Aus dem Leben Philipp Melanchthons
Es war am 25. August des Jahres 1518, als in Wittenberg auf einem Rößlein ein schlichter Reisender eintraf. Er war so zierlich gebaut, daß er für einen achtzehnjährigen Jüngling gehalten werden konnte, obwohl er schon sein einundzwanzigstes Lebensjahr überschritten hatte. Eher klein als groß im Wuchs, hielt er die eine Schulter höher als die andere. Schüchtern im Auftreten machte er einen unansehnlichen Eindruck, aber die großen hellen Augen unter der hohen gewölbten Stirn verliehen seinem Angesicht einen sinnigen, ernsten Zug, sie verrieten einem erfahrenen Beobachter, daß in dieser unscheinbaren körperlichen Hülle ein großer und klarer Geist wohnen müsse.
In der That war dieser Fremdling trotz seiner Jugend bereits ein hochberühmter Mann, und er war nach Wittenberg gekommen, um als Lehrer an der Universität zu wirken. Als Kurfürst Friedrich der Weise für den griechischen Lehrstuhl der neugegründeten Hochschule einen hervorragenden Gelehrten suchte und Umfrage in Deutschland hielt, konnte man ihm keinen besseren „Griechen“ nennen, als den jungen Philipp Melanchthon. Schon wenige Tage nach seiner Ankunft, am 29. August, hielt er seine Antrittsrede, in welcher er die notwendige Reform der Universitätsstudien predigte. Da gewann er die Herzen der Wittenberger, und vor allen hieß ihn Martin Luther willkommen, denn vom ersten Augenblick an erkannte er die hohe geistige Bedeutung des Mannes, der später zu seinem Mitarbeiter und Freunde wurde und von dem er so treffend gesagt hat, daß er ein Grieche, ein Lateiner, ein Hebräer, ein Deutscher war und nie ein Barbar!
Von jenem Tage an wurde Wittenberg zur zweiten Heimat Melanchthons, der er treu bis an sein Lebensende blieb, obwohl seine Wiege fernab von den Ufern der Elbe in der fröhlichen Pfalz gestanden hatte. In dem Städtchen Bretten, das heute an der Grenze zwischen Baden und Württemberg liegt, erblickte er am 16. Februar 1497 als Sohn des Waffenschmieds Schwarzerd oder Schwarzert das Licht der Welt. Seine Mutter war eine Nichte des berühmten Gelehrten Johannes Reuchlin, und dieser Verwandtschaft hatte es der kleine Philipp zu danken, daß ihm im väterlichen Hause eine für die damalige Zeit ausgezeichnete Bildung zuteil wurde. Mit zwölf Jahren bezog Philipp nach seines Vaters Tode die Universität Heidelberg, wo er Philosophie und die klassischen Sprachen studierte und so glänzende Fortschritte machte, daß er mit seinem fünfzehnten Lebensjahre Baccalaureus der freien Künste wurde. Seinen Familiennamen Schwarzerd übertrug er nach der unter den Gelehrten jener Zeit herrschenden Sitte ins Griechische und nannte sich fortan Melanchthon, welches Wort er später des Wohllauts wegen noch in Melanthon umwandelte. Bei der Nachwelt ist ihm jedoch der Name Melanchthon, unter dem er zuerst berühmt wurde, verblieben.
Bald nach der Erlangung des Baccalaureats bewarb er sich um die höhere Magisterwürde, die ihm das Recht geben sollte, als Lehrer aufzutreten, aber die Heidelberger glaubten ihm dieselbe versagen zu müssen, nicht etwa wegen mangelhaften Wissens, sondern wegen des „noch so jungen Ansehens“. Betrübt verließ Melanchthon Heidelberg und wandte sich nach Tübingen, wo er, siebzehn Jahre alt, die ersehnte Würde erlangte und aus dem Schüler zum Lehrer wurde. Der junge Magister bewegte sich aber keineswegs in den alten ausgetretenen Bahnen, er wollte frei forschen und zur freien Forschung anleiten, das erregte Mißstimmung, und diese und jene seiner Vorlesungen wurde bekrittelt oder gar verboten. Da kam ihm der Ruf nach Wittenberg wohl als eine Erlösung. Dort fand er die nötige Freiheit zur Entfaltung seines Wissens und Könnens, zum Ausreifen seiner reformatorischen Gedanken. Unter den großen Männern aus dem Zeitalter der Reformation stellt ihn die Geschichte auf den Ehrenplatz an die Seite Martin Luthers, dessen Freund, Mitarbeiter und Berater er war. Was er in dieser Hinsicht gethan, ist allgemein bekannt und wird unvergessen bleiben.
