Bürgerliche und politische Freiheit
Literatur:
[Bearbeiten]- Aristoteles, Polit. VI, p. 1311 Bekk.
- – Hobbes, De Cive Cap. XIII, 15. 17. Leviath. P. II. Ch, 21.
- – Spinoza, Tractatus theologico-politicus.
- – Locke, Two treatises on civil government II, ch. IV.
- – Montesquieu, L’esprit des lois. L. XI, 3. L. XII, 2.
- – Hume, Essays literary moral and political. XIII Of civil liberty.
- – Rousseau, Du contrat social 1762.
- – Price Richerd. Obervations on the nature of civil liberty. the principles of government etc. 7th.ed. Lond. 1776.
- – Frh. v. Vincke, Darstellung der inneren Verwaltung Gross-Britanniens. M. Vorw. v. Niebuhr. Berl. 1816.
- – Humboldt, W. von, Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (1791) Breslau 1851.
- – Kant, Metaphys. Anfangsgründe der Rechtslehre (1797).
- – Mill, J. St., On liberty. London 1859.
- – Laboulaye, L’Etat et ses limites, 5. ed. Paris 1871.
- – Stephen, James Fitzjames, Liberty, equality, fraternity. Lond. 1873.
- – Treitschke, H. v., Historische und politische Aufsätze. Leipzig 1886. Dritter Band, S. 1– 42.
- – Lieber, F., On civil liberty and self-government 3. ed. Philadelphia 1874, deutsch. Tübing. 1860.
- – Simon, Jules, La liberté de conscience. Paris 1867; La liberté politique. 3. ed. Paris 1867; La liberté civile. 3. ed. Paris 1867.
- – Tocqueville, A. de. De la démocratie en Amérique. 2 Voll. Paris 1835.
- – Schäffle, Bau u. Leben des soz. Körpers. II. 119 ff. 137 ff. Tübing. 1878.
- – Dupont-White, L’individu et l’etat. 3. ed. Paris 1865.
- – Bähr, Der Rechtsstaat. Göttingen 1864.
- – Held, Staat und Gesellschaft. II. 92 ff. III. 511–636. Leipzig 1865
- – Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichtsbarkeit. 2. A. Berlin 1879.
- – Spencer, H., The man versus the State. Lond. 1886.
- – Idem, Justice, (P. IV of the Principles of Ethics). Lond. 1891.
- – Giese, Die Grundrechte (Zorn-Stier, Abh. a. d. Staats-Verw. u. Völkerr. I, 2).
- – Gierke, Joh., Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. 3. Ausg. Breslau 1913. VI. Kap.
- – Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. 2. A. Tüb. 19u4.
- – Id., System der subjektiven öffentlichen Rechte. 2. Aufl. Tübingen 1905.
- – Jr. Allg. Staatslehre3 S. 294. Berl. 1914.
- – Wagner, Adolph, Grundlegung der politischen Ökonomie. 3. Aufl. Zweiter Teil. Buch 1, 3. Leipzig 1894.
- – Maine, H. S., Popular government. Lond. 1885.
- – Locke, W. H., Democracy and Liberty. 2. A. Lond. 1899.
- – MerkeI, Ad., Fragmente zur Sozialwissenschaft. Strassb. 1898.
- – Glogau, G., Über politische Freiheit (Rede). Kiel 1885.
