Compaßpflanzen

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Autor: Carus Sterne
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Titel: Compaßpflanzen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 292–295
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Compaßpflanzen.

„Schau’ dieses zarte Gewächs, was über die Wiese sein Haupt hebt
Gleich dem Magnete getreu die Blätter nach Norden gerichtet,
Compaßpflanze genannt, von Gottes Händen gepflanzet,
Um dem Wandrer den Weg durch die einsame Wüste zu zeigen,
Die sich öd’ wie die See und pfad- und grenzenlos ausdehnt.“

Longfellow, „Evangeline“.

In der Schule wurde uns gelehrt, daß man sich im Walde, wenn man irre gegangen sei, leicht orientiren könne, wenn man beachte, daß die Baumstämme stets auf der Südwestseite am stärksten mit Moosen und Flechten bewachsen seien. Dieser Wegweiser ist in der That ziemlich zuverlässig, wenn man dickere Stämme in nicht allzu dichten Beständen vor sich hat, denn dann zeigt sich die nach Westen gerichtete Seite, von welcher bei uns die feuchten Winde und Regenschauer des Frühjahrs und Herbstes kommen, wirklich am stärksten mit diesen Feuchtigkeit liebenden Gewächsen besetzt, während die trockenere Nordostseite gänzlich von denselben frei ist. In dichteren Beständen mit feuchtem Untergrunde läßt aber diese schon von Rousseau empfohlene Regel im Stiche. Natürlich gilt sie in obiger Form überhaupt nur für solche Länder, welche, wie der größte Theil Mitteleuropas, den West- und Südwestwinden ihre häufigsten Niederschläge verdanken.

Von einer in anderer Weise leitenden „Compaßpflanze“, welche dem Wanderer in den unendlichen baum- und pfadlosen Prairien Nordamerikas an trüben Tagen wie in sternlosen Nächten die Weltrichtung anzeige, wußten die Prairiejäger und Ansiedler seit langer Zeit zu erzählen, nannten das merkwürdige Gewächs Pol- oder Compaßpflanze (Polar Plant, Pilot Plant) und berichteten Wunderdinge von seiner Zuverlässigkeit. Aber die Botaniker und Nichtbotaniker schüttelten den Kopf dazu und hielten die Angabe, daß die Blätter dieser Pflanze stets unverrückt nach Norden zeigen sollten, für ein Märchen. Erst 1842, als General Alvord der amerikanischen Gesellschaft zur Beförderung der Naturwissenschaften auf ihrer Jahresversammlung zu Washington einen Bericht über die Pflanze vorlegte, vernahmen weitere Kreise Näheres über das sagenreiche Gewächs.

Es zeigte sich nun, daß diese aus den Prairien von Texas im Süden, bis nach Iowa im Norden und von Michigan im Osten bis nach Missouri und Arkansas im Westen verbreitete Pflanze eigentlich ein alter Bekannter war, denn schon im vorigen Jahrhundert (1781) hatte sie der Botaniker Thouin nach Europa gebracht, und man hatte sie ihrer stattlichen Erscheinung und ihres harzigen Geruches wegen, der ihr den Volksnamen „Terpentinpflanze“ und den wissenschaftlichen Namen der Silphiumpflanze (Silphium laciniatum) nach dem hochberühmten Silphium der Alten eintrug, in mehreren botanischen Gärten Europas gezogen, ohne zu ahnen, welches Mysterium dieser Pflanze außerdem noch innewohnt.

Compaßpflanzen.
A Die amerikanische Compaßpflanze (Silphium laciniatum) stark verkleinert.
B Eine deutsche Compaßpflanze (Lactuca Scariola) natürliche Größe.

Wenn Longfellow in seinen oben von uns nur theilweise angeführten Versen die Compaßpflanze ein „zartes Gewächs mit zerbrechlichem Stengel“ genannt hat, so beweist dies eben, daß er dieselbe niemals selbst in ihrer Kraft und Fülle gesehen, und den General Alvord, der ihn direct zu dieser Verherrlichung veranlaßt haben soll, falsch verstanden hat. Es ist vielmehr eine robuste, rauhbehaarte, über Manneshöhe erreichende Pflanze mit großen doppelt fiedertheiligen Blättern und ansehnlichen tiefgelben Blüthenköpfen, die nicht sehr viel kleiner sind, als die unserer bekannten Sonnenblume, kurz eine der vielen gelbblühenden Korbblumen oder Compositen der nordamerikanischen Prairien. Am meisten fällt in ihrer allgemeinen Erscheinung auf, daß die Blätter der Pflanze nicht wie gewöhnlich horizontal, sondern senkrecht wie die Hände oder Tafeln eines Wegweisers nach zwei entgegengesetzten Richtungen ausgebreitet stehen.

