lebhafte Mädchen, „aber niemand rief ‚Herein!‘ Und da machte ich ein bißchen – ein ganz klein bißchen nur die Thür auf, er saß aber nicht am Schreibtisch.“

„Vielleicht ist er in den Ställen, Fräulein Edith, oder bei der Dampfdreschmaschine?“

„Ach, dann bedanke ich mich später bei ihm, jetzt will ich die Eisbahn probieren!“ und ein Kußhändchen ihr zuwerfend, läuft sie hinaus.

Christel lächelt noch immer, und als sie mit ihren Anordnungen fertig ist, stülpt sie sich, wie sie steht und geht, eine etwas verbrauchte Kapuze über den Kopf, nimmt ein Tuch um und wandert in den herrlichen Wintermorgen hinaus, quer durch den Park, dem großen Rondell zu. Sie sieht ein bißchen grotesk aus, denn sie hat zum Ueberfluß noch die Holzpantinen des Küchenmädchens über ihre Hausschuhe gezogen, aber wer sieht sie denn hier? Und sie will sich die Eisbahn ansehen und das schöne kindliche Geschöpf dazu. Sie kommt etwas wankend und unsicheren Schrittes näher. Das Rondell, einst eine Gartenbühne für die Schäferspiele des vorigen Jahrhunderts, liegt völlig geschützt hinter hohen Buchenhecken. Einige davon bilden Lauben. Das Ganze macht den Eindruck eines weiten eirunden Saals unter freiem Himmel. Und wo ehemals das aus Rasen geschaffene Podium sich befand, das längst dem übrigen Boden gleichgemacht ist, stehen zu beiden Seiten aus Sandstein gemeißelte Gruppen, Schäferscenen, die, wie Christels Schwager stets behauptet, eigentlich polizeilich verboten werden müßten, so frivol sind sie.

[74] Als Christel eintritt durch eine Oeffnung in der Buchenhecke, die wie eine Rundbogenthür geschnitten ist, erblickt sie Edith bereits in zierlichen Bogen umherfahrend. Spiegelblank ist die Fläche, kein Zuglüftchen trifft die eifrige Läuferin, über ihr als Decke der tiefblaue Winterhimmel; es ist etwas Heimliches, Lauschiges um diesen Platz.

Sie sieht jetzt auch Anton, Anton, der, die Arme untergeschlagen, in dem Eingang der gegenüberliegenden Laube steht und die graziösen Bewegungen des jungen Mädchens verfolgt. „Anto,“ ruft Christel fröhlich, „das hast du nett gemacht!“

Er wendet sich hastig um und es fliegt etwas wie ein ärgerlicher Schatten über sein Gesicht. Als sie hinübergeschwankt ist zu ihm auf ihren Pantoffeln, liegt schon wieder die alte gleichmäßige Ruhe auf seinen Zügen.

„Welch nette Ideen du hast,“ lobt sie, „und welche Freude für das Kind! Schau nur, wie reizend jede Bewegung! Sie ist doch ein schönes, schönes Geschöpf, Anto, und ich freue mich, daß du endlich einmal eine Freundlichkeit für sie hast!“

„Na komm’, Christel,“ sagt er als Antwort, „es ist doch scheußlich kalt hier, und du hast dich doch wohl nicht genügend für einen Spaziergang angezogen?“

Sie blickt an sich herunter und muß lachen. „Aber, im eigenen Garten?“ entschuldigt sie sich, und gleich darauf möchte sie am liebsten in die Erde sinken, denn hinter dem atemlosen Stubenmädchen erscheint der Graf Altwitz. Er begrüßt Christel respektvoll wie immer, aber der befremdete Blick, mit dem er ihren etwas marktweiberhaften Aufzug prüft, entgeht weder ihr noch Anton. Er redet ein wenig über Wetter und Eisbahn, ruft Edith ein altmodisches galantes Kompliment zu und verschwindet dann mit Anton, da sein Besuch zu der frühen Stunde – es ist elf Uhr vormittags! – selbstverständlich nur dem Hausherrn gelte.

Christel und Edith bleiben allein in dem umfriedigten Platz, und Edith lacht, indem sie in kleinen Kreisen vor Christel umherfährt. „Nein, Frau Christel, wenn Sie sich nur sehen könnten! O, zu köstlich!“

Christel kann nicht mitlachen, und als sie annehmen darf, die Herren sind im Hause, angelangt, geht sie rasch hinterher und macht eilends Toilette. Sie will Anton sagen, es solle nicht wieder vorkommen, daß sie sich nach ihrer früheren Gewohnheit in die derben Sachen einer Wirtschafterin kleidet, sie könne nur so schlecht hantieren im besseren Anzug; so toll wie heute darf sie es nicht mehr machen, er hat recht.

Aber Anton redet kein Wort darüber, als sie sich bei Tische wieder treffen. Er ist genau wie alle Tage, seitdem sie hier im Schlosse wohnen, still und fast unfreundlich, solange die Damen von oben dasitzen, weich und ungewöhnlich nachgebend, wenn er mit Christel allein ist.

Bei Tische erfährt Christel, daß der Verkauf der den Fräulein von Wartau verbliebenen Antiquitäten, den diese für nächste Woche angesetzt hatten, nicht stattfinden wird, da Anton auch noch diese Sachen erstanden hat um den Preis, den der Sachverständige aus Leipzig aufstellte. Sie legt Messer und Gabel hin und sieht Anton erstaunt an, aber er vermeidet ihren Blick.

Fräulein Tonette reicht ihm mit besonderer Herzlichkeit die Hand.

„Lieber Mohrmann,“ sagt sie, „Sie haben mir einen großen Schmerz erspart, indessen – ein schlechtes Geschäft haben Sie auch nicht gemacht, es sind Stücke darunter von großem Wert. Aber ich bin Ihnen so dankbar, daß die Sachen hier bleiben dürfen. Ich weiß ja, uns gehört kein Ziegel mehr auf dem Dache, aber trotzdem ist mir’s in unsern traurigen Verhältnissen ein so wohlthuendes Gefühl, zu wissen, daß das teure Besitztum in Hände gerät, die pietätvoll bemüht sind, es gut zu erhalten. Auch dafür nochmals Dank, lieber Mohrmann, daß Sie damals so bereitwillig davon abstanden, das Eckzimmer tapezieren zu lassen. Diese alten Rokokogestalten an den Wänden, die haben schon in die Kinderträume unserer Voreltern hineingespielt, und ebenso in die meinen und die meiner Schwester. Auch unsere Edith, die ja hier geboren wurde, hat an ihnen als Kind die erste Unterhaltung gefunden. Sie war noch nicht ein Jahr alt, da streckte sie schon die Händchen nach ihnen aus und rief: ‚Mann – tata – tata!‘ Das sollte ‚Tanzen‘ heißen.“

Edith lächelt, aber Christels Augen haften noch immer an dem Gesicht ihres Mannes. Also deshalb wollte er nicht tapezieren lassen? Diese Enthüllung verwirrt sie plötzlich, macht ein bitteres Gefühl in ihrer Seele lebendig, das sie bisher nicht gekannt hat.

Sie sitzt nach Tische stumm auf ihrem Fensterplatz und schaut hinaus in den Garten, der in blendender Schneepracht daliegt. Es stört sie auch niemand; Edith klopft heute nicht, sie tummelt sich auf ihrer Eisbahn, und Anton kommt nie zu dieser Zeit, er hat mit dem Inspektor zu reden, oder dergleichen. Er ist überhaupt viel abwesend, ohne daß Christel weiß, wo er sich befindet. Früher, in der kleinbürgerlichen Engigkeit da drüben, da wußte sie um einen jeden seiner Schritte – ach, wie anders ist alles geworden!

Sie nimmt das Strickzeug und beginnt hastig zu arbeiten, dann läßt sie es wieder sinken und starrt vor sich hin. Und da meint sie zu hören, wie in ihrem Innern eine Stimme ganz laut räsonniert und schilt: „Pfui, Christel, daß du dich nicht schämst! Seit so vielen Jahren bist du mit ihm durchs Leben gegangen ohne Arg und Mißtrauen, nicht ein unlauterer Gedanke durfte dir kommen um deinen Mann – jetzt willst du wohl gar wegen alberner Lappalien – – Christel, mach’ keine Thorheit, nichts erschüttert die Ehe mehr als Mißtrauen; höre, sei wieder vernünftig, dumme Trine!“ Und dann sagt sie halblaut zu sich: „Warum soll er dem armen Wurm nicht den Gefallen thun und das bißchen Kram im Hause belassen, an dem sie schier närrisch hängt?“

Und die tapfere rechtschaffene Seele redet sich wirklich vollständig zur Ruhe und zwingt sich, daran zu denken, daß Anton eine große Jagd abhalten will, die erste als Besitzer von Wartau, und daß es für sie eine Ehrensache ist, das darauf folgende Diner tadellos herzurichten. Dann drängt sich wieder der kleine Anton in den Kreis ihrer Gedanken.

Als ihr Mann in der Dämmerung zum Vesper kommt, ist sie so freundlich und aufgeräumt wie nie, legt ihm das Menü für das Jagddiner vor und fragt, wo alle die Bilder, Nippsachen und wunderlichen Möbel bleiben sollen, die er gekauft hat in seiner Gutmütigkeit.

„Mögen sie doch oben stehen bleiben auf ihren alten Plätzen,“ antwortet er, „aber, was ich sagen wollte – Gutmütigkeit, Christel? In den Sachen steckt wirklich ein Wert, ich bekomme vom Antiquitätenhändler leicht das Doppelte.“

„Nein, nein, Anto,“ erwidert Christel und legt die Arme um seinen Hals, „ich kenne dich besser: willst den armen Würmern da droben einen Schmerz ersparen. So ist es – red’ kein Wort dagegen!“ Und ihren Kopf an seine Schulter legend, eine Zärtlichkeit so scheu und ungewohnt, daß man merkt, sie hat sie nur selten gewagt, setzt sie mit einer Stimme hinzu, halb verquollen von aufsteigenden Thränen: „Du verdienst, so glücklich zu sein, so viel glücklicher als ich dich machen kann, Anto!“

Er erwidert nichts, aber sie fühlt, wie sich seine Brust hebt in einem unterdrückten Seufzer, wie die Hand, die über ihre Wange streicht, zittert. „Christel,“ tröstet er, „wie kommst du auf solche Dinge? Hast du je bemerkt, daß ich unzufrieden bin? Sag’ lieber, du habest einen bessern Mann verdient.“

Sie denkt plötzlich wieder an ihr kinderloses Heim und fängt an zu schluchzen, leidenschaftlich wie nie. Er ist ganz betroffen, so hat er sie noch nicht weinen gesehen, die sonst immer gleichmäßige, ruhige Frau. Und auf einmal hat sie sich losgerissen und geht aus der Stube.

Er sieht ihr nach, ohne sich zu rühren, mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen, dann giebt er dem Stuhl, der ihm im Wege steht, einen Tritt, daß er durch das halbe Zimmer fliegt, rafft den Hut, den er auf ein Seitentischchen gelegt hat, empor und geht ebenfalls hinaus.

Christel ist ruhiger geworden, nachdem sie sich ausgeweint hat, das Herz ist ihr ordentlich leicht; sie hat auch Anton beruhigen wollen, aber der ist nirgends zu finden. Vermutlich bei Heine drüben, oder er spricht mit dem Zimmermeister wegen der Brennerei, die er im Frühjahr bauen will. Sie ist ganz beruhigt und setzt sich mit roten Wangen an die Weihnachtsarbeit für ihn in die Hinterstube, die an ihr Schlafzimmer grenzt. Die einfachen Möbel, die sie mitbekam, stehen in dieser Stube, in der sich schneidern und flicken und [75] bügeln läßt, und in der es so heimlich ist wie auf keinem Fleck der Welt.

Dann erscheint Frau Pastor mit dem kleinen Anton und dem jüngeren Mädelchen auf Besuch, und Christel freut sich über die Kinder, die sich einen großen Teller Waffeln gut schmecken lassen. Die Frau Pastor kommt im Auftrage ihres Mannes, der sehr beschäftigt ist; am Vormittag sei eine Frau bei ihm gewesen, Frau Rienhart, die um seine Vermittlung gebeten habe – sie bezog eine kleine Pension vom alten Baron von Wartau als Witwe eines Schloßbedienten, des früheren Kutschers, und Fräulein von Wartau kann dieselbe nicht mehr zahlen; ob Herr Mohrmann wohl etwas für die Frau thun wolle.

„Wieviel ist es denn?“ fragt Christel.

„Ja, da liegt eben der Hase im Pfeffer,“ erklärt Frau Pastor, „sie hat uns trotz allen Ausfragens die Höhe der Summe nicht bezeichnet. ‚Herr Mohrmann wird’s schon wissen‘ – ‚Herr Mohrmann wird’s schon machen‘ – natürlich in der Hoffnung, daß Herr Mohrmann etwas mehr giebt als der selige Baron.“

„Wart’ ein bißchen,“ sagt Christel, „Fräulein Tonette muß es wissen. Ich glaube übrigens bestimmt, daß Anton die kleine Verpflichtung übernehmen wird, er thut ja alles mögliche für die Wartaus, sie dauern ihn so schrecklich. Eßt, Kinder, iß doch, Charlotte, ich frage unterdes bei den Damen mal an; – Anto ist nicht zu Hause; wenn die Summe nicht zu hoch ist, kann ich wohl garantieren, daß er sie zahlt.“

Und Christel steigt die Treppe hinauf und klopft an Fräulein von Wartaus Zimmer. Eigentlich geht sie nie zu den Damen, nur im Fall einer Frage einmal; sie fühlt sich beängstigt in dem mit Möbeln und Bildern vollgepfropften Zimmer, dessen Luft erfüllt ist von einem eigentümlich süßen, schweren Parfüm, in dem sie nur mit Mühe atmen, nur mit leiser Stimme sprechen kann.

„Herein!“ ruft eine helle Mädchenstimme.

Christel tritt ein, ihr Fuß wurzelt fast an der Schwelle – das hat sie nicht erwartet! Am Kaminofen, vor dem ein kleines Etablissement von Sitzmöbeln um ein Tischchen arrangiert ist, dessen Platte eine rot verschleierte Lampe trägt, sitzt Fräulein Tonette im bequemen Sessel, zur Seite aber auf einem niedrigen Taburett – Anton und hält über den ausgespreizten Armen rotwollnes Garn, das Edith, vor ihm stehend, abwickelt; auf dem schönen Mädchengesicht liegt ein übermütiges Lachen.

Christels erstaunter Blick heftet sich auf Anton, und sie fühlt, daß sie rot wird. Er kommt ihr so unsagbar albern vor, der ernste Mensch in dieser tändelnden Situation. Sie hat nie den Mut gefunden, ihn um dergleichen zu bitten, nicht einmal in der kurzen Brautzeit.

„Aber so treten Sie doch näher, meine liebe Frau Mohrmann!“ ruft Fräulein Tonette. Edith hat inzwischen dem Manne das Knäuel zugeworfen und schiebt einen Stuhl herzu für Frau Christel.

„So, und nicht wahr, Sie wollen Ihren Ausreißer holen?“ lacht sie.

Anton ist aufgestanden und streift das Garn von den Händen, indem er es vorsichtig auf ein Nebentischchen legt. „Soll ich hinunterkommen, Christel?“ fragt er.

„Nein,“ antwortet sie, „ich suche nicht dich, ich wollte Fräulein von Wartau fragen – es ist in zwei Minuten abgethan, lassen Sie sich, bitte, nicht stören. Anto, wenn du das Garn nur nicht verwirrt hast? Bitte, Fräulein von Wartau,“ wendet sie sich an diese, „wieviel Pension zahlte doch Ihr Herr Vater der Witwe des Kutschers Rienhart?“

Fräulein von Wartau schüttelt den Kopf. „Liebste, ich glaube, aus dem Kopfe weiß ich das nicht.“

„Gleichviel,“ fällt Anton ein, „ich weiß ja schon, ich werde es übernehmen.“

„Danke, Anto,“ sagt Christel. „Verzeihen Sie die Störung, meine Damen.“

„Aber bleiben Sie doch ein wenig hier!“ ruft Edith, „wir sprachen eben von den mutmaßlichen Bewohnern der Sterne und Herr Mohrmann erklärte mir, daß sie wahrscheinlich weit kultivierter sind als wir: ach bitte, bleiben Sie noch, Frau Christel, es ist so furchtbar interessant.“

„Davon verstehe ich nichts, Fräulein Edith,“ antwortet Christel, „und außerdem wartet meine Schwester unten mit den Kindern auf Antwort. Guten Abend!“

„Ich komme mit,“ sagt Anton.

„Aber du kannst wirklich noch – ich meine, es ist noch Zeit bis zum Abendbrot, Anto.“

Er beachtet es nicht, verbeugt sich vor den Damen und geht neben Christel die Treppe hinunter. Es ist ein sonderbarer Weg, dieses kurze Stück nebeneinander; sie muß ihn immer von der Seite ansehen, es ist ihr, als sei er kleiner geworden, als sei er ein anderer.

„So!“ ruft sie der Schwester etwas forciert fröhlich zu, „hier bringe ich ihn selbst und gute Nachricht dazu – Anto wird die Pension zahlen.“

„Ich wußt’s im voraus,“ meint Frau Pastor herzlich und schüttelt ihrem Schwager die Hand, „Anto ist immer nobel. Nun sagt dem Onkel Guten Abend, Kinder!“

Anton setzt sich mit an den Tisch, fährt den Blondköpfen über die Wange und schenkt jedem eine Mark in die Sparbüchse. Die Frauen sprechen von dem Befinden der Mutter, die Pastorin erzählt, daß Louischen ein wenig kränkle und daß es dem Trudchen, ihrer Aeltesten, gut gefalle in Dresden in ihrer Stellung als Stütze der Hausfrau, und daß sie sogar schon im Theater gewesen sei.

„Das möchte ich auch einmal haben,“ sagt Christel. „Ach, Lotte, es war doch herrlich, wenn wir in Leipzig für unsre fünf Neugroschen auf dem ‚Olymp‘ standen und ‚Lohengrin‘ hörten!“

„Hör’, du, Anto,“ neckt die Pastorin, „du bist der Christel noch immer die Hochzeitsreise schuldig, könntest wohl mal mit ihr nach Dresden –“

„Das läßt sich ja machen,“ antwortet er, „anstatt nach Leipzig zu den Weihnachtsbesorgungen, nach Dresden.“

„O!“ macht Christel, ganz rot, „und dann besuchen wir deinen Freund Karl!“ Plötzlich stockt sie; sie erinnert sich, daß Edith neulich gesagt hat: „Wenn Sie einmal nach Dresden reisen sollten, nehmen Sie mich doch mit; Tante Tonette ist so schrecklich altmodisch und will mich nicht allein reisen lassen. Ich möchte so gern Emma von Zobel wiedersehen!“ – Die Freude an dem Plan ist Christel jählings geschwunden, aber, als wolle sie sich selber beschämen, sagt sie:

„Fräulein Edith kann sich uns ja anschließen, sie möchte so gern auch hin.“

Der gespannte Zug um seinen Mund läßt nach. „Das wollen wir noch überlegen, Christel; es könnte doch stören, besonders, wenn wir öfter mit Karls zusammen sein wollen.“

Sie atmet auf, es ist alles wieder vergessen. Und dann begleiten beide die Frau Pastor hinaus.

„Anto, möchtest du nicht hier bleiben?“ fragt Christel den Kleinen, „bitte mal Onkel, ob du es darfst!“

„Nein, ich will nicht,“ antwortet das Kind und reißt sich los, als habe es Angst, festgehalten zu werden, und der große Anton lacht:

„Hast kein Glück damit, Christel.“ – – –

Weihnacht kommt immer näher. Christel hat jetzt viel zu thun, ihre Wangen sehen wieder frischer aus, und nicht zum wenigsten macht dies die Aussicht, möglicherweise ihren Wunsch erfüllt zu sehen hinsichtlich des kleinen Anton. Der Pastor, mit dem sie vorsichtig sondierend sprach, hat ihr erklärt, er halte es für strafbaren Egoismus, wollte er dem zeitlichen Wohle eines lieben Kindes hindernd in den Weg treten, und er habe sowohl zu Christel wie zu ihrem Gatten das feste Vertrauen, daß sie den Jungen in Gottesfurcht und Rechtschaffenheit aufziehen würden. Die Mutter werde sich freilich nicht so leicht drein finden, aber er hoffe doch, mit ernster Zusprache sie dahin zu bringen, daß auch sie es als eine Fügung Gottes ansehe, wenn Anton aus ihrer Pflege scheide. Sie wisse ja doch auch, in wessen Hände sie das Kind gebe.

Christel hat unzählige Heimlichkeiten. Sobald Anton den Rücken wendet, läßt sie den Jungen holen, denn auch er muß gewonnen werden. Alles, was sein Kinderherz ergötzen und bestricken kann, bietet sie auf in ihrem Bemühen, dem Manne, den sie liebt, einen Ersatz für das versagte Glück zu schaffen.

Aus der Dresdner Reise ist nichts geworden: Karls haben gebeten, den Besuch aufzuschieben bis nach Neujahr. Um Weihnacht erwarten sie den Storch, aber dann, zur Taufe, da müßten [76] sie kommen. Die junge Frau Doktor hat diese vertrauliche Mitteilung in einem Brief an Christel gemacht, und diese erzählt es ihrem Manne.

„Wieviel haben sie denn schon?“ fragt er.

„Vier – vier Buben!“

„Vier Buben?“ wiederholt er und schaut durchs Fenster, als liefen sie da draußen umher. –

Edith ist jetzt wieder viel unten bei Frau Christel, ganz Feuer und Flamme für die Weihnachtsfeier. Schlittschuhlaufen kann sie ja so wie so nicht, die Kälte ist recht unweihnachtlich einem argen Schlackerwetter gewichen und der Spiegel der Eisbahn ist nur noch eine versickernde Pfütze.

In Christels Zimmer sieht es zuweilen kunterbunt aus von allerhand Christkindchens-Vorbereitungen, besonders an den Tagen, wo Anton nicht zu Hause ist. Und er ist recht oft unsichtbar jetzt; alle Augenblicke eine Jagdeinladung, und wenn das nicht, so ist er doch oft abwesend. Zuweilen hat Christel ihn weder fortgehen noch wiederkommen sehen, oder sie sucht ihn, aber er ist nirgends zu finden. Einigemal ist sie in Versuchung gekommen, nachzuschauen, ob er wieder droben bei den Damen sitzt, um wissenschaftliche Gespräche zu führen oder Edith einen kleinen Ritterdienst zu leisten. Zweimal kam just in dem Augenblick, wo sie den Fuß auf die Treppe setzen wollte, das junge Mädchen ihr entgegen: „Liebste Frau Christel, darf ich Sie besuchen? Störe ich nicht?“ Und ein drittes Mal sah sie Edith und ihre Tante, von einer Parkpromenade zurückkehrend, in die Thür treten, und jedesmal schämte sich Christel bis ins innerste Herz ihres Verdachtes und war tagelang unglücklich über sich selbst.

„Und wenn er wirklich bei ihnen oben sitzt,“ sagt sie sich, „ist’s denn ein Verbrechen?“

Oben im zweiten Stock, wo das Billardzimmer und die große Bibliothek sich befinden, wo das Napoleonszimmer ist und eine Reihe unbenutzter Fremdenstuben, hat sie in einer derselben alles zusammengetragen, was für Anton den Großen und Anton den Kleinen zu Weihnachten bestimmt ist. Eine ganze Ausstattung an Wäsche für das Kind liegt da, denn Christel hat ohne Bedenken ihre früheren Ersparnisse angegriffen, Matrosenanzüge, Spielsachen, kurz alles mögliche ist angeschafft. Einmal ist sie einen ganzen Tag lang allein in Leipzig gewesen und von Laden zu Laden gewandert mit so unruhigem, seligem Herzen.

Ach, wenn es ihr gelänge, Anton froh zu machen! Wenn er und sie in treuer Elternliebe zusammen sorgten für den netten Jungen! Sie ist ihrer Schwester so dankbar, daß sie sich ihren Plänen nicht mehr so abgeneigt zeigt. Was denn aber werden sollte, hat die Pastorin gefragt, wenn Christel noch eigne Kinder bekäme und der arme Junge, der Anton, bei ihr so recht verwöhnt worden sei.

Da hat Christel traurig den Kopf geschüttelt und dann – „wenn es wirklich wäre, Lottchen, so würde er doch immer unser Aeltester bleiben. Anto ist viel zu gerecht, um ihn je zu verstoßen.“

„Ja, das sprichst du so, Christel,“ war die bekümmerte Antwort gewesen, „aber ehe ich nicht weiß, wie Anto denkt – –“

„Ach Lotte, Lotte, laß mich den Versuch machen,“ bettelt sie, „du weißt ja nicht, welche Hoffnungen an seinem Gelingen für mich hängen,“ hat Christel gerufen. Und Frau Pastor hat seufzend gesagt: „So mache denn den Versuch, ich will es nicht hindern.“

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 4, S. 101–108

[101] Acht Tage vor Weihnacht findet endlich die Jagd auf Wartau statt. Anton ist ein bißchen nervös, er hat jetzt die vornehme, geräuschlose Gastlichkeit in den andern Herrenhäusern gesehen, und Christel besitzt doch so gar keine Erfahrung in diesen Dingen. Was haben sie auch bisher für Besuche gehabt? Zuweilen Pastors, und einmal Karl mit seiner Frau aus Dresden; da ging’s einfach und gut bürgerlich her, aber – jetzt?

Er macht ein paarmal den Mund auf, um ihr zu sagen: „Christel – so und so, und wenn du nicht weiter weißt, frage Fräulein von Wartau,“ aber er verschluckt es, er ist überhaupt so seltsam, als habe er das Sprechen verlernt, als koste es ihn eine große Ueberwindung, mit ihr gemeinsam etwas zu überlegen. Christel aber ist unermüdlich in Vorbereitungen für dieses Fest, schon Tage vorher; sie sieht ein bißchen blaß aus, sie leidet so häufig an Kopfweh, aber sie lacht, als sie darauf angeredet wird: „Das thut nichts, geht vorüber.“ Wenn sie es Anton nur recht macht!

Am Jagdtage selbst hat sie ein bißchen Fieber, aber sie hält sich tapfer. Anton fährt etwas besorgt zum Rendezvous. Auf drei Uhr ist das Mittagsessen angesetzt.

„Soll ich nicht Fräulein Edith auffordern?“ fragt Christel ihren Mann. „Liebe Zeit, die Trauer um den alten Großvater, den sie kaum gekannt hat, wird doch nicht beeinträchtigt durch dieses Herrendiner, und beim Nachtisch soll ich mich ja doch gleich zurückziehen, also sie ebenfalls; es wäre doch eine Abwechslung für das arme junge Ding.“

Er hat schon die Jagdmütze auf dem Kopf und bastelt noch an dem Muff herum. Sie sieht, wie seine Stirn sich unter der Mütze zusammenzieht und seine Zähne auf den Schnurrbart beißen. „Meinetwegen,“ sagt er dann kurz, „adieu, Christel!“

„Da wünsche ich dir recht viel Unglück!“ ruft sie ihm lachend nach, getreu dem alten Aberglauben, daß einem Jäger, der auszieht, etwas Schlimmes gewünscht werden muß, damit er Glück habe. Dann geht sie wieder an ihre Beschäftigung.

Als gegen drei Uhr die Wagen auf den Hof fahren, ist das untere Stockwerk völlig erleuchtet, des ungewöhnlich dunklen Wetters wegen; der Diener in einfacher Livree steht an der Freitreppe und öffnet die Schläge der Wagen. In Antons Zimmer machen die Herren ein wenig Toilette, und der Hausherr selbst eilt über den Flur, um nach Christel, nach den Zimmern, vor allem nach der Tafel zu sehen.

Gleich im ersten Gemach steht Christel in schwarzer Atlasrobe, das blonde Haar wie zu einer Krone über der geraden weißen Stirn hochgesteckt. Er stutzt, sie sieht stattlich aus, aber alt, recht alt und so stark in [102] der engen Taille, die ein Leipziger Schneider nach neuester Mode anfertigte.

„Gefällt sie Ihnen? Ja? Gefällt sie Ihnen?“ jubelt da eine helle Stimme, und aus dem angrenzenden Gemach kommt im weißen Kaschmirkleid, das ohne jeden Schmuck in weichen Falten um den entzückenden Mädchenleib sich schmiegt – Edith – Edith so unsagbar reizend, daß er seinen Augen nicht traut. Wie wundervoll der zierliche Hals das Köpfchen trägt, wie köstlich das schwarze Haar absticht gegen das elfenbeinerne Weiß des Kleides! „Ja? Gefällt sie Ihnen?“ ruft sie noch einmal und umhalst Christel, „ich habe sie aber auch frisiert, denken Sie, Herr Mohrmann!“ Und Christel steht da, errötend wie ein junges Mädchen, und wartet auf ein Lob aus ihres Gatten Munde, und als er schweigt und sie die Augen hebt, kehren eben langsam seine Blicke von Edith zu ihr zurück.

„Sehr nett! Sehr nett, liebe Christel,“ stottert er, „und die Tafel? Kann ich rasch noch die Tafel sehen?“

Edith läuft wie ein Kind voraus. „O, Sie werden staunen!“ ruft sie. Und wirklich, als er in das Tafelzimmer tritt, sagt er befriedigt: „Ah! das lasse ich mir gefallen!“

Das köstliche alte Meißener Service auf blendendem Damast, Blumenschalen, Krystallschüsseln mit eingelegten Früchten, und auf schweren silbernen Armleuchtern, die Anton beim Kauf mit übernahm, schlanke weiße Kerzen. Möglich, daß die anderen neuere zierlichere Geräte haben, mehr Kinkerlitzchen, aber gediegener sieht es hier aus, wirklich gediegen.

„Nun?“ fragt Edith, „bedanken Sie sich nicht bei Frau Christel?“

Er reißt abermals die Blicke von ihr los und nickt seiner Frau zu, die im Rahmen der Thür stehen geblieben ist. „Sehr nett, sehr nett, Christel; und Sie, gnädiges Fräulein, Sie haben natürlich geholfen, also auch Ihnen Dank!“ Dann geht er rasch zurück, denn eben hört er über den Flur schon Stimmen seiner Gäste, und Christel und Edith folgen ihm.

Christel hat so etwas wie Lampenfieber und fühlt sich unsagbar angegriffen. Etwas linkisch wird ihre Verbeugung, und ihre Unterhaltung ist etwas unbeholfen, die konventionellen Redensarten sind ihr fremd. Sie hält Edith krampfhaft an der Hand, und das schöne kindliche Geschöpf in seiner natürlichen Anmut läßt sie noch ungewandter erscheinen. Bei Tische – sie hat den Ehrenplatz zwischen dem Altwitzer Grafen und dem Landrat von Logow – vergißt sie vor Angst, zu prüfen, ob auch die Gerichte gut zubereitet sind, die höflichen Fragen der Herren zu beantworten; auf ihrem Gesicht wechseln Röte und Blässe, hilfesuchend irrt ihr Blick zu Anton. Endlich beruhigt sie sich etwas; Graf Altwitz bringt die Rede auf Edith, da kann sie mitsprechen und warmes Lob fließt über ihre Lippen.

„So natürlich und liebenswürdig, so anhänglich ist Fräulein von Ebradt, mein ganzer Trost in diesem großen einsamen Hause,“ sagt sie.

„Der Trost Ihres Herrn Gemahls wohl auch?“ fragt mit völlig harmlosem Ausdrucke der als bösartig bekannte Landrat.

Christel sieht ihn groß an, und von ihm zu Edith. Anton und Edith, die sich gegenübersitzen, trinken sich eben zu. „Gewiß,“ sagt sie dann ruhig, „Sie wissen wohl, Herr Landrat, wir haben keine Kinder, da ist die Freude an solch liebem Geschöpf nur natürlich.“

„He – Scherbitz,“ flüstert jetzt leise der Landrat, der Edith unverwandt betrachtet, seinem Nachbar zu, „finden Sie nicht, daß Fräulein von Ebradt auffallend der Adoptivtochter von Neussens ähnlich sieht?“

„Hat denn Neussen ein Kind adoptiert?“ fragt der andere laut zurück.

„Ja, freilich! Wissen Sie denn das nicht? Und zwar – höchst romantisch – das Kind einer spanischen Zigeunerin, das sie auf ihren Reisen irgendwie und -wo gefunden haben.“

„Ja, versteht sich, das ist längst bekannt; ebenso sind es die kostbaren Anekdoten, die das Bändigen der Kleinen liefert,“ sagt ein vierter. Und jetzt schwirrt ein allgemeines buntes Gespräch über dieses Thema durch den Saal. Reizende Streiche des Kindes, auch wieder bedenkliche Momente aus der ersten Zeit seines Aufenthaltes in der Familie werden zum besten gegeben. Den Unterschied von Mein und Dein habe sie gar nicht begriffen, die kleine Schönheit mit den Murilloaugen, Kratzen und Beißen sei an der Tagesordnung gewesen, und als mal die Rute habe in Kraft treten sollen, sei sie auf die schmale Brüstung des Balkons gesprungen mit blitzenden Augen und geballten Fäusten, bereit, sich jeden Augenblick auf das Pflaster zu stürzen; von den regelmäßig wiederkehrenden Fluchtversuchen gar nicht zu reden.