Heute, da der Tag seiner Geburt zum vierhundertstenmal wiederkehrt, da ein Melanchthonjubiläum in weiten Kreisen des deutschen Volkes gefeiert wird, erwacht auch das Verlangen, die Gestalt des großen Mannes, wie er lebte und wirkte, sich zu vergegenwärtigen, ihn bei seiner geistigen Arbeit zu belauschen, ihn in seinem Heim aufzusuchen und jene leisen Züge im Thun und Handeln ins Auge zu fassen, durch die man Einblicke in die Eigenschaften des Charakters und in die Tiefen des menschlichen Herzens gewinnt.
Melanchthon war ein Mann, dessen Sinnen und Trachten im vollen Umfang der Wissenschaft gewidmet war. Er dachte nicht daran, zu freien und einen Hausstand sich zu gründen. Als die Freunde ihn dazu drängten, erwiderte er. „Ich müßte meine Studien abkürzen und mich so meines höchsten Genusses berauben.“
Aber seine Freunde wollten ihn an Wittenberg fesseln und verheirateten ihn schon zwei Jahre nach seiner Uebersiedelung in die Elbestadt. Melanchthon „bekam“, wie er sich selbst ausdrückte, „Katharina Krapp“ zur Frau. Sie war die Tochter des Wittenberger Bürgermeisters, zart und zierlich wie ihr Gemahl und in gleichem Alter mit ihm.
Reichtum war dem jungen Ehepaare nicht beschieden, denn der Professor des griechischen Lehrstuhls an der Universität zu Wittenberg hatte Jahre hindurch einen Gehalt von nur einhundert Gulden. Sehr anschaulich schildert Dr. Paul Kaiser in seiner Jubelschrift „Philipp Melanchthon“ die schlichte Einrichtung des Gelehrtenheims. In dem Wohnzimmer bildete ein großer Kachelofen das Prunkstück, die Möbel waren derb, ein großer Eichentisch, ein paar Stühle und Truhen, und [92] das Geschirr, in dem die Speisen aufgetragen wurden, bestand in Steingut. Daraus aß die Gelehrtenfamilie mit Blechlöffeln.
Auch in der Kleidung wurde kein Staat gemacht. Der Gelehrte legte keinen Wert darauf – das thun die Gelehrten oft. Melanchthon pflegte nur einen Rock zu besitzen, den er im Winter mit Pelz füttern ließ, aber auch seine Frau mußte die Sachen zusammenhalten, denn während der ersten vier Jahre ihrer Ehe konnte er ihr kein neues Kleid kaufen.
Ein Arbeitstisch, hölzerne Stühle und einfache Büchergestelle bildeten die Ausstattung seines Arbeitszimmers, und erst in späten Lebensjahren vermehrte er dieselbe um ein Sofa, das er sein „Ruhebänklein“ nannte.
Trotz seiner Notdurft war er aber stets bereit, anderen zu helfen. Er entließ keinen Armen ohne eine milde Gabe und teilte selbst sein letztes Brotstück mit dem Bedürftigen. In späterer Zeit, als sein Gehalt auf zweihundert, dreihundert und sogar vierhundert Gulden gestiegen war, besserte sich seine Lebenslage, aber in noch größerem Maße wuchs seine Freigebigkeit. An seiner Tafel sammelte er jetzt bedürftige Studenten um sich. Bei so offenen Händen kam er natürlich oft in die ihm peinliche Verlegenheit, keine Unterstützung geben zu können, weil er selber alles verausgabt hatte. Da pflegte er Ringe, Becher und andere Wertsachen, die ihm von seinen Gönnern und Freunden geschenkt worden waren, zum Goldschmied zu tragen und sie zu verkaufen, um nur Almosen geben zu können. So handelte er bis an sein Lebensende und sein Schwiegersohn Peucer sagte zu den Freunden: „Schenkt ihm nur nichts, er giebt’s doch gleich wieder weg!“
Und wie er freigebig gegen die Armen war, so war er auch gastfrei gegen seine Freunde. Er hätte ihnen immer volle Krüge und Schüsseln vorsetzen mögen, obwohl er selbst äußerst mäßig lebte, ja so wenig aß, daß diese seine Enthaltsamkeit den ihm Nächststehenden oft Sorgen bereitete.
Vor allem dachte er aber an die Erfüllung seiner Pflichten als Lehrer. Die Studenten drängten sich in seine Vorlesungen „wie ein überströmendes Wasser“, aber bei dem Mangel an Vorbereitungsschulen, der damals in Deutschland herrschte, hatten die wenigsten die nötige Vorbildung, nur dem Vortrage des Meisters folgen zu können. Da ging Melanchthon über seine Pflicht hinaus, er zog die Schüler an sich heran, nahm sie in sein Haus und gab ihnen den fehlenden Elementarunterricht. Dabei war er bestrebt, in der Jugend die Lust zum Lernen zu wecken, und veranstaltete Aufführungen klassischer Stücke, zu denen er Vorspiele dichtete.