- – v. Wiese, Lv. Das Wesen der politischen Freiheit (Rede) Tübingen 1910. –
Die politische Freiheit wird oft mit der bürgerlichen Freiheit vermischt und verwechselt. Es scheint zweckmässig, die beiden Begriffe auf folgende Weise zu unterscheiden: Bürgerliche Freiheit ist Freiheit der Regierten, politische Freiheit Freiheit der Regierenden.[1] Dies will sagen: Bürgerliche Freiheit kann in ausgedehntem Masse bestehen, ohne dass die Individuen, die sie geniessen, irgend welchen aktiven Anteil an der Souveränität des Staates haben. Sie ist also ihrem Wesen nach unabhängig von der Staatsform. Hingegen politische Freiheit bedeutet Anteil an der Herrschaft und erstreckt sich daher, insofern als die drei Gewalten geteilt sind, auf die gesetzgebende, die richterliche und die verwaltende Staatstätigkeit. Politische Freiheit ist mithin, je mehr sie verallgemeinert wird, um so mehr demokratisch; und sie stellt um so vollkommener sich dar, je reiner das Prinzip der Volkssouveränität in allen Institutionen des Staates verwirklicht ist. In neuerer Zeit hat man so sehr sich gewöhnt, Freiheit im allgemeinen, und politische Freiheit im besonderen, als ein Gut schlechthin zu betrachten, dass die Gegner der Demokratie zu leugnen pflegen – wie es schon Hobbes tat – , dass politische Freiheit mit der Staatsform irgendwie zusammenhänge. Die Verwechselung politischer Freiheit mit bürgerlicher Freiheit liegt hier zutage. Politische Freiheit – sie ist in der Regel gemeint, wenn in bezug auf das Staatsleben von Freiheit die Rede ist – hat in der modernen Entwicklung, unter dem Einfluss antiker Vorbilder
[242] ihre Spitze zumeist gegen die monarchische Staatsform gekehrt: teils direkt, als Forderung, Behauptung, Verherrlichung der Republik, teils wenigstens gegen den fürstlichen Absolutismus, das persönliche Regiment, den Scheinkonstitutionalismus u. dgl. Durch Ausdehnung bürgerlicher Freiheit ist das Verlangen nach politischer oft gedämpft worden.
A. Bürgerliche Freiheit ist die Freiheit der Person und ihrer Betätigungen, die dem Bürger vom Staate gelassen oder sogar ausdrücklich durch Gesetze garantiert und geschützt wird. Die Freiheit der Person ist a) allgemeine persönliche Freiheit in bezug auf alle anderen Personen, b) spezielle bürgerliche Freiheit in bezug auf den Staat. Die Freiheit des nicht erzwungenen und nicht gehemmten Handelns, worin diese besteht, zerfällt in zwei grosse Hauptkategorien: aa) die Freiheit der ökonomischen Betätigung; bb) die Freiheit der geistigen Betätigung. Zwischen beiden steht eine Betätigung, die einen politischen oder wenigstens quasi-politischen Charakter hat, wie denn auch die ökonomischen und die geistigen Betätigungen sich an vielen Punkten damit berühren; das ist die Freiheit der Assoziation, d. i. der Versammlung und namentlich der Vereinigung für irgend welche Zwecke, unter denen der Natur der Sache nach die politischen Zwecke das Staatsleben am nächsten berühren, so dass an dieser Stelle die bürgerliche Freiheit im Begriffe steht, in die politische Freiheit überzugehen und sich am engsten mit ihr berührt: diese Art der bürgerlichen Freiheit kann daher auch als staatsbürgerliche Freiheit ausgezeichnet werden. Freiheit in jedem Sinne ausser der allgemeinen persönlichen Freiheit besteht aus einzelnen Freiheiten, die im Verhältnis zum Staate Rechte bedeuten und alle auf der Voraussetzung jener (der persönlichen Freiheit oder der freien Persönlichkeit) beruhen; diese Rechte aber haben zunächst ihre Geltung nur im Privatrecht, wenn sie auch aus öffentlichem Rechte sich ableiten. Dagegen gehören die politischen Freiheiten unmittelbar dem öffentlichen Rechte an; sie sind subjektive öffentliche Rechte im engeren Sinne (wenn auch die bürgerlichen Freiheitsrechte als solche begriffen werden).
Bürgerliche sowohl als politische Freiheit kann verstanden werden als Freiheit der Korporationen oder als Freiheit der Individuen. Die individuelle Freiheit der Assoziation berührt sich mit der bürgerlichen Freiheit, deren Korporationen sich erfreuen, und diese betätigt sich in ihrer Autonomie. Wenn gleich ihrem Ursprünge nach genossenschaftliches Recht, erscheint sie vom Staate als Zentralgewalt aus als konzediertes Privileg. Die Teilnahme von Korporationen (etwa als Ständen) an der Zentralregierung ist ihre politische Freiheit; an ihr war ehemals die herrschende Aristokratie, geistliche und weltliche, vorzugsweise beteiligt. Im modernen Staate, wie er infolge der französischen Revolution sich entwickelt hat, sind diese „Libertäten“ mehr und mehr zurückgetreten, wenn auch nicht überall verschwunden. Bürgerliche wie politische Freiheit wird im modernen Sinne wesentlich als individuelle Freiheit verstanden. Nur in der „Selbstverwaltung“ kehrt ein Stück der politischen Freiheit der Individuen als bürgerliche Freiheit von Gemeinden und anderen Körperschaften wieder. Insofern als diese aus der Staatsgewalt abgeleitet werden kann, liegt auch hier eine Teilnahme an der Souveränität des Staates vor.
