Aus dem Herzensleben einer geistvollen Frau
Die Jägerstraße in Berlin hat noch heute inmitten des brausenden, hastigen Treibens der Geschäftsgegenden der großen Stadt einen überwiegend friedlich-heiteren Charakter. Am Ausgang des vorigen Jahrhunderts konnte man sie einsam und vornehm nennen. Eins ihrer behäbig erbauten Häuser wurde damals von der reichen jüdischen Familie Levin bewohnt, und seit Jahren schon war es fast Tag um Tag, an einzelnen Abenden in der Woche besonders, das Ziel meist vornehmer Besucher. Und noch Jahre lang später sollte es in dieser Weise sich ausgezeichnet sehen. Equipagen rollten vor mit männlichen und weiblichen Angehörigen der aristokratischen und diplomatischen Kreise; in den Zimmern der Familienwohnung fanden sich des Abends immer wechselnde Gruppen aus der Welt des geistigen Adels ein. Unzählige Berühmtheiten, die man heute nicht mehr nennt, wie solche, deren Namen die Zeit noch nicht verwischen konnte – ein Humboldt, Schleiermacher, Prinz Louis Ferdinand, Schlegel, Gentz, Varnhagen, Tieck, Fouqué – sind dort ein- und ausgegangen; ausgezeichnete Fremde aus allen Ländern haben sich fort und fort daselbst Stelldichein gegeben. Kein zweites Haus in Berlin war so lange und so ausgesprochen ein Mittelpunkt vornehmer Geister und Menschen, wie dieses.
Und wie oft stiegen die enger Befreundeten aus diesen weitgezogenen Kreisen in die Dachzimmer hinauf, wo in einer dieser „Mansarden“ in aller bürgerlichen Einfachheit Diejenige wohnte, welche einzig und allein die Anziehungskraft des so vielbesuchten Hauses bildete – die Tochter, Fräulein Rahel Levin, immer nur einfach Rahel genannt, und als solche von den Hervorragendsten unter ihren Zeitgenossen gekannt und verehrt.
Die Ursache einer so großen und andauernden, einer so außergewöhnlichen Wirkung dieses Weibes auf Alle, die ihm nahe kamen, lag nicht etwa in einem begehrenswerten Reichthum desselben; denn Rahel hielt mit einem ihr ausgesetzten Jahreseinkommen von nur zwölfhundert Thalern diesen glänzenden Hof, und in dem Hause gab es keinerlei Feste des materiellen Wohllebens. Sie war auch nicht schön, selbst nicht in den Blüthenjahren ihrer Jugend. Sie selber schildert sich einmal allzu abfällig in ihrer Erscheinung: „Ich habe keine Grazie. Das denk’ ich schon sehr lange. … Doch es ist ausgemacht, daß ich eklig bin … ich bin unansehnlicher als häßlich.“ Dennoch, wenn man ihre Büste anschaut, wie sie in ihrem fünfundzwanzigsten Jahre der Meißel Friedrich Tieck’s in marmornen Relief darstellte und wie sie in photographischer Abnahme eine neueste Sammlung ihres Briefwechsels[1] schmückt, so wird man frappirt sein von der classischen Pracht dieses Kopfes mit einem Antlitze, durchleuchtet von Geist.
