Briefe aus einem Weltbade
Briefe aus einem Weltbade.
Liebstes Annchen!
Ich habe es mit Hilfe unseres alten Sanitätsrathes erreicht –
er hat mich ins Seebad geschickt. Der brave Doktor hat meinen Mann zu überzeugen gewußt, daß meine Nerven (wenn ich nur wüßte, was man eigentlich darunter versteht) sich nur in Ostende beruhigen und stärken können, daß ich der ersten größeren Wintergesellschaft unterliegen würde, wenn nicht rechtzeitig etwas für mich geschieht. Karl hat sich anfangs gegen dieses Reiseprojekt freilich gesträubt; Du weißt, er ist schwer von einer Nothwendigkeit zu überzeugen (erinnere Dich meiner Kämpfe bezüglich des letzten Subskriptionsballs), er hat bei aller Liebe, mit der er mich sonst überhäuft, kein rechtes Verständniß für zarte Rücksichten; ich glaube, er weiß nicht einmal, was „Nerven“ sind, er selbst erfreut sich ja – unberufen – einer eisernen Gesundheit. Aber
ich – erinnerst Du Dich der Gesellschaft bei L–s, im März? Sah ich nicht
damals schon schrecklich leidend aus? Ich habe es aber auch verschworen, jemals wieder etwas Grünes anzuziehen, es verträgt sich nun einmal nicht mit – meinem Teint.
Aber nun zu Wichtigerem: Hier ist es herrlich, ach, Annchen, wie bedaure ich Dich, daß Du die Reize eines Seebades nicht kennst, daß Du an einen Mann gekettet bist, der zu seiner Glückseligkeit durchaus Alpennatur nöthig hat, der sich nur so und so viele hundert Fuß über dem Meeresspiegel wohl fühlt!
War es nicht Dein Mann, der in diesem Winter in der Gesellschaft bei P–s die Aeußerung that, das Gemüth bedürfe großartigerer Eindrücke, als das Seebad mit dem ewigen Einerlei „Sand und Meer“ zu bieten vermag? Ich bitte Dich! Was man etwa in der Schweiz hat! Ewig die „Jungfrau“ und immer wieder die „Jungfrau“. Uebrigens ist Ostende besonders von der Natur bevorzugt – wie mir gestern Nachmittag am Strande ein Herr, der mir vorgestellt wurde, versicherte. Würden sonst der König und die Königin von Belgien den Sommer hier verbringen, hätten sie sich sonst ein wunderbares Schloß im Westen Ostendes erbauen lassen? Ich glaube nicht. Und was für herrliche Ausflüge giebt es hier! Und denke Dir, immer per Esel. Diese Partien ins Land machen ungeheuer viel Spaß. Hast Du schon auf einem Esel gesessen? Es ist ein ganz merkwürdiges Gefühl: der erhabene Menschengeist auf dem Sinnbilde der Dummheit! Man hat mir gesagt, daß es ganz gefahrlos ist, und ein Russe, der mir heute auf der Estacade vorgestellt wurde und der seit 18 Jahren seinen Sommer in Ostende verbringt, hat mir sein Ehrenwort gegeben, daß ein solches Thier [513] noch nie durchgegangen ist oder einer Reiterin Ungelegenheiten bereitet hätte. Ach, hättest Du mich bei meinem ersten Ritte gesehen! Ich hatte das durchbrochene Grenadinekleid an, das Hellgelb paßte außerordentlich zu der grauen Farbe des Thieres.