1. In der Voraussetzung der persönlichen Freiheit der Individuen, also in dem Gegensätze gegen Sklaverei, Leibeigenschaft, Hörigkeit liegt der stärkste Zusammenhang des Postulats der Freiheit mit dem der Gleichheit: die unmittelbare Beziehung aller Individuen auf den Staat involviert die Gleichheit aller vor der Staatsgewalt, also vor dem Gesetze. Die Gleichheit bedeutet in erster Linie gleichen Schutz jeder Person gegen jede andere Person, gleiches „Recht“ für alle. Zur Person gehört ihre Habe und ihre Ehre. Der Korn aller bürgerlichen Freiheit ist, ihrer Idee nach, dass der Staat um der Individuen willen, um ihre „Rechte“ in bezug auf einander mit seiner Macht geltend zu machen, da sei; Ausdruck dafür die Lehre, dass die Menschen den Staat durch Verträge begründet „haben“ (ausserzeitlich: begründen). Diese Lehre beruht in der Erkenntnis, dass der Staat notwendig die natürliche Freiheit einschränkt; auch so gestaltet, dass die Individuen, wenn sie in den Staat eintreten, gewisser ursprünglicher Rechte sich entäussern (vor allem des [243] Rechtes der Selbsthilfe, des freien Gebrauches der eigenen Zwangsmittel). Da aber der Hauptzweck des Staates sei, Rechte zu schützen, so habe es keinen Sinn, sich solcher Rechte zu entäussern, zu deren Schutz eben der Staat errichtet wird. Diese Rechte müssen die Menschen sich vorbehalten, sie sind „unveräusserlich“, es sind die „Menschenrechte“, die im Staate als „Bürgerrechte“ beharren. Man will, dass sie auch für die Staatsgewalt unantastbar seien. In diesem Sinne lässt Montesquieu politische Freiheit (er meint bürgerliche) in der Sicherheit „oder wenigstens in der Meinung (dem Bewusstsein) der eigenen Sicherheit“ bestehen. Und in diesem Sinne gilt als eine Schutzwehr der bürgerlichen Freiheit gegen die Staatsübermacht die Teilung der Gewalten, namentlich die Trennung von Justiz und Verwaltung mit dem Übergewicht der Justiz durch Einrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die als Kriterium des „Rechtsstaates“ hingestellt wird (Gneist). Die allgemeinen Grundsätze, die aus dieser Idee für alle bürgerliche Freiheit abgeleitet werden, sind: 1. Ausschliessung jeder privaten Gewalt, jedes unautorisierten Zwanges, jeder persönlichen Willkür, oder: Verneinung jeder Art von Herrschaft einer Person über die andere, ausser der rechtmässigen Ausübung des Staatswillens, die durch das Gesetz gebunden ist, und das Gesetz ist nur rechtmässig, wenn es gemäss dem Verfassungsrecht entstanden ist. 2. Einschränkung des gesetzlichen Zwanges auf das unerlässlich notwendige Mass; Rechtsschutz gegen Missbrauch der Gewalt und gegen Überschreitung der Grenzen, innerhalb deren die Beamten des Staates ihre Macht geltend machen sollen und dürfen. – Besondere Bedeutung haben diese Grundsätze in Anwendung auf die Rechtspflege, zumal auf Strafprozess und Strafrecht. Sie wehren aller administrativen Justiz, und wollen auch die Gewalt, deren der Staat zur Verfolgung gesetzmässiger Justiz bedarf, soweit einschränken, dass die bürgerliche Freiheit sich damit vereinigen lasse. Daher die Forderung, dass jedermanns Haus „seine Burg“ sei, es dürfe nicht gewaltsam geöffnet, auf Person oder Habe kein Arrest gelegt werden, es sei denn, dass ein schweres Verbrechen vorliege, und auch dann müsse der Beamte den Haftbefehl vorweisen und bleibe verantwortlich für Überschreitung seiner Machtbefugnisse.[2] Überhaupt beziehen sich die Postulate der bürgerlichen Freiheit hauptsächlich auf den Prozess: Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Verfahrens; Anklageprozess anstatt des Inquisitionsprozesses in Strafsachen; daher das Recht zu leugnen und das Recht auf ungehemmte Verteidigung, die auch für die Untersuchung in Anspruch genommen wird, gegebenen Falles amtlich zu bestellen ist; Regel, dass jeder für unschuldig zu erachten, bis seine Schuld erwiesen sei, und andere Normen zum Schutze des Verdächtigen, des Angeklagten, zur Entschädigung der ohne Grund Verhafteten oder sogar unschuldig Verurteilten. Dahin gehört endlich ein Stück politischer Freiheit: die Beteiligung von Laien an der Rechtsprechung, also die Forderung der Jury, insbesondere in politischen Prozessen, überhaupt bei Vergehen durch die Presse. – In bezug auf das materielle Strafrecht macht das Verlangen nach bürgerlicher Freiheit wesentlich als Verwerfung der qualifizierten Leibes- und Lebenstrafen, oft der Todesstrafe überhaupt, sich geltend. Im bürgerlichen Recht hängt sie mit der Freiheit der ökonomischen Betätigung eng zusammen.