Nichts als ihr Geist war denn auch der Magnet, der so zauberhaft wirkte und sie zu einer Hohenpriesterin inmitten einer stets sich erneuenden Gesellschaft machte, wo das Schöne und Edle in der Menschennatur seinen weihevollen, fast enthusiastischen Cultus fand. Dies allein machte sie von ihrer Jugend bis zur sechszigjährigen Frau zum „Salz und Quirl“ eines glorreichen Geisterkreises. „Ueberall,“ so suchte ihr späterer Gatte Varnhagen das Geheimniß ihres wunderbaren Einflusses zu enträthseln, „Natur und Geist in frischem Wechselhauche, überall organisches Gebild, zuckende Faser, mitlebender Zusammenhang für die ganze Natur, überall originelle und naive Geistes- und Sinnesäußerungen, großartig durch Unschuld und durch Klugheit, und dabei in Worten wie in Handlungen die rascheste, gewandteste, zutreffendste Gegenwart. Dies Alles war durchwärmt von der reinsten Güte, der schönsten, stets regen und thätigen Menschenliebe, der lebhaftesten Theilnahme für fremdes Wohl und Wehe. Die Vorzüge menschlicher Erscheinung, die mir bisher einzeln begegnet waren, fand ich hier beisammen: Geist und Witz, Tiefsinn und Wahrheitsliebe, Einbildungskunst und Laune, verbunden zu einer Folge von raschen, leisen, graziösen Lebensbewegungen, welche, gleich Goethe’s Werken, ganz dicht an der Sache sich halten, ja diese selber sind, und mit der ganzen Macht ihres tiefsten Gehaltes augenblicklich wirken;, neben allem Großen und Scharfen quoll aber auch immerfort die weibliche Milde und Anmuth hervor, welche besonders den Augen und dem edlen Munde den lieblichsten Ausdruck gab, ohne den starken der gewaltigsten Leidenschaft und des heftigsten Aufwallens zu verhindern.“
Stürmische Leidenschaften in Männerherzen, wie die innigsten verehrungsvollen Neigungen haben sie in jungen Mädchenjahren und lange darüber hinaus umworben; in stürmischen Leidenschaften und in seelenvoller Hingebung hat Rahel darüber ihre reiche Herzenswelt bis in alle geheimsten Tiefen aufgerührt gefühlt. Als Muster wollen wir diese Wechsel gewaltiger Herzensstürme nicht aufstellen. Aber Genialitäten, wie die Rahel’s, bilden eben Ausnahmen, und man darf sie nicht mit dem Maßstab der Durchschnitts–Philisterhaftigkeit messen wollen; in der Vergeistigung ihres ganzen Wesens, wie sie ihr eigenthümlich gewesen, gingen alle Empfindungen Rahel’s über das Maß des Alltäglichen hinaus, in’s Dämonische, in nervöseste Schwingungen, in einen Kampf mit sich selbst und mit der Wirklichkeit der Dinge, in dem sich wie selten die Wahrheit und das Geheimnißvolle einer zu reifster und höchster Entfaltung gekommenen weiblichen Natur offenbart.
Im Jahre 1796 kam in das Levin’sche Haus in der Jägerstraße auch der junge Graf Karl von Finckenstein, der Sohn des damaligen preußischen Staatsministers. Er war vierundzwanzig Jahre alt, ein schöner, junger Mann von gewinnender Liebenswürdigkeit, von Gemüth und Bildung. Hellblonde Haare umlockten sein Antlitz und fielen nach der Pariser Mode jener Tage nach hinten auf die Schultern, nach vorn in die Stirn herab. Mit blauen Augen, fein geformter Nase, einem anmuthigen Kinn, erschien sein Gesicht, bartlos wie es war, fast mädchenhaft anmuthig. Rahel war im fünfundzwanzigsten Jahre und noch hatte sie nicht geliebt. Aus ihrem so reichen, schon vom sechszehnten Lebensjahre her gesammelten und so außerordentlich geständnißreichen Briefwechsel verräth nichts eine ernstere Neigung vor der Bekanntschaft mit Graf Finckenstein. Um so mächtiger erfaßte sie jetzt die Gluth der Leidenschaft zu diesem, der sie durch sein Bewerben aufgerufen hatte. Er erkor sie zu