Machen wir uns diese eigenthümliche Erscheinung etwas klarer. Die meisten der im freien Felde wachsenden Pflanzen breiten bekanntlich ihre Blätter wagerecht aus, sodaß ihre Oberseite mit vollen Zügen das von oben herabstrahlende Licht trinken und mit ganzer Fläche auffangen kann. Darnach unterscheidet man bekanntlich eine Oberseite und eine Unterseite der Blätter, die schon äußerlich dadurch auffallen, daß ihre Oberseite gewöhnlich ebener und glänzender, meist auch tiefer grün gefärbt erscheint, als die Unterseite, während auf dieser die Adern und Nerven stärker hervortreten, wozu häufig eine stärkere Behaarung oder Filzbildung hinzutritt. Als typisch mag hier auf das oben dunkelgrüne, unten schneeweiße Blatt der Silberpappel verwiesen werden, welches den classischen Völkern deshalb als das Symbol der beiden Welten, der Ober- und der Unterwelt, oder sagen wir besser: der Licht- und Schattenwelt galt, denn die Blätter dieses Baumes richten sich nicht immer einfach mit der Oberseite nach oben, sondern vielmehr, wie wir bald sehen werden, senkrecht zum einfallenden Licht.

Mit dem Mikroskope kann man zwischen Ober- und Unterseite der Blätter noch einen andern lehrreichen Unterschied wahrnehmen, der darin besteht, daß die Unterseite kleine, von zwei bohnenförmigen Zellen begrenzte Oeffnungen in viel größerer Zahl aufweist, als die Oberseite. Diese sogenannten Spaltöffnungen vermitteln den Gasaustausch (Ernährung und Athmung) der Pflanze, sodaß also eine wirkliche Polarität und Arbeitstheilung zwischen Licht- und Schattenseite der Blätter ausgebildet ist; die eine läßt das Licht in ihren Zellen arbeiten, und die Nahrungsstoffe aus den luftförmigen Stoffen scheiden, welche die Unterseite durch ihre Spaltöffnungen [293] aufnimmt. Ein Gewächs, welches am hellen Tage sein grünes Gewand sozusagen über den Kopf zusammenschlagen und die Kehrseiten der Blätter zeigen wollte, würde uns „nicht recht bei Troste“ erscheinen, nur der Wind treibt solche Scherze, wenn er zur Freude der Maleraugen die Wipfel der Weißpappeln und Weiden aufwühlt.

Die Compaßpflanze gehört aber zu der viel beschränkteren Anzahl von Pflanzen, welche ihre Blätter auch auf offenem Felde nicht wagerecht gegen den Himmel ausbreiten, sondern sie mehr oder weniger scharf senkrecht stellen, sodaß die Strahlen der glühenden Mittagssonne machtlos an ihren beiden Flächen hinabgleiten. Daß nun aber die Spitzen dieser senkrecht stehenden Blätter, und namentlich der Wurzelblätter, theils nach Norden und theils nach Süden zeigen sollten, während die Flächen der Blätter theils nach Osten und theils nach Westen gerichtet wären, wollten die Botaniker vom Fach anfangs nicht zugeben. Ein im botanischen Garten zu Cambridge (Massachusetts) gezogenes Exemplar zeigte diese Haupteigenthümlichkeit der Pflanze, auf welcher doch ihr ganzer Ruhm ruhete, nicht, und ebenso wenig konnte sie der berühmte Botaniker Hooker an Exemplaren bemerken, die im Garten zu Kew gezogen worden waren. Der General Alvord ließ sich indessen durch alle diese gegen seinen Liebling geäußerten Zweifel und Einwendungen nicht irre machen. Er stellte von Neuem in der Prairie Hunderte von Messungen an und ließ sie durch den Stab seiner Officiere und Feldmesser wiederholen, die mit dem Compaß in der Hand feststellten, daß die weitaus größte Zahl aller von ihnen auf den heimathlichen Gefilden untersuchten Pflanzen streng in der Mittagslinie (Meridianebene) gewachsen waren, sodaß die eine Hälfte ihrer Blätter nach Norden, die andere nach Süden zeigte, keines nach Osten oder Westen, welchen Himmelsgegenden vielmehr stets die abwechselnden Flächen der Blätter zugewendet waren. Der General Alvord brachte diese glänzende Rechtfertigung seines Schützlings und die Bestätigung des Indianerglaubens 1849 vor die Versammlung der amerikanischen Naturforscher zu Cambridge, und seitdem ist der Ruf der Compaßpflanze nicht mehr angetastet worden.

