BLKÖ:Zerkowitz, Sidonie

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Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
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Zerich, Theodor
Band: 59 (1890), ab Seite: 340. (Quelle)
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Zerkowitz, Sidonie (Dichterin und Schriftstellerin, geb. zu Tobitschau in Mähren um das Jahr 1855). Ueber die jüdische Abstammung dieser Frau geht in der Familie derselben folgende Ueberlieferung: Sidonies Urahn väterlicherseits sei Banquier Kaiser Rudolfs II. in Prag gewesen und von ihm geadelt worden, weil er demselben öfter in Geldverlegenheiten zu Hilfe gekommen. Ein Herr von Zerkowitz soll auch unter den adeligen Juden auf dem Prager Friedhofe sein Grab haben. Ein Urahn mütterlicherseits, vorher Jude, sei dann Großinquisitor in Spanien geworden und habe eine Tochter Namens Aguilia gehabt, die ein bedeutendes Dichtertalent besaß. Durch eine Verschwörung gegen sein Leben habe er sich zur Flucht genöthigt gesehen, sei mit seiner Tochter nach Mähren gekommen und zu seinem ursprünglichen Glauben zurückgekehrt. Aus der Ehe dieser Tochter stammt die Familie mütterlicherseits. Sidonies Vater, eine sinnige poetische Natur, war Arzt in Tobitschau, lebte aber in ärmlichen Verhältnissen und wurde von armen Kranken, die er meist umsonst behandelte, sehr geliebt. Die Mutter besaß weniger wissenschaftliche Bildung, aber ungemein große geistige Gaben, ein seltenes Sprachtalent und eine bewunderungswürdige Fertigkeit in weiblichen Handarbeiten. Den ersten Unterricht erhielt Sidonie von ihren Eltern. Bis zum zwölften Jahre arbeitete sie vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein gehäkelte Tüchlein und erwarb damit täglich die für die damaligen Verhältnisse ansehnliche Summe von 25 bis 30 Kreuzer Conventions-Münze, indem [341] sie außergewöhnlich flink und fleißig war. Dabei führte sie noch Tag und Nacht die Aufsicht über ihren jüngeren Bruder Johann, denn um ein Dienst-, geschweige ein Kindermädchen zu halten, reichten die Einnahmen nicht hin. So entwickelte sich in Sidonie in frühester Jugend der heiße Wunsch und Vorsatz, durch eigenen Erwerb ihre Eltern aus deren Drangsalen zu befreien und ihnen eine behagliche Existenz zu sichern. Dieser Gedanke beherrschte sie auch durch ihr künftiges Leben und ist somit die Quelle der mitunter widrigen Geschicke, von denen sie betroffen wurde. Zwölf Jahre alt, besuchte sie die Bürgerschule in Holleschau mit vorzüglichem Erfolge. Ein Jahr später ging sie nach Wien, um dort die französische Sprache zu erlernen, und fand bei Verwandten eine nothdürftige Unterkunft. Wieder nach einem Jahre kehrte sie nach Holleschau zu ihren Eltern zurück und gab nun Privatunterricht im Französischen und in anderen Fächern; dabei bildete sie sich selbst weiter fort, erlernte Italienisch, Čechisch, Clavier und erwarb sich in kurzer Zeit nach öffentlich abgelegter Prüfung Zeugniß und Befugniß einer Lehrerin der französischen Sprache. Nun begab sie sich zunächst als Erzieherin nach Ungarn, wo sie wieder autodidaktisch nebst der englischen die magyarische Sprache erlernte und sich durch Selbstunterricht für die Prüfung als Lehrerin für öffentliche Schulen in Ungarn vorbereitete. Nach anderthalbjährigem Aufenthalt in Ungarn legte sie die Prüfungen