seiner Braut, zum Trotz seiner Familie, die in eine solche ihr unebenbürtig scheinende Verbindung nicht willigen wollte; er huldigte ihr wie dem Ideal seines Lebens, von dem keine Macht der Erde ihn trennen könne, und sie, nachdem das aus dem Schlummer geweckte Verlangen nach Liebe sie mit aller Leidenschaft erfüllte, ging in derselben mit ihren ganzen Wesen auf, Sein oder Nichtsein in der Weihe dieser höchsten Empfindung suchend. Zwei Jahre lang tauschten sie sich die Sehnsucht und die Hoffnung ihrer Herzen aus; die süßesten Geständnisse der Liebe legte Finckenstein derjenigen zu Füßen, die ihm das Höchste im Leben bedeutete; die innersten Falten ihrer Seele enthüllte ihm Rahel unter der Wonne und Qual, die ihr eine Leidenschaft bereitete, deren unglücklichen Ausgang sie schon ahnte. Während dieser Zeit war der junge Graf zu diplomatischem Dienst nach Rastatt auf den Congreß geschickt worden. Er hatte die Briefe Mirabeau’s an Sophie gelesen, und bewundernd schrieb er darüber an Rahel: „Diese Wahrheit, diese Tausendseitigkeit, diese Klarheit, diese Energie der Empfindung fand ich im Leben nur bei Dir, mein geliebter, einziger Engel; auf jeder Seite habe ich an Dich gedacht, alles erinnerte mich an Dich und an das, was Du für mich sagtest und dachtest und empfindest und thatst, was wie mit Feuer in meine Seele geschrieben steht.“ Ihre geistige Ueberlegentheit war ihm längst Ueberzeugung und bildete seinen Stolz. „Wäre ich nicht ein elender, nichtswürdiger Mensch, wenn mir das Glück eines Wesens nicht am Herzen läge, das für mich Alles that, was ein Mensch nur für den andern thun kann?“ „Wer mit Dir gelebt hat, wie ich, kann den Eindruck Deines Wesens nie verlieren, nichts in der Welt kann ihm das ersetzen, was er bei Dir hatte; Du hast meine Bildung vollendet und mußtest sie vollenden; Du hast meinem Wesen Charakter, Gestalt gegeben, indem Du Allem, was noch so todt und unbewegt in ihm lag, Leben und Bewegung gabst und es mit dem Bilde Deines Wesens ausprägtest.“
Ueberschwänglich, wie sie fühlte, rief sie in ihren Briefen nach ihm mit verzehrender Sehnsucht. Aber die Zaghaftigkeit und Leichtfertigkeit seines Wesens marterte und empörte sie doch [049] auch; sie wußte schon, daß Finckenstein dem Willen seiner Familie sich fügen und sie trotz seiner Schwüre verlassen werde, daß ihr Verhältniß mit ihm ein „abgetragenes“ sei. „Wenn Du mich in Verzweiflung siehst, hast Du Mitleid mit mir; sage nichts.“ Sie gab ihn frei, sie gab ihm sein Wort zurück und er nahm es mit der Beschämung eines als schwächlich erkannten Charakters. In ihrem edlen Stolze und in der hohen Meinung, die sie von sich hegte, entsagte sie ihm, weil sie kein gemachtes, falsches Glück wollte. Noch bis Anfang 1800 ertrug sie sein unnützes Klagen, daß er sie verlieren solle; dann gab sie ihn für immer auf.
Doch sie begrub diese Liebe nicht zu den Todten; ihre davon erfüllte Natur entlud sich in Schmerz und Ungestüm und begehrte einen anderen, ihrer würdigen Gegenstand zu umfassen. „Liebe thut wohl,“ schrieb sie sich in ihr Tagebuch. „Man merkt es gleich, wenn sie Einem entzogen wird. Wir leben gleichsam in einer allgemeinen Kälte, wir wissen es oft nicht, wer in unserer Nähe uns vor der kalten Luft schützt, bis er sich entfernt und uns ihr aussetzt, wie in einem wirklich kalten Zimmer, wenn einer, der neben uns saß, den Platz verläßt.“ In der gewonnenen Erkenntniß ihres Herzensreichthums, mit dem sie zu lieben vermochte, klagte sie den Schmerz darüber aus, sich mit all dieser Liebesfülle doch nicht das Glück ihres Lebens verschaffen zu können.
