Aus meiner Pilgertasche/1. Eine Begegnung mit General Radowitz

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Autor: Ferdinand Freiherr v. Biedenfeld
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Titel: Aus meiner Pilgertasche/1. Eine Begegnung mit General Radowitz
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 422–424
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[422]
Aus meiner Pilgertasche.[1]
Von Freiherrn v. Biedenfeld.
Eine Begegnung mit General Radowitz.

Es war in der Zeit des tiefsten Schmerzes und der innersten Entrüstung aller Deutschen. Nachdem für die edle Sache von Schleswig-Holstein unter der Aegide der deutschen Regierungen und der Nationalehre viel kostbares deutsches Blut vergossen worden, hatte [423] die unglückselige Gewohnheit des Sichbeugens vor auswärtigen Einflüsterungen und Drohungen, die Verblendung der rückwärts strebenden Partei eine plötzliche Angst vor dem Wiedererwachen eines 1848 in der Phantasie mancher Gewalten erweckt, in Schleswig-Holstein eine Revolution erblickt, dessen heilige Sache aufgegeben und die Pacification über das Land verhängt. Gleichviel ob mit Recht oder mit Unrecht, das Nationalgefühl erkannte darin eine viel schmachvollere Erniedrigung des Vaterlandes, als jene unter dem Joche des allmächtigen Franzosenkaisers gewesen. Und dieser giftige Wurm nagt noch heute an dem Herzen der Deutschen.

Bei der Heimkehr von einer glänzenden Hühnerjagd auf den Grenzen zweier Staaten beredete mich mein vieljähriger Jagdfreund, General von K., bei ihm einzukehren, wo ich ein schlesisches Fräulein comme il faut finden würde, die vor Begierde brennte, den Verfasser des Buches der Rosen persönlich kennen zu lernen. So geschah denn auch. Nachdem mein unbezahlbarer Caro mit Futter, Trank und einem trefflichen Strohlager versorgt war, wie es ein Reiter seinem Rosse und ein echter Waidmann seinem Hunde schuldet, labten wir uns selbst mit einer kühlen Abwaschung von Kopf und Hand und zogen dann im vollen Jagdhabit hinauf in den Salon der Damen.

Wir fanden nur drei Personen: die Hausfrau, ein Fräulein und einen Herrn, der in einer Ecke des Salons sich auf einem Stuhle schaukelte. General K. war so von der Sehnsucht nach dem Imbiß befangen, daß er, sogar die allergewöhnlichste Ceremonie der gegenseitigen Vorstellung vergessend, sich zu Tische setzte und mir winkte, ein Gleiches zu thun. Nachdem die edle Weinsuppe glücklich hinunter war, richtete sich der General wie neu belebt auf und begann, an das Fräulein sich wendend:

„Schönen Dank, Milchen, für die köstliche Suppe. Hättest heute bei uns sein sollen, ein Prachtjunge, der in Holstein tüchtig mitgefochten hat, war von der Gesellschaft – das wäre ’was für Deinen Schnabel gewesen, Du hättest ihm secundiren können, als er in der Ruhestunde für sein Schleswig-Holstein so glühend schwärmte, daß er darüber fast Händel bekommen hätte mit denen, welche Alles nur nüchtern mit officiellen Augen zu betrachten gewöhnt sind und sogar unsern lieben Gott nur anerkennen, weil er in dem „Von Gottes Gnaden“ officiell anerkannt wird.“

Die Hausfrau meinte, man solle doch endlich wieder an Anderes denken, als an das ewige Lied von Schleswig-Holstein. Das Fräulein ergrimmte fast über diese Anmuthung und antwortete mit Leidenschaftlichkeit:

„Das wäre abscheulich, beste Tante! Nein, so lange noch ein einziger Deutscher lebt, muß er mit seinem Morgen- und Abendgebet diesen Namen und diese Geschickte sich laut wiederholen, den Schmerz darüber in seine Seele zurückrufen, zum heiligen Zorn darüber sich entflammen und auf den Knieen flehen: Allmächtiger, hilf Du zu unserem Rechte, da wir selbst zu verblendet, zu uneinig und feig dazu sind!“

Emilie hatte sich dabei unwillkürlich von ihrer Stickerei erhoben und stand unbeweglich, den begeisterten Blick der großen blauen Augen zum Himmel gerichtet: sie war sehr schön in diesem Augenblicke, sie schien wirklich zu beten.