„Wie kamen denn die Leute auch gerad’ auf solches Kind?“ fragt einer.

„Neussen ist eben ein Schönheitsfanatiker,“ sagt der Landrat und streift Ediths köstlich amüsiertes Gesichtchen.

„Aber bedenkt Herr von Neussen denn nicht die Konsequenzen?“ tönt jetzt Antons tiefe Stimme laut. „Mein Gott, was kann er erleben an solchem Kinde! Ich bin ein abgesagter Gegner von Adoption überhaupt, in diesem Falle erkläre ich sie für Wahnsinn.“

Christel ist es, als solle sie ohnmächtig werden bei diesen Worten. „Aber,“ wagt sie mit zitternder Stimme zu sagen, „wenn die Eltern des Kindes bekannt sind als rechtschaffene Leute, und – –“

„Gleichviel,“ erklärt ihr Mann, „es ist doch etwas Fremdes. Niemals kann ein solches Kind Ersatz sein für eigenes Fleisch und Blut.“

Ein Weilchen noch dreht sich das Gespräch um dieses Thema, dann wechselt es. Es wird lebhafter an der Tafel, nur Christel sitzt sprachlos wie ein Automat. „Ich bin ein abgesagter Gegner von Adoption“ – weiter hört und fühlt sie nichts. Ihre Nachbarn haben es längst aufgegeben, sich mit ihr zu unterhalten – sie antwortet gar nicht. Dahin – ihre Pläne, dahin alles lachende Zukunftsglück; einsam weiter, immer einsamer, denn Antons Herz ist nicht mehr dasselbe! Eine Last fühlt sie plötzlich auf sich, eine furchtbar schwere Last.

„Gnädige Frau,“ sagt der Landrat jetzt, „Ihr Herr Gemahl wünscht, glaube ich, Ihnen irgend etwas anzudeuten.“

Sie blickt hinüber zu Anton, er macht eine kaum merkliche Bewegung gegen die Thür. Ach ja, Butter und Käse ist längst genossen – sie soll die Tafel aufheben. Träge, als versagten die Glieder ihr den Dienst, erhebt sie sich. Ein allgemeines Rücken der Stühle, Händeschütteln, Verbeugungen vor Christel und Edith, die an ihrem Arme hängt, dann zieht sich der Schwarm ins Nebenzimmer zurück.

„Sorge für Kaffee, Liqueur und Bier,“ flüstert Anton ihr zu. Mechanisch geht sie hinaus in die Küche. Edith hat ihr vorhin einen Kuß gegeben und ist dann, ein Liedchen trällernd, die Treppe hinaufgesprungen.

Christel sitzt, nachdem der Kaffee hineingesandt, in der Hinterstube, wo die Lampe noch nicht brennt, im Lehnstuhl am Ofen. Ihre Hand gleitet unaufhörlich über den glatten weichen Atlas ihres Kleides. Der Kopf schmerzt so furchtbar, ihr ist, als werde sie krank; vielleicht, vielleicht stirbt sie und – Anton – –. Sie lacht plötzlich und dann kommt ein stechender körperlicher Schmerz am Herzen – da kann er ja die Edith heiraten, da wird alles Glück kommen!

Um Gottes willen, wie bitter macht sie der Schmerz, den ihre erstorbene Hoffnung in ihr zurückließ! Trägt er denn nicht dasselbe Leid wie sie? Ach, sich nur einmal aussprechen können, so von Herzen zum Herzen! Aber er weicht ihr förmlich aus, selbst in der vertrautesten Stunde fühlt sie, daß zwischen Seele und Seele nicht die Brücke geschlagen ist, auf der sich rückhaltloses Vertrauen begegnen kann. Er war ja auch früher nie so, aber sie hat es nur nicht so vermißt wie jetzt. Wann hätte er je mit ihr über etwas anderes gesprochen als über wirtschaftliche Fragen oder – über Alltagsdinge! Er hatte vielleicht geglaubt, darüber hinaus verstehe sie nichts! Aber er hatte auch nicht einmal den Versuch gemacht, das zu ergründen!

Und nun sollten sie so nebeneinander weiter wandern durch den Staub und die Alltäglichkeit des Lebens, ohne einen gemeinsamen Punkt, auf dem ihr beiderseitiges Interesse zusammentrifft?

Ein bitteres Schluchzen überfällt sie plötzlich. Herrgott da droben, warum hast du mir das versagt, was du dem hungernden, dem schlechtsten Weibe von der Straße giebst, die noch flucht über den Segen und wünscht, daß er verderbe!

Ach, das Weinen thut ihr heute nicht gut, bringt ihr keine Erleichterung! Wie furchtbar der Kopf schmerzt! – Sie geht in das Schlafzimmer, taucht ein Tuch in kaltes Wasser und legt es [103] um die pochenden Schläfen. Dann besinnt sie sich, daß sie wohl die edleren Sorten Wein wieder verschließen müsse, die Reste den Dienern geben, aber die sonst so sparsame Hausfrau rührt sich nicht. Ach, was bedeutet denn das alles gegen das Aufgeben ihres Herzenswunsches! In dumpfer Betäubung legt sie den Kopf an die lederbezogenen Kissen des Lehnstuhls.

Wie lange sie so zubringt, weiß sie nicht – Anton steht plötzlich vor ihr.

„Aber, Christel,“ sagt er vorwurfsvoll, „es ist drei Uhr morgens, und du noch hier?“

Sie fährt empor und starrt ihn an aus dick verweinten Augen.

„Ich bitte dich, Kind, was ist denn geschehen?“ fragt er, und ein bißchen heimliche Ungeduld klingt aus seiner Stimme. „Du hast ja geweint? Warum denn? Es war ja alles so gut und nett, du mußt doch selbst bemerkt haben, wie es ihnen schmeckte!“

Sie hat sich vorgebeugt und liest ihm jedes Wort von den Lippen. Plötzlich lacht sie laut auf. Sie weiß es ja lange – nach seiner Idee kann es nichts weiter geben, das sie weinen macht, als eine Wirtschaftsfrage. „Wirklich?“ sagt sie, sich erhebend, „es hat euch geschmeckt? Das freut mich ja sehr, dann ist ja alles gut! Warum weine ich denn da noch?“ Und sie geht an ihm vorüber in die Schlafstube, den Kopf starr in den Nacken gebogen, und die schwarze Seidenschleppe rauscht hinter ihr her.

Er blickt ihr erstaunt nach, aber er hat den Kopf so voll und er ist müde, es wurde auch stark getrunken. Und er fühlt keinerlei Lust, sie heute abend noch um die Gründe dieses stolzen Abganges zu fragen. Ach, es ist ja auch alles so gleichgültig! Wenn es weiter nichts wäre – morgen ist sie ja wieder die rührige vernünftige Christel – wenn er alles so genau wüßte wie das!

„Gute Nacht, Christel,“ sagt er wenige Minuten später und wirft einen mitleidigen Blick auf ihr gerötetes Gesicht und die Kompressen, die ihre Stirn verhüllen.

Aber sie antwortet nicht.


Droben in ihrer Mädchenstube, die mit allerhand mehr oder minder wertvollem Tand phantastisch aufgeputzt ist, sitzt Edith von Ebradt an einem zierlichen Rokokoschreibtisch und beantwortet einen Brief ihrer Freundin Emma von Zobel. Die sehr einfache Petroleumlampe, die wunderlich absticht gegen all die netten Nippes, welche sich das schöne Mädchen zusammengetragen, brennt trübe, und die Ecken und Winkel des großen Zimmers sind voller Schatten. Das große Himmelbett, dessen verblichene Seidengardinen von einer vergoldeten Putte gehalten werden, sieht beinahe aus wie ein Katafalk, so schwarz erscheint die tiefrote Seide in dieser mangelhaften Beleuchtung, und die Goldlitzen sind im Laufe der Jahre thatsächlich schwarz geworden. Ein Kleiderschrank mit eingelegten Wappen, eine bauchig geschweifte Rokokokommode. Bilder und Spiegel – alles an eine längst versunkene Welt erinnernd. Im Kamin glimmt ein Kloben Holz – das Zimmer besitzt noch keinen Ofen – zum Schlafen mochte es ja warm genug sein.

Edith hat sich ein Hauskleid übergeworfen, das sie selbst aus einem alten Brokatstoff zurechtbastelte, blaßblau mit eingewebten großen Rosenbouquets; irgend eine Urgroßmutter mag darin bei Hofe geglänzt haben. Sie sieht noch reizender aus als vorhin im weißen Wollenkleid, älter, reifer, wie eine kokette junge Frau.

Nun setzt sie noch unter den letzten Bogen ihren Namenszug mit einem Schnörkel und nimmt den ersten Bogen des viele Seiten langen Briefes, um ihn nochmals durchzulesen:

 „Liebe süße Ma!
Sechs Wochen lang habe ich Dein Schreiben unbeantwortet gelassen, aber Du darfst nicht böse sein, Maus. Zunächst war ich neidisch, weil Du mir so viel erzähltest von Deinem amüsanten Leben daheim, während ich hier wie in einem Kloster sitze. Du weißt ja, wie wir uns beide freuten, etwas zu erleben, wie entzückend wir uns unser gemeinsames Auftreten in der Welt ausmalten!

Da muß Großvater sterben und muß Wartau verkauft werden! Wenn ich Dir nur beschreiben könnte, wie furchtbar wütend ich auf das Schicksal bin und auf alle die Menschen, die den Zusammenbruch unseres Vermögens verschuldet haben! Sie sind alle tot, aber ich zürne ihnen noch im Grabe.

Tante Tonette ist schrecklich altjüngferlich, schrecklich vornehm und – edel. Wenn ich mal einen dummen Witz mache, rümpft sie die Nase. Neulich sagte sie: ‚So benimmt sich allenfalls eine Soubrette, aber keine Baronesse Wartau!‘ – Was wohl die Wartaus noch bedeuten in der Welt! Ich tausche gleich mit einer gefeierten Soubrette! – Der Frau Christel habe ich auch einen gräßlichen Schrecken eingejagt, als ich ihr erzählte, ich hätte zwar eine Liebe, wolle aber doch sehen, eine reiche Partie zu machen. Ja so – jetzt kommt, was ich Dir anvertrauen will, aber schwöre, daß Du diesen Brief gleich verbrennst! In der Pension sagten wir bei solchen Gelegenheiten dreimal ‚Wahrhaftig!‘ – ich nehme also an, Du hast es gethan!

Ich schrieb Dir ja damals, daß ein Herr Mohrmann das Gut gekauft hat, und daß ich ihn zum erstenmal bei Großvaters Leichenfeier sah. Ich dachte, als er in den Saal trat, es wäre einer der jungen Grafen Altwitz, oder ein Buhnau oder dergleichen. Wie ich hörte, es sei Mohrmann, hatte ich augenblicklich weiter kein Interesse für ihn. Weißt Du noch, Ma, wie wir uns stritten? Ich behauptete, es könne gar kein Spaß dabei sein, sich von einem verheirateten Manne den Hof machen zu lassen. Du schwärmtest damals für Bulß, und der ist ja doch auch Ehemann, und sagtest, es sei gerade sehr romantisch, daß er verheiratet ist. Alle unsere mühsam und heimlich beschafften neuesten Romane behandeln ja dieses Kapitel, die alten übrigens auch schon. Ich habe ein paar gefunden, in verblichener rosa Seide gebunden mit dem Wartauschen Wappen in Golddruck darauf, französische natürlich – ich sage Dir, Ma, dagegen ist Paul Heyse und Spielhagen gar nichts!

Und nun denke – aber ich kann wirklich nicht dafür und weiter nichts ist schuld als die tödlichste Langeweile in diesem alten Spuknest, meine Sehnsucht nach Unterhaltung und meine Lust, etwas zu erleben – ich – nein, so nicht, ich will ehrlich sein – –. Es kam mir auf einmal so in den Sinn, mit Herrn Mohrmann zu kokettieren. Was willst Du denn, Emma? Er ist der einzige Mann, mit dem ich zusammentreffe, ausgenommen heute abend; aber davon später.

Weißt Du, er hat mich vom ersten Augenblick an, wo er mich erblickte, mit Augen angesehen – ach, davon hast Du gar keinen Begriff! Dann bemerkte ich, wie er ohne jede einigermaßen verbindliche Art bestrebt war, mir Aufmerksamkeiten zu erzeigen. Er kaufte, als ich ein paar Thränen vergoß, weil die Ahnenbilder und alte wertvolle Familienstücke verauktioniert werden sollten, den ganzen Schwindel von Tante Tonette mit dem ausdrücklichen Versprechen, daß die Sachen stets in Wartau bleiben würden. Ach, und dergleichen mehr, und dies alles in einer solch stummen, ernsthaften Art, so respektvoll – weißt Du, wie wenn ich eine Königin wäre. Tante Tonette aber ist ganz entzückt von ihm. Er ist aber auch reizend, eine Lohengrinerscheinung, groß, blond, stattlich. Edi Waldenberg würde neben ihm recht abfallen. Uebrigens gebe ich Edi nicht etwa auf, Ma, ich hoffe vielmehr, er soll im nächsten Jahr auf den Bällen in Eurem Hause – Du hast mich eingeladen, Du weißt es doch noch? – mein eifrigster Ritter sein; heiraten kann ich ihn ja nicht, den herzigen Jungen, wegen des dummen Geldes. Bitte, grüße ihn von mir und erzähle ihm um Gottes willen nichts von Mohrmann!

Doch nun weiter. Stelle Dir vor, daß ich manchmal Angst habe, es könnte eine Strafe kommen für meinen Leichtsinn: ich empfinde so etwas wie Gewissensbisse, und zwar immer, wenn ich mit Frau Christel zusammen bin. Aber, gerad’ Frau Christel brauche ich so nötig als Folie für meinen Eroberungszug. Sie ist groß, voll, ein bißchen zu gesund und derb, und zieht sich unglaublich simpel an. Natürlich ließ sie bis jetzt Kleider und Stiefel im Dorfe arbeiten, aber auch heute in einem Damenschneiderkleide war sie merkwürdig robust – so – so – ich weiß nicht wie. Und wenn ich dann so neben ihr stehe, da müßte er ja gar kein Mann sein, wenn er nicht herausfände, daß – – na, wir haben uns ja gegenseitig schon gestanden, Emma, daß [104] wir schön sind. Siehst Du, und da bin ich nun so boshaft oder schlecht – ist es eigentlich schlecht, wenn man einem Herrn der Schöpfung etwas mehr Geschmack beibringt? – also, so schlecht, daß ich ihn das Bild ‚Christel die Brave und Edith die Hübsche Arm in Arm‘ sehen lasse, so oft es geht. Er beißt dann die Lippen aufeinander und sieht aus dem Fenster oder sonst wohin, aber ich weiß, er hat gesehen. Im übrigen bin ich so unbefangen und kindlich harmlos wie möglich, und Frau Christel verzieht mich riesig. Nur einmal sah ich ihr Gesicht lang werden, das war, als sie neulich in Tante Tonettes Zimmer platzte, wo Mohrmann gerade dabei war, mir Strickgarn zu halten, das ich wickeln wollte.

Es war gar nicht so leicht, ihn dahin zu bringen, aber schrecklich amüsant. Und gerade da muß Frau Christel kommen, die sonst nie unsere Wohnung betritt. Ich sah’s ihm an, es war ihm peinlich, und er ging, wie ein braver Ehemann, mit ihr zugleich ab – o, wie ich mich amüsiert habe! Es war zu drollig; ob er wohl eine Gardinenpredigt bekam?

Neulich dachte ich darüber nach, ob ich Mohrmann hätte heiraten können, wenn das Geschick gewollt, daß er als Junggeselle Wartau kaufte. Und weißt du, wie ich darauf kam? Höre nur, Tante Tonette schrieb an Tante Josepha, plötzlich stand sie vom Schreibtisch auf, legte die Feder hin und ging ganz blaß in ihr Schlafzimmer, hatte ihren Herzkrampf, der immer ein Weilchen dauert. Und da las ich ein bißchen in dem Briefe – auch eine Ungezogenheit aus der Pensionszeit – und was steht da?

‚Ich weiß nicht, ob ich mich irre, ich bilde mir ein, daß Mohrmann nicht glücklich lebt mit seiner Frau. Er ist doch ein recht gebildeter Mensch, sie die reine Küchenlampe. Eine Zeit lang kam er zuweilen in der Dämmerung in mein Zimmer, und dann unterhielten wir uns recht nett mit ihm; er kann über alles mitsprechen. Er sagte, in seines Vaters Hause sei sehr für Kunst geschwärmt worden, so sehr, daß er einen förmlichen Degout davor bekam und sich aus purer Opposition der Natur in die Arme warf. Er hat zwei Jahre in Heidelberg und Halle studiert. Wär’ er los und ledig: trotz seines bürgerlichen Namens wär’ er eine Partie für Edith; es kostete sicher bei unserm teuern König nur ein Wort, eine Erinnerung an Papa, und er gestattete, daß er sich von Mohrmann-Wartau nennen dürfte. Er würde dem Namen auch keine Schande machen, denn er hat sich seine Position spielend erobert. Aber das sind eben nur müßige Gedankenspäne, hübsche Unmöglichkeiten. – Gott weiß, was aus Edith werden soll, so schön und so oberflächlich!‘

Weiß Gott, das stand wirklich da, Ma! Ich spann die Phantasie von Tante noch ein bißchen weiter, abends in meinem Zimmer, das an den großen Bankettsaal grenzt, und fand die Idee gar nicht übel! Das Schloß müßte ganz ausgebaut werden; Mohrmann bemerkte neulich zwar, daß dazu viel Geld gehöre und daß er vorläufig gar nicht daran denke – er und Christel hätten überflüssig Platz im untern Geschoß. Ja, ja, das wäre so übel nicht, aber die brave Christel steht da wie der Engel mit dem feurigen Schwert vor dem Paradiese.

Ach, wenn doch Edi Waldenberg das Majorat erbte! Es ist Pech, daß sein schwindsüchtiger Bruder sich wieder so erholt hat, er sah doch aus, als ob er keine vierzehn Tage mehr leben könnte.

Addio, Ma! Bitte, verlobe Dich nicht zu schnell; ich freue mich so schrecklich auf nächsten Winter. – Findest Du auch, daß ich oberflächlich bin? Es kann ja sein. Ist man aber daran selber schuld? Heute abend war Jagddiner unten. Sie hatten mich eingeladen; Frau Christel saß oben an wie eine der Pagoden, die hier vor mir stehen; sie nickte dann und wann mit dem Kopfe und sah auf einen Fleck und lächelte wie geistesabwesend. Ihr Mann saß mir gegenüber, er war entschieden der hübscheste – sonst waren es meist ältere Herren.

Ach, ich bin müde – bitte, verbrenne den Brief, Du hast’s geschworen!!!

 In inniger Liebe und Treue
 Deine Ditta.“


Sie couvertiert und siegelt mit einem winzigen Wappenring, den sie am Finger zu tragen pflegt, und sucht dann ihr Lager auf, und dort liegt sie noch lange und starrt in die Dunkelheit. Das hat sie Emma von Zobel aber doch nicht geschrieben, daß „Lohengrin“ einen leidenden, gespannten Ausdruck im Gesichte trägt und daß er ihre Nähe meidet, wo er kann. Sie weiß ganz genau, daß das ernste Anzeichen sind, und ein bißchen dämmert ihr, unter Herzklopfen und leichtem Schauer, die Gefährlichkeit des Spiels, das sie treibt.

Aber – was soll denn passieren? Daß mal einer ihretwegen schlecht schläft, daß er sich ein bißchen toll in sie verliebt hat? Das ist ja weiter nichts als ein berauschendes Gefühl für sie; er liegt ja an der Kette, und diese Kette ist nicht zerreißbar; er ist auch viel zu vernünftig. Und Edith kommt sich unglaublich interessant vor, wie eine der Romanheldinnen, von denen ihr krauses Gehirn wimmelt. Emma hat ganz recht, ein unbeschreiblich interessantes Bewußtsein ist es, einen Mann in den berühmten Konflikt von Pflicht und Liebe gestürzt zu haben.

Scheiden lassen wird er sich ja nicht, Gott behüte! Das will Edith auch gar nicht; sie will nur etwas erleben; die brave Christel soll ihn behalten. – Jetzt gähnt sie ganz laut – der Edi, der nette Edi von den Gardedragonern, wird ja wohl das Majorat schließlich noch erben, und daß er sie dann heiraten wird, das unterliegt keinem Zweifel. Neulich, zu ihrem Geburtstage, hat er erst ein Bouquet geschickt. Tante Tonette war so neugierig, zu fragen: „Von wem?“ Als sie dann hörte, von Edi Waldenberg, zuckte sie die Achseln und sprach etwas von aussichtslosen Geschichten. – Wer weiß? Wenn Edis Bruder nur nicht auf die Idee kommt, noch zu heiraten, ehe er stirbt. Ach, diese Ungewißheit! Sie sehnt sich so nach einem behaglichen Heim, einer gesicherten Lage – es ist doch im Leben alles zu dumm, zu verkehrt eingerichtet!

Und Edith legt ihr schönes Köpfchen auf die weichen Kissen und ihr träumt, daß nebenan im Saal getanzt wird – sie mit Edi – nein, mit Lohengrin. Ach, wie er dahin wirbelt, und Edi steht und sieht ihr traurig nach.

Warum hat er das Majorat nicht geerbt, der thörichte Edi! Als ob sie dafür könnte.


Das Weihnachtsfest ist vorübergezogen, ganz still. Im Tafelzimmer hat die Bescherung stattgefunden. Der Pastorsfamilie ist am ersten Feiertage beschert worden, am Heiligen Abend wollte sie unter sich sein. Der kleine Anton ist für den großen nicht aufgebaut unter dem Christbaum im Schloß, die Ausstattung für den Jungen hat Christel ihrer Schwester heimlich zugeschickt.

Fräulein Josepha von Wartau ist am Heiligen Abend auf Besuch gekommen, und die drei Damen haben ihr Bäumchen oben in ihrem Zimmer angebrannt. Josepha hatte entschieden abgelehnt, die Feier gemeinschaftlich mit Mohrmanns zu begehen; so ist denn nur Edith unten bei ihnen gewesen, um den Dorfkindern bescheren zu helfen.

Christel hatte viel zu thun und freute sich, endlich allein zu sein. Ein Weihnachtsbäumchen für sich haben sie nicht angezündet, das erste Mal, seitdem sie verheiratet sind. Keins von beiden hat Verlangen danach gehabt, es liegt auf ihnen wie ein dumpfer Druck.

Aeußerlich, bis auf den Lichterbaum, ist ja alles wie sonst, Christel bemüht sich, freundlich zu sein wie immer, aber sie kann und kann’s nicht verwinden, daß er ihren Herzenswunsch, den kleinen Anton zu adoptieren, nicht erfüllen will. Und wenn’s dieser nicht gewesen wäre, dann ein anderes Kind, das ihm besser gefallen hätte; jedes würde sie mit Freude an ihr Herz geschlossen haben. Aber daß er die Idee überhaupt verwirft, das ist, als sei ihr die letzte Aussicht auf Lebensfreuden vernichtet.

Anton hat auf ihren Teller unter eine Serviette ein Geschenk gelegt. Sie öffnet das rote Sammetetui – eine kleine Brillantbrosche blitzt ihr entgegen – und sie sieht ihn an mit Blicken, die in Thränen funkeln. Was soll das mir? liegt darin. Aber sie giebt ihm doch die Hand und spricht ein herzliches: „Danke, Anto!“ Dann holt sie ihr Geschenk, einen Teppich vor den Schreibtisch und ein Paar Jagdhandschuhe, die sie selbst gestrickt.

[106] „Es ist wenig,“ sagt sie mit einem traurigen Lächeln, das die Thränen maskieren soll, „nimm so vorlieb, Anto; was ich dir am liebsten gäbe, das steht ja nicht in meiner Macht.“

„Kind! Kind!“ murmelt er, „laß uns trachten, zufrieden zu bleiben.“

„O ich – ich –“ bricht sie aus, „was liegt an mir! Aber du, denkst du denn, ich sehe dir nicht an, daß du – totunglücklich bist, weil wir allein geblieben sind?“

„Nein, Christel, das bin ich nicht – du denkst falsch und siehst falsch. Nein, was mich drückt, das – geht wieder vorüber, ganz bestimmt; hab’ Geduld mit mir, ich bitte dich, hab’ Geduld!“

Und sie, die nur nach einem guten Worte gedürstet hat, sie ist wie umgewandelt nach dieser Bitte.

„Verzeih’ mir nur, Anto, ich bin so unvernünftig und – du hast gewiß Sorgen. Nein, nein, ich frage nicht darum – wenn ich dir aber helfen kann, dann sagst du es mir wie in alten Tagen – ja?“

„Ja, Christel, wenn du mir helfen kannst, sag’ ich es dir.“

Dann sitzen sie beide in dem großen einsamen Zimmer, und totenstill ist es um sie, ach so totenstill! Auf dem Prunkschränkchen tickt die alte Uhr und spielt wie sonst ihr Liebesliedchen herunter, „La charmante Gabrielle“.

Nichts erinnert an Weihnacht, nichts.

Um zehn Uhr ist Christmette in der Dorfkirche. Anton und Christel gehen nebeneinander hin, sitzen nebeneinander auf der Bank mit der Frau Pastorin im Predigerstuhl. Christel hält die Hand ihres Mannes; mit der süßen Friedensbotschaft will Frieden auch in ihr Herz ziehen. Da fühlt sie, wie diese heiße Hand in der ihrigen zuckt, als gehe ein elektrischer Schlag durch den Körper des Mannes. Sie sieht ihn an und folgt seinen Blicken.

In dem Herrschaftsstuhl droben, gerade in der Mitte über dem Wappen der Wartaus, taucht aus der Dämmerung Ediths schönes blasses Gesicht auf. Die dunklen Wimpern sind noch im Gebet gesenkt. Dann schaut sie hinunter und nickt Frau Christel unbefangen zu.

Die hat jählings die Hand ihres Mannes losgelassen, ein rasendes Herzklopfen überfällt sie.

„Herrgott,“ betet sie, die Hände im Muff zusammengekrampft, „hilf mir diese Gedanken bannen –. Es ist nicht wahr – es ist nicht wahr!“

Anton sieht schon längst wieder gerade aus, und vom Chor herab schallt das alte liebe Weihnachtslied „Vom Himmel hoch da komm’ ich her –“

Das Ehepaar singt nicht mit, als aber der Gottesdienst beendet ist, ist auch Christel wieder Siegerin geworden über sich, und nichts weiter als die Liebe und die Sorge für Anton sind in ihrem Herzen. Und Anton hat ihr den Arm gegeben, obgleich Edith sich ihnen anschließt. Vor ihnen geht der Knecht mit der Laterne, und alle drei schweigen.

„Gute Nacht, Fräulein Edith,“ sagt Christel im Flur des Schlosses freundlich zu dem jungen Mädchen, das im Begriff ist, die Treppe hinaufzusteigen, „und wenn’s Ihnen Spaß macht, die Bescherung der Pastorskinder morgen mit anzusehen, so sind Sie willkommen.“

Und Edith wendet das entzückende Köpfchen und lächelt. „Ich weiß es noch nicht, Frau Christel; die Tanten wollen ja nach Altwitz zu der alten Frau Gräfin. – Ich glaube es kaum –“

Sie freut sich, wie Antons Aufhorchen bei Christels Worten bei den ihren einem Zug getäuschter Erwartung weicht. „Gute Nacht!“ ruft sie nochmals. Es ist natürlich kein Wort wahr, aber zur Strafe für sein mürrisches Schweigen soll er ein wenig zappeln. O, sie weiß ja so genau, was dieser Mann empfindet für sie, obgleich nie ein Wort über seine Lippen kam.

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Zu Neujahr reist Fräulein Josepha wieder ab. Die Damen oben und Mohrmanns unten atmen auf; denn sie ist umhergewandelt wie die gespenstische Ahnfrau selber und hat Unglück prophezeit.

Mohrmanns haben unter anderen Briefen auch die Nachricht von Freund Karl aus Dresden empfangen, daß Bube Numero Fünf eingetroffen sei, just am Weihnachtsabend. Frau Christel müsse Pate stehen, das sei hiermit gesagt, damit später eine Absage nicht komme unter dem Vorwande, die nötige Zeit zur Vorbereitung fehle. Mohrmann legt das Blatt, ohne ein Wort zu sprechen, auf den Tisch und geht seinen täglichen Geschäften nach: zu Festzeiten ist das Auge des Herrn doppelt nötig. Christel denkt, es hat ihm weh gethan, und schreibt sofort eine herzliche Gratulation und vorläufige freundliche Annahme der Patenschaft. Wenn’s Zeit ist, denkt sie, wird sich’s ja finden, ob wir reisen oder nicht.

Anton fängt sein altes Leben wieder an, das heißt, er ist wenig daheim. Einmal war ihm Christel auf der oberen Treppe begegnet, als sie bestimmt geglaubt hatte, er sei ausgegangen.

„Wo kommst du denn her?“ fragt sie.

„Ich habe nach dem alten Inventarverzeichnis in der Bibliothek gesucht,“ ist die Antwort.

„Hast du es gefunden?“

„Noch nicht.“

„Laß mich doch nachsehen, Anto, du kannst ja so schlecht finden,“ schlägt sie freundlich vor.

Er wehrt hastig ab: „Es ist sehr kalt oben, und ein Wust von Staub; wenn da planlos umhergestöbert wird, macht’s doppelte Arbeit nachher. Wir suchen später zusammen, Christel. Die ganze Aufräumerei steht uns so wie so bevor zum Frühjahr,“ fügt er hinzu.

Sie nickt. „Wie du willst, Anto – auf Wiedersehen! Ich muß nach der Wäsche schauen auf dem Boden.“

Als sie vor der Bibliothek vorüber geht, es ist das Turmzimmer, sieht sie ein schwarzes Gebröckel vor der Thür liegen, als sei Torf dort hineingetragen; auch etwas Holz liegt dabei. Sie steht ein Weilchen und sieht’s an, dann steigt sie die letzte Treppe hinauf. Droben hört sie die Waschfrauen miteinander schwatzen, die beim Aufhängen sind.

„Ich wollt’ sie schon ’nausgraulen,“ sagt eben die grobe Stimme der alten Wichern, „die jagte ich heute noch, wenn ich die Frau wär’. So’n Gehabe und Gethue um den Mann – nee – nee – so was –“ Sie verstummt jäh, und ihr erschrecktes Gesicht versteckt sich schleunigst hinter den eben aufgehängten Servietten. Christel taucht in der schmalen Treppenöffnung auf. „Du mein,“ kreischt die Frau, „bin ich erschrocken!“

„Doch nur, weil ihr gottlose Gesellschaft wieder gehörig geklatscht habt,“ sagt Christel heiter. „Dem gnade Gott, der in eure Mäuler gerät!“ Und sie geht an den Leinen entlang und tadelt das junge Hausmädchen, das so ganz gegen alle Regel die Strümpfe aufgehängt hat.

„So, jetzt zeig’ ich dir’s noch einmal,“ sagt sie, „knöpf’ die Augen auf! Das nächste Mal werde ich böse.“ Und dann fragt sie: „Wer von euch heizt denn auf seiner Kammer, ihr Mädchen? Oder thut’s das Fräulein oder der Wilhelm? Ich habe da Torfstückchen gefunden und Holzspäne. Ihr wißt, das soll nicht sein; die Essenanlage ist schlecht auf der Seite, wo ihr wohnt, es kann ein Schadenfeuer entstehen im Umsehen. Ihr habt unten euer warmes Zimmer, da mögt ihr feuern, bis ihr zu Bette geht; das kalte Schlafen wird euch nicht schaden, der Herr und ich heizen auch nicht im Schlafzimmer.“

Die Wirtschafterin zieht ein beleidigtes Gesicht; die Mädchen erklären, sie heizten nicht, und für den Wilhelm wollten sie auch einstehen.

„Vielleicht der Herr in der Bibliothek?“ bemerkt die Mamsell und fixiert Christel.

„Der Herr?“ sagt Christel ruhig, „reden Sie doch nichts, was Sie nicht verantworten können.“

„Ich habe nur Wilhelm neulich mit Torf und Holz nach oben gehen sehen,“ antwortet die Person schnippisch.

„Na, da haben wir’s,“ ruft Christel.

„Wilhelms Zimmer hat gar keinen Ofen,“ berichtigen sämtliche Angeklagte im Chor.

Ach ja! Christel besinnt sich: das ist ein Gelaß ohne Ofen. Sie schweigt, hat aber die Mamsell im Verdacht und beschließt, aufzupassen. Wie sie sich umwendet, zieht die eine der Mägde ein [107] Gesicht; Christel glaubt ein Kichern zu bemerken. Sie spricht noch mit der alten Waschfrau und geht dann hinab.

Unten ist Besuch angekommen, der neue Besitzer von Wirnitz, ein Herr Ramann, mit Frau und Töchtern. Wie es so auf dem Lande Sitte ist, werden sie gebeten, dazubleiben, und die Herren sind bald im tiefsten Fachgespräch.