2. Die Freiheit der ökonomischen Betätigung bedeutet: a) freie Verfügung über die eigene Person und ihre Arbeitskraft, also freie Berufswahl und freie Vertragschliessung, b) Freiheit des Eigentums, d. i. des Erwerbes und des Gebrauches von Eigentumsrechten; daher auch der Veräusserung, Verpfändung und Vererbung von Sachgütern jeder Art. Die Etablierung dieser Freiheiten bedeutet eine ausgleichende Tendenz in bezug auf Personen und in bezug auf Sachen. Praktische Bedeutung hat sie namentlich A) als Gewerbefreiheit gegen den Zunftzwang und als Prinzip der Gleichberechtigung von Unternehmern und Arbeitern gegenüber der sonst auch rechtlich normierten Abhängigkeit dieser von jenen, B) als Aufhebung der Unterschiede von Kapital und Grundeigentum, Mobilisierung [244] des Grundeigentums und Befreiung von seinen Lasten; Darstellung des absoluten und freien Privat-Eigentums auch am Grund und Boden, gegenüber feudalherrlichen, gemeindlichen und familienrechtlichen Einschränkungen. In nahem Zusammenhange mit den liberalen Neuerungen in bezug auf A stehen die „sozialen Freiheitsrechte“ (A. Wagner), nämlich 1. das Recht der freien Eheschliessung, 2. die Freiheitsrechte der räumlichen Bewegung, nämlich a) das Freizügigkeits- und freie Niederlassungsrecht, b) das freie Reiserecht, c) das freie Auswanderungsrecht. Diese Rechte sind innerhalb der modernen Staaten den Staatsangehörigen, und mit einigen Modifikationen auch den Ausländern, durch spezielle Gesetzgebung gewährt worden. Vgl. Gesetze des Nordd. Bundes v. 4. V. 1868 über die Aufhebung der polizeilichen Beschränkungen der Eheschliessung, Reichsgesetz vom 6. 11. 1875 über Beurkundung des Personenstandes und die Eheschliessung. Bayerische Heimat-Gesetze vom 16. IV. 1868, 2. 3. II. 1872, 21. IV. 1884. Gesetz des Nordd. Bundes über Freizügigkeit vom 1. XI. 1867, über Unterstützungswohnsitz vom 6. VI. 1870, beide zu Reichsgesetzen erklärt, jedoch das über Unterstützungswohnsitz ohne Geltung für Bayern und für das Reichsland. Reichsgesetze sind auch die Gesetze des Nordd. Bundes über Passwesen vom 12. X. 1867 und über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit vom 1. VI. 1870 geworden. – In bezug auf B haben die Gesetzgebungen der deutschen Einzelstaaten im Laufe des 19. Jahrhunderts, besonders in dessen erster Hälfte, das geltende Recht begründet; durch Akte, die zusammengefasst als „Bauernbefreiung“ beschrieben werden. In Frankreich war die Revolution in diesen Tendenzen vorangeschritten. In Russland geschah die Aufhebung der Leibeigenschaft durch Manifest vom 6. II. 1861. In Grossbritannien hat sich ein zum grössten Teile noch durch Anerben-Fideikomisse gebundener Grossgrundbesitz mit einem System bäuerlicher und Gutsbetriebe in Pachtwirtschaften, gewohnheitsrechtlich und durch „Privatbills“, mit Hilfe der Gerichtspraxis, entwickelt; – der „Freihandel in Land“ ist liberales Postulat geblieben; die gegenwärtige Regierung (1909/10) will ihn durch staatliche Besteuerung des Bodens „nach dem gemeinen Werte“ befördern. Uebrigens gilt in allen modernen Staaten heute Freiheit in bezug auf das Grundeigentum als Regel. Kraft einer Gegentendenz haben sich aber in Deutschland, in Oesterreich und anderen Ländern die Familien-Fideikommisse erhalten und vermehren können. Neue Bindungen bedeuten gleichfalls die preussischen Gesetze über Rentengüter und die Beförderung der Errichtung solcher, vom 27. VI. 1890 und vom 9. VI. 1891.