Das Amüsanteste bleibt aber der Strand. Man kann stundenlang dasitzen und auf das Meer hinausschauen und über das Räthsel der Unendlichkeit nachdenken. Ich will das auch gewiß noch thun, vorläufig giebt es für mich aber noch viel Anderes zu sehen. Ach diese Toiletten, man wird nicht müde, die weiblichen Erscheinungen zu mustern! Und wie reizend die Kinder angezogen sind, zum Küssen! In Atlas und Seide liegen sie im Sand, ich würde das Gustel nie erlauben. Man hört hier in allen Sprachen konversiren, Ostende ist ein Bad „pour tout le monde“; der liebenswürdige Russe, ein Bekannter unsrer L–s, hat mir, gründlich wie er ist, heute einige Notizen auf meinen Holzfächer geschrieben, die ich Dir mittheile, damit Du ein Bild von der bunten Gesellschaft Ostendes erhältst. Im vorigen Jahre haben hier 15048 Belgier, 5257 Franzosen, 4018 Engländer, 3978 Deutsche, 697 Russen, 562 Amerikaner, 478 Ungarn, 474 Holländer, 111 Schweizer, 104 Serben, 87 Italiener, 40 Spanier, 29 Afrikaner, 25 Asiaten, 14 Australier, 5 Türken, 4 Griechen etc. gebadet, die Zahl der Besucher schwankt zwischen 35- und 40 000; und das in den vier Monaten Juni bis September!
Das Merkwürdigste ist, daß ich noch Niemand gesprochen habe, der sich in meiner Lage befindet und zum ersten Male ein Seebad gebraucht. Die Meisten kennen bereits Scheveningen, Trouville, Biarritz, Norderney, Helgoland oder wenigstens Heringsdorf. Aus den Vergleichungen entnehme ich, daß das eleganteste Badeleben sich in den französischen Seebädern entwickeln soll, der Strand soll dem Boulevard des Italiens in Paris gleichen und in Bezug auf „chic“ soll dort das Höchste geleistet werden. Frau von B., die auch hier ist, aber morgen abreist, erzählte mir, daß sie in Trouville ein Vermögen ausgegeben habe, sie ist allerdings gewohnt auf großem Fuß zu leben. Trotzdem habe ich mir vorgenommen, jenes großartige Leben im nächsten Jahr, wenn es meine Gesundheit erlaubt, kennen zu lernen. Der Doktor wird mir wohl seine Hilfe nicht versagen, und wenn ich, so Gott will, nur halbwegs leidend bin, wird mir’s Karl nicht abschlagen. Das Meer, von dem ich eigentlich eine richtige Vorstellung nicht hatte, ist gar nicht so wild, wie ich dachte, es ist sogar sehr artig und sendet nur ruhige, flache Wellen an den sandigen Strand, man wird bald vertraut mit ihm und man verlernt förmlich allen Respekt vor dem gewaltigen Ocean, den Schiller z. B. im „Taucher“ so schrecklich schildert. Vielleicht hat unserem Dichterfürsten das Bild des Meeres an der Küste von Biarritz vorgeschwebt, wo es Riffe und Felsen giebt, hier findest Du nur Sand, und man muß [514] im Wasser lange waten, ehe die Fluth die Unzulänglichkeit der Badebekleidung bedeckt.
Was nun das Baden betrifft, so muß ich Dir gestehen, daß mich – die ich bisher nur an die Abgeschlossenheit unserer Badestube gewohnt war – ein Schauer überlief, als ich dieses Treiben hier sah. Die Eintheilung der Badestunden ist hier nämlich so merkwürdig, daß die der Damen mit jenen der Herren zusammenfällt, und Du kannst Dir denken, daß man einigermaßen überrascht ist, wenn man am Morgen im Wasser von einem Herrn begrüßt wird, mit dem man am Abend zuvor im Kursaal getanzt hat. Denke Dir: heute stellte mir Tante Clara im Bad den Lieutenant von B. vor – ich hätte beinahe laut aufgelacht – wenn ich nicht selber so betroffen gewesen wäre. Zu Deiner Beruhigung bemerke ich, daß er seine Uniform mit einem sehr kleidsamen gestreiften Trikot vertauscht hatte.
Es giebt Damen, die förmlich Toilette machen, ehe sie den Badekarren verlassen, – und die meisten Engländerinnen lassen ihr unverwahrtes Haar auf der Fluth schwimmen, angeblich aus Rücksichten für das Gedeihen des Haares, im Grund ist es aber eine Koketterie wie eine andere. Wenn man nicht selber befürchten müßte, kritisirt zu werden, könnte man interessante Studien machen; ach, wie hat mich die Baronin K., die in Berlin auf den Bällen so viel Furore macht, enttäuscht, – ja, das Badekostüm kleidet nicht Jede!