Christel vergißt es auch später, nach den Torfspuren zu fragen; sie vergißt es auch am anderen Tage. Sie hat viel zu thun: Anton ist nach Leipzig gefahren und kommt erst nachts zurück.

Am Tage nach seiner Rückkehr, so zwischen drei und vier Uhr nachmittags, hört Christel die aufgeregte Stimme ihres Mannes: „Die Pferde sollen heraus und vor die Wartauer Spritze, in Altwitz brennt es!“ Sie sieht ihn auch gleich darauf über den Hof eilen und in den Ställen verschwinden. Ohne Besinnen eilt sie ihm nach in den Stall, wo die Leute beschäftigt sind, die Pferde anzuschirren. Anton kommt eben mit einem Sattel vom Geschirrboden und legt ihn dem Fuchs auf; sein Gesicht ist stark gerötet, es sieht aus, als habe er geweint. Aber darauf zu achten hat Christel keine Zeit; sie bemerkt, daß ihm Hut und Reitgerte noch fehlen, und eilt zurück, um sie zu holen. Sie muß sie ihm schon aufs Pferd reichen.

„Aengstige dich nicht, Christel,“ sagt er, „auch wenn ich länger ausbleibe.“

Dann wirft er das Pferd herum, ruft ihr ein kurzes „Adieu“ zu und reitet vom Hofe, und wie er vom Pflaster herunter ist, setzt er das Tier in Galopp und jagt wie toll an den Pferden vorüber, die die Spritze aus dem Gemeindehause holen sollen.

Christel sieht ihm nach, sie steht noch ein Weilchen neben der Inspektorin inmitten der Mägde, die allerhand Mutmaßungen Raum geben, ob es wohl auf dem Gute brennt oder im Dorfe, und wie es entstanden ist. Möglicherweise auch könnte es Brandstiftung sein, man habe in letzter Zeit so viel gehört und der Altwitzer Graf sei ein harter Herr, aber wie’s auch sein möge – die armen Menschen!

Die Mägde laufen jetzt auf den Hausboden, um besser sehen zu können; Christel geht ins Schloß zurück, schaut noch in Antons Stube, ob er alles verschlossen hat in der Eile, und klopft dann oben bei den Damen an, aber es ruft niemand Herein. Das kleine halbwüchsige Mädchen, das eine Art Zofe bei Fräulein Tonette vorstellt, kommt eben aus der Schlafstube mit einem Wischtuch und giebt den Bescheid: die Damen seien zu Fuß vor einer halben Stunde nach Altwitz gegangen; sie seien zum Kaffee eingeladen bei der alten Gräfin.

Christel sieht das Mädchen ganz erstaunt an. „Nach Altwitz?“ fragt sie – „zu Fuß?“

„Ja, Frau Mohrmann; nach zwei Uhr sind sie gegangen. Ich habe rechte Angst,“ setzt es wichtig hinzu.

Einen Augenblick bleibt Christel sinnend stehen. Es kommt ein scharfer Zug durch die offnen Fenster und die Glocken des Altwitzer Kirchleins klingen unheimlich hastig in abgebrochenen Schlägen herüber wie angstvolles, grelles Hilfegeschrei. Endlich steigt sie die Treppe zum oberen Geschoß empor, sie will von einem nach der Altwitzer Seite gelegenen Zimmer aus sehen, ob es wirklich Großfeuer ist. Wie sie auf dem Vorplatz ankommt, erblickt sie die Thüre zur Bibliothek halb geöffnet, und ohne Besinnen läuft sie dort hinein; vom Turme muß man es ja am besten beobachten können, er liegt direkt nach Altwitz zu. Hinter ihr fliegt krachend die Thüre ins Schloß, sie achtet es nicht, sie ist schon in dem runden Erker, den der Turm bildet.

Eine düstere, rotangestrahlte Wolke schwebt über den Bäumen, die das Dorf umgeben – es ist wirklich das Herrenhaus, das brennt. O ihr armen Menschen! Und da fällt Anton ihr ein – ob er bei dem tollen Ritt glücklich ankam? Ob er sich schont und an sein Leben, seine Gesundheit denkt? Ach, und die Damen - - Eine schreckliche Unruhe packt sie plötzlich, sie will hinüberfahren, vielleicht kann auch sie helfen.

Sie läuft zur Thür – die ist zu – das altmodische Schloß eingesprungen, der Schlüssel steckt von außen. Sie stößt mit den Fäusten dagegen, kaum ein Geräusch giebt’s an dem dicken Eichenholz. Sie rüttelt am Schloß – vergebens. Hilflos sieht sie sich um – es wäre doch schrecklich, hier oben eingesperrt zu sitzen in der Kälte, wer weiß wie lange? – Aber wie denn? Es ist absolut nicht kalt hier! Sie sieht sich erst jetzt groß um, ein einziges Mal war sie bis heute in der Bibliothek. Dann faßt sie sich an die Stirn – im Kachelofen flackert ja Feuer? Der Schreibtisch inmitten des großen Raumes ist offenbar eben benutzt worden, der Stuhl davor wie in Hast fortgeschoben, der Teppich zeigt sandige Spuren.

Christel lächelt ein wenig. Also daher der Torf? – hier oben verkriecht sich ihr Mann, stöbert in alten Urkunden und Büchern – heimlich? Und thut so geheimnisvoll damit, so ge – heim – nis – voll – –. Die Augen der Frau sind über die von oben bis unten mit Bücherregalen bedeckten Wände geschweift. Hunderte von Bänden, alle in gleichem Ledereinband, das Wappen der Wartaus auf dem Rücken. Die einzige freie Wand am Ofen ist mit Bildern behängt, alten vergilbten Kupferstichen in glatten, braunen Holzrahmen, lauter Darstellungen aus dem Leben Napoleons I, er selbst nach dem bekannten Gemälde von Delaroche. Christel betrachtet diese Schildereien wie geistesabwesend – Napoleon als General, als Konsul, Napoleon in Aegypten und in den Tuilerien als Kaiser und endlich der Gefangene auf Elba. Dort ist Marie Louise und der kleine König von Rom, dort auch Josephine, die schöne, graziöse Josephine, die ihr kaiserlicher Gemahl verstieß, weil sie ihm keinen Erben gab.

Christels Augen bleiben an einem dieser Bilder hängen – Josephinens Abschied von ihrem Gemahl. Er steht in der bekannten Haltung mit untergeschlagenen Armen vor ihr, die weinend sich abwendet; im Hintergrunde, draußen vor dem Säulenportal, hält der Reisewagen, der sie nach Malmaison führen soll; ein paar unmöglich lange Gestalten, als hätte sie Chodowiecki gezeichnet, und doch in all ihrer Steifheit so packend! „Napoleon litt furchtbar unter dieser Trennung,“ steht darunter, „aber er brachte Frankreich das Opfer, der Frau, die er am meisten liebte, zu entsagen.“ So lautet die altmodische Handschrift neben dem gedruckten französischen Text.

Beim Anblick dieses Bildes befällt es Christel wie eine böse Ahnung; sie starrt es immerzu an und dabei bekommen ihre Züge einen ganz verstörten Ausdruck. Sie läuft abermals zur Thür und ruft und rüttelt, niemand antwortet. Sie tritt wieder in den Turm und schaut nach Altwitz. Da lodern jetzt in den Winterhimmel gelbe Flammen empor – es muß ein entsetzliches Feuer sein – und das Wimmern der Glocken ist lauter und heftiger geworden.

Sie kann den Anblick nicht ertragen, sie geht ein paarmal unruhig in dem großen Raum hin und her und setzt sich endlich wie erschöpft auf den Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. Ihre Hand nestelt nervös im Haar, der Kopf schmerzt ihr, die Haarnadeln drücken sie und wie abwesend schweifen ihre Blicke über das beschriebene Briefblatt, das vor ihr liegt.

„Wenn ihm nur nichts geschieht, wenn er nur erst wieder da wäre,“ murmelt sie, und dabei bemerkt sie ganz äußerliche Dinge. Einen Schubkasten, der halb geöffnet ist, das ungeheure beklexte Tintenfaß, eine Feder, die wie hastig weggeschleudert neben dem Papier liegt, merkwürdiges Papier, so vergilbt, so grob und das Wasserzeichen –. Christel kann von diesem Platz durch das Fenster des Turmes direkt nach Altwitz sehen. Anton hat hier gesessen, und da hat er den Rauch bemerkt – ja, so ist’s gewesen! Er ist dann hinuntergestürzt und hat hier alles vergessen.

Ob er wohl wußte, daß Edith dort war? – –

Was für alte Schriftstücke studiert er denn nur hier? Sie zieht mechanisch das Blatt heran und liest. Dann schiebt sie es mit ganz verfallenem Antlitz wieder zurück, räuspert sich, faßt sich an die Kehle, will aufstehen und bleibt doch wie festgehalten sitzen.

Antons Schrift – ihr Name! Aber dieses alte Papier? Ach, dort liegt ein ganzer Stoß, er verbraucht es wohl, hat’s hier oben gefunden?

Sie sitzt davor, die Hände ineinander gekrampft, die Augen starr auf die ferne lodernde Brandstätte gerichtet. Dann streckt sie die Hand aus nach dem Papier, eine zitternde Hand, die sich zwei-, dreimal wieder zurückzieht, bevor sie das Briefblatt ergreift. [108] Aber endlich hält sie es und die Augen senken sich nieder zum Lesen. „Nur Gewißheit!“ murmelt sie, „ich kann so nicht mehr leben – ob er mich verstoßen will, wie Josephine verstoßen ward?“ Und wie sie nun liest, fällt jedes Wort gleich dem Tropfen eines starken Giftes in ihr armes jammerndes Herz.

 „Lieber Karl!

Die Einladung zur Taufe Deines Jungen ist in unseren Händen. Ich werde meine Frau überreden, ihr zu folgen – ohne mich. Entschuldige mich, Karl, gönne mir die paar Tage, wo ich nicht Komödie zu spielen brauche, meine Kräfte dazu sind fast am Ende; und was es werden soll in der Zukunft, das weiß ich nicht. Ich wollte, ein Blitzstrahl käme und machte ein Ende.

Es ist so schmählich, wenn ein Mann selbst – erschrick nicht, lieber Alter, laß mich es aussprechen gegen Dich, es ist mit so wenig Worten gethan. Du weißt, ich wählte Christel nicht aus himmelstürmender Liebe, und ich wähnte, in der Leidenschaft für die Fränze habe sich mein Herz, wie man so sagt, ausgeblutet. – Siehst Du, Alter, das ist ein Irrtum gewesen, die Liebe ist über mich gekommen, jäh wie ein Sturm!

Die Geschichte mit der Fränze damals? Mein Gott, sie verhält sich zu der, die mich jetzt gepackt hat, wie Aprilwetter gegen ein Gewitter im Hochsommer. Stelle Dir die Situation vor: da unten wohne ich mit Christel, meiner guten, braven Christel, die mich hegt und pflegt wie eine Mutter ihr Kind, die Tag und Nacht an ihre Wirtschaft denkt, die nur für mich lebt und für Wartau, und oben – über uns – da wohnt die andere, und die schlanke Gestalt huscht die Treppen hinunter, die süße Mädchenstimme dringt in mein Zimmer, und neben Christel steht plötzlich das schönste Geschöpf und lacht mich an, lieb und vertraut, als kennte ich sie seit Ewigkeit. Das Genre der Fränze ist’s, aber in tausendmal veredelter Form, ohne jene Gassenmädchenmanieren, ohne die soubrettenhafte Koketterie und ohne die kleinbürgerliche Sentimentalität – Edelblut in des Wortes bester Bedeutung.

Ich sah sie beim Begräbnis des alten Barons zum erstenmal; über den Sarg hinweg trafen sich unsere Blicke – wie so oft seitdem!

Ich weiß, was Du sagen wirst, Karl: Du bist verrückt! Wirf diese dummen Gedanken aus deinem Hirnkasten und die gefährliche Schönheit aus dem Hause! Lebe recht und schlecht mit deiner prächtigen Christel weiter! – Ja, lieber Alter, das habe ich mir bisher alle Tage auch gesagt, aber – wenn’s nur ginge! Wenn’s nur nicht Dinge gäbe in der Welt, die stärker sind als die Kraft des Menschen!

Fräulein Tonette von Wartau hat, laut Kaufkontrakt, so lange sie lebt, das Wohnungsrecht oben im Schlosse. Soll ich hinaufgehen und sagen: ‚Schicken Sie gefälligst Ihre Nichte fort!‘ Soll ich Wartau verkaufen und mit Christel auswandern? Auch das ist unmöglich, ohne mich finanziell schwer zu schädigen. Ich bin am Ende mit meiner Weisheit und müde von dem Kampf, den ich mit mir selbst kämpfe, ich kann nicht länger so fortleben, Karl!

Du kennst mich, Alter; Du wirst mir glauben, daß ich Christel zu kränken standhaft vermieden habe bisher. Ich flüchte förmlich vor Edith, bin unfreundlich, finster zu ihr, aber ich meide auch meine Frau; ich kann ihre Thränen nicht sehen, nicht sehen, wie sie sich grämt über mein verändertes Wesen; ich thue, als verstehe ich sie nicht. Ich flüchte hier hinauf in ein Versteck, von dem sie nichts weiß, und da, da kann ich endlich aufatmen. Sie beobachtet mich oft und lange, als wolle sie mir bis auf den Grund der Seele schauen. Nie vergesse ich es, wie sie einmal unversehens in Fräulein von Wartaus Zimmer trat und mich dort fand; Edith hatte mir eine Strähne Wolle über die Arme gelegt und wickelte ein Knäuel davon. Ich schämte mich unter dem Blick dieser großen erstaunten Augen wie ein Schulbube, der beim Naschen ertappt wird, und dann packte mich doch eine Wut auf sie, eine Wut – ich hätte am liebsten einen Zank vom Zaune brechen mögen, nur damit endlich meine Qual ein Ende habe. Aber die unbegrenzte Hochachtung vor ihrem schlichten geraden Charakter läßt mich stumm bleiben; ich würge alles hinunter, fühle mich krank davon und gehe doch ruhig neben ihr, als sei nichts gewesen, als sei alles ganz selbstverständlich.

Ich glaube fast, Christel hält mein verändertes Wesen für einen Vorwurf gegen ihre Kinderlosigkeit. Sie hat schon öfter darauf hingedeutet. Ich höre sie nachts zuweilen bitterlich weinen, und von ungefähr erfuhr ich durch Fräulein von Wartau, daß sie sich mit dem Gedanken getragen hat, mir einen ihrer Neffen als Adoptivkind zu Weihnacht zu schenken!

Du kannst dir mein Entsetzen vorstellen – ein fremdes Kind! Wenn man sich im Leben so geschunden hat wie ich, um eine eigene Scholle zu erwerben, und dann soll alles für ein Wesen geschehen sein, bei dessen Anblick sich nicht mehr im Herzen rührt als das oberflächliche Wohlgefallen, mit dem man schließlich jedes Kind ansieht! Ein Geschöpf, das schon angeerbte Eigentümlichkeiten hat, die einem bei den Eltern keineswegs sympathisch sind, zum Beispiel bei dem kleinen Anton die Handbewegung, mit der sein Vater mich von der Kanzel herab ärgert, das soll man so ohne weiteres an das Herz schließen, an ihm freudig thun, was man für das eigene Kind gethan hätte? Der Gedanke macht mich rasend!

Ich fand glücklicherweise Gelegenheit, Christel meine entschiedene Abneigung gegen Adoptivkinder, Söhne und Töchter, auszusprechen. Ich bemerkte auch, wie schwer es ihr wurde, den Plan aufzugeben, sie thut mir leid, so leid! Mir ahnet ja, was sie empfindet, aber ich bin nicht imstande, ihr zu helfen, denn ohne Edith – – ich kann so nicht weiter leben, und es wäre das beste – – “

Hier bricht der Brief ab.

Durch das Zimmer schwankt eine Frau und reißt die Fenster in dem Turme auf, als sei tödliche Luft in dem Raume, und mit den Händen das Fensterkreuz packend, steht sie da und schaut hinüber, wo gegen den erlöschenden Abendhimmel die rote Glut der Feuersbrunst lodert. Plötzlich geht ein Wanken durch diese große aufrechte Gestalt, mit einem Aufschrei sinkt sie zu Boden, faßt sich verzweifelnd in die Haare, und ein thränenloses hartes Schluchzen kommt aus ihrer Brust.

Wie lange sie so gelegen, sie weiß es nicht; es ist tiefe Dunkelheit um sie her, als sie emporfährt – eine Hand tastet und drückt an der Klinke, und sie rutscht auf den Knieen ganz nahe an die Vertäfelung des erkerartigen Turmes, der ein kleines Gemach bildet. Dann trifft ein Lichtschimmer ihre Augen und in diesem Schein sieht sie Anton – Anton, der in einer Hand das Licht trägt, dessen anderer Arm schlaff herunterhängt und dessen blasses Gesicht von Schmerz verzerrt ist. Er geht zum Schreibtisch, stellt das Licht hin, rafft das Briefblatt empor und birgt es in die Tasche seines Rockes; dann erfaßt er wieder das Licht, und mit einem unterdrückten Stöhnen geht er der Thüre zu.

Christel liegt im Erker schwer atmend auf den Knieen und starrt ihm nach, ohne sich zu rühren. Er wird sie einschließen, aber – was thut’s!

Doch auf einmal an der Schwelle schwankt der große Mann und bricht zusammen. Christel hört, wie sein Kopf gegen die Thüre schlägt, und hört, wie der Leuchter mit dem verlöschten Licht über die Gipsfliesen des Vorsaales rollt. Im nächsten Augenblick hat sie sich aufgerafft und ist neben ihm.

„Anto!“ jammert sie und tastet nach seinem Kopf. Und dann kommen auch schon Leute die Treppe herauf, Heine, der Arzt und ihr Schwager, die Diener und einige Mägde.

„Na ja, so geht’s,“ grollt der alte Doktor, „wenn einer durchaus auf seinem Willen besteht. Er mußte partout noch einmal hinauf, könnte nur er besorgen, na – da haben wir die schönste Ohnmacht! – Angefaßt, meine Herren! Da sind Sie ja auch, Frau Christel, wir suchten Sie bisher wie eine Stecknadel! Ihr Gatte hat einen gehörigen Eichenbalken auf die Schulter bekommen,“ schilt er weiter, „wer hieß ihn auch, so voran zu sein. – Doch wie Sie aussehen! Beruhigen Sie sich, ans Leben geht das nicht, aber ein zersplitterter Schulterknochen ist auch kein Zuckerlecken gerad’. So! Auf! Vorsicht, daß ihr nicht stolpert!“


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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 5, S. 134–142

[134] Christel geht neben den Männern, die den schweren Körper ihres Mannes tragen, die Treppe hinunter, ihre Augen haften auf seinen schmerzgequälten Zügen, und als er drunten auf dem Bette liegt, tritt sie helfend zu dem Arzt, der ihn eben entkleiden will. Mit einer raschen Bewegung nimmt sie den unseligen Brief aus der Tasche des Rockes und birgt ihn in der ihrigen. „Was ist jetzt das nötigste?“ fragt sie dann ruhig.

Der Arzt hat eben den Rockärmel aufgeschnitten. „Aether,“ sagt er, „überhaupt den Medizinkasten, dann Eis – Leinwand, Binden –“

Christel geht und kommt rasch mit dem Gewünschten zurück. Anton ist aus seiner Ohnmacht erwacht und starrt auf Christel. „Erschrick nur nicht,“ murmelt er, „es ist nichts – es thut mir nur so weh.“

Sie steht völlig teilnahmlos; da streckt er die gesunde Hand nach ihr aus. „Arme Christel, welche Last für dich!“

Auch hierauf keine Antwort. Er beachtet es nicht, unter der Hand des untersuchenden Arztes stöhnt er auf und preßt Christels Arm in seiner Qual. „Christel, ich halt’s nicht aus!“

„Doch!“ sagt sie heiser, „du glaubst nicht, was man aushalten kann.“

„Und liegen soll ich? Wie lange soll ich liegen, Doktor?“

„Ein Wochener acht bis zehn,“ ist die prompte Antwort des derben Herrn, „und ein Krankenlager wie das Ihre wird – so stelle ich mir vor – ein Vergnügen sein unter Frau Christels Händen.“

„Ja, ich pflege dich, natürlich, ich pflege dich!“ murmelt sie.

Die Schmerzen übermannen ihn so, daß er nichts mehr hört und der Arzt zu Chloroform seine Zuflucht nimmt, um die Untersuchung fortsetzen zu können. Christel hilft ihm. Anfänglich liegt Anton still, dann fängt er an zu schreien, sich zu wehren, endlich wird er ruhiger, aber er spricht – und was er spricht! Christel kann sich kaum auf den Füßen halten vor brennender Scham.

Nach Fränze ruft er, nach Edith – „mein Lieb, mein Leben!“ Er schilt auf Christel, sie soll ihm aus dem Lichte gehen, immer stehe sie da und verdecke Edith. „Geh! Geh!“ schreit er, „ich kann dich nicht sehen, ich kann dich nicht mehr sehen! Bringt sie fort, bringt sie doch fort!“

„Die meisten Menschen schimpfen in der Chloroformnarkose,“ sagt gelassen der Arzt, „die zartesten Damen gebrauchen manchmal Ausdrücke, deren Kenntnis man gar nicht bei ihnen vorauszusetzen wagt, sie haben sie auch thatsächlich im Leben nie ausgesprochen. Lassen Sie sich also nicht irritieren, Frau Christel, diese Edith ist ihm vermutlich in Wahrheit so gleichgültig wie der Spatz auf dem Dache.“

Christel antwortet nicht, sie macht nur eine abwehrende Handbewegung, und als nach längerem Bemühen der Arzt endlich erklärt: „Gott sei Dank, so schlimm ist’s nicht, wie es aussah; Frau Christel, Ihr Mann kann von Glück sagen. Nur das rechte Schlüsselbein ist gebrochen und eine starke Quetschung der Schulter und des Oberarmes vorhanden, mehr schmerzhaft als gefährlich!“ Da atmet sie auf. „Wie lange, glauben Sie, Herr Doktor, daß er damit zubringen wird?“ fragt sie.

„Na, heut’ und morgen kann er freilich noch nicht wieder in eine brennende Scheuer rennen, um den Flederwisch, die Baronesse Edith, herauszutragen, aber –“

„Die Edith?“ unterbricht Christel, während sie den Kranken anschaut, der wieder leise zu phantasieren beginnt.

„Das wissen Sie noch gar nicht?“ fragt der Arzt, indem er kunstgerecht den Verband mit einer Sicherheitsnadel befestigt. „Ich war zufällig zugegen, kam kurz vor dem Ausbruch des Feuers auf den Altwitzer Hof. Die Enkelin ist ein wenig bleichsüchtig, und die Gräfin hatte mich gebeten, mit vorzusprechen. Sie wissen doch, die alte Dame hat jetzt ihre Enkeltochter bei sich, ein ganz merkwürdiges Exemplar eines Backfischs, dieser an und für sich schon merkwürdigen Species. Die beiden Flederwische, die Edith von oben, in der übrigens Rasse steckt, und die lange Blasse, die eine ausgesprochene Vorliebe hat für Tiere, besonders Hunde, sind natürlich bei Ausbruch des Feuers wie besinnungslos hinuntergestürzt und Edith hat der Komtesse geholfen, das Vieh aus den Ställen zu retten. Es ist ja den beiden Mädels zu danken, daß das schwerfällige Pack der Knechte fast alles retten konnte, was da lebt. Die jungen Damen wiesen ihnen erst, daß man den Pferden das Geschirr auflegen muß, um sie überhaupt ’raus zu kriegen; aber ehe das dumme Viehzeug begreift, was es soll, hat ein Gaul nach der Komtesse geschnappt, ein ungebildeter Ackergaul, und sie eklich gequetscht am Oberarm. Das arme Ding war plötzlich kampfunfähig und ich brachte sie in das Herrenhaus. Plötzlich schreit sie Edith zu, die eben vom alten Grafen aus dem immer toller werdenden Tumult geführt wird: ‚Edith, in der Scheuer – der kranke Marko, der kranke Marko!‘ Das ist der große Neufundländer, der die Räude hat und zu welchem mich, in meiner Eigenschaft als Arzt, die Komtesse durchaus schleppen wollte, weil sie zu dem Specialisten der ‚Unvernünftigen‘ nicht genug Vertrauen hat. Und da – die Baronesse sich losreißen, mitten durch den Tumult stürzen, die kleine Thür des Thorflügels der bereits lichterloh brennenden Scheuer aufreißen und in dem Qualm verschwinden, war das Werk eines Augenblicks. Drei bis vier Männer stürzten hinterher, allen voran aber –“

„Mein Mann,“ sagt Christel.

„Ihr Mann,“ bestätigt der Arzt, der sich erschöpft gesetzt hat. Christel sieht erst jetzt, daß er von Rauch geschwärzt ist, daß seine Kleider naß sind.

„Und als er das Fräulein herausgetragen hat, springt er nochmals hinein und zerrt den halberstickten jammervollen Köter heraus und just in diesem Augenblick bricht ein brennender Balken herab und schlägt ihn zu Boden. Er kam bald wieder zu sich und ich nahm ihn in meinen Wagen und brachte ihn her, Fräulein von Wartau und das Unglückskind, die Edith, dazu, die übrigens putzmunter ist und, außer der angesengten Kledasche, keinen Schaden gelitten hat. Nun, Frau Christel, geben Sie mir ein Gläschen Cognac; ich muß nochmal hinüber nach Altwitz; aber auf dem Rückwege spreche ich wieder hier vor; inzwischen wundern Sie sich nicht: ehe er ganz wieder aus der Narkose erwacht, schwatzt er möglicherweise noch mehr dummes Zeug.“

Christel bringt den Cognac, dann besorgt sie trockene Kleidung für den alten Herrn. „Ja, so ein falsch dirigierter Wasserstrahl von der Wartauer Spritze bei zwei Grad Kälte – na, schaden wird’s nicht,“ meint er, „meine Alte muß mir eine kalte Einwickelung machen, probatum est. Auf Wiedersehen, Frau Christel!“

In dem Krankenzimmer ist es ganz still jetzt; Christel sitzt auf einem Stuhl zu Füßen von Antons Bette. Sie hat die Hände ineinander gelegt und sieht an ihm vorüber auf das Nachtlicht, das hinter dem durchsichtigen Porzellanschirmchen zuckt und flackert. Sie kann noch immer nicht klar denken, ihr Kopf schmerzt, wie im Krampf haben sich die Nackenmuskeln zusammengezogen. Das eine nur steht mit unanfechtbarer Gewißheit in ihr fest, daß sie fort muß von ihm. Aber das Wie? Das Wann? Und das schreckliche Bewußtsein ihres Unglücks! Könnte sie doch mit einem einzigen Menschen darüber sich aussprechen, aber mit wem? Mit Schwester und Schwager? Zu letzterem hat sie noch das meiste Vertrauen. Doch bei der Vorstellung, daß sie sagen muß: „Ich will mich von Anto trennen“, fährt eine brennende Glut über ihr Antlitz. Sie hört den Schwager fragen: „Warum, warum, Christel?“ – „Er liebt mich nicht mehr, er hat mich nie geliebt!“

Sie stöhnt dumpf auf. Wär’ sie doch lieber gestorben! Könnte sie doch sterben! Sie schämt sich, sie schämt sich so, ihr ganzes Leben kommt ihr entweiht vor. Das heilige Sakrament, das sie verbunden hat mit ihm, der Altar, vor dem sie mit ihm gestanden, ihre ganze einfache Welt, in der sie so treu gewaltet – besudelt, verdorben! Und die Erinnerung zieht sie zu Boden, die Erinnerung an das, was sie ihm war – ohne seine Liebe.

Sie steht plötzlich auf, rafft ein Tuch vom Sofa und ist [135] mit zwei Schritten an der Thür. Da stöhnt es hinter ihr, und dann hört sie leise und hastig den Erwachenden sprechen: „Christel – der Brief – der Brief in meinem Rock!“

Als sie sich umwendet, starren ihr die noch halb bewußtlosen Augen ihres Mannes entgegen. „Der Brief! Der Brief!“ ruft er.

Sie geht hinüber mit schwankenden Schritten und setzt sich wieder hin. Und mehr und mehr kehrt sein Bewußtsein zurück. „Den Brief – du hast ihn doch nicht gelesen, Christel? Du sollst ihn nie sehen, ich verbrenne ihn gleich – – armes Tier, und ich – und ich! Es geht ja alles vorbei, alles, auch das – Der Brief, wo ist der Brief?“ Er phantasiert noch von dem Hunde, den er gerettet hat – „Zu Hilfe, Karl, nimm du ihn – Christel soll nicht, darf nicht!“

„Der Brief steckt ja in deinem Rock, Anto,“ sagt sie laut mit seltsam veränderter Stimme, „und den Rock habe ich in den Schrank gehängt, hier ist der Schlüssel, Anto.“

Die kraftlose Hand packt den Schlüssel, eine erlösende Ruhe kommt über sein Gesicht. Und Christel geht und holt ihm starken schwarzen Kaffee, wie der Arzt es befohlen hat. Sie muß seinen Kopf stützen, ihm die Tasse halten, und sie zittert so dabei, daß das Porzellan klappernd an die Zähne des Kranken schlägt.

„Arme Christel, solch einen Schreck!“ murmelt er, nun bei vollem Bewußtsein. „Lege dich nieder, ich brauche nichts mehr, ich will ganz still sein.“

Sie schüttelt den Kopf, und als er ruhig mit geschlossenen Augen daliegt, tritt sie in die Fensternische und blickt in den Garten hinab. In dem ungewissen Lichte des halb verschleierten Mondes sehen die kahlen Bäume wie Gespenster aus. Dort drüben, jenseit der Mauer, der schwarze dunkle Strich in der Ferne, das ist der Wald; die verschlungenen Wege des Gartens leuchten herauf wie breite weiße Bänder, und hinter der Orangerie steigt der spitze Kirchturm auf. Ob sie in der Pfarre schon schlafen?

Sie hat eine Sehnsucht nach ihren Leuten wie nie in ihrem bisherigen Leben. An dem Bette der alten verdrießlichen Frau möchte sie niederknieen und schreien: „Mutter, mir ist so weh’ geschehen – lege die Hand auf meinen Kopf, daß er nicht zerspringt vor Jammer! Ich bin heimatlos, ich habe meinen Mann verloren – schlimmer als durch den Tod!“ Mit brennenden Augen starrt sie hinüber, und im Geiste hört sie die alte Frau murmeln: „Aber Christel, meine arme Christel!“

Ob sie hingeht? Ob ihr’s leichter würde, wenn ihr Herz sich ausklagen könnte?

„Pst! Pst!“ tönt’s hinter ihr, und wie sie erschreckt herumfährt, sieht der Doktor zur Thür herein und winkt ihr. Auf den Zehen schleicht sie an Antons Bette vorüber; der liegt still mit geschlossenen Augen.

„Er schläft, Herr Doktor.“

„Lassen Sie ihn, Frau Christel,“ sagt er stockend, „er kann ganz gut eine Weile allein bleiben. Der Diener mag sich hier ins Zimmer setzen für den Fall, daß er irgend etwas bedarf. Sie Frau Christel möcht’ ich bitten, nehmen Sie ein Tuch um und kommen Sie mit mir. Ihre alte Mutter ist nicht ganz wohl, – erschrecken Sie nur nicht – ich – ich –“ Er zuckt die Schultern, er wagt nicht weiter zu sprechen.

Und die Frau vor ihm sieht ihn an mit todblassem Gesichte, mit Augen, groß und leer. Dann nickt sie, sie hat schon verstanden. „Mutter stirbt?“ fragt sie tonlos.

„Sie ist recht krank, Frau Christel.“

„Kommen Sie, Herr Doktor!“

„Mein Wagen wartet, Frau Christel, nehmen Sie etwas Warmes um, es ist windig draußen. Einer Ihrer Neffen hat mich halbwegs Altwitz abgefangen. – Zum Donnerwetter!“ schnaubt er den Diener an, „machen Sie, daß Sie hineinkommen zu Ihrem Herrn, und wenn er nach Frau Mohrmann fragt, so sagen Sie, die hätt’ ich zu Bett geschickt. Ihrem Herrn thut weiter nichts not als Ruhe. Nachher komm’ ich zurück.“

Das kleine Pferdchen des Doktors trabt, so rasch es seine müden Beine und sein hungriger Magen erlauben, durch das Dorf und hält nach einigen Minuten vor der Pfarre. Christel stolpert mehr als sie geht über die Schwelle der Hausthür in den Flur hinein. Das Häufchen der Kinder sitzt bei der Lampe zitternd und schluchzend noch auf; es hat niemand daran gedacht, sie zu Bett zu bringen. Der kleine Anton wankt Christel entgegen. „Großmutter ist gesterbt vorhin,“ berichtet er wichtig, „sie sind alle oben.“ Christel schiebt das Kind zur Seite und steigt die Treppe empor.

Im Wohnstübchen der Verstorbenen sitzt der Pastor auf dem Sofa und hält seine schluchzende Frau an sich gepreßt; Louischen steht am Fenster und weint in ihr Taschentuch. Christel ist plötzlich eingetreten, der Arzt hinter ihr; sie sieht aus, als kämpfe sie mit einer Ohnmacht.