Die ganze Bewegung für ökonomische Freiheit wurde, wie diejenige für persönliche und für allgemeine bürgerliche Freiheit, durch die naturrechtlichen Gedanken getragen. Jene aber gestaltete sich auf dieser Basis zu einem System der volkswirtschaftlichen Zweckmässigkeit, das in der Idee des Geschehenlassens, des freien Handels nach innen und nach aussen gipfelte („Manchestertum“). Man wollte die freie „Gesellschaft“ konstituieren, für die der Staat nur als Schutzgewalt dienen sollte. Herbert Spencer († 1903) ist der letzte grosse philosophische Vertreter dieser Idee gewesen. – Gegen die Gesamtheit solcher liberalen Prinzipien hat teils die Kritik der Vertreter älterer sozialer Systeme, die sich restaurieren wollen, teils diejenige von Zukunftgedanken, die sich durch Reformierung oder Revolutionierung der bestehenden „Gesellschaftsordnung“ durchzusetzen streben, Geltung und Macht gewonnen. Jene haben mehr in bezug auf die Entwicklung allgemeiner bürgerlicher Freiheit hemmend gewirkt, diese haben in Gestalt der sozialpolitischen Gesetzgebung vielfach die ökonomische bürgerliche Freiheit eingeengt und beschnitten. Gegen das sozialistische Ideen wehren sich noch die liberalen Ideen als gegen einen Zwangsstaat. Hingegen lehrt der „wissenschaftliche Sozialismus“, dass durch das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln die vollkommene und gleiche bürgerliche und politische Freiheit erst verwirklicht werden könne.
3. Die Freiheit der geistigen Betätigung bedeutet 1. die freie Religionsübung, die unter dem Namen der „Gewissensfreiheit“ sich in der öffentlichen Meinung verankert hat, obgleich dieser Ausdruck unrichtig ist und keinen Rechtsbegriff bezeichnet; andere Namen sind Glaubensfreiheit, Religionsfreiheit, Bekenntnisfreiheit. Ihr Wesen hängt mit der Stellung [245] des Staates zu den Religionsgesellschaften eng zusammen. Nur durch Scheidung zwischen Staat und Kirche oder Kirchen kann diese Freiheit sich vollenden, ist daher in den meisten Staaten noch in der Entwicklung. Stadien dieser Entwicklung sind durch die Anerkennung der Parität mehrerer Konfessionen in einem Staate oder wenigstens Reiche, und durch das weitergehende Prinzip der Toleranz gegeben. Das preussische Landrecht proklamierte zuerst (II, 11, § 2): „Jedem Einwohner muss eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit zugestanden werden.“ Vorangegangen war schon in Preussen wie in anderen Ländern die Praxis, in Oesterreich das Edikt Josephs II. von 1781, das freilich nicht lange Geltung behielt. Die französische Revolution wirkte in gleicher Richtung. In England erfolgte erst im 19. Jahrhundert die „Emanzipation“ der Katholiken und Dissidenten im Sinne der bürgerlichen Gleichstellung. Das Gesetz des Nordd. Bundes vom 3. VII. 1869 verkündet die Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom Religionsbekenntnis. Tatsächlich unterliegen aber in mehreren deutschen Einzelstaaten Katholiken oder Protestanten und Dissidenten, allgemeiner die Juden, noch vielfachen Beschränkungen durch die Praxis der Regierungen.
Die Bekenntnisfreiheit ist aber nur eine besondere Gestalt der Freiheit, Gedanken und Meinungen zu äussern, und diese hat ihren höchsten Ausdruck in der Lehrfreiheit oder in der Freiheit der Wissenschaft, die grundsätzlich allgemeiner Anerkennung sich erfreut. Sie hat als Korrelat die Lernfreiheit Erwachsener, die als akademische Freiheit besonders im deutschen Hochschulwesen ausgebildet ist.