Aber, ich glaube, diese Betrachtungen führen mich zu weit, auch hat es soeben zu regnen aufgehört, ich verlasse mein einfaches Stübchen im Hotel Mertiau und eile nach der Estacade. Mein nächster Brief soll die Beschreibung Ostendes vervollständigen, ich habe Dir noch nichts vom Kursaal, von den Koncerten, den Rennen und den andern Herrlichkeiten dieses Weltbades geschrieben, obwohl ich bereits so genau Bescheid weiß, als hätte ich jeden Sommer in dem reizenden Ostende verbracht.
Wie bedauere ich Dich, liebes Annchen, daß Dich der starre Wille eines gerade in der Badesaison etwas eigensinnigen Lebensgefährten nach der langweiligen Schweiz verbannt hat, Du hättest ein besseres Los verdient. Adio für heute und unzählige freundschaftliche Umarmungen von Deiner aufrichtigen Freundin Grete.
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Liebes Annchen!
Ich habe mich mit dem Meere bereits innig befreundet, es ist ein stiller, liebenswürdiger Gesellschafter, an dem man immer neue charmante Seiten entdeckt. Ein eigenartiges Vergnügen bietet es, am grasbewachsenen Uferrande zu sitzen und mit dem bewaffneten Auge viele, viele Meilen des Meeres zu beherrschen. Mein Vetter hat mich in der Flaggenkunde unterrichtet, und es gewährt viel Amusement, die Nationalität der in Sicht kommenden Schiffe zu ergründen. Man kann auf diese Weise mehrere Stunden verbringen, und darauf kommt es doch an, denn der Tag ist lang, und Lieutenant von B. bemerkte neulich sehr zutreffend: „Man ist doch am Ende keine Schildkröte, daß man in einem fort im Wasser liegen kann.“
Zur Abwechselung unternimmt man wohl auch eine Promenade auf der Estacade, einem im Osten Ostendes ins Meer gebauten Damm aus Pfählen, mit einem Leuchtapparate an seinem Ende. Hier legen die Dampfer an, Angler und Netzfischer belagern das Geländer, und sogar Damen werfen hier ihre Angel aus – versteht sich – nach Seefischen.
Bei Regenwetter bietet der Kursaal einen angenehmen Aufenthalt, ein wahrer Prachtbau zwischen
[529][530] dem Meere, der Avenue und dem Leopolds-Parke. Denke Dir unter einer imposanten Rotunde einen Saal, der 6000 Personen faßt; besonders am Abend, wenn 600 Gasflammen und ein Paar Sonnenbrenner diesen eleganten Raum erhellen, ist der Anblick geradezu feenhaft. Rings herum wandelt man unter Arkaden, so daß man den Anblick der geliebten See nie zu missen braucht, selbst bei Sturm und Wetter sieht man durch die Scheiben auf das unendliche, geheimnißvolle Meer. Ach, wie erhaben ist der Anblick der unermeßlichen See, mein liebes Annchen, und ganz in der Nähe ist ein Ballsaal, der 17 Meter lang und 36 Meter breit ist. Ich habe die Maße von meinem russischen Freunde, der mir auch eingeprägt hat, daß der neue Kursaal von einem Brüsseler Architekten Namens Naert erbaut wurde und daß die Anlage ein tiefes Studium und eine glückliche Hand bekunde.
Man hat mir auch die Namen der Künstler rühmend genannt, welche die Säle dekorirt und bemalt haben – aber ich habe sie vergessen. Nur Rühmliches kann ich Dir von der Kurkapelle melden. Sie besteht aus 75 tüchtigen Musikern, die sich hören lassen können. Gott, wie haben sie gestern wieder den Walzer aus „Mascotte“ gespielt, als ich mit dem jungen Grafen L. tanzte! Ein reizender, junger Kavalier! Audran ist mir unter allen Komponisten der liebste!