„Mutter?“ fragt sie.

Der Pastor streckt ihr die Hand hin. „Sie ist heimgegangen, Schwester!“ sagt er, ohne seine Frau loszulassen. Der Arzt ist indes in das Sterbezimmer getreten, nach ein paar Augenblicken kehrt er zurück. „Gehen Sie hinein, Frau Christel,“ bittet er mitleidig. Und Christel geht hinein in das kleine weiß getünchte Kämmerchen, in dem das schmale Bett im geschütztesten Winkel steht. Man hat die Fenster schon geöffnet, eine eisige Luft herrscht in dem kleinen Raum; auf der Kommode brennt ein Stearinlicht und flackert im Winde.

In den Kissen liegt friedlich die alte Frau, die Augen geschlossen, die Hände gefaltet, und schläft. – Sie ist keine zärtliche Mutter gewesen, sie hat gar oft gehadert und gescholten, hat geklagt über die Last, die ihr Gott auferlegte als Witwe mit drei Töchtern, aber da innen, im Herzen, da saß sie ja doch, die treuste Liebe der Welt, die echte rechte Mutterliebe.

„Mutter,“ sagt Christel vorwurfsvoll und kauert sich neben dem Bette nieder, „Mutter, jetzt durftest du doch nicht gehen, jetzt hätte ich dich nötiger gehabt als mein ganzes bisheriges Leben hindurch!“ Und ihr Kopf wühlt sich in die Kissen dicht neben der Schulter der Toten, und ein leidenschaftliches, bitterliches Schluchzen erschüttert sie.

Louischen hört es nebenan und kommt herein in das Sterbezimmer. „Aber, Christel,“ sagt sie in ihrer herben Art, „so faß dich doch! Ihr thut am allerschlimmsten, ihr beiden, und wißt doch, wohin ihr gehört, und habt noch einen, bei dem ihr euch ausweinen könnt. – Was soll ich denn sagen?“

Christel antwortet nicht; sie rafft sich nach einer Weile auf und will ohne Abschied fort, aber der Prediger läßt sie nicht. Er faßt ihre Hand und leitet sie neben seine Frau auf das Sofa, und dann holt er einen Stuhl für Louischen. Der Arzt ist gegangen.

„Ihre Zeit war erfüllet,“ beginnt der Geistliche; er ist vor den Frauen stehen geblieben und hat die Hände ineinander gelegt.

„Ja, ja,“ unterbricht ihn die unverheiratete Schwägerin, „wir wissen ja alles, Robert, was du sagen willst, aber darum thut’s doch weh – laß uns ausweinen.“

„Ich wollte nur sagen, liebe Louise,“ fährt er fort und kämpft seinen Unwillen über die Unterbrechung tapfer nieder, „daß man in Augenblicken, da der Tod eine Lücke reißt, fester und näher zusammenrücken, noch inniger und treuer miteinander fühlen und leben soll. Ihr drei Schwestern werdet euch, wenn möglich, noch lieber haben als bisher, denke ich, und ihr beiden, denen Gott einen Lebensgefährten gab, du, Lotte, und du, meine liebe Christel, ihr werdet unserer Louise jetzt die Mutter ersetzen wollen soviel als möglich, werdet ihr den schweren Weg, den sie allein gehen muß, nach Kräften zu erlei – –“

Christel sitzt mit einem Ruck plötzlich hoch aufgerichtet da, der Pastor ist jäh verstummt bei der verächtlichen Handbewegung, die sie macht. „Ich hätte dich morgen bitten lassen, zu mir zu kommen, Robert,“ beginnt sie mühsam, „aber ich finde, es ist besser, ich sage es euch allen noch heute – ich – es ist schon lange mein stiller Kummer gewesen, aber nun muß es ausgesprochen werden – ich – das heißt Anto und ich, wir wollen uns scheiden lassen – wir – er – – “ Sie bricht ab, die Sprache versagt ihr.

Die Worte sind wie ein Blitz eingeschlagen in die kleine Versammlung; unwillkürlich sieht Louischen sich nach der Thür um, hinter der die Tote schlummert, als fürchte sie, ihr Friede werde gestört. Die Pastorin schluchzt nach einem Weilchen noch heftiger als zuvor, der Pastor aber sieht mit gerunzelter Stirn auf Christel, die plötzlich wieder in sich zusammengesunken ist und mit den Fingern an den Fransen ihres Tuches zerrt.

[136] „Ihr werdet euch nicht trennen,“ sagt er laut, „ihr werdet thun nach Gottes Willen und gemeinsam eure Wege weiter wandern, wie ihr gelobt habt vor seinem heiligen Altar, denn was er zusammengefügt, das sollen wir in unserem sündigen, schwachen Meinen nicht zerreißen.“

Christel sieht ihn groß an. „Es muß sein!“ sagt sie kurz.

„Habt ihr euch denn gezankt?“ fragt die Pastorin außer sich. „Ich und wir alle haben gemeint, ihr lebt so glücklich miteinander – ach Gott, wenn Mutter das hätte erleben müssen!“

„Wir haben uns nie gezankt,“ erklärt Christel empört, und als fühle sie, daß sie eine Aufklärung geben müsse, fügt sie hinzu: „aber Anto ist sehr unglücklich, weil wir kinderlos sind, und ich kann nicht sehen, daß er sich weiter so grämt, und deshalb trenne ich mich von ihm.“

Sie steht auf und rafft ihr Tuch empor. „Bitte, sag’ nichts mehr, sag’ nichts mehr!“ fleht sie den Pastor an, der abermals zum Reden ansetzt. „Sieh, es kann doch nichts an meinem Entschluß ändern! Der liebe Gott weiß, daß er aus keinem böswilligen Herzen kommt. – Und sprecht auch nicht darüber, ich habe es euch ja nur anvertraut, weil ich keinen anderen Ort weiß auf der ganzen weiten Welt, zu dem ich fliehen kann, wenn ich Anto verlasse, als euer Haus. Gar nicht lange will ich euch zur Last sein, nur ein paar Tage, nur mit einem Male nicht gleich so meilenfern weg! Vielleicht ist’s gar nicht das Rechte, daß ich euch dies alles erzähle, aber wo soll ich mich denn ausweinen, wenn nicht bei meinen Schwestern? Wann ich komme, weiß ich noch nicht; Anto ist krank, ist verunglückt heute, ihr wißt es ja; an dem Tage aber, wo er meiner Pflege nicht mehr bedarf, da komme ich – nicht wahr, Robert, du jagst mich nicht fort – lieber Robert?“

Es liegt ein solcher Jammer in ihren Worten, in ihrer ganzen Haltung, daß der Mann stumm bleibt; er denkt auch wohl, daß der jetzige Augenblick nicht geeignet sei, um das verirrte Schaf auf den Pfad der Pflicht zurückzuführen. „Ich will dich heimbringen,“ spricht er unsicher.

„Das laß mich besorgen,“ sagt da plötzlich Louischen, „ich fürchte mich nicht, und abkommen kann ich ja jetzt auch, es ruft niemand mehr nach mir hier oben. – Komm’, Christel, wir wollen gehen!“

Und Christel läßt es ruhig geschehen, daß die Schwester ihren Arm in den ihrigen zieht und sie hinausführt auf die Dorfstraße, in die Nacht, wo der Februarwind sie anfällt mit eisigem Atem und ihnen die verweinten Augen kühlt. Anfangs gehen sie stumm nebeneinander, erst als sie in die Allee einbiegen, die zum Gutshofe führt – sie sind hier geschützt vor dem Winde durch die Scheunen, die sich rechts von ihnen hinziehen – sagt Louischen: „Du wirst nicht so dumm sein, Christel, und Ernst machen aus der Komödie!“

„Ich habe euch gesagt, was geschehen wird, Louischen; laß uns nicht mehr davon sprechen, heute, am Todestage der Mutter.“

„Wenn unser Haus heute brennt, würden wir auch löschen,“ ist die Antwort, „und dies ist schlimmer als Brand! Ich will dir etwas sagen, Christel, du gehst nicht von ihm, weil ihr keine Kinder habt, denn das wäre Unsinn; warum du aber gehst, weiß ich – du gehst, weil dein tugendhafter Herr Gemahl –“

„Anto hat sich nichts zu schulden kommen lassen,“ unterbricht Christel sie kurz.

„Weil Anto bis über die Ohren in die Baronesse verliebt ist – aus Eifersucht willst du gehen!“ vollendet Louischen bestimmt.

Christel zieht hastig ihren Arm aus dem der Schwester. „Du mischst dich in Sachen, die dich nichts angehen,“ sagt sie eisig, aber das Herz zittert ihr. Also andere wissen es schon, und nur sie, sie glaubte noch immer!

„So? Meinetwegen! Ich kann dir doch wenigstens vorstellen, welch eine grenzenlose Thorheit du begehen willst, indem du so bereitwillig Platz machst. Glaube nur nicht, daß du ihn durch Edelmut an dich fesselst, mein Kind,“ fährt sie fort, „er läßt dich ziehen und taumelt in die neue Ehe wie die Motte ins Licht, und du – grämst dich zu Schanden irgendwo in der Welt. Ich – wenn ich’s wäre, o ja, ich ginge auch meiner Wege, gewiß ginge ich, aber scheiden lassen würde ich mich nicht! So wie ich mich quälen müßte in Sehnsucht und Leid, so sollte er sich quälen um die, die er liebt und doch nicht zu seinem Weibe machen kann. – Er hat’s verdient um dich, der Schuft, und Schufte sind sie alle, alle, einer wie der andere!“

Christel ist stehen geblieben und betrachtet ihre Schwester mit ganz entsetzten Augen. Das Tuch ist dem alternden Mädchen vom Kopfe geglitten, ihre Augen glühen und ihre Hände haben sich geballt. „Nicht scheiden!“ wiederholt sie, „weggehenweggehen – ihn allein lassen mit seinem Verlangen nach der andern! Wir können ja zusammenziehen, Christel, nach Leipzig oder Dresden – ich will dich bedienen, will dir helfen; aber laß dich nicht scheiden, ich bitte dich so sehr ich kann – er will ja nichts weiter, der – der – – “

Jetzt packt Christel die Aufgeregte an der Schulter und schüttelt sie wie einen jungen Baum. „Geh heim, du,“ sagt sie fast schreiend, „ich will nichts hören. Ich liebe meinen Mann – verstehst du? Ich liebe ihn, und was man liebt, kann man nicht leiden sehen! Du, du, wie muß es aussehen in deiner Seele!“ Und sie läßt so plötzlich die Schwester los, daß diese wankt, und dann läuft sie in das offenstehende Thor und über den Oekonomie- und Schloßhof und bleibt erst stehen an der Freitreppe, mit zitternden Gliedern, atemlos. Sie vermag kaum das Portal zu öffnen, es schwindelt ihr, und an Antons Bett sinkt sie halb besinnungslos in den Sessel, von dem der verschlafene Diener aufgesprungen ist.

„Christel,“ ruft Anton, der erwacht ist, „um Gotteswillen, Christel, was ist dir?“

Sie fährt empor und zerrt das Tuch von Schultern und Kopf, erhebt sich und bricht dann an seinem Lager zusammen; ihr Kopf liegt neben dem verwundeten Arm. „Verzeih nur,“ murmelt sie, „ich komme vom Sterbebett meiner Mutter!“

Die furchtbaren Aufregungen des heutigen Tages haben sie halb besinnungslos gemacht, aber sie fühlt doch, wie seine gesunde Hand auf ihrem Kopfe ruht, und sie hört, wie er sagt:

„Armes Weib! Gute alte Christel!“

„Ich habe dich lieb,“ flüstert sie, „und was man liebt, das – – “

Und dann ist die starke, unverzagte Christel mit den hellen klaren Augen ohnmächtig geworden.




Am folgenden Tage steht sie wieder fest auf ihren Füßen, sie hat’s auch nötiger als je, aufrecht zu bleiben. Antons Pflege, das Begräbnis der Mutter, und dann die Wirtschaft, sie will doch alles so tadellos als möglich hinterlassen.

Hätte sie nur nichts gesagt zu Schwager und Schwestern, aber ein gesprochenes Wort ist nicht zurückzunehmen, leider! Als gegen Mittag der Pastor kommt unter dem Vorwand, nach dem Befinden Antons zu fragen, und mit ihr sprechen will, sagt sie nur: „Rede mit Anto kein Wort über die Angelegenheit, ich weiß selbst noch nicht, was ich thue; seiner Zeit laß ich dich’s wissen, Robert.“

Der besorgte Mann gelobt Stillschweigen und setzt sich mit einem Seufzer der Erleichterung an Antons Bett nieder. Zeit gewonnen – alles gewonnen, sagt er sich und entfaltet einen Zettel, auf dem er die Todesanzeige der alten Frau niedergeschrieben hat. „Ist’s euch so recht?“ fragt er.

Es ist ihnen recht, denn es ist schlicht und einfach abgefaßt.

„Und wegen der Kosten, Schwager,“ sagt Anton herzlich, „bitte, Christel, besprich dich mit Robert.“

„Für Mutters Begräbnis ist reichlich gesorgt,“ antwortet sie, „sie sparte seit Jahren dafür – ich danke dir, Anto.“

Draußen klopft es jetzt und das Stubenmädchen bringt ein kleines Briefchen an Anton, mit einer schönen Empfehlung von Fräulein Edith. Christel reicht es ihrem Mann und sieht, wie sich sein Gesicht rot färbt. „Bitte, lies es mir vor, Christel,“ sagt er.

Sie nimmt das Kärtchen aus dem Umschlag und liest mit einer Selbstbeherrschung, die ihr später unbegreiflich erscheint:

 „Lieber Herr Mohrmann!
Wie geht es Ihnen heute? Es thut mir so furchtbar leid, daß Sie, um mich und den guten alten Marko zu retten, so schwer verletzt sind. Tante hat mich gescholten, aber sagen Sie selbst, ich konnte doch das Tier nicht verbrennen lassen! Wenn Sie [138] wieder wohler sind, will ich Sie tausendmal um Verzeihung bitten, und Frau Christel auch.

Heute habe ich eine große Bitte – darf Ihr Landauer mich nachmittags zur Station fahren, zu dem Dreieinhalbuhr- Zug? Meine Freundin Emma Zobel kommt mich besuchen, ich freue mich riesig darauf. Frau Christel paßt es gewiß nicht, jetzt mit Fremden zu speisen, deshalb wollen wir oben essen. Ja? Darf ich den Wagen bekommen?

Schönsten Gruß, gute Besserung!
 Ihre Edith von Ebradt.“

„Bitte, Christel,“ sagt Anton, „gieb dem Kutscher Befehl, daß er zur rechten Zeit anspannt.“

„Ja, Anto!“ Sie legt das Kärtchen auf seine Decke und geht sofort hinaus. Auch in der Küche ordnet sie noch etwas Besonderes an für das Mittagsessen der Damen, dann tritt sie in die Hinterstube und kramt dort ganz unnützerweise herum, bis die roten Flecken der Erregung auf ihren Wangen verschwunden sind; erst jetzt geht sie wieder zu Anton. Viel Zeit zum Nachdenken, zum Verzweifeln hat sie heute nicht: der Arzt erscheint, dann Graf Altwitz, der Anton danken will für seine treue Hilfe beim Brande. Der alte vornehme Mann ist ganz bewegt, als er an Antons Bett tritt.

„Gottlob,“ sagt er einmal über das andere, „daß es so ablief, lieber Herr Mohrmann, gottlob! Und Sie, meine gnädige Frau, ich hoffe, daß auch Sie den Schrecken bald verwinden werden. Jedenfalls, so lange wir leben, meine Frau und ich, wird das Gefühl tiefster Dankbarkeit nicht verlöschen für Ihren Gatten. Der erste war er auf dem Hofe, der zu helfen kam, gnädige Frau, der allererste! Ja, ja – gute Freunde und getreue Nachbarn!“

Als Christel den Grafen hinausbegleitet, faßt er nochmals ihre beiden Hände.

„Ein Prachtmensch ist er, ein Prachtmensch! Sie können stolz auf ihn sein, liebe gnädige Frau.“

Christel sieht in die feuchten Augen des alten Herrn, wie fragend, forschend. Wenn du wüßtest, denkt sie, aus welchem Grunde er so wahnsinnig hinüberjagte, um als erster anzukommen, du würdest anders reden! „Ich danke Ihnen, Herr Graf,“ spricht sie freundlich.

Eben will sie wieder in das Krankenzimmer zurückkehren, da überfällt Edith sie mit einer stürmischen Umarmung. „O, Frau Christel! Frau Christel!“

Christel stößt sie im ersten Augenblick heftig zurück, leichenblaß im Gesicht. Ebenso schnell faßt sie sich aber, die schönen Augen des Mädchens sehen sie völlig verblüfft an; was kann das harmlose Kind dafür, daß es geliebt wird? „Verzeihen Sie, Fräulein Edith, ich war so erschrocken, ich dachte gar nicht an Sie.“

Edith schöpft Atem. „Bitte sehr,“ sagt sie kühl, „ich wollte Ihnen nur – wollte nur nach dem Kranken fragen –“

„Anto geht es so gut, als es den Umständen nach möglich ist. Danke vielmal, gnädiges Fräulein.“

Edith ist der Ton ungewohnt. So freundlich Christel auch spricht, es klingt etwas heraus, das sie beunruhigt.

„Ich habe sehr viel zu thun, Baronesse,“ entschuldigt sich Christel.

„Warum nennen Sie mich heute nicht Edith oder Ditta, wie sonst?“ fragt das Mädchen.

Aber Christel antwortet nicht, sie ruft nur von der Zimmerthür ihres Mannes her: „Der Wagen fährt pünktlich vor; verzeihen Sie, ich habe Eile.“

Edith beißt mit den Zähnen die Unterlippe und sieht ärgerlich auf die Thür, hinter der die große volle Gestalt der blonden Frau verschwunden ist. Dann wirft sie den Kopf in den Nacken und geht die Treppe hinauf in das Wohnzimmer ihrer Tante, und dort sitzt sie und redet kein Wort. Seit gestern weiß sie nicht mehr, wie ihr eigentlich zu Mute ist, seit gestern, wo er sie in seinen Armen aus dem Dunst und Qualm der brennenden Scheuer getragen, sie an sich gepreßt hat, als wollte er sie erdrücken.

Die ganze Nacht hindurch hat sie schlaflos gelegen vor Freude an diesem Abenteuer, vor Unruhe und dumpfer Gewissensangst. „Edith!“ hatte er gerufen, einfach „Edith!“, aber mit einer Stimme – nie wird sie dieses „Edith!“ vergessen; eine ganze Welt voll Qual und Jubel lag darin.

Sie steht endlich auf und tritt zu der alten Dame, die vor dem Kaminofen sitzt und mit Zeitunglesen beschäftigt ist.

„Fährst du mit zur Station?“ fragt sie, nur um eine Stimme zu hören.

„Ich denke gar nicht daran,“ ist die Antwort, „du würdest auch nicht entzückt davon sein, Kind, ihr habt euch gewiß viel zu erzählen. Uebrigens – kommt der Diener mit?“

„Darum habe ich nicht zu bitten gewagt, Tante!“

„Wer soll dir denn das Handgepäck in den Wagen tragen?“

„Es ist doch ein Packträger da, Tante?“

„Der ungezogene Mensch? Ich danke! Seitdem er das enorme Trinkgeld nicht mehr bekommt, womit dein Großvater die Leute zu verwöhnen liebte, thut der Mensch, als ob er uns nicht mehr kenne; im Gegenteil, er drückt sich sogar, wenn er jemand von uns sieht. Ja, man gilt eben nichts mehr,“ schließt sie mit einem tiefen Seufzer.

„Emma bleibt ja nicht lange, Tante, sie wird nicht viel Gepäck haben,“ sagt Edith. „Freilich, imponieren wird’s ihr nicht.“

„Mein Himmel! So bitte doch, daß der Mensch mitfahren darf, er weiß ja so wie so nicht, wohin mit der Zeit,“ entgegnet Tante Tonette. „Die Frau versteht ja gar nicht einmal, sich bedienen zu lassen. Als ich neulich unten war, putzte sie die silbernen Löffel und der lange Schlaps stand derweil im Hausflur und that schön mit dem Stubenmädchen.“

„Ach, Tante, jetzt, wo Mohrmann krank ist?“

„Mein Gott, was hat das damit zu thun?“ seufzt Tonette, „als ob er seinem Herrn die geringste Handreichung leisten dürfte! Das besorgt doch gewissenhaft Frau Christel höchstselbst? Ich bewundere nur die Geduld des Mannes. In meinem Leben habe ich noch nicht solch ein klettenhaftes Benehmen gesehen wie das ihre, so etwas von spießbürgerlicher Verherrlichung eines Ehemanns. Es muß zum Rasendwerden sein!“ Und Fräulein Tonette steht auf und reißt an dem altmodischen Klingelzug.

Das junge fünfzehnjährige Dienstmädchen erscheint und wird hinuntergeschickt mit einer Empfehlung, und ob Herr Mohrmann erlaube, daß der Diener mitfahre? Es sei des Gepäcks wegen. Nach einem Weilchen stolpert das rotblonde sommersprossige Ding wieder in die Stube. „Frau Mohrmann sagte ‚Recht gern‘,“ berichtet sie.

Fräulein Tonette wendet sich an ihre Nichte: „Na, siehst du wohl? Ich begreife überhaupt nicht, warum du nicht gleich darum gebeten hast. Diese Menschen sind ja einfach selig, wenn sie uns einen Gefallen thun können.“

Um zwei Uhr fährt Edith nach der Station; Kutscher und Diener in Feiertagslivree und im Wagen die federleichte Pelzdecke und das geheizte Fußkissen. Christel steht am Fenster in ihres Mannes Stube und sieht sie abfahren. Anton schläft ein wenig, er fühlt sich matt und angegriffen wie noch nie und klagt über Kopfweh. Es sei von der Chloroformnarkose, hat er Christel getröstet. Aber sie weiß so genau, was es ist – die immerwährende Sehnsucht ist’s, der Kampf in seinem Herzen zwischen Liebe und Pflicht, und der macht stärkere Naturen als die seine elend.

Sie gönnt sich keinen Augenblick Ruhe, sie hat so viel zu ordnen, aufzuschreiben, zu thun. Uebermorgen ist das Begräbnis der Mutter, und wenn das vorbei, will sie ja – – fort. Wie sie es anfangen wird, das weiß sie noch nicht; sie hofft auf einen Zufall. Drei-, viermal hat sie den Brief überlesen, den Brief Antons an seinen Freund, und jedesmal ist ihr klarer geworden: du mußt gehen! Ach, sie hat auch ihren Stolz. Lieber möchte sie sterben, ehe sie hier bliebe, und sie wird auch sterben, sie ist nicht imstande, sich vorzustellen, wie sie leben soll ohne ihn, fern von ihm, der doch der Inhalt ihres Daseins ist. Dann kommt, wenn sie Wartau verlassen haben wird, etwas, das sie noch nicht deutlich zu begreifen vermag, etwas Banges, Entsetzliches; endlos, grau liegt es vor ihr, das Leben, allein, als geschiedene Frau.
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Edith ist unterdes auf der Station angekommen; sie sieht ganz reizend aus in ihrem schwarzen Trauerkleide und dem hellen Jackett, auf dessen Aermel ein schwarzer Florstreif geheftet ist. Der große runde Hut mit dem einfachen schwarzen Band läßt das schmale Gesichtchen blaß erscheinen wie eine Narcisse; [139] die Augen sind noch glänzender, noch dunkler geworden. Emma von Zobel, eine sehr frische rosige Blondine mit übermütigem kurzen Näschen, fällt der Freundin um den Hals.

„Nett, daß der alte Prinz Julius starb und acht Tage Hoftrauer mir Gelegenheit geben, dich zu sehen,“ jubelt sie. „Uff! Der Mensch hat wahrhaftig auch mal das Ausruhen vom Vergnügen nötig,“ und sie wirft sich übermütig in die blauen Seidenpolster des Wagens. „Aber, Di, du bist ja bildschön geworden!“ ruft sie dann, „so blaß, so interessant – höre du, ich sterbe vor Neugier auf deine Erlebnisse.“

Edith wird rot und lenkt das Gespräch auf anderes. „Du mußt sehr vorlieb nehmen bei uns, Ma,“ sagt sie, „wir sind eben arme Leute.“

„Bis jetzt macht’s mir nicht den Eindruck von Armut,“ ist die fröhliche Erwiderung, und sie weist auf den eleganten Wagen und den Diener, der den Schlag zuwirft.

„Das ist geborgter Glanz,“ lächelt Edith, indem sich der Landauer in Bewegung setzt.

„So? Macht nichts, ich denke es mir einfach romantisch bei euch. O, ich bin so schrecklich gespannt auf deinen Lohengrin!“

„Wirst ihn schwerlich sehen, er liegt zu Bett.“

„Krank? Doch nicht etwas Ansteckendes? Du, Di, laß halten, da kehre ich auf dem Fleck um,“ ruft die erschreckte Freundin.

„Unsinn! Er ist gestern, als er beim Brande in Altwitz retten half, verletzt worden, das ist alles.“

„Ah! Wie war das? Erzähle doch,“ drängt Emma von Zobel, nun wieder im Gleichgewicht.

Edith berichtet in flüchtigen Sätzen der gespannt lauschenden Freundin die gestrigen Ereignisse, und währenddem ist der Wagen das Stück Chaussee entlang gefahren und rollt jetzt schon durch die Dorfstraße.

„Himmel, wie romantisch!“ ruft die kleine Blondine, „dich hat er gerettet? Sag’, Di, bist du wirklich um den Hund hineingerannt in die Flammen, oder wolltest du gerettet sein? Bekenne mal ehrlich, Di!“

„Schäme dich, Ma! So ein armes Tier – natürlich stürzte ich nur des Hundes wegen hinein.“

„Na, sei nur gut, Di, ich werde dein Abenteuer auch gewissenhaft an Edi Waldenberg berichten. Uebrigens, Di,“ sie sieht ihre schöne Freundin nachdenklich an, als sei sie neugierig, wie diese die Nachricht aufnehmen wird, „mit dem Edi – das ist ’ne schöne Geschichte – weißt du schon?“

„Kein Wort,“ versichert Edith wie elektrisiert, „wir leben ja hier wie auf einer wüsten Insel. Also, was weißt du, Ma? Was ist ihm denn passiert?“

„Denke dir nur – sein schwindsüchtiger Bruder, der Majoratsherr, hat sich verlobt!“

Aus Ediths Gesicht schwindet das zarte Rot, das eben noch ihre Wangen färbte; sie wendet den Blick zum Wagenfenster hinaus.

„Und der Edi,“ fährt Ma unbarmherzig fort, „macht seiner künftigen Schwägerin den Hof mit einem Nachdruck – ich sage dir, großartig. Die böse Welt behauptet, das seien die Präliminarien für später, er könne dann, wenn sie Witwe ist, der das ihr ausgesetzte große Wittum zufällt, ohne viel Federlesens sagen: ‚Ich habe dich schon geliebt, als du noch meinem Bruder gehörtest.‘“

„So?“ kommt es langsam von Ediths Lippen. „Wie interessant! Ich habe den Edi gar nicht für so klug gehalten.“

„Du bist ja blaß geworden, Di?“

Das schöne Mädchen antwortet nicht. In diesem Augenblick hält auch schon der Wagen vor dem Schlosse; aber es ist niemand da zur Begrüßung, Fräulein Tonette schlummert ein wenig im Lehnstuhl droben und Christel legt Anton eben eine neue Kompresse auf.

Die jungen Damen steigen nach oben, und auf der Treppe schlingt Emma von Zobel den Arm um Edith. „Du, wirst dich doch nicht im Ernst grämen um den Edi Waldenberg? Ich bitte dich, Di, die Sache ist ja mehr als aussichtslos.“

„Ich mich grämen?“ antwortet Edith, „ich denke nicht daran, ganz wahrhaftig nicht, Ma! Im Grunde ist er doch nur ein schrecklich dummer Junge, der gute Edi.“

Sie bleiben beide stehen und lachen, und dieses silberne Lachen klingt von den hohen Wänden des Treppenflurs wieder, fremdartig, ungewohnt in diesem Hause. Es ist, als ob all die alten nachgedunkelten Porträts der Wartaus aufwachten über diesen ungewohnten Jubel der Jugend und des Uebermuts.

„So,“ sagt abends Ma zu Edith, „jetzt bist du wieder die alte ‚tolle‘ Di, wie wir dich in der Pension nannten.“

Edith hat sich in ihr phantastisches Hauskostüm gesteckt, liegt in einem alten Fauteuil und wippt mit den Füßchen.

„Du kamst mir heute zuerst so wunderlich vor, so pedantisch – das kleidet dich gar nicht, Di. Uebrigens ist’s kein Wunder, denn Tante Tonette scheint mir eine ‚sehr einfache‘ Dame zu sein, und zum Sterben langweilig.“

„Glaubst du?“ fragt Edith und verzieht ironisch den Mund, „wenn du dich nur nicht irrst.“

„Die fließt ja über vor Edelmut! Wie gräßlich rührend zum Beispiel von ihr, daß sie sich Frau Christel anbietet, während des Begräbnisses im Nebenzimmer der Krankenstube zu bleiben.“

„Sehr rührend, es ist wahr,“ bestätigt Edith mit undurchdringlicher Miene.

„Schade, daß Wartau euch nicht mehr gehört; das alte Nest ist einfach himmlisch,“ fährt Emma von Zobel fort, „wirklich feudal! Ein bißchen sehr verblichene Pracht freilich, aber wenn ich mir das schön aufgefrischt vorstelle, Di, und mich hier lebend mit einem netten Mann, im nahen Verkehr mit den vielen Nachbargütern, die erste Rolle als schöne junge Frau spielend, im Winter in der Residenz, oder so – – furchtbar nett! Ich würde bei meiner Dienerschaft die Puderperücken wieder einführen, glaube ich, damit sie zum Stil des Schlosses passen.“

Edith lacht laut auf. „Wenn ich mir Frau Christel vorstelle, von gepuderten Dienern umgeben!“

„Ich sage ja nicht, daß diese Rustica hier residieren soll!“

„Nun, sie thut’s doch aber mal,“ antwortet Edith und schleudert ihren Schuh mit einer Fußbewegung über den Teppich.

„Freilich, Di, ereifere dich doch nicht; ich kann doch nichts dafür,“ schmollt Ma.

Nach einer Stunde haben die jungen Mädchen ihr Lager aufgesucht; Ma schläft sofort ein, Edith liegt mit heißem Kopf in den Kissen und starrt auf den Rokokospiegel, in dessen geschliffenem Glas bläuliche Funken blitzen, die der Mond ihm entlockt, der durch einen Spalt der Vorhänge blinzelt. Plötzlich springt das Mädchen auf und huscht hinüber zu dem Bette ihrer Freundin.

„Ma,“ sagt sie halblaut und rüttelt ihre Schulter, „liebe Ma!“ Und sie kniet vor dem Bette nieder – „Ich muß dir etwas sagen, Ma, mir drückt’s das Herz ab sonst,“ flüstert sie dicht am Ohr der erwachten Freundin, „ich bin furchtbar unglücklich, Ma, ich liebe den Lohengrin!“

„Riesig interessant!“ gähnt Ma, halb noch im Schlummer, „wenn er nur nicht Mohrmann hieße.“

„Ma, spotte nicht!“ schluchzt Edith, „es ist ja so schrecklich, begreifst du denn das nicht? Es ist ja so schrecklich!“

„Das ist dein Ernst?“ fragt jetzt die Freundin und setzt sich völlig aufrecht im Bette.

„Ja! Seit gestern weiß ich es, Ma, seit er mich aus dem Feuer trug.“

„Ich dachte seit heute, wo ich dir vom Edi erzählte?“

Edith überhört das und schluchzt nur noch mehr.

„Geh schlafen, Kind,“ tröstet Ma. „Morgen sprechen wir weiter, wenn’s überhaupt lohnt, darüber zu reden.“

Und Edith sucht das Lager auf und weint sich in den Schlaf, und ihr träumt, daß sie zugegen ist, wie Edi Waldenberg ihre Verlobungsanzeige bekommt. „So, so!“ hört sie ihn sagen, „mit dem Mohrmann, der sich ihretwegen von seiner Frau scheiden läßt?“ Und dann fährt er sich verzweiflungsvoll in die Haare – „Edith, ich liebe dich, warum hast du mir das gethan?“ Und sie muß lachen, ach, so sehr.

Sie hat ganz laut gelacht und erwacht darüber mit heftigem Herzklopfen. Wo ist sie denn? Wie ist ihr denn? Sie liegt in ihrer Schlafstube in Wartau, der Mond blinzelt durch den Vorhang und die Schloßuhr schlägt eben Eins, und unter ihr sitzt Frau Christel am Bette ihres kranken Mannes und Edith sieht sie im Geiste so deutlich vor sich. So fest sitzt sie da und so sicher, die große blonde Frau, wer könnte sie zwingen, von diesem Platz zu weichen? Und Edi – Edi bleibt arm, wenn sein Bruder, der schwindsüchtige Majoratsherr, heiratet, und Edi macht der zukünftigen Witwe schon jetzt den Hof – aus Berechnung! Er [140] hat Edith nie geliebt, der Edi – nie – nie! – Und das, was edle Charaktere vertieft, läutert, emporhebt, das entzündet in dem Herzen des ohne Liebe aufgewachsenen, von Fremden umhergestoßenen Kindes etwas Unheiliges, Düsteres. „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh oder alles was sein ist,“ das war ihr heute noch beängstigend durch den Sinn gegangen – aber jetzt?