Der seltsame General in der Ecke schaukelte nicht mehr auf seinem Stuhle, er saß wie unbeweglich, den Blick zu Emiliens Antlitz emporgerichtet. Die in sich selbst gekehrte schwärmerische Träumerei, welche seinen scharfen Zügen mit der feingeschnittenen Nase, den schwarzen Augen und der hohen Stirn ein so eigenthümlich anziehendes Gepräge verliehen hatte, war nun plötzlich verschwunden: um den Mund zuckte ein ironisches Lächeln, sein Auge blitzte fast schalkhaft heiter; er fuhr mit der Hand langsam über die Stirn, als wollte er die letzten Wölkchen von Ernst und Träumerei beseitigen, und sagte in einem Tone, warm und gefühlvoll, aber doch voll Sarkastik:

„Liebes Fräulein, Sie ereifern sich stets so edel über diese traurige Geschichte, daß es wahrlich Schade ist, daß Sie nicht alle Ihre hinreißenden Gedanken zu Papier bringen, Sie würden die Nation damit feuriger begeistern, als es Friedrich Hecker jemals gekonnt hat.“

Nicht ohne die Empfindlichkeit einer edlen Entrüstung erwiderte Emilie:

„Herr General, schon öfters hatte ich die Ehre, Ihnen zu bedeuten, daß ich niemals anders schreibe, als Briefe an meine Verwandten und Freundinnen, den Wäschzettel und zuweilen ein Recept für die Küche.“

„Wohlan, bestes Fräulein,“ fiel der General lachend ein, „so schreibe Ihre Güte mir endlich das oft versprochene Recept zu dem polnischen Karpfen, welchen Sie so vortrefflich bereiten.“

Emilie stickte wieder ruhig fort.

„Friede, Friede!“ predigte die Hausfrau.

General K. meinte, sein Freund sollte doch nicht immer die liebe Nichte mit dem Störenfried Hecker zusammenstellen.

„Du hast Recht,“ entgegnete der Andere in der Ecke lachend, „die holde Emilie hat mit diesem stürmischen Ferment nicht das Mindeste gemein, in ihr lebt der höhere Beruf zu einer Jungfrau von Orleans, und Gott weiß, ob wir nicht einst als solche sie brauchen werden.“

Bei den letzten Worten war alles Lachen und alle Ironie von den Zügen des Mannes plötzlich verschwunden, sein Auge haftete einen Moment schmachtend am Himmel, als erflehte er Trost von oben, der Schleier düsterer Träume verbreitete sich über sein Gesicht und er schaukelte wieder monoton mit seinem Stuhle.

Offenbar in dem Sehnsuchtsdrange, sich den beengenden Gefühlen des Momentes zu entheben und den General in eine heitere Stimmung zu versetzen, erwiderte Emilie mit der heitersten Affectation von Begeisterung:

„Wohlan, Herr General, ich nehme die Jungfrau von Orleans für mich an, um so getroster, weil ich darauf rechnen zu dürfen glaube, daß Sie in jeder ernsten Stunde als Dunois mir zur Seite stehen und auch gegen jeden Lionel mich schirmen werden.“

„Ich Ihr Dunois? Unmöglich, ich bin ja kein Bastard.“

„Um Vergebung, Sie sind einer und zwar in mehrfacher Beziehung: Bastard zwischen Hohn und Herz, Bastard zwischen Verstand und Phantasie, Bastard zwischen Liebenswürdigkeit und – Abscheulichkeit –“

„Halten Sie inne, mein Fräulein, Sie machen sonst aus mir eine förmliche Bastarden-Colonie. Und – was würde Ihnen meine Dunoisschaft helfen, käme ich nicht in Betreff eines Lionel allenfalls jetzt schon zu spät?“

„Ausflüchte, Herr General Chamäleon, leere Ausflüchte. Sie wissen vollkommen, daß es bei mir mit einem Lionel noch nichts ist.“

„Was wüßte der sterbliche Mensch vollkommen? In der That nichts, als daß er sterben muß.“

„Doch noch etwas weiß der vernünftige Mensch vollkommen.“

„Und das wäre?“

„Daß er Grundsätze haben und festhalten soll, daß er die Hoffnung niemals aufgeben darf.“