Eine grosse öffentliche Bedeutung hat die Aeusserung von Meinungen und Urteilen, zumal über politische Dinge, teils unmittelbar in der Rede, teils in der vervielfältigten Schrift, und beide haben eine virtuell unbegrenzte Ausbreitung gewonnen durch den Druck von Büchern, Reden, Flugschriften, insbesondere durch periodische Druckschriften, unter denen die Tageszeitungen eine Weltbedeutung unter dem speziellen Namen der „Presse“ oder „Tagespresse“ erlangt haben. Auf sie bezieht sich daher hauptsächlich die Pressfreiheit, die in den moderneren Gesetzgebungen überall gegen das frühere Institut der Zensur durchgesetzt worden ist, so dass den Vergehen, die durch die Presse begangen werden können, nur noch strafrechtlich, nicht mehr präventiv, entgegengewirkt wird. Das in Preussen durch die oktroyierte Verfassung und das Gesetz vom 12. V. 1851 gewährte Mass von Pressfreiheit ist durch die Reichsverfassung und das Gesetz über die Presse vom 7. V. 1874 erweitert worden. – Die geistigen Freiheiten werden prinzipiell am wenigsten angefochten; auch die Kirchen verneinen die Bekenntnisfreiheit praktisch nur innerhalb ihrer Gemeinschaften, und hauptsächlich für ihre Geistlichen. Die katholische Kirche verlangt für sich selbst nur völlige Kultusfreiheit in den Staaten, wo sie nicht Staatskirche ist.
4. Die Freiheit sich zu versammeln und Vereine zu bilden ist nur eine Betätigung der allgemeinen persönlichen Freiheit, und wird als solche vom Staate geachtet, so lange als die Regierungen und Gesetzgebungen keine gesellschaftliche und politische Gefahr darin zu erkennen glauben. Eine gesellschaftliche Gefahr wurde lange und wird auch noch jetzt vielfach in den Koalitionen der Lohnarbeiter erblickt, zumal unter dem Gesichtspunkte, dass sie in einem Verhältnisse der Abhängigkeit von ihren Meistern und „Brotherren“ stehen. Nachdem aber die modernen Betriebsformen den Zustand des Lohnarbeiters in der Regel zu einem lebenslänglichen gemacht haben, ist ihnen in Konsequenz des Prinzips der wirtschaftlichen Freiheit die Koalitionsfreiheit prinzipiell zugestanden worden , wenn sie auch polizeilich und strafrechtlich beschnitten zu werden pflegt. In Deutschland stand ihnen das buntscheckige Vereins- und Versammlungsrecht, wie es sich in Preussen auf Grund einer „Verordnung“ (11. III. 1850), in mehreren Staaten durch Ausführungs-Gesetze zu den Bundestags-Beschlüssen vom 13. Juli 1854 gestaltet hatte, entgegen. Am 19. April 1908 ist aber ein Vereins- und Versammlungsrecht für das Deutsche Reich zum Gesetz erhoben das die Rechtseinheit auf dies Gebiet ausgedehnt und die bürgerliche Freiheit darin erweitert [246] hat. Wenn aber die Koalitionsfreiheit der Arbeiter und Arbeitgeber dem Gewerberecht angehört, so kann dieses auch nicht umhin, die besonderen wirtschaftlichen Gefahren ins Auge zu fassen, die dem Zusammenschluss von Betrieben zu Kartellen und vollends zu monopolistischen Trusts anhaften mögen. – Die Vorstellungen von den Gefahren politischer Vereine und Versammlungen knüpften sich ehemals hauptsächlich an die Tätigkeit der Klubs in der französischen Revolution. In der Restaurationszeit nach 1815, wie in derjenigen nach 1848, wurden die Prinzipien des Polizeistaats gerade in dieser Sphäre wieder mächtig. Mit dem Erstarken der politischen Freiheit, insbesondere durch Verallgemeinerung des parlamentarischen Wahlrechts, haben aber jene Prinzipien wiederum nachgeben müssen.
Vgl. in diesem Abschnitt „Vereins- und Versammlungsrecht“.
B. Politische Freiheit bedeutet:
1. In bezug auf die gesetzgebende Gewalt des Staates entweder unmittelbare Mitentscheidung über die Rechtskraft von Gesetzen – wie im Referendum – oder das Recht, einen Volksvertreter als Mitgesetzgeber zu wählen. Vgl. hierüber sechstes Hauptstück.