Sie lebt, sie muß leben, sie ist ein armes adliges Fräulein; sie hat nichts gelernt als ein wenig oberflächliches Zeug, und sie will glücklich sein, will ihr junges Dasein genießen! Sie kennt den Eindruck, den sie auf den Mann dort unten gemacht, der sich in den Besitz ihres mütterlichen Stammhauses gesetzt hat, und sie wär’ doch die einzige Erbin gewesen. Gut! Sie wird versuchen, dieses angestammte Heim zurückzugewinnen, die Frau Christel dort unten zum Aufgeben ihres Platzes zu bewegen – der Edi soll sich ärgern, und wie soll er sich ärgern! Verzweifeln soll er, der Mensch, der schlechte!

Was dann wohl aus der Frau wird, der Frau, die so viel Gutes, so viel Freundlichkeiten für das vaterlose und mutterlose Mädchen gehabt, das nur aus Gnade und Barmherzigkeit eine Zuflucht fand in dem Winkel des kargen Haushalts der verarmten Tanten? Bah! Die Frau Christel ist das Arbeiten gewohnt und das Dienen, aber Edith nicht, und sie ist die Geliebte, die einzig Geliebte, sie weiß es genau seit dem Augenblick, wo er sie an sich preßte, so leidenschaftlich, so selbstvergessen – –.

Das Recht des Stärkeren nimmt sie für sich in Anspruch, wie es Brauch ist in der Welt – weiter nichts! So beschwichtigt sie ihr Gewissen. Und die Leute haben ja nicht einmal Kinder! Ja, wenn sie Kinder hätten, denen die Mutter fehlen würde – aber so? Die Sünde ist klein, und ihre Verlassenheit so groß!

Und sie wischt die letzten Thränen um Edi aus den Wimpern und legt sich auf die Seite. „Ma,“ sagt sie im Einschlafen, „Ma, ich liebe ihn, glaube es mir.“




Auf dem Gottesacker sind die Leidtragenden um das offne Grab versammelt, über dem der Sarg steht, in welchem Christels Mutter schläft; die drei Schwestern, die Pastorskinder und eine ganze Menge Leute hinter ihnen; die Männer in wunderlich altmodischen Cylindern, die Frauen mit schwarzen Kopftüchern oder Hüten. Wenn aus dem Pastorhause einer begraben wird, so geht selbstverständlich die ganze Gemeinde mit.

Draußen auf der Landstraße hält der Landauer Mohrmanns. Er ist leer dem Trauerzug nachgefahren, denn Christel hat es vorgezogen, zwischen den zwei Schwestern hinter dem Sarge zu gehen, obgleich es ein häßlicher, naßkalter Februartag ist, dieser Fastnachtsabend, an dem die alte Frau begraben wird. Ein naßkaltes Gemisch, halb Regen und halb Schnee, peitscht der Wind durch die Luft und die meisten stehen da mit aufgespannten Regenschirmen. Der Pastor spricht am offnen Grabe; es ist eine Rede mehr zur Mahnung an eine Lebendige als zur Ehrung der Toten. „Was lernen wir in den Minuten, da wir einen Dahingeschiedenen der Erde wiedergeben?“ fragt er. „Daß wir nimmer genug thun können im Lieben, so lange er unser ist, daß wir treu sein sollen gegen die, die Gott uns gab als Gefährten auf dem dornenreichen Pfad des Lebens, so lange sie mit uns wandern dürfen, seien es Eltern, Geschwister oder Gatten! Sie lehren uns, daß Trotz und böser Wille gegen unsere Lieben, die ja auch nur schwache Menschen sind und irren können wie wir, schlimme Dinge sind, die uns gar bitter weh thun können. Und noch so heiße Reue bringt nicht eine einzige Minute gemeinsamen Lebens wieder!

Liebe Gemeinde, seid freundlich zu einander, übet Geduld, damit, wenn der Tag des Scheidens kommt – und wer weiß, wie nah’ er ist – keine Reue euch klagen lässet: hätten wir doch mehr Liebe, mehr Nachsicht geübt! Ach, wenn er noch einmal neben mir stünde, nie wollten wir murren, nie ihn verlassen!“

Christel sieht den Redner unverwandt an, wie der Redner sie, aber sie schlägt die Augen nicht nieder. Was weiß er von ihren Kämpfen – was versteht er von ihrer Liebe? Hat er denn den Brief gelesen, den verzweifelten Brief Antons? – Christel weiß, was sie zu thun hat; sie wird ihren Weg gehen, unbeirrt. All die schönen Worte sind für sie inhaltsleer, denn sie passen gar nicht auf ihren Fall. Wie gern würde sie ausharren an Antons Seite, aber dann würde er unglücklich bleiben, und das könnte sie nicht ertragen. Auch ist etwas in ihr lebendig geworden, das sie bisher nicht gekannt, etwas Mächtiges, Unabweisbares – der Stolz, der gekränkte, bis aufs äußerste gekränkte Stolz der Frau, die ihre Pflicht that, immer, und nun um einer andern willen aufgegeben wird. Sie will nicht die Wirtschafterin, die Magd sein, und sollte ihr bei dem Scheiden von ihm das Herz brechen!

Wenn sie nur erst fort könnte, fort, so lange der Stolz in ihr lebendig, und wenn sie nur erst wüßte, wie sie fortkommen kann! – Das ist ihre größte Sorge augenblicklich.

„Amen!“ sagt der Geistliche jetzt. „Amen!“ wiederholt sie halblaut. Sie hat gar nicht gehört, wie das Vaterunser gesprochen wurde, obgleich ihre Lippen sich flüsternd bewegten, als betete sie mit. Nun wirft auch sie mit den andern die drei Hände voll Erde in die Gruft hinunter, die Schwestern neben ihr weinen so laut, und die Leute kommen und drücken ihr und den andern die Hände, ihr Schwager auch.

„Ich wollte, du könntest weinen, Christel,“ sagt er mild. „Die Frau soll weinen können an solchem Grabe, als ein Zeichen, daß sie sich unter Gottes Willen beugt: du weißt, Herr, wie es am besten ist, führe du mich weiter! – Aber du bist starr und kalt und deine Miene ist, wie ich sie nicht kenne an dir, trotzig. Geh’ heim, Christel, setze dich an das Krankenlager deines Mannes und nimm seine Hand in die deine, und danket beide dem gütigen Gott, daß ihr noch bei einander seid!“

Er faßt ihre Hand und führt sie dem Wagen zu; Schwester Louise und die Pastorin folgen, von teilnehmenden Frauen umringt. Christel ist es wie eine Erlösung, daß die Schwestern nicht darauf warten, sie noch im Pastorhause zu sehen; sie möchte um keinen Preis mit ihm noch einmal reden über die traurige Angelegenheit.

Am Wagenschlag, im Regen und ohne Schirm, steht auf Christel wartend – Edith von Ebradt. Der Prediger fühlt, wie die Hand der Schwägerin in der seinen zuckt, aber ihr Gesicht verrät nichts, nur um ein wenig bleicher ist’s noch geworden. Das junge Mädchen drückt ihr die Hand und murmelt ein paar teilnehmende Worte, und wie es der Tante leid sei, nicht auch der Feier haben beiwohnen zu können; sie sei erkältet und das Wetter so schlecht.

„Sehr schlecht,“ sagt Christel und sieht an ihr vorüber, „und deshalb ist es am besten, Sie steigen mit ein.“

„Gern,“ antwortet Edith, froh, ihre Kondolation angebracht zu haben, „ich wollt’ Sie gerad’ darum bitten, Frau Christel.“ Sie schlüpft sofort in die rechte Ecke des Wagens und richtet sich ein. Ich habe mir ganz gewiß einen Schnupfen geholt, denkt sie dabei, und das um eine alte Frau, die ich in meinem ganzen Leben nicht sah. Tante ist manchmal zu komisch!

Die beiden fahren heim, ohne ein Wort zu sprechen; Christel schaut aus diesem – Edith aus jenem Wagenfenster. Seit gestern abend, seit sie mit Emma von Zobel gesprochen, hat das Mädchen eine unüberwindliche Scheu vor der großen blonden Frau; sie fühlt sich überhaupt todunglücklich, bedrückt, überflüssig, halb verraten schon in ihrer Schuld. Sie springt sehr hastig auf, als man angelangt ist, sagt kurz „Adieu!“ und läuft in das Haus.

Christel folgt langsam, fragt im Flur den Diener, wie es dem Herrn ergehe, und wundert sich, zu hören, daß Fräulein von Wartau an seinem Lager sitze.

„Noch jetzt?“ fragt sie.

„Jawohl, Frau Mohrmann. Das Fräulein Baronesse kam gleich, nachdem Sie fortfuhren. Zuerst saß sie im Nebenzimmer, aber dann –“

Christel legt ruhig ihre Sachen ab, zieht das schleppende Trauerkleid aus und den grauen Hausrock an. Sie hört im Nebenzimmer die Stimme der alten Dame, aber ohne ein Wort zu verstehen, was ihr übrigens gleichgültig ist, und tritt dann ein. Auf den ersten Blick erkennt sie die nervöse Aufregung des Patienten; er ist heiß, sein Gesicht gerötet, und die Finger seiner linken Hand spielen nervös auf der Decke.

Fräulein von Wartau erhebt sich, drückt dem Kranken die gesunde Hand, spricht ein paar teilnehmende Worte zu Christel und geht dann sehr eilig. Christel tritt an das Krankenbett und fragt: „Wie geht’s dir, Anto?“

[142] „Danke!“ ist die kurze Antwort.

„Fräulein von Wartau sprach wohl zu viel? Du siehst so erhitzt aus,“ sagt sie und beginnt ein Glas Citronenlimonade zu mischen.

Er antwortet darauf nicht, sondern deutet nach einem Schreiben, das geöffnet auf seiner Decke liegt. „Karl fragt nochmals an, der Taufe wegen,“ sagt er vor Aufregung heiser, „es ist – ich glaube – “

Ihre Hand, die das Glas hält, zittert stark; sie wendet sich halb von ihm ab, damit er es nicht sehen soll.

„Wir können doch nicht beide abschreiben, Christel,“ fährt er fort, „du mußt reisen, Christel, es wäre zu unartig – denke ich –“

„Und wann ist die Taufe?“ unterbricht sie ihn.

„Heute über acht Tage.“

„Und du glaubst, bis dahin wieder so weit zu sein, daß du meine Pflege entbehren kannst, Anto?“ fragt sie weiter.

„Ja, ich denke – und wenn nicht, dann behelfe ich mich eben einmal. Christel, du mußt!“ ruft er so heftig, als habe sie ihm widersprochen. „Und wenn du etwa Anstand nimmst der Trauer wegen, das ist Unsinn! So ein kleines Familienfest, und – deine gute Mutter war doch in den Jahren, wo man – ich bitte dich, mach’ keine Schwierigkeiten, setze dich hin und schreibe, daß du kommst.“

„Aber gewiß, Anto, sofort!“ sagt sie so ruhig, daß es seltsam absticht von seinem heftigen Zureden.

Er hat wohl eine Gegenrede erwartet, er sieht sie wenigstens völlig verblüfft an, da sie aber ohne weiteres in sein Zimmer geht, sich an den Schreibtisch setzt und den gewünschten Brief verfaßt, legt er sich mit dem Ausdruck qualvoller Abgespanntheit zurück und preßt die Hand gegen die Stirn. Es geht nicht mehr so weiter, er kann das Leben so nicht mehr ertragen.

Nach ein paar Minuten kommt Christel zurück. „Ist dir’s so recht, wie ich schrieb?“

Er nimmt das Blatt mit einem langen forschenden Blick auf sie; es ist Christels altes stilles Antlitz, das er erblickt, ein wenig blasser zwar und schmaler als sonst, aber im übrigen unverändert – sie ahnt nichts, nein, sie ahnt nichts! Die Schrift freilich, die ist seltsam, anstatt der sonst so kinderhaften Buchstaben mit den regelmäßigen, gewissenhaft ausgeführten Haar- und Grundstrichen, ist es eine hastige, zitternde Schrift, und der Name darunter: „Christiane Mohrmann“ ist groß hingemalt; wie trotzig stehen die Buchstaben da; ein Handschriftverständiger würde in ihnen einen Charakter von unbeugsamer Energie erkennen.

„Danke sehr,“ sagt er, und Christel geht abermals, um zu couvertieren und die Adresse zu schreiben. Dann giebt sie dem Diener den Brief und tritt in das Wohnzimmer, und dort sitzt sie im Lehnstuhl, auf der Estrade, die Hände im Schoß zusammengefaltet, die Lippen aufeinander gepreßt. Noch acht Tage! Noch acht Tage – dann ist sie heimatlos, liebelos und bettelarm an Glück!

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 6, S. 166–175

[166] Noch acht Tage bis zur Stunde des Abschieds. Wenn Christel nur wüßte, wie sie dieselben überstehen soll! Sie erscheinen ihr schlimmer als die Jahre, die dann kommen, die Jahre der Verlassenheit! Ja, sie wird gehen, nach Dresden zur Taufe fahren und nicht wiederkehren.

O, diese nächsten acht Tage! Ob sie den Verstand wohl behält in der Zeit, oder ob ihr armes gequältes Hirn sich verwirrt? Ein Wunder wär’ es nicht. Wenn man ihr sagte, du sollst in acht Tagen sterben, eine Wohlthat wär’ es gegen dies! Und – sich nichts merken lassen vor ihm, sich beherrschen müssen, nicht den Kopf an die Wand lehnen dürfen in verzweifelndem Schluchzen! Ihm die Hand zum Abschied drücken müssen mit einer Lüge auf den Lippen! Sie will gar nichts sagen, kein Wort sagen, sie will ihn nur noch einmal küssen, ja, das will sie. Und dann in den Wagen, vorüber am Pächterhause, wo die Gespenster ihres einstigen Glücks aus den Fenstern schauen und weinen und spotten. Und weiter, auf die Bahn, in ein Coupé, und immer weiter, und das Haus nicht mehr sehen und doch immerfort vor Augen haben und darinnen den Mann wissen, der aufjauchzt vor innerer Erlösung, weil sie fern ist!

Wirklichkeit? Ist es denn Wirklichkeit? Wenn sie nur nicht mit diesen ihren eignen Augen gelesen hätte, die Worte sich nicht eingebrannt hätten in ihre arme Seele mit Feuerschrift, die nie verlöscht. Ach ja, sie muß gehen, sie will gehen, es bleibt ihr ja nichts anderes übrig. Und es müssen auch diese acht Tage ertragen werden!

Und Christel schleppt sie wirklich hin auf ihren Schultern, einen nach dem andern. Mit Antons Befinden geht es überraschend vorwärts, jeden Tag besser – „das macht die Hoffnung“ sagt Christel sich.

„Sie können ohne die mindeste Sorge reisen, Frau Christel,“ versichert der Arzt eines Tages, „der Kranke ist jetzt bereits aufgestanden und geht im Zimmer umher, das Anlegen des Verbandes besorgt bestens meine Wenigkeit und die Toilette der Diener. Für Unterhaltung werden die Baronesse und Fräulein Edith verantwortlich gemacht, Besuche aus der Nachbarschaft treffen ein, und für den nötigen Aerger wird Heine das Seinige thun mit Berichten aus der Wirtschaft. Sie sehen, Frau Christel, es wird hier nichts fehlen, womit ich aber nicht gesagt haben will, Verehrte, daß Sie hier entbehrlich sind – nein, das habe ich nicht etwa gemeint, nicht wahr, Mohrmann?“ Und der joviale Herr schlägt dem Patienten auf die gesunde Schulter. „Länger als drei Tage Urlaub giebt’s nicht – was, Mohrmann? Sonst werden wir ungnädig und lassen die Treulose durch die Polizei zurückführen!“

„Lieber Herr Doktor,“ sagt Christel sehr langsam, „kein Mensch ist unentbehrlich, ich bin es auch nicht.“

Der alte Herr stößt augenzwinkernd den Hausherrn an. „Die angelt aber nach Komplimenten, die Gnädige!“ lacht er, „der Tausend, das hätte ich nie von Ihnen gedacht, Frau Christel, und so will ich Sie bestrafen, indem ich gar nichts darauf sage, der Herr Gemahl könnte sonst eifersüchtig werden; hab’ auch keine Zeit. Leben Sie wohl, meine Herrschaften, auf Wiedersehen, lieber Mohrmann, glückliche Reise, Frau Christel!“

Christel folgt dem Arzt auf dem Fuße und im Hausflur faßt sie nach seiner Hand. „Lieber Herr Doktor, ich kann mich doch darauf verlassen, daß Sie jeden Tag kommen werden zu meinem Mann?“

„Ja Schockschwerenot, habe ich Sie denn schon einmal im Stich gelassen?“ ist seine scheltende Erwiderung. „Machen Sie sich doch keine unnützen Sorgen, verehrte Frau, Sie finden ihn wieder vor, so breit und lang er ist, mein Wort darauf –“ Er bricht stotternd ab, sie sieht ihn so sonderbar an, daß dem alten Mann ganz wunderlich wird.

„Ich danke Ihnen,“ sagt sie, drückt ihm noch einmal die Hand und wendet sich wieder Antons Zimmer zu. Sie sieht jämmerlich aus an diesem letzten Tage, an dem der Koffer schon gepackt dasteht. Jeder fragt, ob sie krank sei. Und selbst Edith sagt bei Tische: „Bitte, sehen Sie sich doch einmal im Spiegel, Frau Christel; ich wette, Sie haben Reisefieber.“

„Ja, ich glaube,“ erwidert sie.

Edith hat es auf Christels Bitte übernommen, dem Hausherrn bei Tische behilflich zu sein; er kann das Fleisch nicht schneiden, und den Wein sich eingießen kann er auch nicht, Das junge Mädchen besteht darauf, heute noch vor den Augen Christels eine Probe ihrer Fähigkeit abzulegen. Sie streift die Aermel etwas von den feinen Handgelenken zurück und bedient den finster dreinblickenden Mann mit lächelnder Grazie. Seitdem Emma von Zobel, die Mitwisserin ihres Geheimnisses, abgereist ist, fühlt sie sich wieder freier vor Christel; das heimliche Herzklopfen freilich, das – das kann sie nicht unterdrücken.

Draußen weht ein frühlingsgleicher Wind, die Knospen der Buchen sind geschwollen, so daß die Hecken einen krausen dichten Eindruck machen, und Fräulein von Wartau bemerkt zu Christel, daß demnächst wohl das Tannenreisig von den Hyacinthenbeeten genommen werden könne; sie für ihr Teil glaube an einen zeitigen Frühling, und wenn sie nicht sehr irre, habe sie bereits das Pfeifen der Stare gehört. „Sie werden Ihre Freude haben an den Beeten,“ fügt sie hinzu, „dieser südliche sonnige Teil des Gartens ist köstlich im Frühjahr; er war immer mein besonderer Liebling,“ seufzt sie noch und denkt dabei an ferne Zeiten, an einen hyacinthenduftigen Frühlingstag, wo ihr vom Schicksal die erste und einzige Liebeserklärung ihres Lebens gegönnt wurde auf den kiesbestreuten Gartenwegen, in denen sie und er wandelten. Damals galten die Wartaus noch für reich; auch sie, die achtzehnjährige, wußte es nicht anders, und der schöne Offizier aus der benachbarten kleinen Garnison glaubte es ebenfalls.

Unter ihrem weißen Sonnenhut war sie erglüht bei seinen Blicken, seinen Worten, er hatte sie verglichen mit den rosigen Hyacinthenkelchen; und als eine selige Braut war sie in das Schloß zurückgekehrt und die Treppe hinaufgeflüchtet nach ihrem Mädchenstübchen; er aber hatte des Barons Zimmer aufgesucht, um, ihres Besitzes sicher, auch bei dem Vater zu werben. Und sie hatte gewartet, gewartet da droben, zitternd wie Espenlaub, daß der Vater sie rufen solle, um sie dem Bräutigam zuzuführen. Und niemand kam. Ueber dem Garten leuchtete goldig die Sonne des Abends und verglühte am Himmel; ein Weilchen stand die Windmühle von Altwitz wie eine Silhouette im roten Sonnenball. Dann flammten die Wolken noch einmal auf im leuchtenden Rot und verfärbten sich mählich zu violett und orange, und noch ein paar Minuten, dann lag draußen alles grau in grau, und Tonette von Wartau stieg mit blassem Antlitz die Treppe hinunter und suchte ihren Vater.

Der Herr Baron saß bereits beim Abendessen und ließ es sich wohlschmecken, die Schwester und deren Erzieherin ihm zu Seiten. Als er Tonette sah, war er ganz wie sonst, nur daß diesmal die scharfe Bemerkung unterblieb, mit der er jede Unpünktlichkeit zu tadeln pflegte. Mit keiner Silbe erwähnte er den Freier. Sie konnte nicht einen Bissen hinunterbringen, und nach Schluß der Mahlzeit stellte sie sich, zitternd vor Trotz, in seinen Weg.

„Wo ist Schmergenthin?“ fragte sie halb erstickt.

„Soll ich Schmergenthins Hüter sein?“ war die lachende Gegenfrage. „Ich denke mir, er spricht ein Dankgebet, weil ihn der Himmel vor einer Thorheit bewahrte.“

„Vater! Vater!“ stieß sie hervor.

„Als er hörte, daß dein Vater dir nicht einmal das Kommißvermögen mitgeben könne, Tonette,“ sagte er mit erhobener Stimme, „behauptete Schmergenthin plötzlich, er fühle sich deiner nicht wert, und bat mich, dir zu sagen, du möchtest ihn vergessen. Sei gescheit, Mädel, glaub’ ihm und folge seinem Rat! Und nun schlaf wohl, ich bin müde heute.“

In dieser Nacht verdarb Tonettes Seele. Armut und Verlassenheit sind zwei bittere Dinge, sie lehren die Geduldigen, noch geduldiger werden, aber die eitlen Herzen lehren sie das Heucheln, das Vorteilsuchen, sie lehren sie, andere bestehlen, [167] Tonette, die scheinbar so edelmütige stolze Tonette, war eine Intrigantin geworden, obgleich sie es sich selber nicht eingestand. Sie konnte und konnte den Gedanken nicht loswerden, daß Christel hierher nicht gehöre. Sie hatte die wunderlichsten Phantasien; sie rechnete die schrecklichsten Zufälligkeiten aus; die Anton befreien könnten von diesem Klotz, den er umherschleppe zu seinem Elend – wie sie meinte. Es waren ja schon Leute vom Blitz erschlagen worden, es waren auch schon welche durch ein Eisenbahnunglück umgekommen, es hatten andere beim Sturz von der Treppe das Genick gebrochen – warum kam nicht mal so ein Ereignis? Warum? Wenn so etwas nicht geschah, würden die beiden natürlich vereint bleiben bis an ihr seliges Ende, denn er war ja so ein lächerlich gewissenhafter Mensch, und bei Christels Konstitution könnte es leicht zu spät werden für Tonettes Pläne!

Mit Intriguen ist da auch nicht weit zu kommen. Diese blonde ruhige Frau besitzt eine Seele wie Quellwasser so klar; sie ist noch nicht einmal fähig, eine konventionelle Lüge auszusprechen, und das weiß der Mann; Tonette sieht täglich, wie er diese Frau achtet. Aber Achtung ist der Leidenschaft gegenüber ein schwacher Kämpfer, und das weiß Tonette aus eigner Erfahrung – ihr Vater hat ihre Mutter auch geachtet und sie dennoch an gebrochenem Herzen sterben lassen. Und sie sieht von Edith, die eben den starken Kaffee in die Mokkatäßchen füllt, zu Anton hinüber und fängt den qualvoll heißen Blick auf, der zu dem Mädchen fliegt, und sie sieht, wie er die Wimper senkt vor ihren, Tonettens, Augen, und während sie dies alles beobachtet, herrscht ein wahres Grabesschweigen am Tische, selbst Ediths Plaudern ist verstummt.

Christel denkt, wie es anders sein wird, wenn sie nicht mehr hier sitzt, wie er aufatmen wird, wenn er nicht mehr Komödie zu spielen braucht vor ihr. Die Sache wird sich ungefähr so entwickeln: im Anfang wird er alles aufbieten, sie zur Rückkehr zu bewegen, denn die Gewohnheit ist so stark, daß sie in den Farben der Liebe zu schillern vermag. Aber allmählich, wenn seine Christel standhaft bleibt – und sie bleibt standhaft! – dann wird er sich beruhigen und wird glücklich sein, daß die Ketten, die so schwer, so drückend waren, nun gebrochen sind. – Sie möchte aufschreien vor Schmerz, vor Zorn, aber sie muß fest bleiben, sie hat ja den Brief gelesen, den furchtbaren Brief, die Worte haben sich ihr so deutlich eingeprägt, sie kann sie auswendig, sie geben ihrem Stolz immer wieder neue Nahrung, wenn sie zurückschrecken will vor dem schweren Schritt. Und um sieben Uhr morgen früh geht der Zug! O, sie wollte, sie hätte noch viel zu thun, damit sie nicht weiter zu denken braucht, aber es giebt nichts mehr für sie zu thun, gar nichts mehr, so fieberhaft arbeitete sie während der letzten Tage. In der Wirtschaft ist alles in bester Ordnung, auf Wochen hinaus jede Kleinigkeit vorausberechnet und bestimmt. Solange es irgend möglich, will sie ihm jede Sorge abnehmen, kleine Unbequemlichkeiten ersparen; die Zeit, wo er ohne Hausfrau ist, wird ihm ohnehin schwer genug werden.

Fräulein Tonette erhebt sich plötzlich. „Na, meine gute Frau Christel,“ sagt sie in dem herablassend freundlichen Ton, den sie ihr gegenüber stets annimmt, „also reisen Sie glücklich und amüsieren Sie sich gut und – kommen Sie gesund wieder!“

„Danke!“ erwidert Christel und begleitet die alte Dame bis auf den Flur hinaus, und dort hält sie ihr plötzlich die Hand hin und mit abgewendetem Gesicht kommt es in stockenden Worten über ihre Lippen: „Nehmen Sie sich ein wenig meines Mannes an – er ist immer noch so ans Zimmer gefesselt. Wenn Sie ihn zuweilen auffordern wollten, hinaufzukommen – er ist so gern in Ihrem Zimmer, ich weiß es. Und Fräulein Edith –“

O du Gans, du einfältige! denkt Tonette, sie ist dumm und blind in ihrer selbstgefälligen Ehefrauensicherheit! „Aber natürlich, liebe Frau Mohrmann,“ antwortet sie laut, „wenn Ihr Gatte Lust hat, so ist er immer willkommen. Sagen Sie es ihm nur, ich habe wirklich nicht den Mut, ihn in unser langweiliges Tusculum hinauf zu locken. Es ist weiter nichts da oben als Erinnerungen, Trödel und –“

„Ich weiß, daß Anto gern kommt,“ unterbricht Christel diese Phrasen, „und ich danke Ihnen recht sehr.“

„Sie gehen wohl recht schweren Herzens fort?“ fragt das alte Fräulein, und um die Mundwinkel zuckt ein unmerklich spöttisches Lächeln.

„Ja, gnädiges Fräulein. Sehr schweren Herzens,“ erwidert Christel. „Man weiß nie, ob man wiederkehrt!“ und sie richtet ihre Augen groß und ernst auf das malitiös lächelnde Gesicht der alten Dame.

„Na, Sie werden schon wiederkommen, meine gute Frau Christel, werden schon wiederkommen,“ tröstet Tonette, „nehmen Sie’s nicht so tragisch. – Adieu nochmals und bitte, schicken Sie mir doch Edith, sie würde an dem Vorabend dieses großen Ereignisses doch nur stören.“ Sie nickt gnädig noch einmal, dann geht sie die Treppe hinauf, Christel kehrt zurück.

Im Eßzimmer sitzen Anton und Edith noch am Tische, als sie eintritt. Edith hat eine Apfelsine geschält und so geordnet, daß sie wie eine goldene, eben erschlossene Blüte auf dem Krystalltellerchen liegt; sie wischt nun die Fingerspitzen an der Serviette ab und präsentiert Anton die Frucht. Durch das Fenster zuckt ein Sonnenstrahl, er entlockt dem Tafelgerät ein lustiges Blitzen und Funkeln und läßt die krausen dunklen Haare über Ediths Stirn leuchtend braun erscheinen. Auf dem kecken Gesicht mit den strahlenden Augen liegt ein heimliches Lachen und sie fragt: „Erlauben Sie, Frau Christel, daß ich ihn füttere?“ Sie hat die Orange auf einen Theelöffel geladen und nähert diesen Antons Mund.

Christel fühlt, wie sie rot wird, wie das Herz ihr klopft zum Zerspringen. In demselben Augenblick fährt Anton auf von seinem Sitz und stößt mit der Hand das Löffelchen heftig zurück. „Ich danke, Baronesse, ich liebe Süßigkeiten nicht!“ sagt er schroff, und ohne Christel anzusehen geht er hinaus.

Edith lacht zuerst, wird dann verlegen, faltet eilig ihre Serviette zusammen und kommt zu Christel herüber.

„Addio, liebste Frau Christel,“ sagt sie, ihr um den Hals fallend und sie küssend. „Sie können froh sein, Dresden zu sehen! Ich führe gern mit, aber Tante erlaubt es nicht, und wenn ich es mir so recht überlege, ich bleibe auch lieber hier. Grüßen Sie Emma von Zobel, wenn Sie sie sehen, sie verkehrt freilich in andern Kreisen. – Was werden Sie anfangen in Dresden? In die Oper gehen, in die Galerie? Ach nein, ich glaube, Sie machen gewiß lauter Einkäufe, das ist ja für die Landbewohner schon ein Pläsir. Ich suche unterdes Schneeglöckchen und bekränze das Bild meiner ehemaligen Liebe damit, denn, sehen Sie, Frau Christel, das ist aus, rein aus! Gelt, zum Lachen ist’s! Warum sehen Sie mich denn so entsetzt an? Ich soll doch nicht weinen? Darum? Um so ein dummes Kerlchen wie der Edi ist? Nein, da kennen Sie mich schlecht!“

„Sie werden ihn wohl nie geliebt haben,“ sagt Christel langsam. Mein Gott, wie das so leichtlebig, so leichtsinnig klingt aus dem Munde dieses jungen Mädchens! Sie blickt der Davoneilenden nach und beißt die Zähne aufeinander. Kann denn solch Geschöpf dem Manne, der es erwählt, eine Spur von Glück ins Haus bringen? Darf sie dazu helfen, daß Antons thörichte Neigung zum Ziele führt, dem Ziele, elend zu werden für immer an der Seite dieses oberflächlichen Wesens?

Sie nimmt mit heißen Wangen ein Tuch um die Schultern, ergreift den Schlüsselkorb und steigt hinauf in die Bibliothek. Den Schlüssel besitzt sie noch; Anton hat ihn bis jetzt nicht zurückverlangt; das Treppensteigen wurde ihm wohl noch zu schwer, oder meidet er den Raum, um einer andern Ursache willen? Es ist, als sei das stille Gemach nicht mehr vorhanden für ihn.

Sie aber hat für das Zimmer, in welchem sie die schwerste Stunde ihres Lebens erduldet, eine Leidenschaft gefaßt. Des öftern ist sie schon hinaufgeschlichen, hat vor dem Bilde gestanden, das Napoleons Abschied darstellt, und an dem Schreibtisch gesessen, an dem ihr Mann den verzweifelten Brief schrieb. Und heute sitzt sie zum letztenmal dort und sieht mit trostlosen Augen in die dunstige Landschaft hinaus, die unter dem Schauern des Lenzwindes liegt, über der Wolkenschatten und Sonnenblitze wechseln. Ihre Lippen bewegen sich, als spräche sie. „Ich muß es thun,“ sagt sie endlich, „ich muß!“

Und entschlossen rückt sie näher heran und schreibt den Scheidebrief an Anton. Sie liest ihn gar nicht nochmal durch, sie couvertiert ihn, siegelt und adressiert und legt ihn dann mitten auf die Schreibunterlage, daß er sich grell abhebt von dem roten Löschblatt. Da ist auch ein Briefbeschwerer, den setzt sie vorsichtig auf eine Ecke des Schreibens und dann sitzt sie da wieder [168] unthätig, in ihre schweren Gedanken verloren bis zur Dämmerung. Nun muß sie gehen, muß ein Ende machen. Sie zieht ihren Trauring ab – er gleitet leicht vom Finger, ihre Hand ist mager geworden in den letzten Zeiten – legt ihn ebenfalls auf den Brief und dann schleicht sie hinunter. Vor Antons Thür stockt ihr Fuß; es ist eine schreckliche Qual, mit ihm allein zu sein, sie möchte es hinausschieben so lange als möglich. Sie geht deshalb nach dem Inspektorhause hinüber und redet noch einmal von A bis Z mit der jungen Frau Heine über Butter und Käse, und daß die Preise jetzt aufschlagen werden des knappen Futters wegen. Aber endlich muß sie auch dort „Adieu“ sagen. Sie sieht sich noch einmal in der Stube um, in der sie die arbeitsvollen glücklichsten Jahre ihres Lebens neben Anton verbracht hat, und dann wandert sie langsam in der Dunkelheit über den Hof ins Schloß zurück.