ab, wurde aber durch ihre gewinnende äußere Erscheinung und ihre Selbstständigkeit bald Gegenstand großen Interesses der Pesther Schriftsteller- und Gelehrtenkreise; insbesondere erweckte die Leichtigkeit, mit welcher sie sich die magyarische Sprache angeeignet hatte, Verwunderung, denn sie legte zuerst die Volksschul- und bald darauf die Bürgerschullehrerinenprüfung an der königlich ungarischen Staatspräparandie in magyarischer Sprache mündlich und schriftlich mit glänzendem Erfolge ab; schrieb lyrische Gedichte, Essays, pädagogische Artikel in magyarischer Sprache in den ersten Tagesblättern Budapesths und wurde bald in den wissenschaftlichen und Schriftstellerkreisen so bekannt, daß sich die Aufmerksamkeit des Unterrichtsministers Trefort auf die junge Lehramtscandidatin richtete, der in den von ihr veröffentlichten pädagogischen Artikeln manche beherzigenswerthe Ansicht fand, welche dann bei den Reformen des damals noch im Argen liegenden Unterrichts in Ungarn zum Ausdruck kam. In der That erhielt Sidonie, die damals erst 15 Jahre alt war, die aber Jeder ihrer Größe und äußeren Erscheinung nach mindestens für 20 Jahre hielt, bald eine Stelle als Lehrerin an einer städtischen Schule in Ofen. Aber nicht nur ihre Gestalt trug wesentlich dazu bei, sie überhaupt für älter anzusehen, sondern auch die geistige Weise, die sie im persönlichen Verkehre, sowie in ihrem entschieden ausgedrückten Denken bekundete. Daß sie bei ihrem Ehrgeize, ihrem Streben, den armen Eltern eine ausgiebige Hilfe zu leisten, und bei ihrer nicht gewöhnlichen durch eigenen Fleiß erworbenen Bildung innerlich mit dem Lehrerinberufe ganz und gar nicht befriedigt war, begreift sich leicht. Der Dichter Coloman Tóth hatte eine tiefe glühende bis an sein Ende währende Neigung für sie gefaßt und trug ihr Herz und Hand an, sie lehnte aber diesen Antrag ab. Auch im Publicum bildete sich immer mehr die Ansicht aus, daß sie doch nicht auf [342] dem rechten Platze sei. Sie selbst empfand große Neigung zum Theater, betrieb Declamationsübungen, und alle Welt verwies sie einstimmig zur Bühne; man rühmte ihr auffallendes Talent für die Kunst, für welche sie auch durch ihre Erscheinung vorzugsweise berufen sei. Die sogenannten Kunstmäcene fehlten auch nicht, die natürlich auf Kosten der Ehre des Mädchens die Auslagen bestreiten wollten. Aber im Ekel vor solchem Geschäft ließ sie sich darauf nicht ein, wie verlockend sich ihr auch die Zukunft, als große Künstlerin zu tragiren, darstellte. Da griff ein wirklicher Mäcen werkthätig ein. Sie erhielt von einer Seite die Mittheilung, daß König Ludwig II. von Bayern sich lebhaft für das eigenartige Mädchen interessire und sie auf seine Kosten für das Theater wolle ausbilden lassen. Das war im November des Jahres 1874. Diese Aussicht war ihr willkommen, sie reiste nach München, wurde zu einer Probedeclamation auf das Hoftheater zugelassen, von welcher es abhing, ob sie auf Kosten des Königs ihre Bühnenausbildung erhalten solle. Die Probe fiel glänzend aus. Da führte ihr am zweiten Tage ihres Aufenthaltes in München das Verhängniß eine Person in den Weg, die alle bisherigen Pläne umwerfen sollte. Es war ein Enkel des berühmten griechischen Nationalhelden Theodor Koloktroni, des Siegers von Tripolizza in den Freiheitskämpfen des Jahres 1829. Der hinkende