Um diesen Pflichten und Aufgaben zu genügen und das schwierige Werk der Reformation, das er auf seine Schultern geladen, um fördern zu helfen, wußte er dadurch Zeit zu gewinnen, daß er den Arbeitstag vor Sonnenaufgang begann und nach Sonnenuntergang beschloß. Er schlief nur vier bis fünf Stunden und schon gegen zwei Uhr morgens ging er leise, um die Hausgenossen nicht zu wecken, in sein Arbeitszimmer. Und noch freigebiger als mit Geld und Brot schaltete er mit den reichen Schätzen seines Wissens. Niemand, der ihn um Rat und Hilfe bat, ging unbefriedigt davon. Professoren und Magistern verbesserte er die Vorträge, die sie halten sollten, oder machte anderen ihre Schriften reif für den Druck.
Seine Kinder, er hatte zwei Söhne und zwei Töchter, liebte er aufs innigste und war untröstlich, als ihm der kleine Georg im Alter von zwei Jahren durch den Tod entrissen wurde. Gegen sieben Uhr morgens pflegte er im Familienkreise eine kurze Andacht zu halten, dann ging er zur Universität, von wo er gegen Mittag heimkehrte, und lebte nun eine Stunde lang ausschließlich seiner Familie.
Aus diesem regelmäßigen Lebensgang wurde er in späteren Jahren vielfach herausgerissen, da er, um die Sache der Reformation zu verfechten, zu allerlei Versammlungen und Disputen reisen mußte. Auch in diesem Wirkungskreise offenbarte sich die Güte und Milde seines Gemütes; der Streit war ihm im Grunde des Herzens zuwider und er war stets zur Versöhnung geneigt.
So kam die Zeit, wo er des Streites überdrüssig und lebensmüde wurde. Viele seiner besten Freunde, zwei seiner Kinder und seine Frau waren ihm im Tode vorausgegangen, und so rüstete sich auch er zu der großen Reise ins Jenseits. Am 19. April 1560 starb er in seiner Studierstube. Sein Schwiegersohn fragte ihn, ob er noch etwas wünsche. „Nichts als den Himmel, darum fragt mich nicht mehr!“ – gab er zur Antwort. Das waren die letzten Worte Melanchthons. Seine sterbliche Hülle wurde in der Schloßkirche zu Wittenberg gegenüber dem Grabmal Luthers beigesetzt.
„Deutschlands Lehrer“ heißt noch heute Melanchthon und sein Andenken wurde in verschiedenen Städten durch Denkmäler geehrt. Eine neue Ehrung wird ihm bei der vierhundertsten Wiederkehr seines Geburtstages erwiesen.
Das Haus auf dem Markte in Bretten, in dem Melanchthon das Licht der Welt erblickt hatte, wurde im Jahre 1689 von französischen Mordbrennern bis auf die Grundmauern verwüstet. Man hatte es wieder aufgebaut und mit zwei Gedenktafeln mit deutscher und lateinischer Inschrift versehen. Das schlichte Haus soll nun einem würdigeren Bau weichen. An seiner Stelle wird sich fortan ein neues Melanchthonhaus mit einem Melanchthonmuseum und mit einer Gedächtnishalle erheben. Dank der Opferwilligkeit der Stadt Bretten ist der Baugrund gesichert und am 16. Februar soll die Grundsteinlegung zu dem Bau erfolgen. Der Plan zu demselben wurde von Professor Vollmer in Berlin entworfen. Er zeigt an seiner Nordfassade reichen architektonischen Schmuck, während die mit einem Turm abschließende Südfassade und die beiden nahe an Nachbargebäude herankommenden Seiten ziemlich einfach gehalten sind. Die Nordfassade, die eine Höhe von nahezu 30 m erreicht, schließt mit einer sinnreichen und schönen Krönung ab, die von dem Wappenbild Melanchthons, Kreuz mit Schlange, überragt wird. Es ist zu erwarten, daß bei Anlaß der Jubiläumsfeierlichkeiten dem „Verein zur Errichtung eines Melanchthonhauses in Bretten“ weitere Mittel zustoßen werden, daß auf die Grundsteinlegung bald die Vollendung und Einweihung des Baues folgen werde, durch den nicht nur der Reformator, sondern auch der deutsche Schulmann Melanchthon geehrt werden soll.