In Antons Zimmer ist noch kein Licht, er hat sie aber auf dem Flur gehört und ruft: „Wo steckst du denn eigentlich, Christel? Ich wollte dir noch verschiedenes sagen, was du in Dresden besorgen mußt – hast du jetzt Zeit?“

„Ja!“ sagt sie gepreßt, „aber willst du nicht erst zu Abend speisen?“

„Nein, ich danke, ich warte lieber noch.“

Sie ist eingetreten und tastet sich nach dem großen Lehnstuhl am Schreibtisch. „Willst du nicht Licht haben, Anto?“

„Nein!“ Das klingt sehr hastig, fast schroff.

Christel sitzt schweigend und abwartend da. Trotz der Dunkelheit kann sie seine große Gestalt erkennen, wie sie auf dem Teppich hin und her wandert.

„Ich habe auch einen Brief mitzugeben an Karl,“ sagt er endlich.

„Ich soll ihn mitnehmen?“ stößt sie befremdend heftig hervor. Sie weiß ja doch, es ist der Brief, der unselige Brief, der seine Beichte enthält.

„Ich kann ihn auch mit der Post schicken, wenn es dir zu viel ist,“ antwortet er erstaunt.

„Ach, gieb ihn nur,“ sagt sie jetzt gewaltsam ruhig.

„Und dann ist dort mit dem Sattler zu sprechen,“ fährt er fort, „der Kutschgeschirre wegen, der Sielengeschirre, du weißt ja. Und, bitte, gehe nach der Ofenfabrik, dort sollen jetzt Rokokoöfen ausgestellt sein; die Adresse schrieb ich dir auf. Und im übrigen wünsche ich dir nur noch, daß du ein paar nette Tage verlebst und mit keinerlei Sorge hierher zurückdenkst. Du hast zuletzt ja viel durchgemacht, Christel, du mußt mal heraus, du wirst froher wiederkehren und mich – wirst du dann ja auch anders antreffen. Was ich dazu thun kann“ – er lacht kurz auf – „werde ich ja thun, natürlich! Es ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit! Und nun gieb mir die Hand, Christel; wenn du wieder da bist, dann –“

Er tastet mit der gesunden Hand nach der ihrigen, heiß und fiebrig umspannt sie die kalte Linke der Frau; die Rechte hat sie auf den Rücken gelegt, der Ring fehlt ja an ihr.

„Warum zitterst du denn?“ fragt er.

„Zittere ich? Ich weiß es nicht.“

„Ja, Christel, alte gute Christel!“ Und plötzlich thut er, was er nie gethan, er kniet vor ihr nieder und legt den Kopf in ihren Schoß. Es ist, als ob ein Beben durch den großen Mann geht.

„Steh doch auf! Steh doch auf!“ sagt sie hastig, wie befehlend, „ich bitte dich, steh auf! Wir wollen uns doch nicht lächerlich machen, Anto – Komödie spielen ist für uns nicht angebracht.“

„Komödie spielen?“ wiederholt er. Eine grenzenlose Bitterkeit überkommt ihn gegen die Frau, die für das, was in seiner Seele vorgeht, so gar kein Verständnis hat. Die Reue, die Verzweiflung ließ ihn niederknieen vor ihr, und sie fragte nicht: Was drückt dich, was ist dir? Hätte sie eine einzige solche Frage gethan, er hätte ihr in dieser Minute gebeichtet wie einer Mutter, hätte sie gebeten: Bleib’ bei mir, hilf mir, laß mir Zeit – ich finde mich wieder!

Er lacht laut auf und springt auf die Füße. „Es ist wahr, Christel,“ sagt er schneidend, „wir standen eigentlich auch nie so zärtlich sentimental miteinander – hast recht, Christel; den Teufel auch! Weil du auf drei Tage nach Dresden reist, werde ich wie ein Schulbub’, der nach den Ferien von seiner Mutter Abschied nimmt und plärrt.“

Sie antwortet nicht, sie weiß ja so genau, was ihn knieen ließ vor ihr: die Reue, das mahnende Gewissen. Wenn sie eben gewollt, wenn sie seinen Kopf zwischen ihre Hände gefaßt, wenn sie den Thränen der Verzweiflung, die ihr emporquollen, hätte ihren Lauf gelassen, dann wären die gelockerten Bande wieder fest geknüpft worden – auf ein paar Wochen oder Tage, oder – Stunden, – und dann wäre der Kampf von neuem entbrannt in seinem Herzen. Und sie will kein Mitleid, will keine Geduldete sein, sie will nicht seine Qualen sehen auf Kosten ihres Rechtsgefühls, sie will nicht, sie kann nicht!

„Na also, dann können wir wohl zu Abend essen, Christel,“ sagt er forciert gleichgültig, „was hast du denn Gutes? Eine anständige Henkersmahlzeit, die versteht sich bei einem so ausgezeichneten Hausstand von selbst, obgleich der Februar ein jammervoller Monat für die Küche ist. Wir trinken am Ende eine Flasche Sekt und stoßen an auf glückliche Reise – was?“ Und dabei drückt er auf den Knopf der elektrischen Klingel. „Licht!“ schreit er den Diener an, der atemlos eintritt.

„Ich kann nicht essen,“ sagt Christel, „ich möchte dich vielmehr bitten, nicht übelzunehmen, wenn ich mich zeitig zur Ruhe begebe. Wenn du aber wünschst, will ich dir Gesellschaft leisten beim Essen, trotz meines Kopfwehs.“

„Also Kopfweh? Nein, nein, genier’ dich nicht, leg’ dich nur, ich kann allein essen, Christel!“

„Gute Nacht denn, Anto, und adieu auch gleich,“ sagt sie. „Ich habe mir in einer Kammer das Bett herrichten lassen, ich muß früh aufstehen morgen, und das stört dich, weckt dich aus dem besten Schlaf. Der Diener bleibt schon diese Nacht in der Stube neben deinem Schlafzimmer. Gute Nacht, und laß es dir gut gehen während meiner Abwesenheit, Anto!“

Sie hat sich hingetastet zu ihm, und jetzt schlingt sie die Arme um seinen Hals. „Adieu. Anto – komm’, gieb mir einen Kuß und sei nicht böse auf mich – nicht wahr, du weißt, ich meine es gut mit dir?“

„Nein, nein, ich bin nicht böse,“ antwortet er, indem er sie flüchtig küßt, „und ich weiß ja, daß du es gut meinst.“

„Dann leb’ wohl,“ flüstert sie, und auf einmal fühlt er ihre Lippen wieder auf den seinen, fest, leidenschaftlich innig, einen kurzen Augenblick nur, und dann hat sie ihn so jäh losgelassen, daß er fast schwankt.

So hat sie ihn nie geküßt.

„Christel!“ ruft er, aber die Thüre klinkt eben ein; Christel ist gegangen. Daß es ein Abschied war für immer, das ahnt er nicht.




Es ist gerade, als ob es in der Luft liege, daß etwas Unerhörtes geschehen wird. Anton kann, allein da unten, keine Ruhe finden. Er hat lange gelesen, so lange, daß ihm die Lampe ausging; nun liegt er schlaflos im Dunkeln mit wirren Gedanken. Draußen hat sich der Sturm aufgemacht und rast um das Schloß mit Pfeifen und Brausen. Es knackt im Gebälk und in den Möbeln, es ist, als ob es hinter den Tapeten raschele; die Dielen ächzen leise, als träten unsichtbare Füße auf sie. Aus dem Nebenzimmer tönt das laute regelmäßige Schnarchen des Dieners. – Der Kerl würde nicht aufwachen und wenn man eine Kanone neben ihm abschösse! denkt der einsame Mann, dem die Schulter schmerzt, denn der Verband hat sich verschoben.

Er starrt mit brennenden Augen nach oben, es kommt ihm vor, als ob dort leise Schritte gehen: Edith – Edith, die auch nicht schläft! Hätte er doch das Mädchen nie gesehen! Könnte er doch weiter so vegetieren wie bisher neben Christel, in der eintönigen Folge der Wochen und Monde! Es war so ruhig geworden in ihm, sein Herz hatte das rasende Pochen von einst verlernt; er war sich so rechtschaffen, so bieder vorgekommen und hatte Freude an seinen Erfolgen gehabt.

Und jetzt? So ging es nicht weiter, aber – was soll dann werden? Er hatte den Selbstmord immer verachtet, immer – aber in seiner Lage war es fast das einzige, was blieb!

Sollte er Christel einfach zwingen, ihre Rechte aufzugeben? Einen Streit vom Zaune brechen? Es wäre brutal gewesen. Ach ja, sie würde ihm alles, alles vergeben, sie würde dulden, [170] klaglos dulden, sie würde ihn mit ihrer Demut zur Verzweiflung treiben, denn sie liebt ihn ja mit jener Liebe, die alles erduldet, alles erträgt und alles hofft. Sie würde es als Pflicht ansehen, bei ihm zu bleiben, und wenn er sie mit Füßen träte. Und sein Herz und seine Sinne schreien nach der andern, und diese andere weiß es und liebt ihn wieder, vielleicht sich selber noch unbewußt. Aber ihre Blicke, ihre kleinen Koketterien, die ihm den Kopf verwirren – –. Er hat ja Herzklopfen wie ein Sekundaner, wenn er ihr Kleid rauschen hört, und seit dem Feuer, seitdem er das reizende Geschöpf auf seinen Armen dem Tode entriß, da war es vollends um ihn geschehen. –

Er hatte am Nachmittag, bevor der Brand ausbrach, an seinen Freund Karl geschrieben, droben in der Bibliothek, den Brief aber später verbrannt, denn der Freund konnte ihm auch nicht helfen; er hat ihm nur ganz einfach ein paar freundliche Zeilen mit seinem Glückwunsch übermittelt. Es muß sich auch so ein Ausweg finden lassen; einige Tage Ruhe nur für sein überreiztes Gehirn, das stille vorwurfsvolle Gesicht Christels nicht sehen – nur ein paar Tage nicht!

Es ist gegen vier Uhr früh, als er einschläft; als er erwacht, ist’s neun Uhr. Ueber ihm spielt Edith von Ebradt auf dem verstimmten Klavier der Tante; durch die Vorhänge der Fenster blitzt ein Sonnenstrahl, der Sturm hat alle trüben Wolken draußen verjagt.

Auf sein Klingeln erscheint der Diener und hilft ihm beim Ankleiden. „Ist meine Frau abgereist?“

„Jawohl, Herr Mohrmann.“

„Hat sie noch eine Bestellung hinterlassen für mich?“

„Ich weiß nicht – werde mich erkundigen – Frau Mohrmann hat gar nichts weiter gesagt,“ berichtet der Mann, nach einem Weilchen zurückkehrend. „Der Kutscher hat müssen am Friedhof vorfahren, und da ist sie noch einen Augenblick ausgestiegen und an das Grab der Mutter gegangen.“

Anton fällt dies auf. „War sie auch im Pfarrhause?“

„Nein! Der Kutscher sagt, nur auf dem Friedhof.“

Das ist eine Sentimentalität, die Anton gar nicht an ihr kennt.

Der Vormittag geht so hin; Heine kommt und der Doktor kommt; Anton ladet die Herren zum Frühstück ein, es geht ganz lebhaft dabei her. Mittags erscheinen die Damen bei Tisch, sie sitzen da zu dreien. Fräulein Tonette kann ausgezeichnet erzählen; sie bringt das Gespräch auf ihren Aufenthalt in Madeira, sie ist mit dem Vater drei Jahre hintereinander dort gewesen. Man bleibt heute länger beisammen als sonst. Der Diener sieht von Viertelstunde zu Viertelstunde in das Zimmer, aber die Herrschaft redet so eifrig, er kann noch immer nicht die Dessertteller holen. Endlich erhebt sich Tante Tonette.

„Nun sollen Sie ruhen, lieber Mohrmann, und wenn Sie nachmittags Langeweile haben – wir sind zu Hause.“

Er verbeugt sich jetzt sehr förmlich, und man entfernt sich ohne seine Zusage. Er will nicht hinaufgehen, er will nicht; abends um neun Uhr klopft er aber doch an. Edith sitzt in dem künstlich arrangierten Erker mit einer Handarbeit, die Baronesse am Kamin. Anton nimmt ihr gegenüber Platz und muß Auskunft geben, wie er sich als Strohwitwer gefällt. Man unterhält sich wieder ganz ausgezeichnet. Edith spricht freilich am wenigsten, nur ihre Augen sprechen. Diese dunklen, leuchtenden sonderbaren Augen.

So vergeht der erste Tag und der zweite, eine Nachricht aus Dresden kommt nicht, aber Anton weiß ja, sie schreibt so ungern, die Christel, und wahrscheinlich wird sie nur telegraphieren, wann sie einzutreffen gedenkt, damit der Wagen an der Bahn sein kann.

Zum Ueberlegen ist Anton nicht gekommen, vielmehr immer tiefer und tiefer in seine unselige Leidenschaft versunken. Heute, wo er jeden Augenblick die Depesche erwartet, die ihm die Rückkehr Christels melden soll, ist er von einer solchen nervösen Gereiztheit, daß niemand ihm etwas recht macht, und die Leute in der Küche, der Diener an der Spitze, wünschen die „Frau“ herbei. Er fährt empor, wenn eine Thür geht, und sieht in jedem Menschen, der über den Hof schreitet, einen Depeschenboten. Aber bis gegen Abend ist nichts gekommen, weder Brief noch Depesche.

Zu der gewohnten Stunde klopft er wieder bei den Damen an, er findet nur die Baronesse vor; Edith hat Kopfweh und sich in ihr Zimmer zurückgezogen.

„Ich weiß nicht,“ sagt die alte Dame, „was sie treibt; sie sieht so blaß aus, ißt schlecht seit einiger Zeit, und des Nachts schluchzt sie mitunter zum Herzbrechen. Gott schütze sie nur vor unglücklichen Amouren – so etwas will durchgemacht sein, mitunter auf Kosten der Gesundheit.“

Er bleibt nicht lange, es ist so öde ohne sie. Er steigt wieder die Treppe hinunter, geht durch alle Stuben und weiß nichts zu beginnen vor innerer Unruhe. Wenn man sich wenigstens in die Arbeit stürzen oder mit dem Schießprügel umherlaufen könnte! – Dieser elende Knochenbruch – zum Verrücktwerden ist’s! Und nun noch gar das arme Mädel da oben krank! Sie weiß nicht, was mit ihr ist, die Alte, aber ich weiß es, ich! – Sterben wird sie daran, wie ich auch, zu Grunde gehen werden wir daran, sie und ich! Und er stößt einen Stuhl, der ihm im Wege steht, mit so heftigem Fußtritt fort, daß er krachend zu Boden fliegt und der Diener atemlos hereinstürzt, um mit offenem Munde seinen Herrn anzustarren.

„Mach’ Feuer oben in der Bibliothek!“ herrscht dieser ihn an und wirft ihm den Schlüssel hin, den Christel vor ihrer Abreise ihm wieder zugestellt hat, indem sie denselben in das Schubfach seines Betttischchens legte. Ihm ist plötzlich eingefallen, daß er sonst dort oben in dem stillen Zimmer mit dem weiten Blick in die Ferne hinaus am ehesten Ruhe gefunden hat.

Nach einer halben Stunde meldet der Diener, daß es oben schon genügend warm sei, und Anton hält mit seinem Auf- und Abwandern ein und steigt zur Bibliothek hinauf. Noch ist es ziemlich hell hier, im Ofen flackert das Feuer, die mit Bücherrepositorien ziemlich bis zur Decke hinauf besetzten Wände heimeln ihn an, der Schreibtisch scheint nur auf ihn zu warten. Es ist so still hier, so totenstill; er hört, als er jetzt im Erker sitzt und hinausstarrt in die Landschaft, das Ticken des Holzwurms in der Vertäflung, das Rascheln einer Maus hinter den Büchern und über sich das dumpfe, regelmäßige Tick! Tack! der Turmuhr. Am Boden liegt der aufgeschlagene Band einer französischen Ausgabe der „Drei Musketiere“ von Dumas, und er erinnert sich, darin geblättert zu haben, als er zum letztenmal hier oben saß, als er den Brief an Karl schrieb, bevor das Feuer in Altwitz ausbrach. Aber wie ist das Buch auf den Boden gekommen? Er stößt es achtlos mit dem Fuße fort.

Wie soll es werden? Soll er auf Reisen gehen? Seine Verhältnisse gestatten es ihm ja: Heine ist ein zuverlässiger Mann und Christel wäre ja auch da. Die neuen Eindrücke der weiten Welt würden ihn vielleicht eine Zeit lang abziehen – eine Zeit lang, ja, er würde in dem bunten Reiseleben die Ketten nicht rasseln hören, die ihn hier zur Verzweiflung bringen, aber – – geändert wird nichts damit, vergessen kann er nicht, das fühlt er.

Er springt auf und geht im Gemach umher. Einmal reißt er die Taschenuhr heraus, es ist halb sieben Uhr, um Sieben passiert wieder ein Zug von Dresden die Station, da kann sie kommen. Ob man den Wagen zur Bahn schickt? Man müßte es wohl thun, aber – warum hat sie nicht geschrieben? Wenn’s nicht geschieht, ist’s nicht seine Schuld und – sie wird sich ja doch herfinden, sie wird in aller Seelenruhe ihr Kleid zusammenraffen und mit ihrem gleichmäßigen festen Schritt nach Hause gehen.

Er sieht sie schon eintreten, keine Spur eines Vorwurfs auf ihrem vollen Gesicht, nicht einmal die Frage: Warum war denn der Wagen nicht da, Anto? Nein, sie wird ablegen und sofort nach dem Schlüsselkorb greifen und in der Wirtschaft nachspüren. Höchstens sagt sie: Sobald ich draußen alles geschafft habe, Anto, erzähle ich dir; einstweilen grüßt Karl recht herzlich. Und wenn es dann später zum Erzählen kommt, wird sie von den Kindern und dem Haushalt der Frau Doktorin reden, aber was er am liebsten wissen möchte, muß er ihr abfragen. Und bei Erwähnung des Täuflings wird sich wieder der schmerzliche Zug um ihren Mund legen wie jedesmal, wenn sie von Kindern spricht.

Ja, du großer Gott, ist er denn nicht am meisten zu beklagen, er, der da gearbeitet und erworben hat, rastlos, unermüdlich, ohne zu wissen, für wen? Ja, für irgend welche ihm unbekannte Sprößlinge seiner entfernten Verwandten!

[171] Er ist, wie zufällig, vor dem Bilde „Napoleons Abschied von Josephine“ stehen geblieben. Er sieht die Schilderei an; bisher hat er sie kaum bemerkt. Ein Ausdruck von Genugthuung fliegt über sein zuckendes Gesicht. Ach, der hatte den Mut, der war ein ganzer Mann, er verstieß die Kinderlose – Frankreich zuliebe! Als ob Wartau ihm nicht dasselbe bedeute, was jenem Frankreich? – – Die Kerle, die anstatt des sogenannten Gemüts eine unbeugsame Energie besitzen, kommen weiter in der Welt!

Als ob er sich nicht auch Kinder wünschte! Als ob er noch Lust hätte zu arbeiten für irgend wen, der ihm gleichgültig ist! Die kinderlose Ehe wäre ja Grund genug für eine Trennung. – – Zum Henker mit der verfluchten Sentimentalität, die ihm sein deutsches Blut vererbte!

Am Hochzeitsmorgen hatte die Mutter ihm noch gesagt: „Anto, hüte dich, falle nicht zurück in solche Dummheiten wie die mit der Fränze. Dein Weib ist schlicht und rechtlich, das, was die Fränze verstand, versteht sie nicht – dich abzustoßen und wieder anzuziehen mit Thränen und Lächeln. Und ihr Männer seid wie die Kinder, ein Stück Brot werft ihr weg um ein Leckerwerk! Hüte dich, Anto, Brot ist das, was wir am notwendigsten im Leben gebrauchen.“

Ach, was wußte denn das alte Frauchen von Liebe und Leidenschaft? Was wußte sie von ihres Sohnes Herzen und von dem andern jungen Herzen da drunten, das ihn liebt, diesem Feuerherzen, das schon um einen kranken Hund sein Leben wagte? Herrgott, wie sie da hineinstürzte in das brennende Gebäude, ohne Besinnen! Dieses wundervolle Selbstvergessen, dieser kecke junge Wagemut! Und wie sie so erschreckt in seinen Armen lag, als er sie hinaustrug! Dieser Blick, diese Blässe, als er ihren Namen rief!

Er läßt sich zitternd in den Sessel vor dem Schreibtisch nieder. „Ich will Christel schreiben,“ sagt er halblaut, „ich will ihr alles gestehen, ich will – “ Er weiß es selbst nicht, was er will.

Die Dämmerung ist stark hereingebrochen, aber von einem rötlichen Schimmer durchhaucht. An seinem Schreibtisch mangelt schon das Licht; er zündet ein Streichholz an und damit die Stearinkerze; sie genügt, den Brief zu schreiben. Er will eben das im Wege Liegende von der Unterlage schieben, da sieht er einen Brief und auf diesem einen goldenen Ring.

Christels Ring! Christels Schrift!

Er faßt sich plötzlich an die Stirn, eine Ahnung kommt ihm, eine Ahnung, die ihn förmlich lähmt. Ein Weilchen sitzt er, den Ring anstarrend, den er in der Linken hält. Die Kerze entlockt dem Golde nur ein schwaches Funkeln, denn der Reif ist matt geworden in den Jahren, da er an der fleißigen Hand saß; Tausende von kleinen Kritzern sind da eingegraben und erzählen von Arbeit, harter Arbeit, die für ihn gethan wurde. Er faßt den Brief endlich, öffnet ihn unbeholfen mit der einen Hand, legt ihn auf die Platte des Schreibtischs und beugt sich darüber. Nur wenig Worte stehen da:

 „Lieber Anto!

In dieser ernsten Stunde ist nur allein die rückhaltloseste Wahrheit am Platze.

Ich habe den Brief gelesen, Anto, den Du an Freund Karl schriebst an jenem Tage, als das Feuer in Altwitz ausbrach. Wie ich dazu kam? das ist unwesentlich; es war nur Zufall und ihm danke ich es, daß er mir endlich die Augen öffnete. Ich hätte Dich gleich verlassen, um Dir Deine Ruhe, das Glück zu geben, das Du ersehnst, wenn Du nicht schwer verletzt zurückgekehrt wärst aus Altwitz; so mußte ich Dich noch länger mit meiner Gegenwart quälen.

Wenn Du dies liest, bin ich gegangen, und Du bist frei. Unsere gerichtliche Scheidung wird keine Schwierigkeiten machen – ich gab Dir ja kein Kind.

Ich weiß, Du bist gut und mitleidig, Du wirst versuchen, mich zu bereden, bei Dir zu bleiben, aber ich komme nicht! Dein Mitleid will ich nicht, Deine Liebe habe ich nicht, und so, wie unser Verhältnis jetzt ist, halte ich es für unwürdig.

Leb’ wohl, Anto, sorge Dich nicht um mich, ich kann arbeiten und bringe mich schon weiter. Werde Du nur glücklich, recht glücklich, das ist mein größter Wunsch!

 Christel.“


Das ist der ganze Brief, einfach, schlicht, ohne einen einzigen Vorwurf für ihn, der ihr die Treue des Herzens brach, und dennoch fest und energisch im Wollen; keine Klage, keine Sentimentalität, kein Jammer über ihr gebrochenes Glück.

Eine Viertelstunde ist vergangen. Drunten über den Hof rollt die Equipage, die von der Bahn zurückkehrt; der Kutscher hat auch ohne Befehl angespannt, um die Frau abzuholen, aber Anton merkt hier oben nichts davon. Erst jetzt, wo man an seine Thür klopft, fährt er empor und starrt den Diener an, der, noch im Mantel, den Hut in der Hand, meldet: „Herr Doktor Konring aus Dresden.“ Und er hat den Namen noch nicht ausgesprochen, da schiebt der Doktor ihn schon beiseite, tritt, ebenfalls noch im Reisepelz, in die Bibliothek und erblickt den Freund, der sich mit blassem Antlitz von seinem Schreibtisch erhebt.

Den „Guten Abend!“ spart er sich, er sagt nur leise: „Mein Gott, Mensch, was sind das für Geschichten, die du da angerichtet hast!“

„Karl!“ Mohrmann richtet sich straffer auf, „ich weiß, sie schickt dich – wo ist sie, Karl? – ich bitte dich.“

„Zunächst bei uns,“ antwortet der Freund. „Ja, Alter, du wolltest es ja nicht anders.“

Anton stöhnt plötzlich auf, als packe ihn ein heftiger körperlicher Schmerz, und der Freund legt ihm die Hand auf die Schulter.

„Sie kommt natürlich nicht wieder, Anton,“ sagt er ernst, „sie schickt mich aber, um mit dir von der Scheidungsangelegenheit zu sprechen. Sag’ mir nur, Kerl,“ fährt er mit erhobener Stimme fort, dann bricht er ab beim Anblick des Freundes, der in einer Anwandlung von Schwäche auf den Stuhl zurückgesunken ist, schleudert den Hut von sich und reißt den Pelz herunter, Anton Zeit lastend, sich zu fassen. „Bist du denn ganz von Gott verlassen?“ beginnt er wieder, um abermals abzubrechen und das zuckende Antlitz des Mannes zu betrachten. „Na, wozu noch reden?“ spricht er gelassen. „Es ist ja gar nichts mehr zu wollen, gar nichts – sie ist wie mit der Schere abgeschnitten, die Geschichte. Und nun nimm dich zusammen, wir haben Ernstes zu besprechen und lange kann ich nicht hier bleiben, ich habe schwere Patienten daheim.“

„Sie kommt nicht wieder?“ fragt Anton jetzt.

Kann sie denn das?“ ruft dunkelrot vor Zorn der Arzt, „ist sie denn ein Hund, den du mit Füßen treten darfst und der dir winselnd dafür die Hand lecken soll? Sie ist ein Weib, das auf sich hält, auf Würde hält; ein Weib, das Stolz besitzt, mehr als du, mein Junge. Gieb mir lieber ein Glas Wein, und dann laß uns die paar Punkte besprechen, die nötig sind, eure Scheidung einzuleiten. Je bälder die Sache zum Klappen kommt, um so größere Wohlthat ist es für die arme Seele. Also sei so gut, Anton, laß mir ein Glas Wein kommen und einen Happen zu essen, ich fahre heute nacht zwölf Uhr zurück.“

Anton erhebt sich wie ein alter, müder Mann und macht eine Bewegung nach der Thür. „Laß uns hinunter gehen,“ bittet er. – Sie kommt nicht, sie kann nicht kommen, sagt er sich, und das, was er gewollt, glühend ersehnt, gehofft, seine Freiheit, sie fällt wie eine centnerschwere Last auf seine Schultern.

Es ist nicht viel, was drunten in Antons Zimmer bei einem eilig servierten Imbiß der Doktor für Christel verlangt. Man könne ja ihre Kinderlosigkeit als Grund der Trennung geltend machen, und wenn sie vielleicht ihr eingebrachtes kleines Vermögen zurückerhalten könne … Wenn es aber Anton Unbequemlichkeiten machen sollte, das Kapital herauszugeben, so ist sie auch mit den Zinsen zufrieden, die ihr Anwalt in Empfang nehmen mag. So hat sie zu dem Arzt gesagt, und so trägt dieser es dem Manne vor, auf dessen bleichem Gesicht man die Erschütterung liest.

„Also das Kapital, das sie einbrachte,“ wiederholt der Doktor ganz geschäftsmäßig. „Es genügt auch für sie, und wie die Verhältnisse liegen, wirst du auch künftig wohl Geld genug brauchen, alter Freund. Es thut mir leid um euch beide, Anton,“ fährt er fort, „du siehst aber selbst ein: es giebt keinen Rückweg, es giebt keinen Stillstand in der Sache, also vorwärts! Du willst es ja auch schließlich so. Was mich anlangt – ich habe gemeint, die Frau, die mir da blaß und zitternd die ganze Geschichte erzählte, sei verrückt, hab’s nicht für möglich gehalten! Na, es passieren wunderliche Dinge auf der Welt. Wir, meine [173] Frau und ich, kümmern uns natürlich um sie, das verspreche ich dir, ohne daß du darum zu bitten brauchst, als das letzte, was ich dir versprechen kann, denn von jetzt an sind wir, meine Frau und ich, Partei. Du wirst ja auch allein fertig, und ich wünsche dir alles Glück und keine Enttäuschung für dein künftiges Leben.“

Der kleine untersetzte Mann mit dem feinen energischen Gesicht sieht noch einmal ehrlich bekümmert zu dem blonden Riesen hinüber, der sich mit Mühe aufrecht hält. „Adieu nochmals, Anton!“ Dann fährt er in den Pelz, greift zum Hut und ist wie der Blitz verschwunden, und ehe Anton ihm folgen kann, sitzt er schon im Landauer. Noch einmal blickt er aus dem Wagenfenster zurück und sieht in der hellen Februarnacht eine große Gestalt auf der Freitreppe stehen, die ihm nachzustarren scheint.

„O, heiliger Gott, was für ein wunderlich Ding ist das Menschengehirn, und das meines Freundes Anton insbesondere!“ murmelt er. „Arme Christel, arme tapfere Christel – aber da ist ja nichts mehr zu machen, gäbe nichts als ein armselig Flickwerk, das doch wieder auseinanderfallen würde. Hier heißt’s – durch! Wie blaß er aussah, der thörichte Kerl, beinahe so blaß wie damals, als ihm die Fränze den Absagebrief schrieb! Ja, eklich ist’s immer, wenn so was auseinanderreißt, es thut weh trotz alledem und alledem! Gebe nur Gott, daß meine Typhuskranken die Nacht überstehen. Ich konnt’s doch der Christel nicht abschlagen, ihrem Gatten noch mal persönlich zu versichern, daß er frei ist. Armes Weib!“




Sie ist fort und bleibt fort – Mohrmanns lassen sich scheiden! Anton muß es glauben, und allmählich auch die andern Leute. Im Hause geht das Gerede und das Gewisper schier ins Unendliche. Die Baronesse erfährt es erst am folgenden Tage von der weinenden Frau Pastorin, die mit ihrem Manne zu Anton gepilgert ist, und während der geistliche Herr versucht, den verlassenen Schwager zu einer Reise nach Dresden zu bereden, um Christel wiederzuholen, nötigenfalls mit Gewalt, sitzt die erschütterte Schwester bei Fräulein Tonette und klagt über die trotzköpfige pflichtvergessene Frau, die mir nichts dir nichts dem von Gott angetrauten Ehemann davongeht.

„Nun ja, sie hat’s am Ende nicht so leicht gehabt mit ihm; aber, Fräulein Tonette, sie weiß doch gar nicht, wie gut es ihr eigentlich ging. Keine Not, keine Nahrungssorgen, ach, wenn’s den Leuten zu wohl wird – – Ach, gnädiges Fräulein, wenn Sie doch an sie schreiben wollten, Sie sind so klug und könnten ihr gewiß auseinandersetzen, wie sehr sie ihren Mann und uns alle kränkt!“

„Meine liebe Frau Pastorin,“ sagt Fräulein Tonette von Wartau, und ihre feinen Finger spielen nervös auf dem kleinen Tischchen vor ihr – sie sitzt wie gewöhnlich am Kamin mit einer Strickarbeit. „Meine liebe Frau Pastorin, ich mische mich grundsätzlich nie in Ehestandsgeschichten. Wenn Frau Christel und ihr Gatte sich trennen wollen, so werden sie Gründe dafür haben, denke ich mir.“

„Weil sie kinderlos sind?“ fragt die weinende Frau. „Das ist eine Sünde, ein Unding! Man kann auch glücklich sein ohne Kinder, ja gewiß! Ich war sogar sterbenstraurig, als ich das erste bekam, weil ich dachte, mein Mann liebte mich nun nicht mehr allein, und –“

Fräulein von Wartau unterbricht sie, und ihr Gesicht ist geradezu hochmütig, als sie sagt:

„Sie können sich wohl schwerlich hineindenken in die Seele von Menschen, die auf eigener Scholle sitzen, meine Liebe? Ich gebe ja gern zu, daß in der Ehe eines kleinbürgerlichen Beamten oder Predigers Erben zu entbehren sind, der Besitzer von Wartau aber –“

Sie verstummt, denn plötzlich ist Edith eingetreten, blaß, mit gespanntem Ausdruck.

„Hm!“ räuspert Fräulein Tonette sich noch einmal und strickt weiter.

Der Pastorin, einer nervösen Frau, ohne irgend welches selbständige Urteil, ist nur die Phrase von der Entbehrlichkeit eines Erben bei Leuten ihres Standes in den Ohren sitzen geblieben. Tödlich beleidigt erhebt sie sich.