junge Mann machte nichtsweniger als einen günstigen Eindruck auf die angehende Künstlerin. Er war mütterlicherseits ein Enkel des suzeränen regierenden Fürsten der Moldau und Walachei. Von fast fieberhafter, ja unheimlicher Leidenschaft für das Mädchen ergriffen, verstand er es, das unerfahrene, berechnender Begierde ahnungslos gegenüberstehende Mädchen so zu umgarnen, daß ihre Phantasie in das Netz sie rettungslos trieb; er trug ihr seine Hand an, erzählte ihr von seinen Reichthümern, dem berühmten Namen seiner Familie, von den Aussichten auf eine glänzende Stellung, die ihm in Athen vorbehalten sei. Alle diese Angaben wurden von jungen Griechen, die sich Studien halber in München befanden, und sogar von dem Münchener griechischen Archimandriten bestätigt. Und im Geiste die Noth ihrer Eltern überblickend, welcher sie durch Annahme des Antrages mit einem Schlage ein Ende bereiten könne, begann sie zu schwanken, wollte aber doch vorher den Rath des Hoftheater-Intendanten, vor dem sie Probe gespielt hatte, einholen, und als sie diesem den Fall vorlegte, sprach er die entscheidenden Worte: „Fräulein Zerkowitz, es ist besser eine Fürstin Koloktroni zu sein, als eine Rachel in spe erst werden zu wollen.“ Sie reiste nun mit ihrem Bräutigam nach Venedig, trat dort zum Katholicismus über, verschaffte sich die Großjährigkeitserklärung von Seite ihres Vaters und wurde nach drei Wochen von dem Propste der St. Marcuskirche Gius. Marchiori mit dem Fürsten Koloktroni getraut. Nun reiste sie mit ihrem Gatten nach Athen und überzeugte sich daselbst bald, daß er wohl einer der vornehmsten Familien Athens angehöre, seine Angaben bezüglich seiner hohen Abkunft auf Wahrheit beruhen, er selbst aber demoralisirt und mit seiner Familie deshalb entzweit sei. Hatte sie ihn schon mit Widerwillen und aus Berechnung geheiratet, so widerte er sie nunmehr physisch und moralisch an: sie setzte nun alle Hebel in Bewegung und es gelang mit Hilfe einiger in Athen gewonnenen Freunde [343] sich von ihm frei zu machen, worauf sie in die Heimat zurückkehrte. Sie begab sich zu ihren Eltern nach Holleschau und genas daselbst nach einigen Monaten eines Knaben. Um nun ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, mußte sie als Mutter eines Knaben den Plan, Schauspielerin zu werden, völlig aufgeben, ließ das Kind in Obhut ihrer Eltern und nahm eine Erzieherinstelle in Mähren an. Die Lage war keine rosige; es galt für die Eltern und für das Kind zu sorgen, und die Einnahme war eine kleine; da bot sich ihr nach anderthalbjährigem Aufenthalte im Dorfe Winau bei Znaim eine sogenannte praktische Partie an. Ein Kaufmann Grünwald in Wien, Witwer mit vier Kindern, aber mit Vermögen, bot ihr seine Hand an und versprach ihr, für Kind und Eltern zu sorgen. Nun galt es, da sie römisch-katholisch war, die Scheidung von ihrem ersten Gatten zu erwirken. Durch einflußreiche Athenerfreunde und durch ausnahmsweise Entscheidung des damaligen Ministers Glaser in Wien gelang ihr dies. Aus dieser 1877 geschlossenen Verstandesheirat entstammen drei Knaben und zwei Mädchen. Eine geistige Frucht während dieser zweiten Ehe waren die beiden Schriften „Lieder der Mormonin“ und „Das Gretchen von heute“, von denen noch weiter unten die Rede sein wird. Frau Grünwald-Zerkowitz lebt seither in Wien, wo sie eine