Damit hatte sich zu dem alten noch ein neues Mysterium gesellt; es blieb nun nicht blos zu erklären, worin die richtende Macht der Pflanze überhaupt bestehe, sondern auch, weshalb sie dieselbe anscheinend bei der Cultur verliere. Man stellte mancherlei Untersuchungen darüber an, die aber meist nur über nebensächliche Fragen Auskunft gewährten. So wurde z. B. durch Edward Burgeß festgestellt, daß bei den Blättern der Compaßpflanze, ähnlich wie bei andern senkrecht gestellten Blättern und blattartigen Zweigen, der anatomische Bau von Ober- und Unterseite viel weniger verschieden ist, als bei wagerecht ausgebreiteten Blättern, und daß namentlich die Zahl der Spaltöffnungen auf beiden Seiten fast völlig gleich war; es giebt ja hier keine Ober- und Unter-, keine Licht- und Schattenseite, sondern nur eine Ost- und eine Westseite.

Vergebens suchte F. W. Whitney (1871) und noch später ein amerikanischer Gärtner, Namens Meehan, die Ursache der Orientirung nach den Himmelsrichtungen zu ermitteln, ohne dieselbe völlig aufzuklären. Diejenigen, welche sich mit Worten begnügen, faselten von einer eigenthümlichen magnetischen Richtkraft, wie sie einst Middendorff zur Erklärung des Orientirungssinnes der Wandervögel herbeigerufen hatte – und worin ihm noch heute unklare Köpfe nachbeten – und Andere träumten gar von dem Einflusse der elektrischen Erdströme, denen die Pflanze ihre Polarität verdanken sollte. –

Erst ein deutscher Botaniker, Professor Dr. C. Stahl in Jena, hat in jüngster Zeit das Räthsel der Compaßpflanzen ergründet und zwar an einer durch ganz Deutschland verbreiteten Compaßpflanze, dem wilden Lattich (Lactuca Scariola) unserer Triften und Wegränder, einer nahen Verwandten unseres allbeliebten Kopfsalats. Er fand, daß dieser wilde Lattich (und noch einige andere bei uns einheimische Pflanzen) ebenso genau [294] wie die vielgefeierte Blume der Prairien die Himmelsgegenden mit seinen senkrecht gestellten Blättern bezeichnete, was man bis dahin vollständig übersehen hatte. Eine Anzahl von geistreich abgeänderten Versuchen zeigte ihm, wie er im Voraus vermuthet hatte, daß die genaue Einstellung der Blätter dieser Pflanzen in die Mittagsebene einzig durch das Verhalten der Blätter gegen das Licht bedingt wird, ohne daß dabei irgend welche magnetische oder elektische Kräfte in Betracht kommen. Professor Stahl hat darüber in einer Abhandlung berichtet, die auch als besondere kleine Schrift („Ueber sogenannte Compaßpflanzen“, Jena) erschienen ist und der wir einzelne der hier mitgeteilten Thatsachen, sowie die Abbildung der deutschen Compaßpflanze entnommen haben.

Wie Jedermann und besonders die schöne Leserin aus den Erfahrungen der Zimmerpflanzenzucht weiß, wachsen die meisten Pflanzen dem Lichte entgegen, und viele von ihnen, z. B. die Bocksbartarten unserer Wiesen, wenden ihre Blumen stets der Sonne zu, sodaß sie ihrem Laufe am Himmelsgewölbe folgen und Abends ihre nach Westen gerichtete Blüthe schließen, um sie des Nachts aufzurichten und beim ersten Frühscheine wieder nach Osten zu wenden. Eine ähnliche Eigenschaft, wie sie von so vielen Blumen bekannt ist, beobachtete Dr. Fritz Müller in Brasilien kürzlich an den jungen Blättern einer schönen gelben Schmetterlingsblume aus der Ginstergruppe (Crotolaria cajanaefolia) welche die ganze Nacht hindurch so auffällig nach der Stelle hindeuteten, wo die Sonne untergegangen war, daß sich ein Wanderer darnach fast noch bequemer als nach der Compaßpflanze hätte orientiren können.

Man bezeichnet diese Eigenschaft der Stengel, Blumen und Blätter, sich nach dem Lichte hinzuwenden, allgemein als Sonnenwendigkeit (Heliotropismus) und die umgekehrte Eigenschaft einzelner Pflanzen, das allzu grelle Licht zu fliehen und den Halbschatten zu suchen, als negativen Heliotropismus oder Apheliotropismus.