„Grundsätze, Hoffnungen? – Liebes Kind, die Grundsätze sind so wandelbar, wie die Zeiten und Menschen selbst. Es gibt nur einen unwandelbaren, unbestreitbaren und ewigen, den des wahren Christenthums, der zum Glück erhaben über alle confessionelle Zweifel und Wirren, allen Christusgläubigen gleich verständlich, überzeugend und wann zum Herzen spricht: fürchte Gott und liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst. – Aehnlich verhält es sich auch mit der Hoffnung: jeder Sterbliche hofft anders und Anderes durch alle Phasen seines Lebens; aber wenn dann hienieden Jedem die letzte irdische Hoffnung entschwunden ist, wenn Dante’s: „qui cessa ogni speranza“ die Nichtswürdigen mit der Höllenqual der Verzweiflung erfaßt, alsdann erwacht erst in den Seelen aller wahren Christen eine und dieselbe Hoffnung mit einer Lebendigkeit und beseligendem Schwung, die Hoffnung auf ein ewiges Jenseits, auf ein höheres Dasein, auf eine Seligkeit der unmittelbaren Anschauung alles dessen, was wir hier kaum zu ahnen vermögen und in unseren gebenedeiten Augenblicken als Höchstes anbeten.“

Dies sprach der seltsame Mann ohne alle priesterliche Emphase natürlich, einfach, warm, und aus seinem schönen Auge leuchtete dazu Glauben und Liebe so erwärmend und überzeugend, daß wir Alle, vom Ernste seiner Stimmung unwillkürlich ergriffen, zu wahrer Andacht uns erhoben fühlten und stumm der Fortsetzung seiner Rede harrten. Er schaukelte sich wieder behaglich, wie in Träume versunken. Der luftige General von K. konnte in so ernster Stimmung nicht lange beharren; um sich selbst und uns herauszuhelfen, ergriff er hastig sein Glas Burgunder, stieß mit mir an und rief:

„Waidmanns Heil für übermorgen! – Apropos, Bruder, Du bist mir noch etwas schuldig, trage Deine Schuld jetzt ab, damit mein Mädchen nicht ganz melancholisch werde.“

[424] „Ich verstehe Dich nicht und entsinne mich auch nicht.“

„Nun, Du hast doch sonst ein Riesengedächtniß, womit Du uns Allen gelegentlich aushilfst. Besinne Dich: habe ich Dir nicht schon vor ein paar Wochen das neue Buch über den badischen Aufstand und Feldzug gegeben und Dich gebeten, mir Dein Urtheil zu sagen, ob es der Mühe Werth ist, es zu lesen?“

„Ja so, allerdings – ich habe das Zeug über den badischen Jammer durchgeblättert –“

„Nun, heraus mit der Sprache, her mit Deinem Urtheil.“

Mir wurde unheimlich zu Muthe und aus Besorgniß, vielleicht Aeußerungen hören zu müssen, die mir wehe thun würden, fiel ich mit den Worten in die Rede:

„Vor allen weiteren Erörterungen glaube ich hier daran erinnern zu dürfen, daß ich Badenser bin und der Bruder jenes unglücklichen Commandanten von Rastatt, der von preußischen Kugeln gefallen ist.“

„Ja, Donnerwetter!“ rief der General v. K. „Ich habe die gegenseitige Vorstellung vergessen. Also: Herr General von Radowitz, – Herr Baron von Biedenfeld!“

Hundert Mal hatte ich eine Bekanntschaft mit diesem interessanten Freunde des Königs gewünscht und jetzt, da sie mir so nahe geboten war, stand ich in der Ueberraschung ihm verlegen gegenüber und starrte ihm fast unartig in’s Gesicht. Auch er betrachtete mich einen Augenblick starr, dann flog es plötzlich wie ein Hauch von Mitleiden verklärend über seine Züge, mit herzgewinnendem Blick eilte er zu mir herüber, faßte meine Hand zwischen seine beiden Hände, sah mir mit unbeschreiblicher Wehmuth Auge in Auge und sprach mit bebender Stimme des innigsten Gefühles:

„Ich habe die Minerva gelesen, ich habe alle Ihre Schmerzen mitgefühlt und alle die schweren Kämpfe mit durchgerungen, welche Ihre Seele zu bestehen hatte, bevor jene Biographie des Bruders fertig auf dem Papiere stehen konnte. Herzlichst freut es mich hiernach, Ihre persönliche Bekanntschaft gemacht zu haben, und hoffentlich sehen wir uns recht oft wieder.“

Und als wäre er froh, über die badische Geschichte schnell hinwegzukommen und die Anregung des Mitgefühls los zu werden, wendete er sich rasch an das Fräulein, ließ meine Hand mit einem Druck frei und sagte in der heitersten Laune:

„Nun, mein schönes Fräulein, haben Sie endlich Ihren Rosenmann; hoffentlich verfahren Sie mit ihm gnädiger, als mit Ihren Freunden. – Aber Sie, Herr Baron, warne ich von vornherein, unserer künftigen Jungfrau von Orleans ja nicht etwa zu glauben, wenn sie viel Schönes über das Rosenbuch sagen sollte, denn sie hat in der That nur die Beigaben, die Gedichte und besonders die Fleurette gelesen.“

Mit einer leichten graziösen Verbeugung trat er einen Schritt zurück, kreuzte die Hände auf dem Rücken, stellte sich breit in die Positur eines eifrigen Zuhörers, seine Stirn, dieser Thron des Verstandes und des raschen, entschiedenen Urtheils, war offen und heiter, sein Blick lauschte erwartungsvoll, um seinen Mund spielten Sarkasmen. Nach den gewöhnlichen zierlichen Eingangsphrasen bemerkte Emilie:

„Es ist doch sonderbar, daß die Phantasie der Leser sich gewöhnlich ganz andere Bilder von den Schriftstellern vorspiegelt. So habe auch ich in Ihnen mir etwas ganz Anderes gedacht –“

„Natürlich,“ fiel Radowitz ein, „die edle Jungfrau dachte sich irgend einen Mauerbrecher von Dunois oder einen herzenerstürmenden Lionel und verwundert sich nun, eine Art von Duchatel zu finden, dem die heilige Liebe zum Vaterland keine Zeit mehr zum Courschneiden läßt …“

Wir saßen wieder und auch Radowitz hatte seinen Schaukelplatz in der Ecke aufgegeben und an dem runden Tische Platz genommen. Die Hausfrau bereitete den Thee und Emilie zierliche Butterschnittchen. Die Conversation wogte von Gegenstand zu Gegenstand hin und her. General K. kam wiederholt auf sein Buch über Baden zurück, aber mit feinstem Takte glitt Radowitz stets darüber hinweg und wußte stets unmerklich wieder Anderes auf das Tapet zu bringen, neckte die Hausfrau, weil das Theewasser nicht kochen wollte, und Emilien wegen der unsäglichen Mühe unsichtbare Butterschnittchen zu Stande zu bringen, den Bruder General, weil er die Parade versäumt habe, um eine schöne Portion Hühner zu fehlen, mich wegen meiner Geschichte der Mönchs- und Nonnenorden, woran ich ein paar Lebensjahre gesetzt habe, nur um mit einer solchen General-Uebersicht andern Historikern eine bequeme Eselsbrücke zu bauen und à la Talleyrand seligen Andenkens die Sprache zu gebrauchen, um meine Gedanken über mancherlei Dinge zu verstecken. Meine Geschichte der Ritterorden habe er, ähnlichen Erscheinungen analog, für einen Sehnsuchtswalzer nach einigen Ordensbändchen gehalten, bis er nach Durchlesung der Vorrede von solcher Sehnsucht mich habe freisprechen müssen. Mit meinem Buch der Rosen habe er sich den Magen nicht verderben wollen, weil er eine Menge demagogischer Stacheln und Dornen darin vermuthet, indem so viele demagogische Herren und Damen (mit einem Seitenblick auf Emilie) ihm so emphatisch Lob gespendet. Er war prächtig im Zuge und trug die Kosten der Conversation fast allein.