„Meine Kinder sind mir genau so lieb wie dem Kaiser die seinen,“ stößt sie hervor, „aber ich habe gemeint, wem Gott sie versagt, der soll sich fügen und sich nicht wider ihn aufbäumen und in seinen Ratschluß hineinpfuschen wollen, denn ich habe gemeint, die Ehe sei heilig.“

„Ja gewiß, meine Liebe, aber mir kommt kein Urteil zu,“ sagt Fräulein von Wartau jetzt seelenruhig. „Es giebt Dinge in der Welt, die diese Heiligkeit in das Gegenteil verkehren. Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich und verlangen Sie von mir kein Hineinmengen – ich stehe dieser Sache so fern wie möglich, aber leid thut es mir, wirklich recht leid.“

Die Pastorin erwidert ihren Blick nicht; sie sieht unverwandt zu Edith hinüber; das Gesicht des jungen Mädchens ist womöglich noch blasser geworden. Eine Aeußerung Louischens fällt ihr ein, die sie heute früh kaum beachtet hatte, und wie sie das schlanke Geschöpf jetzt ansieht, das sich am Fenster vor dem Nähtischchen niedergelassen hat und auf dessen Antlitz Röte und Blässe einander jagen, kommt ihr die Erkenntnis wie ein blendender Strahl. Und plötzlich wirft sie den Kopf in den Nacken, und die Hand auf die Thürklinke legend, sagt sie:

„Verzeihen Sie, daß ich Sie in meinem Jammer belästigte, Baronesse. Ich kann begreifen, daß Sie sich nicht gern einmischen mögen in den traurigen Handel, ich kann’s vollkommen begreifen!“ Und im nächsten Augenblick ist sie verschwunden und hat die Thür heftig hinter sich geschlossen.

Die Baronesse sieht einen Augenblick ganz verblüfft die Stelle an, wo die Pastorin noch eben gestanden hat. „Ob diese Art Menschen wohl fähig ist, eine Kalamität mit Anstand durchzukämpfen?“ murmelt sie.

„Edith!“ ruft sie dann laut.

„Ja, Tante!“

„Bitte, komm’ hierher!“

Das junge Mädchen tritt näher und setzt sich der Tante gegenüber in einen Fauteuil.

„Altwitzens reisen in fünf bis sechs Tagen an die Riviera,“ beginnt die alte Dame das Gespräch, „wir werden heute nachmittag hinüberfahren oder – gehen, das ist besser, und die Gräfin bitten, dich mitzunehmen.“

[174] Edith fährt empor, und ihre erstaunten Augen sagen ohne Hehl, daß sie die Tante für verrückt hält. Ein ungläubiges kurzes Lachen fliegt durch das Zimmer.

„Du wirst erst im Juni mit ihnen zurückkommen.“

„Herrgott, liebe Tante!“

„Ich will keinen Klatsch, verstehst du? Und wenn du es nicht kapierst – um so besser. Jedenfalls gehst du von Wartau fort.“

Edith senkt den Kopf – sie hat verstanden. Dunkelrot, mit zuckendem Munde sitzt sie da. Dann springt sie auf und läuft in ihr Zimmer, und dort steht sie hochaufatmend still und nagt die Lippen. Ihr graut vor dem Feldherrntalent der Tante. Und diese holt seufzend ihr Kontobuch, das auf ein Bankgeschäft in Leipzig lautet, hervor. Sie muß ihre paar heimlich ersparten Groschen opfern – so Gott will, bringen sie ihr Zinsen, hundertfältig!

Dann setzt sie sich und schreibt an eben diesen Bankier. Nach einem Weilchen des Ueberlegens beschließt sie, anstatt nach Altwitz zu gehen in diesem Sturm – die Mohrmannsche Equipage mag sie heute erst recht nicht benutzen –, an die Gräfin zu schreiben und diese zu bitten, Edith, die ein wenig huste, unter ihren Schutz für einen Aufenthalt im Süden nehmen zu wollen. Sie kann sich zwar denken, daß es den alten Herrschaften vielleicht nicht ganz paßt, ein schönes junges Mädchen zu chaperonnieren, aber sie kann ihnen nicht helfen, Edith muß fort, es darf nicht der leiseste Schatten auf ihren Ruf fallen; um keinen Preis aber soll sie in dem Hause des in der Scheidung liegenden Mannes bleiben.

Ihrer Schwester gegenüber beschließt sie vorläufig noch zu schweigen; die ist so schrecklich unbequem mit ihren aristokratischen Ideen von Standesehre und hält Dinge für verwerflich, die völlig gäng und gäbe sind im Kampfe des Lebens. Ihre Vorwürfe kommen noch früh genug.

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Pastors gehen unverrichteter Sache wieder heim. Anton hat ruhig den Redeschwall seines geistlichen Schwagers über sich ergehen lassen, im Lehnstuhl sitzend oder umherwandernd, denn der Herr Pastor spricht lange. Endlich, als auch die Pastorin sehr erregt eintritt, sagt er: „Bitte, redet nicht mehr davon! Wir sind beide Menschen, die ihren gesunden Verstand haben – wir können nicht zusammenbleiben; ich leide darunter so schwer wie Christel, aber wir werden es tragen. Ihr meint’s gut, habt Dank? Zu ändern ist nichts.“

Die Pastorin faßt ihren Mann am Rockärmel; er will eben noch einmal beginnen über die Heiligkeit einer vor Gottes Altar beschworenen Ehe, da sagt sie:

„Komm’, Robert; das Fräulein von Wartau da oben hat eben erklärt, es giebt Verhältnisse, die eine heilige Sache entheiligen und umwandeln zum Schlimmsten, und ich glaube, sie hat recht. Red’ nicht mehr; er kann nicht anders und sie auch nicht – glaub’ mir’s.“

Der geistliche Herr sieht seine Frau verwirrt an, nimmt den Hut vom Tische und folgt ihr mit einem kurzen verwunderten Blick auf Anton.

„Adieu, Anton,“ sagt die blasse Frau. „Ihr habt recht, es ist besser, ihr geht voneinander.“

„Erzähl’ mir’s doch nur, Lotte,“ beginnt der Pastor, als sie daheim angekommen sind in seiner stillen Arbeitsstube und die vom schnellen Gehen schwer atmende Früu auf den nächsten Stuhl gesunken ist, „was hat’s denn gegeben zwischen den beiden?“ Und er beugt sich über sie und streicht ihr die feuchten Haare aus der Stirn.

Sie hat Christels Augen, nur durch Weinen getrübt, große treue Sterne von hellem bräunlichen Grün. Sie sieht ihn an mit ihrem großen Kummer. „Robert, er liebt eine andere!“ sagt sie. „Und deshalb darfst du nicht zureden, denn eine weit größere Sünde wär’ ihr Zusammenbleiben, Robert, als ihre Trennung. Nein, sag’ nichts, Robert, das ist so und – ich bliebe auch nicht bei dir, wenn du –“

„Aber Lotte,“ bittet er vorwurfsvoll.

„Du sagst selbst, die Sünde naht dem Menschen in tausenderlei Gestalten, und du sagst – wir sind schwach, wir unterliegen ihr –“

„Und wenn dein Mann kämpfte, um der Sünde Herr zu werden, würdest du ihm nicht helfen wollen, Lotte, ihm zur Seite bleiben in der schweren Zeit?“

„Ich würde bei meinem Mann bleiben und wäre er ein Mörder, aber in diesem Falle nicht. Nein, dazu wäre ich einesteils zu stolz, und andernteils –“ sie stockt und wird verlegen – „und ich könnt’s nicht sehen, wie du dich vielleicht quältest neben mir,“ setzt sie leise hinzu.

Er versteht sie plötzlich und er versteht Christel, und jetzt verstummt er vor diesem einfachen demütigen Bekenntnis einer Liebe, die ihre weinenden Augen verhüllt und geht, um den andern glücklich werden zu lassen. Und der sonst so streng eifernde Mann zieht die Frau in seine Arme und küßt sie mit feuchten Augen.

„Und Christel denkt wie ich,“ flüstert sie, „ich weiß es.“

„Arme, stolze, demütige Christel,“ sagt er, „ich hatte dich nicht verstanden.“




Am fünften März haben die Altwitzer reisen wollen; es ist heute der vierte, der Abend vorher. Tante Tonette hat ihn ersehnt, Edith fast auch. Es ist freilich zum Sterben langweilig und zum Verzweifeln aufregend jetzt in Wartau.

Die alte Dame hat seit dem Bekanntwerden der Mohrmannschen Trennung gewünscht, auf ihrem Zimmer zu speisen. Sie sind auch einfach unmöglich, diese Diners zu dreien mit dem Manne, der mitten in der Scheidung von seiner Frau steht. Das spricht sie ganz laut aus, so daß die Dienstboten es hören. Edith aber steht am Fenster und späht ganze Tage lang nach der hohen Gestalt, wie sie über die Steinplatten des Hofes kommt und geht, und hat ein ewiges, unausgesetztes Herzklopfen.

Er sieht nie hinauf, mit keinem Blick, aber ihr Herz klopft darum nicht weniger schnell. Sie ist nicht unbefangen und kann es nicht sein ihm gegenüber, aber sie würde ihn gern vor ihrer Abreise noch einmal wiedersehen. – Ob er noch immer den heißen Blick für sie hat, möchte sie wissen, wie an jenem Tage, da er ihr zum erstenmal begegnete? Oder – ob er der Frau nachtrauert, der er gehörte bis jetzt? Nein, nein, es ist nur – o, sie weiß, die Tante ist klug und er ist ritterlich – nur der Leute wegen, der Leute wegen! Träfe sie ihn allein, ganz allein, irgendwo auf engem Wald- oder Feldweg, nur der Himmel über ihnen, die grünende Saat oder das schwellende Geäst des Buchengestrüppes zur Seite, dann, ja dann würde seine große sehnsüchtige Leidenschaft ihn die Arme ausbreiten lassen. „Edith!“ würde er rufen wie an jenem Tage in Altwitz.

Sie hat sich vorgenommen, ihm auf einem Spaziergange zu begegnen, aber bisher ist sie vergebens die einsamen Feld- und Waldwege gewandert, nirgends zeigt er sich. Und heute hat sie ihn noch gar nicht erblickt und er weiß doch, daß sie morgen verreist auf lange Zeit. Es ist dumm, ohne Gewißheit fort zu müssen, und Edith brennt auf diese Gewißheit, schon Edis wegen und der Zukunftsträume wegen. Womit soll sie sich denn die Zeit vertreiben? Mit dem alten Paar, das sie begleiten soll, das von Tonette genaue Instruktionen bekommen hat, Edith zu keinerlei Vergnügungen zu führen – Edith habe noch Trauer und außerdem wünsche der Arzt ein ruhiges Verhalten für sie.

Ach die Oede, die Langeweile! Ihr wird es gleichgültig sein, ob vor den Fenstern der Villa, in welcher das Ehepaar Altwitz jedes Jahr ein paar Zimmer bewohnt, Palmen rauschen und das Mittelmeer seine blauen Wasser breitet, ihr Denken wird immer nur in Wartau sein, und abwechselnd auch bei Edi in Berlin; bei letzterem natürlich nur aus Haß. Dieser blonde aristokratische Junge, der so berechnend ist wie ein polnischer Handelsjude – sie zittert ordentlich, wenn sie an ihn denkt.

Warum soll er eigentlich nicht wissen, wenn es endlich heißt: der Besitzer von Wartau läßt sich von seiner Frau scheiden, um Fräulein Edith von Ebradt zu heiraten? Es ist doch so? O, nur so viel Gewißheit, um Ma von Zobel eine Andeutung machen zu können; dann erfährt es auch er bald, das wird ihre Rache sein!

Sie tritt bei diesem Gedanken mit dem Fuße auf das Parkett, so daß Fräulein von Wartau sich veranlaßt sieht, ein tadelndes „Aber Edith, man erschrickt sich ja zu Tode!“ auszurufen.

[175] Sie fährt mit dem Kopfe herum. „Tante, ich halt’s nicht mehr aus im Zimmer, ich laufe einmal das Stückchen Waldweg hinüber und frage, wie es der alten Gräfin geht. Bitte, erlaube es mir!“

„Meinetwegen,“ giebt die Tante zu, „du kannst ruhig da promenieren, Mohrmann ist nach Settwitz zu gegangen, also in entgegengesetzter Richtung.“

Edith fährt mit zitternder Eile in ihr Jackett, stülpt den Filzhut auf und stürmt die Treppen hinunter. Sie wandert durch den Park an der Gärtnerei vorüber, läßt sich die nach dem Obstgarten führende Thür von der alten Mutter Hahnen aufschließen und ist nach wenigen Minuten im sogenannten Wäldchen, an welchem der Weg nach Settwitz vorbeiführt. Hier muß Mohrmann ihr begegnen!

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 7, S. 210–216

[210] Das Wäldchen, in welchem Edith auf den heimkehrenden Schloßherrn wartet, ist eigentlich nichts weiter als eine große sogenannte Remise, ein Freihafen für Hasen und Kaninchen, die Schutz suchen gegen Raubzeug und Wilddiebe, und in die zuweilen auch einmal ein Reh hinüberwechselt. Eine viertel Wegstunde lang zieht sich der Waldstreifen aber doch wohl hin; im Frühjahr giebt’s dort Maiblumen und Nachtigallen, und im Sommer kühlen Schatten und viel Mücken, aber reizend ist es eigentlich immer dort. Auch heute. Am Wege, der mitten hindurch führt, nicht schnurgerade, sondern anmutig sich schlängelnd, damit er dem Auge verbirgt, daß er so kurz ist, wehen Haselnußkätzchen im leichten Winde, und aus dem dürren Buchenlaube am Boden sprießen Leberblümchen und Anemonen in üppiger Fülle. Hohe, stattliche Bäume stehen da, unter manch einem auch eine Bank, und dort, wo der kleine Hügel sich erhebt, da ist sogar eine Art Friedhof, dort haben die Wartaus ihre vierbeinigen Freunde begraben, stolze Pferde, treue Hunde, die sie liebten. Edith erinnert sich, wie sie einst so bitterlich geweint hat an dieser Stelle um den schwarzbraunen Teckel, der ihr gehörte und von einem Erntewagen überfahren wurde.

Oben auf der kleinen Böschung steht eine Eiche, und von dieser aus kann man den Feldweg übersehen, der zwischen Settwitz und Wartau dicht hier vorüberführt. Hier oben wartet sie, hier muß er sie sehen, wenn er nicht blind ist. Sie hat den Filzhut von der heißen Stirn gerissen und das Jackett geöffnet, ihre Lippen sind trocken vor Aufregung. Ein paarmal zuckt sie zusammen, als ein Gefährt sichtbar wird ganz weit dahinten an dem Hügel, aber immer ist’s nur ein Ackergespann; entweder kommt es langsam und klappernd näher und fährt vorüber, so langsam, daß die Arbeitsweiber darauf dem Fräulein, das ihrer nicht achthat, mit plumper Neugier ins Gesicht starren, oder es biegt vorher ab in einen andern Weg hinein. Ein paarmal kommen und gehen auch Arbeiter vorüber, müde vom harten Tagewerk. – Edith steht noch immer da und wartet.

Um ihren Mund legt sich allmählich ein Zug bitterer Enttäuschung. Er muß einen anderen Weg genommen haben oder Tante hat falsch gehört. Sie fröstelt, sie ist müde; sie nimmt den Hut von der Bank auf und will gehen. Die Leberblumen und Anemonen sind welk geworden in ihrer heißen Hand, und sie läßt sie achtlos fallen. Der Feldweg ist jetzt ganz einsam; die weite mit Wintersaat bestandene Fläche vor ihr leuchtet wahrhaft smaragdgrün in dem rötlichen Gold der untergehenden Sonne, selbst die braune Ackerkrume daneben hat einen rötlichen Schimmer. Der Himmel über ihr zeigt ein grünlich blasses Blau, das immer kälter wird, je tiefer die Sonne sinkt, und davor hebt sich die erste Sichel des Neumonds haarscharf und silbern ab.

Und jetzt taucht eine Gestalt auf und kommt mit langsamen regelmäßigen Schritten näher, sie bewegt beim Gehen nur den einen Arm, und Edith setzt sich nieder auf die Bank, denn ihr ist plötzlich, als wollten die Füße sie nicht mehr tragen. Und so bleibt sie sitzen und starrt ihm entgegen.

Er trägt den Hut in der Hand und hat den Blick gesenkt in tiefem Sinnen. Unter ihren Augen kommt er immer näher, jetzt ist er beinahe in einer Linie mit ihr, sie drüben auf der kleinen Anhöhe, er drunten am Rande des Weggrabens. Und angezogen von ihren Blicken, bleibt er stehen, sieht empor und ihre Augen begegnen sich; jeder liest in denen des andern. Sie sieht so blaß aus wie die zertretenen Anemonen zu ihren Füßen.

Ohne ein Wort zu sagen, kommt er durch den Graben die Böschung herauf geklettert und steht vor ihr. Edith erschrickt, als sie ihn in der Nähe betrachtet; er sieht alt aus, die Muskeln seines gelblichblassen Gesichtes zucken und die Augen haben etwas Fieberhaftes, wie sie nun an ihr vorübersehen, als wollten sie den ihrigen ausweichen. Dazu ist er sehr nachlässig angezogen, keine Spur mehr von der frischen angenehmen Erscheinung früherer Tage. Er mißfällt Edith in diesem Augenblicke unsäglich, ernüchtert sie geradezu.

So würde Edi nie aussehen,“ gesteht sie sich. Und mit dem Gedanken an ihn zwingt sie ihre Augen vorüber an Antons Gestalt; sie will ihn nicht bemerken in seiner augenblicklichen Verfassung, er ist krank, er leidet, er – –

„Wie kommen Sie hierher?“ fragt er. Es liegt etwas Drohendes in seiner Stimme. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fügt er hinzu: „Ich glaubte Sie bereits abgereist.“

„Morgen erst,“ giebt sie zur Antwort und das Herz klopft ihr zum Zerspringen.

„So! Gehen Sie jetzt heim?“

„Ja, es wird schon dämmerig und Tante Tonette könnte mich vermissen. Wenn ich nicht störe, komme ich mit.“

Er zuckt die Schultern. „Ich bin kein angenehmer Gesellschafter, gnädiges Fräulein; aber wenn Sie Nachsicht üben wollen,“ erwidert er und tritt zurück, um sie auf dem schmalen Pfad voran gehen zu lassen, der von der Böschung abwärts zu [211] dem Mittelweg führt. Dann wandern sie stumm nebeneinander. Die Dämmerung ist sehr rasch gekommen, sie verwischt die Konturen der Bäume, sie verhüllt auch den vernachlässigten Anzug Mohrmanns, sein gealtertes Gesicht.

Und mitten in dieses stumme Wandern hinein spricht Edith: „Ich freue mich, Herr Mohrmann, daß ich Ihnen doch noch Lebewohl sagen kann, ich würde es sehr bedauert haben – –“ sie stottert und schweigt.

„Sehr liebenswürdig!“ antwortet er. „Sie freuen sich natürlich sehr auf diese Reise.“

„Ich?“ ruft sie entrüstet, und diese Entrüstung ist wirklich eine ehrliche. „Ich mich freuen? Aber ich bin ja totunglücklich, daß ich fort muß von Wartau!“ Sie bricht ab und sucht nach dem Tuch in der Tasche ihres Jacketts.

Er bleibt stumm; er ist nicht imstande, das zu würdigen, was sie sagt; er ist so mürbe, so völlig zerschlagen von den Ereignissen der letzten Tage, in denen ihn Mitleid und Reue, die furchtbarsten Selbstvorwürfe, die jammervolle Sehnsucht nach der Frau, die ihn verließ, umhergerissen haben in Himmel und Hölle; er ist ein kranker elender Mann geworden in dieser kurzen Zeit. Dreimal hat er seinen Koffer ein- und wieder ausgepackt, um zu Christel zu eilen, sie anzuflehen, wiederzukommen, und immer, wenn es soweit war, ist er mutlos in den nächsten Stuhl zusammengebrochen; er kann nicht vergessen, was sie ihm geschrieben, die Worte: „Aber ich komme nicht, denn dein Mitleid kann mir deine verlorene Liebe nicht ersetzen.“

Nein, sie wird nicht kommen, sie konnte nicht wiederkehren; die allezeit fügsame geduldige Frau stand drohend, unbeugsam da vor seinen Augen – spare dir die Mühe, ich bin tödlich verletzt! Und er ist zurückgeblieben in völliger Verzweiflung; die rasende Leidenschaft für Edith von Ebradt scheint gebrochen. Er wollte sie nicht sehen, er dankte Gott, als er erfuhr, daß Fräulein Tonette sie auf Reisen schickte. Wie erlöst würde er sein, wenn sie das Haus verlassen habe – meinte er.

Und weiter wandern sie stumm nebeneinander. Da dringt ein Schluchzen an sein Ohr, ein leises bitterliches Schluchzen. Edith ist stehen geblieben, hat das Gesicht in das Taschentuch verborgen und weint. Jetzt packt ihn das Gefühl der Verantwortung und der Reue auch nach dieser Seite, er ist im nächsten Augenblick bemüht, die Hände von ihren weinenden Augen fortzuziehen; hastig, leidenschaftlich stößt er die Worte hervor: „Edith – um Gotteswillen – weshalb – ich bitte Sie, Edith!“

Und sie lehnt an seiner Schulter und die ganze übermächtige Spannung der letzten Tage löst sich auf in ein krampfhaftes Weinen, gegen welches schlechterdings kein beruhigendes Wort etwas vermag.

„Edith, weinen Sie, weil Sie fort sollen?“

Sie schluchzt noch stärker.

„Und weshalb denn, Kind? Machen Sie es mir nicht noch schwerer! Sie sind so jung, so schön – Sie werden in vier Wochen Wartau und seinen alten bärbeißigen Herrn total vergessen haben; glauben Sie es doch – es ist zu Ihrem Besten!“

„Nie! O nie!“ ruft sie, und aus der Dämmerung leuchten ihm ihre heißen verweinten Augen entgegen, die sich mit dem Ausdruck flehender, hingebender Liebe auf ihn richten.

„Ich habe nichts lieber auf der Welt als Wartau; nichts weiter will ich, als hier bleiben, nichts weiter!“

„Edith!“ Ihm ist ganz schwindlig, der alte unwiderstehliche Zauber packt ihn, atemlos flüsternd fragt er: „Bei mir, Edith – auch bei mir?“

Und ihr Weinen verstummt. „Auch bei dir!“ klingt es leise.

„Kind, du hättest mich wirklich lieb, du – mich?“

Sie nickt stumm.

„Schon lange? Schon immer? Wirklich, Edith?“ Er streicht ihr über das Haar mit zitternder Hand; sprechen kann er nicht.

„Laß mich bei dir bleiben!“ fordert sie mit süßer leiser Stimme.

„Nein!“ sagt er plötzlich laut, „nein, du mußt gehen, jetzt gehen, aber“ – und er küßt ihre beiden Hände, immer abwechselnd, während er spricht, „du kommst wieder – versprich mir, du kommst wieder, dann, wenn alles licht und hell ist, wenn ich ein freier Mann bin. – Geh’, laß mich die schwere Zeit jetzt allein durchkämpfen, es soll nicht mehr mutlos geschehen. Ich will alles geduldig tragen, wenn ich glauben darf, daß meine Liebe zu dir keine Verirrung war, sondern geheiligt ist durch deine Gegenliebe.“

Sie weiß kein Wort zu erwidern, aber sie fühlt, sie ist am Ziel ihrer Wünsche. Und dennoch packt sie etwas wie zitternde Furcht vor der großen ernsten Leidenschaft, die sie wachgerufen hat aus Eigennutz und Berechnung. Er läßt nicht mit sich spielen, das fühlt sie unter Herzklopfen.

Sie weiß nichts weiter, als wieder zu weinen, an seiner Schulter zu weinen, und sie wartet, daß er mit tändelnden, beschwichtigenden Worten sie beruhigen soll, wie eine Mutter ihr Kind, aber sie wartet vergebens.

„Komm’,“ sagt er dumpf, „geh hinauf, und wenn du fort bist, dann denke aus der Ferne an einen, der auf bessere Zeit, der auf dich hofft.“ Und ohne ein weiteres Wort schreiten sie nebeneinander, nur am Ausgang des Wäldchens preßt er ihre Hände noch einmal an die Lippen.

„Auf Wiedersehen!“ klingt es fast heiser, dann wendet er sich und erreicht mit einem Umweg außerhalb des Gehöftes das Schloß, während Edith durch den Garten eilt, verwirrt, befremdet, doch so beruhigt, so innerlich befriedigt. Er ist der Ihre! Widerstrebend, bereuend, unter Gewissensqualen – aber doch der Ihre! Ihre Macht siegte.

Und er kommt nach einem Weilchen über den Hof mit festeren Schritten als vorher, wenn auch noch mit finstern Brauen. Die Zweifel sind nun zu Ende, der Würfel ist gefallen. Edith liebt ihn, und nun vorwärts auf dem einmal betretenen Wege! Mit dieser Entscheidung ist eine Erschlaffung über ihn gekommen, eine unbezwingliche Müdigkeit. Nach Monaten zum erstenmal schläft er, schläft wie ein Toter: seine abgehetzten gequälten Nerven verlangen ihr Recht.

Als er erwacht, ist’s heller Tag, und er fährt mit dem Rufe „Christel!“ in die Höhe. Erst langsam besinnt er sich, daß Christel ihn verlassen hat. Der Diener aber bringt ein Briefchen und bestellt: Fräulein von Ebradt lasse noch einmal grüßen, vor einer halben Stunde sei sie abgereist.

Mühsam, wie ein Achtzigjähriger erhebt er sich. „Vorwärts,“ sagt er, „es muß sein!“




Vor dem „Hotel Schweizerhof“ in Luzern spielt die Hauskapelle; es ist kurz vor der Zeit des Diners, so gegen sechs Uhr. Die Gruppen der Reisenden sitzen auf den zierlichen Bambusstühlen umher, teils das herrliche Bild bewundernd, das sich vor ihnen ausbreitet, teils plaudernd und lachend. Auf dem Fahrdamm rollen unaufhörlich die vollbesetzten Hotelwagen oder Landauer mit Ausflüglern; unter den dichten Platanen schiebt sich eine Masse Menschen aller Nationalitäten; ein großer Dampfer wiegt sich, zur Abfahrt bereit, auf der intensiv grünen Flut und jenseit dieses schönsten Schweizersees ragt stolz der Pilatus empor, unverschleiert, in klassischer Schöne, und daran reihen sich die schneebedeckten Alpengipfel.

Graf Altwitz mit Frau und Pflegetochter Edith befinden sich ebenfalls unter den Fremden, ihres Diners harrend. Das alte Paar kann sich nicht satt sehen an dem köstlichen Bilde; sie machen einander immer wieder auf eine neue Schönheit aufmerksam. Edith lehnt still in einem Schaukelstuhl mit sehr gelangweilter Miene und betrachtet den riesengroßen Hotelomnibus, dem eben wieder ein wohlgezähltes Dutzend Menschen entsteigt. Plötzlich richtet sie sich straff empor, über ihr schönes Gesicht hat sich eine Purpurröte ergossen. Drei Personen fesseln ihre Aufmerksamkeit so sehr, daß sie die Frage der Gräfin „Ja, ist dies Luzern nicht wunderschön, Edith?“ völlig überhört.

Ein sehr blasser, offenbar recht kranker junger Mann wird von einem andern geführt, eine blutjunge Frau geht ihm zur Seite, alle drei vornehme Menschen aus den ersten Kreisen der Gesellschaft in tadelloser Reisetoilette. Die Herren sind unverkennbar Brüder. Sie gehen, ohne die neugierigen Blicke zu beachten, vorüber in das Hotel. Edith fängt ein paar Worte der jungen Frau auf: „Sorge doch, bitte, für ein kühles Zimmer, Edi.“ – Dann sind sie verschwunden in dem Portal.

Edith holt tief Atem.

„Kennen Sie die drei?“ fragt Graf Altwitz, der noch immer ein Monocle trägt und dadurch viel jünger und unternehmungslustiger aussieht, als er es in der That ist, „nette Erscheinung, die kleine Frau – was?“

[212] „Ja, ich kenne sie,“ sagt Edith und wundert sich selbst über ihre Ruhe, „es ist Franz Waldenberg mit seiner Frau und seinem Bruder; er scheint kränker geworden zu sein, sie sind erst seit dem Frühjahr verheiratet.“

„Wie traurig!“ bedauert die alte Gräfin.

Eine halbe Stunde später sitzt man bei Tische. Altwitzens haben ihre Plätze am Kopfe einer langen Tafel bekommen, unmittelbar neben ihnen sind drei Stühle unbesetzt geblieben, zwei neben der Gräfin, einer neben Edith. Diese muß sie immer ansehen – wenn nun dort – aber nein, sie werden ja in ihrem Zimmer essen – er sah ja zum Erbarmen aus, der Franz Waldenberg!“

Nach dem Roastbeef erscheint plötzlich Edi Waldenberg mit der Dame, ohne den Kranken. Der Oberkellner führt sie beflissen zu den leeren Stühlen neben der Gräfin und nimmt den dritten neben Edith fort auf einen Wink des jungen Mannes. Edi kommt ihr schräg gegenüber zu sitzen, und sie sieht ihn groß an mit ihren dunklen heißen Augen, die aus dem blassen Gesichtchen nur so zu sprühen scheinen. Er hat das Menü studiert, nun schaut er sich um und gewahrt Edith; er wird rot, verbeugt sich, läßt einen Blick über die Begleiter Ediths schweifen und sagt dann:

„Welche Ueberraschung, mein gnädiges Fräulein! Wollen Sie mich den Herrschaften vorstellen?“ Die kleine Frau neben ihm wird ebenfalls bekannt gemacht und in der nächsten Minute ist bereits eine lebhafte Unterhaltung angebahnt. „Woher? Wohin?“ wird natürlich zuerst erörtert. Altwitzens sind von Italien aus über den Simplon gegangen, haben sich lange Zeit in Genf aufgehalten und wollen in die Heimat zurück. Sie haben sich diesmal eine viel längere Erholungsreise gegönnt als sonst, aber nun – die Ernte, das Manöver, der Besuch der Enkel während der Schulfreien –.

„Wir haben leider keine so frohe Zeit vor uns,“ sagt Edi Waldenberg und ein mitleidiger Blick streift die hübsche junge Frau an seiner Seite, die mit den Thränen kämpft. „Mein Bruder ist in Sän Remo leider so krank geworden, daß wir auf dem geraden Wege nach Görbersdorf sind. Ich bin ihm vorige Woche nachgefahren, um meiner Schwägerin ein wenig beistehen zu können während der weiten Reise.“

Edith preßt die Lippen aufeinander und schweigt, während das liebenswürdige alte Paar sich in bedauernden Phrasen erschöpft.

„Ich hoffe, Görbersdorf wird meinem Manne gut thun,“ sagt die kleine Frau mit verhaltener Stimme.

„Gewiß, gewiß!“ beruhigt die Gräfin sie und erzählt von einer Menge Fälle, bei denen die Anstalt Wunder vollbrachte.

Noch vor dem Dessert erhebt sich Frau von Waldenberg, nachdem sie ihren Schwager flehentlich gebeten hat, sich nicht stören zu lassen; er könne ihr jetzt doch nicht helfen. Aber er erklärt, dem Kranken noch „Gute Nacht“ sagen zu wollen. Das alte Paar sucht sein Zimmer auf; Edith erobert sich einen Stuhl auf der Veranda und schaut in das Gewühl der Promenierenden. Der Hoteldiener hat ihr eben einen Brief gegeben; sie dreht ihn uneröffnet zwischen den Fingern; er ist von Tante Tonette. Sie konnte sonst immer nicht erwarten, Nachrichten aus Wartau zu lesen, heute zögert sie. Edi Waldenberg tritt eben aus der Hausthür und sieht sich suchend um; als er sie erblickt, kommt er langsam näher, und einen leer gewordenen Stuhl erfassend, fragt er: „Gestatten, gnädiges Fräulein?“

Sie nickt. „Wenn’s Ihre Mission erlaubt, Herr von Waldenberg?“

Er überhört den etwas spöttischen Ton und fragt nach ihrem Befinden.

„O, mir geht es sehr gut!“ erwidert sie, „ausgezeichnet! Hoffentlich Ihnen auch?“

„Nein,“ sagt er, „ich hatte so allerlei durchzumachen und – nun jetzt –“

„Das ist schrecklich traurig,“ bemerkt Edith. „Ich kann mir denken, wie Ihre Schwägerin trostlos sein wird – es ist doch ein Glück, daß Sie ihr zur Seite stehen.“

„Ja!“ sagt er ehrlich, „denn ihre Eltern sind tot und Geschwister hat sie nicht – sie verdient wirklich Mitleid. – Nun, und Sie, Fräulein Edith?“ fährt er fort und seine Augen suchen mit traurigem Ausdruck die ihrigen. „Ist’s wirklich wahr? Darf man Ihnen gratulieren?“

„Wozu?“ fragt sie kurz.

„Fräulein von Zobel erzählte mir –“

„Ah! Emma von Zobel! Ich kann es mir denken, ich würde an Ihrer Stelle aber nicht voreilig sein, Herr von Waldenberg.“

„Edith!“ bittet er fast atemlos und biegt sich vor, „Edith, sprechen Sie – ist das, was man da spricht, noch keine Thatsache?“

Sie sieht ihn an mit den wunderschönen Augen. „Noch nicht!“ sagt sie leise.