2. In bezug auf die richterliche Tätigkeit das Recht: 1. in der Strafgerichtsbarkeit als Geschworener oder als Schöffe zu fungieren; 2. in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten an der ordentlichen Gerichtsbarkeit mitzuwirken oder zu einer ausserordentlichen richterlichen Tätigkeit – z. B. zu Gewerbe- oder Kaufmannsgerichten – berufen zu werden. – Vgl. Abschnitt 23, 24.[3])
3. In bezug auf die Exekutive oder die administrative Gewalt 1. das Recht, die Beamten, denen diese anvertraut wird, zu wählen; 2. die Selbstverwaltung, als solche eine Freiheit der Gemeinden, kommunaler Verbände und Korporationen, woran aber der Staatsbürger unmittelbar oder durch Wahlrechte teilnimmt. – Vgl. Abschnitt 15.
Exkurs.
[Bearbeiten]Der Liberalismus, als politische Willens und Gedankenrichtung, hat sich immer viel stärker für bürgerliche als für politische Freiheit interessiert; ja er hat seine Postulate lange auf jene allein bezogen. Gerade den unumschränkten und aufgeklärten Fürsten hielt er für berufen, Duldung zu üben und die Bekenntnisfreiheit, Gedankenfreiheit zu schützen; auch das durch und durch liberale volkswirtschaftliche System der Physiokraten wollte (nach Rodbertus’ Ausdruck) den „Freihandel im Absolutismus“. Die Bewegung, die zum konstitutionellen Staate hinstrebte, ging unabhängig von diesen Ideen ihren Weg. Sie hatte zwar eine gemeinsame Basis in der naturrechtlichen Lehre von der Volkssouveränität und von der Begründung des Staates durch Verträge; aber praktisch stärker war im 18. Jahrhundert ihre Verbindung mit den nur durch Usurpation der Monarchen verdeckten ständischen Verfassungen, daher die Beziehung auf das englische Muster, worin eine solche Verfassung sich erhalten und bedeutend entwickelt hatte. An diesem Enthusiasmus für politische Freiheit nahmen daher auch die alten herrschenden Stände, Klerus und Adel, soweit sie nicht durch die Höfe zermürbt waren, lebhaften Anteil. Und der bürgerliche Liberalismus verlangte zunächst nichts, als Gleichstellung des Bauern- und Bürgerstandes, der in der geldbesitzenden Schicht seine natürlichen Führer anerkannte, mit den alten Ständen, wenn auch von da ein kurzer [247] Schritt zu der Forderung ging, dass sie in ihm, als dem allgemeinen nationalen Staatsbürgertum, auf- und untergehen sollten. Der dritte Stand wollte dann „alles“ sein und erklärte seine Versammlung als Nationalversammlung. – Gleichwohl haben in den meisten Verfassungen, die im 19. Jahrhundert gebildet wurden, die alten Herrenstände durch das Zwei-Kammern-System ihren Einfluss zu erhalten gewusst; mit den Oberhäusern dieser Art konkurrieren nur die ersten Kammern, die in den Bundesstaaten das föderative Prinzip darstellen, und eine freie Nachbildung in Gestalt des französischen „Senats“. – Das 19. Jahrhundert ist aber, ausser durch die Restauration und ihre Kompromisse mit der Revolution, durch das Emporsteigen des Proletariats auch politisch charakterisiert, das die liberalen Prinzipien im Sinne der Volkssouveränität aufnimmt, sie also in radikaler und demokratischer Richtung erweitert. Ihm steht die politische Freiheit, d. h. ihre Verallgemeinerung, im Vordergrunde seines Strebens; mit der bürgerlichen Freiheit ist es nicht zufrieden und sieht insbesondere in der wirtschaftlichen vorzugsweise die Macht der Starken über die Schwachen, die Freiheit der Ausbeutung. Er fordert und erlangt vom Staate Schutz dagegen, und erstrebt ihre Vernichtung durch Uebergang des Bodens und des Kapitals auf die Gesamtheit; der wirtschaftlichen Freiheit setzt sich die Idee der wirtschaftlichen Gleichheit entgegen. Der politischen Kräfte, die in den Massen gären, bemächtigt sich zeitweilig die Monarchie und mit ihr die alten Herrenstände, indem der Caesarismus auf Grund des „Suffrage universel“ sich etabliert, um die Bourgeoisie zu drücken. So konnte die Ausdehnung der politischen