Aber auch die täglichen Koncerte entsprechen höheren Anforderungen, natürlich: Mr. Perrier, der Chef des Orchesters, gehörte jahrelang der Großen Oper in Paris an. Außerdem besitzt Ostende ein niedliches Theater, in welchem besonders Operetten und Vaudevilles aufgeführt werden, die reizende Judic und Coquelin vom Theatre Français aus Paris haben hier vor einiger Zeit gastirt. Vom Rennen habe ich Dir schon geschrieben – ich interessire mich nicht dafür, mir thun auch hier die armen Pferde leid, aber wie beschäftigt ein bevorstehendes Rennen die hiesige Gesellschaft! Dann ist der Strand beinahe wie abgefegt, die Zelte und Körbe sind leer und die interessanten Frauen mit dem gelben Buch – es ist immer ein französischer Roman – kommen nur in einzelnen Exemplaren vor. Die Kinder bleiben freilich zurück, aber die Herrenwelt, besonders die Engländer und Franzosen, sind an solchen Tagen vollständig mit dem Rennen beschäftigt, und tagelang hört man nichts Anderes als die abgeschmackten Namen der Rennpferde. Ebenso gleichgültig verhalte ich mich der Regatta gegenüber – allerliebst sind aber die wöchentlichen Kinderfeste mit Ball.
An gewöhnlichen Nachmittagen versammelt sich die feine Welt mit Vorliebe vor dem Kursaal. Aeltere Damen lesen – häufig haben sie die Buchdecke so umgeschlagen, daß man den Titel nicht sehen kann – ihre französischen Romane, die unschuldigere Jugend, besonders die jungen Ladies, erscheinen mit großen und kleinen, in graue Leinwand gebundenen Skizzenbüchern, und da wird nun drauf los gezeichnet und aquarellirt, aber ich glaube, es kommt nichts Rechtes dabei heraus. Der Lieutenant meinte neulich: „Man kann das Meer auch gar nicht abzeichnen, es ist viel zu unruhig.“ Es wird auch viel gemalt, fast ausschließlich in Wasserfarben, es wäre meist schade ums Wasser, wenn nicht so viel davon da wäre.
Die meisten Damen betreiben das, wie ich Dir nicht erst zu versichern brauche, aus purer Koketterie. Sobald ihnen ein Bekannter – oft ist’s auch ein Wildfremder – über die Schulter guckt, und ein paar Worte („Wie reizend! – Ah charmant! – How nice!“) an sie richtet, lassen sie den Radirgummi ruhen und die Unterhaltung beginnt.
Deine Frage, liebe Freundin, gegen welche Leiden Ostende hilft, ist nicht so einfach zu beantworten. Man kann das nicht so sagen wie etwa von Marienbad, Franzensbad, Reichenhall etc. Es heißt ja auch immer nur: „Sie müssen nach Karlsbad,“ nie aber: „Sie müssen nach der See.“ Wie lange habe ich dazu gebraucht, bis ich unsern Sanitätsrath überzeugt habe, daß mein Organismus, und vor Allem meine Nerven, dringend nach Ostende verlangen! Man ist nicht krank in Ostende, man begiebt sich dahin, um, wie der Lieutenant sagt, „den Geist ausruhen zu lassen“ – um die stärkende Seeluft zu athmen und eine Pause eintreten zu lassen, deren Jeder bedarf, der nur halbwegs im Mittelpunkt des großstädtischen Lebens steht. – Wer bedürfte nicht einiger Wochen vollständiger Ruhe, mindestens zu seiner geistigen Sammlung!
Verzeihe, daß ich schon schließe, aber es ist heute im Kursaal wieder Ball und ich muß mich noch mit meiner Toilette beschäftigen. Du glaubst nicht, wie viel man zu thun hat, wenn man, wie hier, gar nichts zu thun hat. Wie beneide ich Dich in Deiner ländlichen Abgeschiedenheit, wenn Du auch nach meiner Ueberzeugung von Deinem Sommer gar nichts hast, Du hast wahrscheinlich ein Reise- und ein Kattunkleid mitgenommen. Gott sei Dank, ich habe ausreichend vorgesorgt, und der Sanitätsrath, der Ostende genau kennt, hat mir sechs Toiletten verordnet, soviel muß man nämlich haben, wenn einem der Aufenthalt in Ostende bekommen soll und wenn man so jung und – sage meinetwegen so eitel ist wie Deine treue Freundin Grete.