Modezeitung mit französischem Text in deutscher Uebersetzung, betitelt „La Mode“ herausgibt, in welcher sie auf das bei aller Mode einzig richtige Ziel hinarbeitet: bei jeder Toilette zu individualisiren, indem sie bei jeder Toilettenabbildung es gleich sagt: für welche Art von Gestalt diese oder jene Kleidform, für welche Art von Haut- und Haarfärbung diese oder jene Farbe und deren Abtönungen und Verbindungen entsprechend seien. Jetzt strebt sie auch darauf hin, eine staatliche Modeakademie für das Bekleidungskunsthandwerk in Wien ins Leben zu rufen, um das Bekleidungshandwerk auf eine Kunststufe zu erheben und Wien auf dem Weltmarkte auch in kostbaren Bekleidungsmodeartikeln gleich den Parisern leistungsfähig zu machen. Ihre Ideen in dieser Richtung hat sie in der Schrift „Die Mode in der Frauenkleidung“ (Wien 1889, Georg Szelinski, gr. 8°., 43 S.) entwickelt. Nach glaubwürdigen Quellen geht seit etwa zehn Jahren von ihr der Anstoß zu den „sensationellen“ Moden in Wien und Paris aus, und die meisten internationalen Moden seit einem Decennium, welche die Reise um die Welt machten, sollen von ihr ersonnen sein. Sie hat stark besuchte Vorlesungen über die Mode in der Frauenkleidung in Wien und Constantinopel gehalten. Aber noch auf einem anderen Gebiete begegnen wir der Frau Grünwald-Zerkowitz. Von einer Geschichte der ungarischen Literatur: „Magyar irodalom története. Szerkesztette Zerkowitz Sidonia“ (Budapesth, Franklin-Gesellschaft, 8°.), dem Büchlein „Zwanzig Gedichte von Koloman Tóth Tóth Kálmán). Aus dem Ungarischen“ (Wien 1874, Rosner, 12°.) und Uebersetzungen aus verschiedenen Sprachen abgesehen, welche sie noch als Lehrerin in Budapesth im Jahre 1874 veröffentlichte, gab sie auch Dichtungen heraus, die, wir können keinen anderen Ausdruck gebrauchen, einen ungewöhnlichen Erfolg hatten. Es erregten „Die Lieder der Mormonin“ (Herman Dürselen, Leipzig 1886 und A. Booth in Utah [Amerika] ebenso durch Format wie Inhalt Aufsehen. Die hundert Lieder, darunter wirklich einzelne Perlen, [344] sind in Form einer Thorarolle auf einem einzelnen Papierstreifen von 12 Centimeter Höhe und 4 Meter Länge an beiden Enden an Cylinderstäben befestigt. Sie sind von socialer Tendenz, „Wildgeruch vermischt sich mit Weihrauchduft, und man glaubt Herrenhuter-Hymnen in atheistischer Modernisirung“ zu lesen, wie ein Kritiker treffend bemerkt; diese Gedichte, schon in 6. Auflage erschienen, stellen die Gründe und die Tragik des Ehebruchs dar. – „Das Gretchen von heute“ (Wien 1890, Verlag der „La Mode“ in schmal oblangem Format) ist ebenfalls von socialer Tendenz. Es enthält auch reizende Einzelnheiten und gibt psychodramatisch ein Bild modernen Liebens, wie es der Materialismus der Zeit gestaltet. Es tritt für das vermögenlose Mädchen ein, das „geliebt“ und nicht „geheiratet“ wird, und ist eine Anklage gegen jenes moderne Freierthum, von welchem die Dichterin das arme Gretchen sagen läßt: „du wirst zur Schwalbenbraut wählen, die dir das Nest erbaut“. Die sinnberückende Darstellungsweise der erotischen Leidenschaft hat den Staatsanwalt veranlaßt, das Buch in Oesterreich zu verbieten.

Neue Freie Presse (Wiener polit. Blatt) December 1874, Nr. 3703 und 3709: „Madame Kolokotronis“. – Kaktus (Wiener Witzblatt, gr. Fol.) 1874, Nr. 34 im Feuilleton: „Blaustrumpf und Fürstin“.