„Lieben muß ich,“ gestand sie sich, „und es ist ja echt menschlich, daß nach dem Zusammenbruche einer Hoffnung des Herzens dasselbe um so sehnsüchtiger nach einer anderen verlangt, die öde Leere, nun so fühlbar, wieder auszufüllen.“ Nach dem Bruche mit Finckenstein erkrankte Rahel schwer, und unternahm, als sie wieder genesen, eine Erholungsreise nach Paris. Es war Anfangs des Jahres 1801. In den gesellschaftlichen Cirkeln, die sich ihr dort eröffneten, lernte sie einen jungen Hamburger kennen, einen Kaufmann Bokelmann, aus angesehener Familie seiner Vaterstadt. Die Verehrung, welche er ihr entgegentrug, bildete für Rahel den Trost, den sie suchte; die Liebe, welche Finckenstein getäuscht, rankte sich an diesem hübschen, jungen und gebildeten Manne schnell wieder zu neuer Hoffnung empor. Die Leidenschaft, wie sie zuerst emporgelodert, stolz und mächtig ihre Flammen geworfen, die war wohl dahin; doch unter der Asche lag noch die Gluth. In solch ruhiger Innigkeit ging ihre Liebe zu Bokelmann auf und beglückte sie, weil er sie erwiderte. Aus einer „Gruft von Glück“ erhob sie sich, um nochmals auf das Glück des Lebens zu vertrauen. Sie wünschte, sie hoffte auf seinen Besitz und, wie immer, machte sie aus ihren Empfindungen und Gedanken kein Hehl. Bokelmann war nach Spanien gereist, und Rahel, noch immer in Paris, drückte ihm in solcher Offenherzigkeit ihre Sehnsucht nach ihm aus: „Wundern Sie sich nicht; ich kann dem Strome in mir nicht widerstehen. Was ich auffasse, umfasse ich in dem ganzen Umfange, der für mich da ist, und in meiner ganzen Tiefe, gleich, sehr geschwind.“ Bei alledem aber auch gegen ihn der weibliche Stolz, den sie dem Grafen Finckenstein bezeigte; auch an Bokelmann schreibt sie: „Ich fordere Nichts von Ihnen, nichts, auch im tiefsten Innern nichts – als daß Sie glücklich sein sollen, frei, frei nach allen Seiten hin.“
Aber das gehoffte Wiedersehen mit dem neuen Freunde, der in Cadix blieb, fand nicht statt, Rahel ahnte, daß auch diesmal nur eine Täuschung ihrer Liebe ihr beschieden war; sie wollte wenigstens Bokelmann’s Freundschaft behalten. „Werd’ ich Ihnen in jedem lebendigen Spiel im Leben immer gegenwärtig sein, oder muß ich meinen Freund verlieren?“ – Dennoch erklärte sie, „sogar des lieblichsten Genusses Glück zu entsagen“, ihn nicht wieder sehen zu wollen. „Nur verändern Sie sich nicht, verstehen Sie mich immer, daß ich Ihnen Alles sagen darf; haben Sie keine Vorurtheile, bleiben Sie in jedem Sinne des Wortes frei. Dies ist mein Wunsch, meine Angst, mein Schmerz für dieses Leben; das Gegentheil – mein Stolz, mein Glück.“ Nur nichts weis machen, bat sie ihn, nur nicht lügen!
Dazu war Bokelmann zu ehrenhaften Charakters; aber er verhehlte ihr doch nicht, daß sie auf eine Ehe mit ihm nicht rechnen möge, oder doch auf längere Zeit nicht. So entsagte Rahel nach einer zweijährigen Bekanntschaft mit diesem Manne wieder einer Hoffnung, und blieb auch noch ein Rest derselben in ihrem Herzen, ihr Verstand hatte bereits die Lage wieder beherrscht, das bezeugt ihr letzter Brief an Bokelmann. „Ich erschrecke nicht, daß Sie mir sagen, Sie werden so lange wegbleiben; ich dachte es mir nie anders und halte unsere Trennung überall einmal als eine Trennung. Ich weiß nicht, was gut wäre, da die Dinge einmal sind. – Jetzt ist es auch mir lieb, Sie nicht wiedergesehen zu haben, und ich betrog willig bei Ihrer Abreise mein schmerzensreiches Herz. (Es läßt sich doch betrügen.) Jetzt ist Alles wieder ohne Wunden und ohne Thränen; schon lange. Ich bin auch etwas grausam geworden; Ihr Schmerz scheint mir kein rechter. Und dann scheinen Sie mir so glücklich gegen mich. Und, wenn Sie wollen, kommen Sie wieder. Es wird Ihnen und mir noch viel Leben indessen zukommen; seien wir immer vergnügt, vielleicht wär’s hübscher nur häßlicher. Davon bin ich ganz durchdrungen; so muß ich jetzt denken.“
Bokelmann wurde in Cadix dänischer Consul, kam dann 1806 nach seiner deutschen Heimath zurück und erhielt das dänische Generalconsulat in Hamburg. Erst im Jahre 1820 verheirathete er sich mit einer Amsterdamer Banquiertochter.