Wir kamen, ich weiß selbst nicht wie, im Verfolg dieses Herumhüpfens durch allerlei Lappalien, unversehens in die ernsteren Gebiete von Abbé Chatel, Ronge, Röhr, Bretschneider, Hengstenberg etc. Da floß kein Scherz mehr über seine Lippen, seine ganze Physiognomie hatte ein anderes Gepräge angenommen, seine Stirn erschien mir höher, glätter, glänzender, seine Blicke wurden eindringlicher, stechender, während sein Auge oft so seltsam verdüstert in die Welt hinaussah, wie die Sonne, wenn sie hinter einem Schleier von Wolken blutroth erscheint. Der Mann war wieder ernst geworden, er sprach weniger, aber um so entschiedener. In solchen Momenten beherrschte indessen offenbar seine stets leicht aufregbare Phantasie den sonst so klaren und prägnanten Verstand, und riß ihn häufig zu kategorischen Urtheilen hin, welche mit seiner eigentlichen Ansicht der Dinge und mit seinen Schriften nicht wohl in Einklang zu bringen sind, mitunter ihnen geradezu widersprechen. Dergleichen hat Manchen über den Geist, das Wollen und Streben dieses merkwürdigen Mannes irre gemacht, und ihm manche schiefe Beurtheilung zugezogen.

Emilie äußerte in einem Anfall von Unmuth:

„Diese Reformation ist das größte Unglück, welches jemals über uns verhängt worden; seit jener Zeit hat Deutschland aufgehört, Deutschland zu sein –“

„Sie irren, mein Fräulein,“ fiel er mit didaktischem Ernste ein, „Sie irren nicht nur, sondern Sie lästern geradezu die Vorsehung. Diese Reformation ist die mächtigste und furchtbarste providentielle Erscheinung des letzten Jahrtausends. Mag sie immerhin Deutschlands politische Kraft für geraume Zeit gebrochen, die äußere und innere Einheit zerrissen haben, so hat sie doch Deutschland erst zum eigentlichen Hebel und Mittelpunkt, zum providentiellen Ferment der allmählichen Civilisation der ganzen Welt erhoben, was auch dagegen Franzmanns Eitelkeit und Englands Stolz einwenden möge. Der durch die edeln Söhne St. Benedicts von Nursia aus den Trümmern der Barbarei geretteten Wissenschaft und Literatur der alten Welt wurde durch die Reformation ein neues fruchtbares Leben verliehen, ihr allein verdanken sie alle Tiefe, Hoheit und Würde, und ohne sie wären ein Lessing, ein Goethe und Ihr Schiller unmöglich, nein undenkbar. Sogar die Kirche, die Religion –“

Da verstummte er plötzlich, als wäre er über sich selbst erschrocken, bedeckte mit der flachen Hand Stirn und Augen, fuhr dann langsam über das Gesicht herab, starrte einen Moment seine Theetasse an, erhob dann den Blick weit geöffnet, und fuhr fast im Ton eines Träumenden fort:

„Nun ja, auch die Kirche, durch die verhängnißreiche Appellation an die Vernunft blutig in zwei Kirchen zerrissen, hat sich zu Gedanken und Prüfungen erhoben, wozu sie niemals gelangt sein würde, wenn sie nur eine Kirche geblieben wäre. Und dieses häufig so heillos mißverstandene und falsch gedeutete „prüfet Alles“ wird am Ende der Prüfungen zu der allgemeinen Ueberzeugung führen, daß nur eine wahrhaft christliche Kirche möglich ist, und die zwei Kirchen werden wieder in eine Kirche zusammenfließen. Wann? Das weiß nur der, der Alles weise und gnädig lenkt – –“

Offenbar hatte er nicht Alles ausgesprochen, was er dachte und fühlte; aber ich hielt es für unbescheiden, ihm Weiteres zu entlocken, durch Widerspruch ihn zur vollen Offenheit zu reizen. Die Uhr erinnerte uns, daß es Zeit zur Trennung geworden.

Oft habe ich diesen merkwürdigen Mann besucht, oft dabei des „Generals Chamäleon“ von Fräulein Emilie mich lebhaft erinnert, aber stets schied ich von ihm mit höherer Achtung und Liebe.



  1. Unter diesem Titel wird der obengenannte bekannte Verfasser eine Reihe Erinnerungen aus seinem vielbewegten Leben geben, die besonders durch die charakteristischen Streiflichter, welche sie auf bekannte Persönlichkeiten des neunzehnten Jahrhunderts werfen, für viele unserer Leser von großem Interesse sein werden. D. Red.