Freiheit als „französische“ Freiheit der „englischen“ gegenübergestellt werden. Jene wurde und wird – wenn demokratisch gestaltet – als Absolutismus und Willkürherrschaft („Tyrannei“) der jeweiligen Majorität bezeichnet. Die zentralisierte Verwaltung gilt als ihr hervorstechendes Merkmal, das sie mit dem fürstlichen Absolutismus gemein habe. Dagegen sagte im Sinne des älteren Liberalismus (und als Gedanken des Freiherrn v. Vincke) Niebuhr: aus der Erkenntnis, dass die Freiheit ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung beruhe, sei die preussische Städte-Ordnung hervorgegangen. Diese Denkungsart führte in Frankreich Tocqueville, in Deutschland Gneist weiter. Seitdem hat aber auch in England der demokratische Gedanke und der Einfluss der Massen starke Fortschritte gemacht, wenn auch noch nicht bis zum allgemeinen Stimmrecht: neuerdings (1911) besonders durch die Beschränkung der politischen Macht des Oberhauses, wogegen diese von den heutigen englischen Konservativen, mit denen die Altliberalen verbunden sind, als Hort der bürgerlichen Freiheit behauptet wurde. Herbert Spencer verklagte die Ausdehnung der (wenn auch demokratischen) Staatsgewalt als „neuen Toryismus“; Sozialismus war ihm nur ein anderes Wort dafür. Der Fortschritt des sozialistischen Gedankens hat aber bewirkt, dass sowohl die Tory- als die Whig-Partei jetzt, in Spencers Sinne, das Individuum und seine bürgerliche Freiheit gegen den Staat, und nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen die Verbindungen der Individuen ausspielen, wenigstens soweit es sich um Arbeiter-Verbindungen handelt. Immer offenbarer konzentriert sich gerade in England die politische Entwicklung um den Kampf zwischen der besitzenden und der Arbeiterklasse. Andererseits begegnet sich dieser Liberalismus in der Verneinung des Staates und aller Zwangsgemeinwirtschaften mit derjenigen kommunistischen Richtung, die an die Selbsthülfe der Arbeiterklasse appelliert und im theoretischen Anarchismus ihren konsequentesten Ausdruck sucht. – In Nebenländern ist die politische Freiheit als Stimmrecht auch auf Frauen ausgedehnt worden; und diese Ausdehnung steht in England wahrscheinlich nahe bevor. Sie wird freilich zunächst eher im altliberalen und aristokratischen als im demokratischen Sinne geschehen. Aber das Fortschreiten der Demokratie wird sich auch hier als unaufhaltsam erweisen, zunächst als Kompensation, aber auch als mögliches Heilmittel gegen die von der wirtschaftlichen Entwicklung getragene Plutokratie. Die daraus entspringenden Parteikämpfe werden nur durch sittliche und intellektuelle Momente gemildert werden können.
- ↑ Das zwiefache Wesen der Freiheit im Staate hat Aristoteles ausgesprochen. Freiheit bedeutet ihm 1. das Recht der Bürger, nach ihrem Belieben zu leben: 2. die Teilnahme der Bürger an der Regierung. Er will damit wiedergeben, was er bei den Anwälten demokratischen Verfassungsrechtes gefunden hat.
- ↑ „Und wenn es eine strohgedeckte Hütte ist – Regen und Wind mögen Zutritt haben, der König hat ihn nicht“ verkündete die Rhetorik Pitt’s d. Ae.
- ↑ Bemerkenswert ist, dass Tocqueville, der ein scharfes Auge für die Zusammenhänge von bürgerlicher und politischer Freiheit hatte, die Ansicht ausgesprochen hat, die auf Kriminalfälle eingeschränkte Jury sei in beständiger Gefahr; das Volk sehe sie nur aus der Ferne in einzelnen Fällen wirken, es betrachte sie wohl als ein Mittel guter Rechtspflege, aber nicht als das einzige. Sei sie aber einmal auch in die Zivil-Prozesse eingeführt worden, so trotze sie den Zeiten und allen menschlichen Anstrengungen. „Hätte man den Sitten der Engländer die Jury ebenso leicht wie ihren Gesetzen rauben können, so wäre sie unter den Tudors gänzlich unterlegen. Es ist also die Zivil-Jury, die in Wirklichkeit die Freiheiten Englands gerettet hat.“ De la démocratie II, 8, p. 212.