Inzwischen, kaum daß sie ihrer Hoffnung auf Bokelmann entsagt, wurde Rahel dennoch von einer neuen Liebesleidenschaft ergriffen, so gewaltig, so ihr ganzes Wesen erfüllend und verzehrend, daß man in der That hier vor einem psychologischen Räthsel steht. Aber es löst sich, wenn man die Rahel’sche Natur in einer so hochwogenden Bewegung sich vorstellt, daß ihr die Sammlung noch nicht möglich geworden. Ihr aufgerufenes Bedürfniß nach Liebe, zweimal getäuscht, erhob sich nun ein letztes Mal mit der Gewaltsamkeit, ja Großartigkeit der Verzweiflung. Ein fieberhafter Liebeswahnsinn kam über sie, dem sie immer wieder, noch nach Jahren, beim Anblick und beim Gedanken an den Geliebten verfiel, wie sehr ihre Vernunft und selbst ihr weiblicher Stolz sich auch dagegen wehren mußte. Bis zur Aufdringlichkeit und Wegwerfung ihrer Würde vermochte diese Leidenschaft sie hinzureißen. Es wäre besser gewesen, man hätte diese Briefe nicht abgedruckt. Rahel hatte zuerst geliebt mit geistiger Ueberlegenheit; dann, um sich mit einem ebenbürtigen Geist in Harmonie zu setzen. Jetzt liebte sie einen geistig ihr Untergeordneten, um sich von ihm quälen und willenlos förmlich mißhandeln zu lassen. Begreife, wer es begreifen kann, aber eine Verirrung weiblicher Liebesbedürftigkeit war und blieb es jedenfalls, daß eine Rahel von einem Phantom des Glückes mit diesem Menschen träumte.
Der Geliebte, der einen so wunderbaren Zauber auf sie übte, war Don Raphael d’Urquijo, ein junger, heißblütiger Spanier, der als Legationssecretär 1802 nach Berlin kam und in den Rahel’schen Salon eingeführt wurde. Er war schön, und seine Schönheit vor Allem war es, die Rahel’s Herz und Sinne in Fesseln schlug. „Ich liebte ihn bis zur Tollheit,“ gestand sie sich nach Jahren selber; „denn er, sein Anblick, war mir das Jetzt und das Künftige.“ Und so spricht es auch aus ihren Briefen an ihn; es sind Hymnen weiblichster Liebe, Bloßlegungen eines verstörten, sehnsuchtsvollen, von Leidenschaft überwältigten Herzens, wie die deutsche Literatur kaum noch ähnliche besitzt und die in dem Geheimsten eines weiblicher Gemüthes zu lesen verstatten. „Süßer Liebling!“ schreibt sie ihm. „Nein, Du weißt doch nicht, wie Du mir gefällst, wie ich Dich liebe! Die tiefste Seele ist mir bei Deinem Anblick erregt, und immer neu, immer eben so heftig. Dies macht mein Glück. Du sprichst zu meinem Herzen. Deine Gestalt, Deine Miene rührt es, und es irrte sich nicht; es erkannte einen Engel, den meine ganze Seele liebt. Ein ewiges süßes Schmeicheln, einen ununterbrochenen Zauber gewährt Dein bloßer Anblick meinen Sinnen. Du gefällst mir immer, Du! O, lieblicher Freund, kenntest Du auch dieses Glück. Die Hälfte besitzest Du, Geliebter; Du liebst mich ja, und vertraust mir nun. Nun wirst Du meine Seele erst sehen: meine reine innige Liebe!“