Während nun die meisten Stengel die Eigenschaft haben, dem Lichte entgegenzuwachsen, besitzen die meisten Blätter die Fähigkeit, sich gegen die auf sie treffenden Lichtstrahlen senkrecht zu stellen, das heißt also auf offenem Felde, wo das Licht von oben kommt, wagerecht, im Gebüsch und in der Baumkrone den veränderten Umständen gemäß. Man bezeichnet diese Eigenschaft der Blätter, sich stets quer gegen das einfallende Licht zu stellen, der zu Liebe sie an wagerechten Zweigen und im dichten Baumwipfel mancherlei Drehungen ausführen, um stets den größten Lichtgenuß zu haben, als Diaheliotropismus, und von diesem giebt es eigentlich weniger Ausnahmen als vom Heliotropismus.

Indessen finden wir namentlich in den lichtempfindlichen Familien der fiederblätterigen Pflanzen, zu denen die echten Akazien und Mimosen gehören, eine Anzahl von Pflanzen, welche ihre Blätter für gewöhnlich zwar ebenfalls senkrecht zum herrschenden Licht stellen, das heißt sich vorwiegend horizontal ausbreiten, dagegen der intensiven Mittagsgluth der Sonne zu entfliehen suchen, indem sie ihre Blätter zusammenfalten und geradezu in die Richtung der Sonnenstrahlen stellen, um möglichst wenig von denselben bestrichen zu werden.

Zu dieser Classe von Pflanzen, welche die Mittagssonne fürchten, gehören nun offenbar auch die Compaßpflanzen mit ihren dauernd senkrecht gegen den Himmel aufgerichteten Blättern. Bei der deutschen Compaßpflanze, dem wilden Lattich, stehen die leierförmig eingebuchteten Blätter ihrem natürlichen Wachsthum nach eigentlich, wie bei den meisten Pflanzen, gleichmäßig rings um den Stengel vertheilt, sodaß ihre Spitzen von rechtswegen nach allen Himmelsgegenden zeigen müßten. Allein die Südrichtung bietet im Sommer ebenso wenig Lichtreiz als die Nordseite, denn die Sonne geht dann nicht wie im Winter rings am Horizonte herum, sondern ihr Lauf schneidet die Mittagslinie beinahe in senkrechter Ebene, sie steht am Mittag mehr oder weniger im Scheitel des Beobachters, sodaß für die seitliche Belichtung der Sommerpflanzen eigentlich nur Osten und Westen in Betracht kommen. Solche Pflanzen, welche, auf freiem Felde wachsend, die Mittagsgluth scheuen, werden daher eine Anregung erhalten, sich streng nach der Mittagslinie zu richten, die Blattoberflächen ein für allemal gegen Osten und Westen zu kehren, um sowohl die Morgensonne wie die Abendsonne zu genießen, und so zu einem lebendigen Compaß aufzuwachsen.

Von den ursprünglich gleichmäßig rings um den Stengel vertheilten Blättern unseres wilden Lattichs werden daher die auf der Süd- und Nordseite des Stengels hervorwachsenden Blätter eine Drehung des Blattstiels um circa neunzig Grad ausführen, um ihre Flächen abwechselnd nach Osten und Westen zu richten, während sich die schon durch die natürliche Wachsthumsrichtung nach Osten und Westen gerichteten Blätter nur einfach gegen den Stengel zu erheben brauchen, um ihre Blattflächen nach Osten und Westen zu kehren, wobei sie sich nur seitlich ein wenig ausweichen. Die Pflanze wächst also erst in Folge des auf sie wirkenden Sonnenscheins sozusagen in die senkrechte Mittagsebene hinein, ähnlich wie die rings um die Achse vertheilten Blätter vieler wagerechten Baumzweige erst durch mannigfache Drehungen und Biegungen der Blattstiele in die vorherrschende, zweizeilig wagerechte Anordnung hineinwachsen, und daher kann es kommen, daß, wenn die Sonne in der Hauptwachsthumsperiode hinter den Wolken bleibt, dber die Pflanze ihren Strahlen nicht von allen Seiten frei ausgesetzt ist, diese dann auch die erwähnten Stellungseigenthümlichkeiten nicht scharf zur Ausprägung bringen wird.