„Noch nicht? – Aber – also doch möglich, Edith – doch?“

Sie zuckt unmerklich die Schultern.

„Lieben Sie den Mann, Edith?“

„Warum sind Sie so neugierig?“ fragt sie und schaut hinüber zu dem Pilatus, auf dessen Kuppe eben ein Stern aufflammt, das elektrische Licht des Hotels.

„Verzeihen Sie, ich habe allerdings kein Recht,“ entschuldigt er sich in bitterem Tone. Edith antwortet nicht.

Es ist dunkel geworden; eine herrliche wunderbare Luft weht vom See her, die Musik spielt irgend etwas Schmelzendes aus dem „Troubadour“. Neben ihnen lacht ein halbes Dutzend englischer Misses; auf der anderen Seite sitzt ein junges Ehepaar und hält sich verstohlen an den Händen. Edi Waldenberg zündet sich eine Cigarette an und raucht, schweigend in das Publikum starrend. Sie sieht ihn von der Seite unverwandt an, dabei dreht und wendet sie nervös den Brief in ihrer Hand. Warum er auch arm sein, warum dieser schwindsüchtige Bruder heiraten muß, der nun eine schöne junge Frau hinterläßt! Aber vielleicht ist es gar nicht wahr, daß Edi sie wählen wird, vielleicht ist es nur ein boshaftes Gerede? Ach, wenn sie das gewiß wüßte, wenn der Edi Majoratsherr – sie hat ihn ja so furchtbar gern, diesen hübschen, blassen vornehmen Menschen, aber – arm sein kann sie nicht, nur das nicht! Und sie weiß seit den letzten Minuten: er hat sie noch keineswegs vergessen, er liebt sie noch! Warum sollte er diese hinterlassene Frau heiraten? Wer kann das von ihm verlangen?

„Wenn mein Bruder eine gute Nacht hat, reisen wir morgen weiter,“ wendet sich der junge Offizier jetzt an Edith. „Jedenfalls möchte ich Ihnen gleich heute Adieu sagen, Fräulein von Ebradt.“ Er hat sich erhoben und steht nun vor ihr. „Ich darf Ihnen wohl nochmals wiederholen, wie sehr ich mich gefreut habe, Sie einmal wiederzusehen, und den Wunsch aussprechen, daß sich Ihre Zukunft so gestalten möge, wie Sie dieselbe ersehnen. Leben Sie wohl, Edith!“

Sie giebt ihm die Hand, die er an die Lippen führt. Ihr Schmerz, ihn verloren zu haben, ist in diesem Augenblick größer als alle Berechnung; sie findet keine Worte, aber die großen Augen reden eine deutliche Sprache.

Er hält wie verwundert ihre Hand fest. „Edith!“ murmelt er. Aber sie wendet sich rasch ab und geht in das Hotel, so eilig, daß es fast einer Flucht ähnlich sieht. Und dort sucht sie geradeswegs ihr Zimmer auf und läßt sich bei der Gräfin entschuldigen, sie habe Kopfweh und wolle sich legen. Sie birgt den Kopf in die Polster des Sofas und denkt nach, wie sie seit langer Zeit nicht nachgedacht hat; und als sie sich endlich erhebt, ist sie zu dem Entschluß gekommen, daß sie eine furchtbare Uebereilung beging, als sie Mohrmann zu einem Versprechen förmlich zwang vor ihrer Abreise, und daß sie jedenfalls einem öffentlichen Verlöbnis für jetzt entfliehen müsse. Sie liebt ja doch den Edi nur allein, und Gott weiß, ob er – –

Sie wird rot und blaß, das liebe Gesichtchen der Frau von Waldenberg taucht vor ihr auf, die angstvollen, klaren blauen Augen. Sie kommt sich vor wie eine Mörderin, indem sie an den Tod des andern Waldenberg denkt. Aber, was kann sie dafür, daß der Aermste die Schwindsucht hat in so hohem Grade? Es ist ja schon seit langem die Rede davon, daß er sterben muß!

Als sie sich endlich gefaßt hat, erbricht sie den Brief der Tante Tonette. „Mein liebes Kind,“ liest sie beim Schein der elektrischen Lampe, „gestern ist die Scheidung von Mohrmanns ausgesprochen worden vor dem Gericht in Leipzig. Der arme Mensch atmet ordentlich auf; er hat doch wohl sehr unter diesen Verhandlungen gelitten. Deine Wiederkehr steht nun nahe bevor – es wäre mir allerdings lieber gewesen, Du hättest noch länger fortbleiben können, indes wohin? Du hast jetzt nur ihn, denn Tante Josepha, die ich bat, Dir eine kurze Zuflucht im Stift zu gewähren, lehnte [214] in solch unartiger Weise ab, daß ich auf eine Korrespondenz mit ihr vorläufig verzichten muß. Ich werde Dir später erzählen, was sie schrieb; sie ist verbittert und ungerecht.

Mohrmann habe ich täglich lieber gewonnen, er ist ein charmanter verständiger Mensch, dem ich Wartau wirklich so recht von Herzen gönne. Wenn wir beisammen sitzen zu Tische, sprechen wir nur von Dir, das ist uns das Liebste; aber das schrieb ich Dir ja schon, daß er nicht müde wird, nach Dir zu fragen. Also, Du telegraphierst wohl noch, wann wir Dich erwarten dürfen; ich hole Dich jedenfalls von der Station ab.

Vergiß nicht, mich dem Grafen und der Gräfin zu empfehlen. Ganz Wartau freut sich auf Dich, der Park ist so schön in diesem Jahre und Mohrmann hat Deine Lieblingsrosen setzen lassen, sie blühen bereits. Er läßt Dich grüßen, ebenso grüßt und küßt Dich innig
 Deine getreue Tante
Antonie v. Wartau.“ 

Es ist zum Verzweifeln! Edith weiß genau, daß Anton nie von ihr reden wird, bevor die Tante nicht ihren Namen ausspricht, daß die „Lieblingsrosen“ nur auf Tantens Vorschlag gesetzt worden sind; aber sie weiß auch, daß er im unverbrüchlichen Vertrauen auf sie wartet, daß er ein Schwanken ihrerseits nie verzeihen würde.

Und übermorgen geht es heim, unwiderruflich heim! Was soll werden? Wartau erscheint ihr auf einmal schlimmer als ein Gefängnis, das Wiedersehen mit Mohrmann wie eine Folter. Sie sieht ihn plötzlich vor sich wie an jenem Tage, vergrämt, unordentlich gekleidet, alt geworden – ja, wie konnte sie nur! Sie, die den Edi liebt, immer geliebt hatte, was ihr nie so zum Bewußtsein gekommen ist wie heute abend, bei dem Abschied unter den fremden Menschen, fern von der Heimat! Ach, es ist doch schrecklich, arm zu sein!

Und jetzt faßt sie plötzlich eine Wut auf diejenigen, die diese Armut verschuldet haben, in erster Linie auf ihren verschwenderischen Großvater, daß sie zittert. Was geht sie die Familientradition an, was dieses Wartau, was die verbitterten Tanten? Was dieser große Mann, der zwanzig Jahre älter ist als sie, dem sie keinen Blick gegönnt haben würde, wenn er nicht der Besitzer von Wartau wäre? Sie will frei sein, sie will weiter nichts als Edi!

Und sie setzt sich hin und schreibt einen Brief an Tante Tonette, einen Brief, der den ganzen Zustand ihrer jungen, durch das Wiedersehen mit Edi aufgerüttelten Seele spiegelt; eine rücksichtslose Beichte, eine offene Anklage ihrer selbst, ihr ganzes wachgerufenes besseres Ich fleht darin um Erbarmen.

Tante Tonette erhält diesen Brief, einen Tag vor Ediths Rückkehr, die ihr durch den Grafen Altwitz telegraphisch gemeldet wird. Die alte Dame ist völlig fassungslos. Was um Gotteswillen mag geschehen sein, daß das Mädchen so schreiben kann?

Sie ordnet just das Zimmer Ediths, es ist noch früher Morgen. Vorhin kam die Depesche, in der zu lesen, daß Gräfin Altwitz mit ihrer Schutzbefohlenen am sechzehnten Juli, das heißt morgen abend, sieben Uhr, auf der Station eintreffen werde. Und jetzt dieser Brief, der alle inbrünstig gehegten Hoffnungen der alten Dame zu Boden schlägt!

„Mir ist, als ob ich in ein Gefängnis soll,“ steht da, „und Mohrmann thut mir leid. Die Frau Christel war doch wohl die Rechte für diesen hausbackenen Menschen.“

Die alte Dame zieht ihr Taschentuch und trocknet sich die Schweißperlen von der Stirn. Soll denn alles umsonst gewesen sein – ihr Sorgen, ihr Thun, ihre ganze Diplomatie, ihr geradezu schwiegermütterliches Walten während der schweren Zeit, die der Mann jetzt durchlebt hatte? Ihr geopfertes Sparkassenbuch – alles? Jeden Mittag hatte sie den Schweigsamen unterhalten, jeden Abend war sie hinüber gegangen, um mit ihm noch ein Stündchen zu verplaudern, ihm ein freundliches, ermutigendes Wort zu sagen, ihm von Edith zu sprechen und Stellen aus ihren Briefen vorzulesen, die mitunter erst in Wartau verfaßt waren. Mit einem Worte: sollte denn das ganze stolze Zukunftsschloß, das sie unter tausend Mühen aufgebaut hatte, unter der Laune eines unberechenbaren jungen Geschöpfes zusammenstürzen?

Sie setzt sich plötzlich wie gebrochen auf das kleine Sofa mit dem verblichenen Seidenbezug. Ein Königreich für einen rettenden Gedanken! Sie weiß ganz genau, daß ein einziger unfreundlicher Blick Ediths den stillen, ganz veränderten Mann dort unten zwingen wird, sich zurückzuziehen, sie zu lassen. Er ist der alte nicht mehr, er giebt sich so müde und gleichgültig, als ob seine ganze Spannkraft, seine Jugend von der scheidenden Frau mitgenommen wäre. Er ging all die Zeit umher wie ein Kranker, und wenn sie, Tante Tonette, nicht unaufhörlich von Edith gesprochen hätte, wäre der Name des Mädchens überhaupt nicht genannt worden. „Edith hat geschrieben, sie fragt nach Ihrem Ergehen, Mohrmann,“ hat sie einen um den andern Tag gesagt und mit Mühe und Not eine Antwort bekommen, ein halb geflüstertes „Sehr freundlich“ und „Wie geht es denn Fräulein Edith? Bitte, meine Empfehlung.“ – Und nun der andere Teil auch so grenzenlos abgekühlt, so plötzlich! Im vorletzten Schreiben war noch so viel die Rede vom „alten lieben Wartau, dem trauten Nest“, heute ist’s ein „Gefängnis, eine Brutanstalt für Langweile!“

Beim Mittagsessen sitzt sie Anton blaß gegenüber, erst zum Schluß des Mahles fragt sie: „Kann ich morgen abend den Wagen bekommen? Edith kehrt zurück.“

Ueber sein Gesicht fliegt eine plötzliche Röte; es ist, als könne er kein Wort aus der Kehle bringen. Er verbeugt sich nur stumm, und beim Aufstehen vom Tische fragt er endlich: „Zum Sieben Uhr-Zug, nicht wahr?“

„Ja! Und Sie verzeihen, wenn wir an diesem ersten Abend oben bleiben – Edith wird etwas ermüdet sein, und –“

„Selbstverständlich, Baronesse; ich bin ohnehin nicht zu Hause, ich hatte Namann versprochen –“

„Das paßt dann ja ganz schön,“ stimmt Fräulein Tonette zu mit Aufbietung ihrer letzten Kraft und geht.

Am andern Nachmittag bringt der Gärtner ein Körbchen voll Rosen, ein Willkommen des Herrn für Fräulein Edith. Tante Tonettes gequältes Herz schlägt freier. Wenn er nur noch derselbe, ihrer wird sie schon Herr werden! Und sie setzt das schöne Blumenarrangement mit einem lauten Seufzer der Erleichterung auf das Rokokotischchen in Ediths Zimmer. Dann schießt’s ihr durch den Kopf – Herrgott, einen Korb! Sollte er? Aber nein, dazu ist er zu gutmütig, er hätte ja gar nichts zu schicken brauchen.

Um sieben Uhr ist sie pünktlich auf der Station; der Altwitzer Wagen wartet bereits dort. Tante Tonette hat für die Gräfin einen köstlichen Strauß La France-Rosen in Bereitschaft, auf andere Weise kann sie vorläufig ihren Dank nicht bezeigen. Mit nur fünf Minuten Verspätung fährt der Lokalzug vor dem winzigen Bahnhofsgebäude an und die Reisenden steigen aus.

„Mein lieber verehrter Graf!“

„Ah, Fräulein von Wartau! Herzlich willkommen! Da ist das Kind, sieht’s nicht prachtvoll aus – wie?“

„Aufrichtigsten, innigsten Dank! Willkommen, Edith! Bitte, lieber Graf, bemühen Sie sich nicht.“ So klingt’s durcheinander, und dann wiederholt Fräulein von Wartau ihren vorläufigen herzlichen Dank und der Graf versichert, daß die junge Reisegefährtin immer außerordentlich charmant, ihnen die größte Freude gewesen sei, und endlich fahren die beiden Wagen hintereinander ab, nachdem der Graf dem lieben Reisetöchterchen einen väterlichen Kuß zum Abschied gegeben. Er wirft ihr auch noch, das Monocle im Auge, ein paar Kußhändchen zurück, die Edith lächelnd erwidert.

„Nun,“ fragt Tante Tonette, möglichst unbefangen, „hat sich deine Furcht um die Heimkehr gelegt?“

Das junge Geschöpf schmiegt sich, wie fröstelnd, in die Kissen des Wagens, und es ist Tante Tonette, als klapperten die weißen Zähnchen leise aufeinander im Fieberschauer.

„Bist du krank, Edith?“

„Ich glaube,“ ist die mühsam hervorgestoßene Antwort.

„Du gehst am besten gleich ins Bett, solch endlose Fahrt ermüdet sehr.“

„Ja – ich danke.“

„Mohrmann mußte leider in einer dringenden Angelegenheit verreisen.“

Edith atmet auf. „So?“

„Er läßt sich dir sehr empfehlen, hofft morgen früh auf ein Wiedersehen. Es thut ihm schrecklich leid, Edith – übrigens, [215] für dich ist ein Brief gekommen, den ich dir nicht mehr nachschicken konnte, eine Verlobungsanzeige – rate –“

„Wie kann ich das?“

„Nun, Emma v. Zobel mit einem Premierlieutenant v. Lattwitz. Soviel ich weiß, sind die Lattwitze die reinen Kirchenmäuse, und die Zobels haben doch auch nichts als den großen Gehalt des Vaters.“

„Sie hat Mut,“ sagt Edith, „sie liebt ihn gewiß sehr.“

„Schöner Mut das, den Mann unglücklich zu machen mit der eigenen anspruchsvollen Persönlichkeit! So ein verwöhntes Ding, die Ma!“

Daheim angelangt, sagt Edith beim Erblicken des Blumenkörbchens sofort, sie könne Rosen nicht riechen, und giebt damit das Signal zu einer furchtbaren Scene. Das junge Mädchen hat noch nicht den Staubmantel ausgezogen, sie knöpft ihn hastig wieder zu. „Ich sehe ein,“ sagt sie mit bebenden Lippen, „du weißt alles! Vermutlich war er selber so indiskret, dir zu erzählen, daß ich mich ihm, sozusagen, an den Hals geworfen habe? Aber, wenn auch – ich erkläre dir hiermit –“

„Du hast ihn animiert zu – zu dem, was zwischen euch vorgekommen?“ fragt Tante Tonette atemlos; es ist wie ein Aufschrei.

„Ja! ja! ja!“ ruft Edith, „aus Thorheit, aus Langweile und weil du mir immerzu nur von Wartau vorgepredigt hast! Und ich will ihn nicht, und ich liebe ihn nicht! Ich habe nur, gleichviel aus welchem Grunde, mit ihm gespielt – er ist mir viel zu alt und viel zu unelegant, und ich mache mir gar nichts aus Wartau, und – und –“

Sie wird unterbrochen von Tante Tonette, die sie an der Schulter packt und schüttelt wie ein junges Bäumchen. „Du ehrvergessenes, du entartetes Geschöpf!“ keucht sie. „Einen Menschen so weit zu treiben, daß er seine brave Frau verstößt, und hinterher zu erklären, mit ihm gespielt zu haben!“

„Ich sehe meinen Irrtum ein, es thut mir ja furchtbar leid! und ich habe das Vertrauen, dir dies zu sagen, also hilf mir,“ verteidigt sich Edith.

„Seit wann siehst du diesen Irrtum ein?“

„Seitdem ich Edi ganz unverhofft in Luzern wiederfand.“

„Also der? Großer Gott, um diese Null, um dieses Nichts von einem Menschen!“

„Ich weiß nicht, ob er eine Null ist, ich weiß nur, daß ich ihn liebe.“

„Und er dich?“

„Ja!“

„Habt ihr euch das gesagt?“

„Mit Worten nicht, leider nicht.“

„Nun, das ist wenigstens vernünftig; denn Edi Waldenberg kann doch vorläufig keine Frau ernähren, und auf den Tod des Bruders hin wird er sich als anständiger Mensch kaum verloben wollen.“

„Es ist noch lange nicht so schlimm, wenn man auf den Tod eines hoffnungslos Kranken wartet, als wenn man einen Lebendigen aus seinen Rechten drängen hilft – wie du!“

„Edith“ – Fräulein Tonette ist außer sich – „wage es nicht, wage es nicht, weiter zu sprechen, ich warne dich! Ueberlege, was du redest!“

„Ich will Mohrmann nicht! Er mag sich seine Christel wieder holen! Und wenn du es ihm nicht sagst, so sage ich es; ich habe keine Lust, hier in Wartau zu versauern!“ Sie reißt den Staubmantel wieder auf und wirft sich wie ein schmollendes Kind in den nächsten Sessel.

Tante Tonette geht stumm aus dem Zimmer; sie ist am Ende mit ihrer Weisheit, sie droht zu ersticken vor Zorn. Wenn sie nur wenigstens weinen könnte, aber auch das ist ihr versagt in diesem Augenblick, wo alles, was sie vom Leben noch erhoffte, in armseligen Scherben zu ihren Füßen liegt. Sie verwünscht ihren Einfall, das Kind fortgeschickt zu haben, sie verwünscht den Edi Waldenberg, sie ist einfach fassungslos. Aber einen Weg, Edith zur Vernunft zu bringen, sieht sie nicht, sie kennt den Wartauschen Charakter – unberechenbar! Das Einzige, was sie noch thun kann, ist, morgen früh noch einmal in aller Ruhe mit Edith zu sprechen und zu versuchen, ihr die Lage klar zu machen, ihre jammervolle Lage, wenn sie dieses Glück zurückweist. Hoffentlich sieht Edith nicht eher Mohrmann unter vier Augen, als bis sie selbst mit dem Mädchen noch sprach.

Und der Zufall kommt der alten Dame zu Hilfe. Noch spät bringt der Diener eine Karte von Anton Mohrmann; sie lautet, er kehre erst morgen abend heim, sei mit Herrn Namann nach Drottlingen gefahren, wo ein Transport Ackerpferde bei einem als ziemlich reell bekannten Pferdehändler eingetroffen sei.

Tante Tonette atmet auf; sie wundert sich zwar, daß Mohrmann es fertig bringt, nicht sofort zu Ediths Füßen zu stürzen, und seine Abwesenheit gestern, sein langes Fortbleiben heute verursacht ihr ein gewisses unbehagliches Gefühl, aber trotzdem – Zeit gewonnen, alles gewonnen!

Edith kommt am andern Morgen erst gegen elf Uhr zum Vorschein und thut völlig unbefangen; sie ist über Mohrmann zur Tagesordnung übergegangen.

„Wo willst du eigentlich bleiben bis zu deiner Verheiratung mit Edi Waldenberg?“ fragt Tante Tonette sehr ruhig vom Fenster her, wo sie mit einer Handarbeit sitzt.

Edith stutzt, zur innersten Genugthuung der alten Dame, und sieht sich wie hilfesuchend im Zimmer um.

„Die Gastfreundschaft von Herrn Mohrmann kannst du doch unmöglich noch ferner annehmen, und wer weiß, wie lange es dauert, bis Franz Waldenberg stirbt? Vorher könnt ihr ja doch nicht heiraten.“

Edith schweigt, sie ist ganz blaß geworden.

„Na, du wirst das ja mit ihm überlegt haben,“ meint die Tante. „Ich weiß keinen Rat und erwarte nur, was du bestimmst, denn ich gehe zu Josepha ins Stift. Aber für dich ist dort leider kein Platz, du bist eben keine Wartau. – Ich denke, du nimmst so lange irgend eine Stelle an.“

Edith fährt von ihrem Stuhle empor und ihre Augen funkeln zu der kleinen Dame hinüber, die innerlich kochend, aber äußerlich mit klassischer Seelenruhe an dem groben weißwollenen Strickzeug weiter schafft.

Statt der Antwort nimmt das junge Mädchen ihren Hut und geht hinunter in den Park.

Es ist ein herrlicher Tag und nicht zu heiß; es weht ein leiser warmer Wind und am tiefblauen Sommerhimmel sind glänzende weiße Wölkchen. Der ganze Garten ist voll Sonnenschein und Rosenduft – ach, welch köstliche Rosen! Noch nie ist der alte Park ihr so reizend erschienen. Sie wandert im Schatten der hohen Buchenhecke und setzt sich auf die Steinbank neben dem bezopften Schäfer, der eine Nymphe umschlungen hält.

Vor ihr liegt das Schloß, ein stattlicher Bau, er ist ihr noch nie so imposant erschienen, und dort über der Thür grüßt das große in Sandstein gemeißelte Wappen der Wartaus. Ja, wenn das noch Familieneigentum wäre! Und eine Enkelin dieses stolzen Hauses soll in Dienerstellung auf eine ungewisse Zukunft warten? So sagte ja eben Tante Tonette. Gräßlich! Aber, was denn sonst? Diese ruhige, strickende Tante hat so recht, leider so recht!

Aber sie kann nicht, nein, sie kann Mohrmann nicht heiraten, jetzt nicht mehr, jetzt nicht! Ach, Frau Christel hatte die Wahrheit gesprochen, als sie sagte: „Wer so über Liebe redet wie Sie, Fräulein Edith, der kennt sie noch gar nicht.“ – Aber, wenn Edi arm bleibt, dann – es geht einfach nicht! Ach, dieser Franz Waldenberg – es ist ihm doch nur eine Qual, das Leben – warum stirbt er nicht? Edith gönnt ihm ja doch nur Erlösung, wenn sie wünscht, daß das Unausbleibliche rascher komme.

Sie sitzt ihrer Tante beim Essen wie ein Steinbild gegenüber, und nach Tische leidet es sie nicht länger im Hause; sie stiehlt sich heimlich fort und wandert nach Altwitz. Es ist ihr, als ob sie bei ihrer Reisegefährtin Frieden finden könnte in ihrer Not.

Die alte Gräfin empfängt sie sehr freundlich; sie sitzt mit vollstem Behagen auf der Veranda hinter dem Hause und wird nicht müde, den Garten zu bewundern.

„Sehen Sie nur, liebe Edith, so grün und traut ist’s doch nirgends! Wie hat man seine alte Scholle wieder so lieb, wenn man einmal fern war. Ja, man sollte wirklich schon deshalb [216] jedes Jahr fortgehen, um dieses herrliche Wiederhaben zu genießen.“

Sie nickt dabei in den Garten hinaus, als grüße sie jeden Baum, jede kleine Welle im Teich. „Und nun setzen Sie sich, liebes Kind. Wie geht es Tante? Wie nett von Ihnen, daß Sie gleich an uns denken! Ja, so ein Vierteljahr in der engen Gemeinschaft des Reiselebens, das macht Freundschaft. Ich finde auch, die fremden Leute, die man da draußen so trifft, sie bleiben einem viel länger im Gedächtnis als irgend eine Bekanntschaft in der Heimat – nicht? Es knüpft sich immer gleich der Ort, wo wir sie sahen, an ihre Person. Ich kann, zum Beispiel, an Waldenbergs nicht mehr denken, ohne das schöne Luzern vor mir zu sehen. Arme Menschen! Arme kleine Frau! Wie schwer für sie, zu wissen: der Vater wird die Geburt seines Kindes vielleicht nicht mehr erleben.“

Ein kurzer Laut läßt die alte Dame Edith näher ansehen; das Mädchen ist so bleich geworden wie das Batistkleid, das sie trägt.

„Ach, das hätte ich Ihnen ja nicht erzählen dürfen, Kindchen,“ sagt verlegen die Gräfin, „es ist gar nichts für Sie; ich hin alt und plappere so alles heraus – die kleine Frau vertraute mir das an unter vielen Thränen – ich traf sie, während Sie draußen saßen im Lesezimmer, ihr Mann schlief – – immerhin, sie kann wenigstens die Beruhigung haben an dem Schmerzenslager des Gatten, daß der große Besitz dem Kinde erhalten bleibt, daß sie selbst nicht heimatlos wird. Ja, Gott gebe ihr einen gesunden Buben, ich wünsche es so von ganzem Herzen.“

„Und wenn es ein Mädchen ist, wenn –?“ stottert Edith, mit Purpurglut übergossen.

„Gleichviel! Es ist nicht an den Mannesstamm gebunden, das Rittergut, es ist sogenanntes Weiberlehn; an die Waldenbergs kam es ja auch durch die Mutter des jetzigen Besitzers, früher war es eine Wülffensche Besitzung.“

Edith schweigt. Ein Diener bringt köstliche Erdbeeren mit Zucker; dem jungen Mädchen aber ist es nicht möglich, eine davon zu essen. Sie fühlt sich körperlich völlig elend durch diese Mitteilung, die gleichbedeutend ist mit einem Entsagen auf Edi für immer.

„Sie sind noch angegriffen von der Reise, Töchterchen,“ sagt die Gräfin liebenswürdig, „so ein alter Körper hält wahrhaftig mehr aus. Ich lasse Sie erst in der sechsten Stunde fort, die Hitze ist doch um die Mittagszeit schon recht fühlbar, und außerdem wird mein Mann Sie gern sehen wollen. Er behauptete heute früh schon, Ihr schönes Gesichtel fehle ihm am Kaffeetisch. Legen Sie sich ein wenig in meinem Zimmer auf die Chaiselongue, dann sind Sie wieder strahlend frisch, wenn er kommt.“

Edith geht gehorsam und legt sich auf das Ruhebett der alten Dame in die großen gelbseidenen, mit Volants garnierten Kissen und schließt die Augen. Ihr ist ganz schwindlig geworden. Gottlob, daß sie allein sein kann! Hinter ihrer Stirn jagen sich wild die Gedanken, zuletzt bleibt ihr nur noch das Gefühl der Ergebung in das Unvermeidliche, ohne Widerstand, ohne Gnade. An ein Leben, auf eigene Kraft erbaut, denkt sie nicht, weil ihr diese Möglichkeit niemals gezeigt wurde, weil sie sich eine Frau, die selbständig für sich sorgt, stets als ein Wesen untergeordneter Art vorgestellt hat. Die einzige Rettung für sie ist die Heirat, und die einzige anständige Partie, die sich ihr, dem armen Mädchen, bietet, ist – Mohrmann.

Als sie nach einer Stunde die Stimme des Grafen hört, steht sie auf und tritt wieder zu den alten Herrschaften.

„Ach,“ sagt die Gräfin befriedigt, „jetzt sehen Sie wieder wie sonst aus; was thut nicht so ein bißchen Ruhe!“

Und Edith plaudert noch ein wenig, neckt sich mit dem alten Herrn und geht dann unter ihrem großen roten Sonnenschirm Wartau wieder zu, mit hastigen Schritten, als versäume sie etwas. Sie ist erregt und rosig erglüht von dem raschen Gange, als sie in den Flur des Schlosses tritt, in dem schon leichte Dämmerung liegt; sie hat nie reizender ausgesehen – der Hut hängt ihr am Arm, die Löckchen über der Stirn sind ein wenig verweht, und sie ist auf der Reise voller, größer geworden.

Und Anton Mohrmann steht auf der Schwelle seines Zimmers, eben zurückgekehrt von Drottlingen, müde und abgespannt, um Jahre gealtert seit den letzten Monaten. Sie ist so plötzlich eingetreten, daß er die unwillkürliche Fluchtbewegung unterdrückt und stehen bleibt, wie aus Stein gemeißelt. Auch ihr Fuß stockt, und so verharren beide einen Augenblick und sehen einander an. Ediths Augen senken sich langsam, ein Zittern fliegt über ihre Glieder. Etwas unendlich Rührendes liegt in ihrer hilflosen Verlegenheit, und er hat all diese Zeit hindurch immer nur daran gedacht, wie sie ihn liebt, wie sie sich nach ihm sehnt und – er ist ja frei, frei, und er fühlt die heilige Pflicht, das Mädchen, dessen Herz er weckte, an das seine zu ziehen – wenigstens diese eine Schuld zu sühnen!

„Komm’, Edith,“ sagt er und führt sie in das Zimmer, wo die Rokokotänzer in ihren verschnörkelten Stellungen an den Wänden schweben.

Einen Augenblick hat sie hastig widerstrebt, dann, wie sich besinnend, ist sie ihm gefolgt, und nun hat er sie an sich gezogen, und seine große zitternde Hand hält ihren Kopf an seine rasch atmende Brust gepreßt.

„Edith, bist du so wiedergekommen wie du gingst? Denkst du noch ebenso? Sag’ es, Kind, du hast vielleicht fern von mir anders fühlen gelernt? Sag’s ehrlich! Ich weiß ja, deiner Jugend gegenüber bin ich ein alter Mann, der Schweres hat durchkämpfen müssen – sag’s ehrlich!“

Sie rührt sich nicht, es geht nur ein leises Beben durch ihre Glieder.

„Willst du bei mir bleiben, Edith? Ist’s wahr, was mir Tante Tonette verriet, daß du meiner gedacht hast da draußen alle Tage?“

Da hebt sie den Kopf. „Ja!“ sagt sie kurz und hastig, „bitte, erkläre du es Tante, daß – –“

„Gleich?“ fragt er, befremdet durch ihre schroffe Art.

„Ja – gleich, ich bitte dich!“

Er küßt sie auf den Mund, dann geht er. Sie tupft mit dem Batisttuch auf die Lippen, als brenne sie der Kuß, und sieht sich mit kalten zornigen Augen um. Die koketten Gestalten da an der Wand scheinen höhnisch zu kichern und auf sie zu deuten, und sie schließt die Augen und setzt sich in eins der spindelbeinigen Sesselchen, schlägt die Hände vor das Gesicht und weint, stoßweise, heftig, wie sie als Kind geweint, wenn sie ihren Willen nicht bekam und sich in den eines andern fügen mußte. Und dann stürzt Tante Tonette herein, hustend, kurzatmig, und hält sie umschlungen und streichelt sie, küßt sie und gebärdet sich wie närrisch.

„Böse sollt’ ich dir sein? Wie hast du die alte Tante genarrt! Warte nur, ich gedenk’s dir, mein Liebling, süßer, vernünftiger – Gott segne dich!“

Als man sich spät am Abend trennt, hat Tante Tonette feierlich ausgemacht, daß die Verlobung geheim gehalten wird, daß Edith und sie in irgend eine stille Sommerfrische gehen, daß die Hochzeit zu Ende November stattfinden soll im kleineren Kreise und daß Anton unterdes den sehr umfassenden, aber höchst nötigen Reparaturbau des Schlosses vornimmt. Und als Tante Tonette sich bereits in süßen Träumen wiegt, als Edith mit einem trotzigen Zug um die Lippen schon schläft, da sitzt drunten im Wohnzimmer ein großer blonder Mann auf Christels Fensterplatz und starrt hinaus mit blassen müden Zügen nach dem Garten, der in grellem Mondschein liegt.

Anton hat zu allen diesen Vorschlägen, die über ihn hereingestürzt sind wie ein rauschender Wasserfall, immer nur Ja! gesagt. Er ist noch wie betäubt. Die alte Dame kommt mit so bestimmten und durchdachten Forderungen, sie muß sich alles längst überlegt haben. Es thut ihm beinahe weh, aber er sagt Ja! und Edith schweigt. Nichts weiter empfindet er als die Sehnsucht nach dem Frieden, den er verlor.

Und wie er sich müht, diesen verlornen Frieden seiner vergangenen Tage in der Erinnerung wieder zu beschwören, da will ihm scheinen, als verkörpere er sich in der Gestalt eines großen blonden Weibes mit gutem Lächeln auf den Lippen und treuen blauen Augen, das schemenhaft an ihm vorübergleitet, zu der Thür des Zimmers hinaus, über die Freitreppe, den Hof, und dort in der Einfahrt zerfließt es und verschwindet.

Sein Frieden, sein Glück ist fort, er hat es, er selbst hat es verstoßen.

„Christel!“ stöhnt er.