Urquijo liebte sie indessen sicherlich nur in flüchtiger Neigung und folterte sie mit seiner Eifersucht, weil sie diese für den Beweis seiner Liebe hielt. So beugte er das stolze Weib, daß es sich sclavisch allen seinen Launen unterwarf. Nichts erschütterte die fatalistische Zuversicht in ihr; nicht, daß Urquijo sie beleidigte durch Mißachtung; nicht, daß er mit leichten Damen Verbindungen hatte und neu anknüpfte; nicht, daß er schließlich aus seiner diplomatischen Laufbahn geworfen wurde und ihr aus dem Wege zu gehen suchte. „Ich kann keine Frau beneiden, mit der er in Verbindung wäre,“ schrieb sie noch 1806 in ihr Tagebuch; „ich kann mir ihn auch gegen eine Andere nicht liebend [050] denken, und liebte er auch Eine bis zum Wahnsinn, ich würde sie mir doch nicht glücklich vorstellen, denn dieses Liebesfieber, diese völlige Befriedigung im Anschauen seiner Person kann Keine wieder haben. Zweimal giebt es nichts.“ Sie erklärte offen in einem Briefe vom Jahre 1808, daß man „so erniedrigend sich auch in der größten Leidenschaft nicht vom Schmerze auseinander zerren und herumschleppen lassen dürfe“; und doch, als sie vier Jahre später zum ersten Male wieder Urquijo’s Briefe an sie las, empfand sie noch immer „den festen Zauber des Verliebtseins“ und „daß Alles, was von ihm kommt, ihr ewig, einzig wichtig bleiben wird und ist.“ Ein paar Tage darauf sah sie ihn gealtert, halb verkommen, noch einmal wieder in ihrer Wohnung. Sie fragte ihn, ob er wirklich, als er sich von ihr getrennt, des Glaubens gewesen, daß sie ihn getäuscht hätte. „Gott bewahre!“ rief er. Und da erst, als er sich in solcher Art förmlich lustig über ihre früheren Qualen machte, sah sie in den Abgrund der Verachtung, in den nun diese Liebe sank. „Und dieser Mensch, dieses Geschöpf,“ rang es sich ihr ab, „hat den größten Zauber über mich geübt. Als er aus dem Zimmer war, fiel ich laut schreiend, das Herz gegen die Rippen gesprengt, hin und frug Gott, ob man ein Herz veräußern könnte, er wüßte ja, daß man ohne Herz nicht weiter leben kann!“
Ein Jahr zuvor, im Mai 1811, kurz vor seinem frühen Tode, hatte Rahel auch Finckenstein noch einmal bei sich gesehen und in einem ähnlichen Aufschrei der Liebe zu ihm noch ein letztes, wildes, verzweiflungsvolles Lebewohl nachgerufen. „Dein Mörder, dacht’ ich, und blieb sitzen. Thränen kamen mir in den Hals und zu den Augen, da ich ihn ganz ruhig, ganz beruhigt über mich, sitzen sah. Wie eine ihm zugestandene Creatur fühlte ich mich, er hat mich verzehren dürfen. Er, mich! Gott soll es ihm verzeihen, er soll es sich verzeihen – dies Gelübde halt’ ich gewiß; rächen will ich mich auch nie! Ich kann es ihm nicht verzeihen! Wenn ich nicht ein ganz neues Herz kriege, mit diesem nie!“
In einem solchen sechszehnjährigen Liebessturme war ihre Seele heimgesucht worden. Dann war es Varnhagen’s treue, verehrungsvolle Liebe, die sie seit Jahren trostreich und stärkend auf sich wirken gefühlt, welche sie 1813 in den Hafen der Ehe führte – eine geistig gegenseitig beglückende Ehe, der ihre letzte Liebe gehörte. In heiterer Ruhe nach dem Sturme schrieb sie 1818 ihrem Bruder: „Nicht unsere erste, wie das Sprüchwort heißt, sondern unsere letzte Liebe ist die wahre: die nämlich, welche alle Kräfte dazu nimmt.“
- ↑ „Aus Rahel’s Herzensleben“. Briefe und Tagebuchblätter, herausgegeben von Ludmilla Assing. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1877.