In solchen Verhältnissen liegt offenbar die Erklärung der verblüffenden Erscheinung, daß die Compaßpflanzen in den botanischen Gärten ihre geheimnißvollen Fähigkeiten nicht entwickeln wollten, wahrscheinlich weil sie der Sonne nicht nach allen Seiten frei ausgesetzt, sondern im ein- oder mehrseitigen Schatten von Bäumen oder Gebäuden aufgewachsen waren. Vielleicht war auch die Witterung während des Aufwachsens ungünstig gewesen, sodaß die Sonne nicht stark und häufig genug während ihres Wachsthums auf die jungen Blätter einwirken konnte, denn nur die jungen, noch wachsenden Theile folgen den Anregungen des Lichtes leichter. In solchen Fällen ist dann die Meridianstellung der Blätter nicht vollständig erreicht, man sieht viele halb oder schiefgewendete Blätter, zuweilen ist das Blatt dann gekrümmt. Professor Stahl hat über die Einflüsse einer theilweisen Beschattung auf das Wachsthum der deutschen Compaßpflanze eine Anzahl von Versuchen angestellt, die sehr lehrreich waren, insofern als die Lattichpflanzen ganz verschiedene Gestalten annahmen, je nachdem sie in Gruben aufgezogen wurden, in denen sie nur Oberlicht bekamen, oder unter Gestellen, die sie vor der Mittagssonne schützten etc.

Die frei gewachsenen Exemplare zeigten dagegen, selbst als Gruppe gezogen, die schönste gleichmäßigste Orientirung nach der Mittagsebene, sodaß sie dem in derselben stehenden Beobachter die schärfste Profilansicht darboten. Man sieht leicht ein, daß solche Eigenthümlichkeiten sich nur bei solchen Pflanzen herausbilden werden, die gewohnt sind, nicht im Schatten höherer Gewächse, sondern stets auf offenen, baumlosen Ebenen zu wachsen, und namentlich bei solchen, die auf etwas trockenerem Boden gedeihen, weil diesen der Schutz gegen die Wasserverdunstung in der Mittagssonne am nöthigsten ist. Daß die amerikanische Compaßpflanze eines Schutzes gegen die erbarmungslose Sonne der Prairie bedurfte, scheint auch ihr Reichthum an harzigen Duftstoffen zu verrathen, denn nach den Versuchen Tyndall’s kann nichts eine Pflanze besser vor der strahlenden Wärme der Sonne schützen, als die Duftwolke, die sie wie einen Schutzmantel um sich verbreitet. Einem unsichtbaren Sonnenschirme gleich, verschluckt diese Duftatmosphäre den größten Theil der Wärmestrahlen und läßt sie nicht bis zu der Pflanze gelangen, und deshalb bedecken sich die trockenen Berglehnen der Mittelmeerländer, die den glühendsten Sonnenstrahlen ausgesetzt sind, vorwiegend mit starkwürzigen Kräutern, Lavendel, Thymian, Dossen etc., welche die Sonnengluth eben aushalten können. Der wilde Lattich hat sich, wie wir in dem Bilde sehen, noch einen anderen ungewöhnlichen Schutz nach außen zugelegt, er hat nicht blos seine Blattränder, was ja gewöhnlich vorkommt, sondern auch die stets nach außen gekehrte Mittelrippe der Blattunterseite mit scharfen Dornen bewaffnet. Es galt, da sich die dornigen Blattränder alle nach Norden und Süden richten, auch lüsternen Thieren, die von Osten oder Westen kommen konnten, ein wenig die Zähne zu weisen, daher diese eigenthümliche Bewaffnung.

So hat sich nun das Geheimniß der Compaßpflanzen in ziemlich einfacher Weise und ohne Zuhülfenahme verborgener magnetischer Kräfte oder elektrischer Strömungen lösen lassen, als die einfache Folge des Bogens, welchen der scheinbare Lauf der Sonne am Sommerhimmel beschreibt. Demgemäß muß man erwarten, [295] jetzt, nachdem einmal die Aufmerksamkeit darauf gelenkt ist, noch andere, mehr oder weniger ausgeprägte Compaßpflanzen zu finden, wie denn in der That noch verschiedene andere Latticharten, namentlich der weidenblätterige Lattich, der Giftlattich und Sonnenwirbel, deutlich annähernde Eigenschaften zeigen. Der Botaniker wird gewiß mit der Zeit noch manche andere dazu finden, und auch für den Laien wird es von Interesse sein, alle Pflanzen, die schon im Leben so aussehen, als ob sie für das Herbarium platt gepreßt wären, auf ihre Orientirung nach den Himmelsrichtungen hin zu untersuchen.

Carus Sterne.